Читать книгу New Hope City - Severin Beyer - Страница 4
Interludium 1: Das Fenster zu einer anderen Welt
ОглавлениеAls Audrey nach oben schaute, erblickte sie weit über sich das gläserne Dach eines riesigen Gewächshauses. Eine Dachluke war geöffnet und das Licht der Sonne fiel auf ihr Gesicht. Die Strahlen strichen verspielt über ihre ungläubigen Züge.
Was für ein irres Gefühl, Audrey hatte noch nie die Sonne auf ihrer Haut gespürt. Wie auch, ihr gesamtes Leben spielte sich im Bottom ab. Wenn Harald sie nur sehen könnte! Die junge Frau war sich sicher – hätte sie jetzt jemand gesehen, so würde sich dieser Jemand ganz gewiss fragen, wie man nur so bescheuert über das ganze Gesicht grinsen konnte. Es fühlte sich alles so verdammt echt an. Und dieses geschwungene Dach weit über ihr, das von einem Gerüst stählerner Arabesken getragen wurde, als sei es zu Zeiten der legendären Queen Victoria erbaut worden, das war ja voll der Hammer! In das 19. Jahrhundert hatte Audrey sich schon gewünscht, als sie in ihrer Jugend die Welt des Steampunks für sich entdeckt hatte. Eine fiktive Welt, in der die Dynamik von Dampfmaschinen und Erfindergeist auf den vormodernen Kosmos von Adel und Tradition prallte.
Sie befand sich wahrscheinlich in einem botanischen Garten oder einem Tropenhaus, vermutete Audrey. Das würde den Dschungel voll exotischer Pflanzen erklären, in dessen Mitte sie noch immer regungslos stand.
Den Wald umspielte eine Aura des Geheimnisvollen. Das ging weit über die Pflanzen hinaus, deren Aussehen so fremdartig war, dass Audrey nicht einmal im Netz etwas Vergleichbares entdeckt hätte, hätte sie danach gesucht. Der Dschungel wirkte auf sie, als wäre er den Bildern des französischen Malers Henry Rousseau entsprungen.
In den Ästen über ihr zeigten Paradiesvögel und Papageien ihre farbenfrohe Gefiederpracht. Die junge Frau erhaschte durch das Geäst den einen oder anderen Blick auf die Vögel, aber die gefiederten Tiere gaben keinen Laut von sich. Die Stille war seltsam, geradezu unheimlich. Bis auf das unheilvolle Insektenzirpen, dieses Sirren, das die Luft zum Vibrieren brachte, war es absolut ruhig. Kein Vogelgesang erreichte ihre Ohren, nicht einmal die Blätter der Bäume oder Farne raschelten.
Harald hatte ihr ja gesagt, dass es am Anfang etwas beängstigend wirken könnte. Das beruhigte ihre aufkommende Furcht. Es fühlte sich einfach alles so unglaublich real an. Sogar die drückende Luftfeuchtigkeit spürte sie. Probehalber fasste Audrey ein Blatt an, das zu einer Pflanze gehörte, deren gezackte rote Blüte bis zu ihrer Hüfte reichte. Es war erschreckend, wie wirklich sich die raue Oberfläche des Gewächses anfühlte. Sie zerrieb es zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. Ein ätherischer Duft stieg ihr in die Nase. Hätte man die junge Frau gefragt, sie hätte nicht sagen können, dass dies hier nicht die Wirklichkeit war. Sie spürte zu gleichen Teilen Faszination und Unbehagen in sich aufsteigen, doch die Faszination überwog eindeutig.
Okay, sie befand sich in einem Dschungel inmitten eines endlosen, kunstvollen Tropenhaues des viktorianischen Zeitalters. Was nun? Noch ehe Audrey einen Entschluss gefasst hatte, tauchte vor ihr ein Pfad auf, der sich durch den Urwald schlängelte. Sein Boden bestand aus einem Mosaik glänzender bunter Steine, die sanft das Licht der Sonne reflektierten.
›Das ist doch mal’n Zeichen!‹, dachte sich Audrey. Beim Betreten des Weges spürte sie die erfrischende Kühle der bunten Steine an ihren Füßen. Da erst fiel ihr auf, dass sie keine Schuhe trug. Mit dem Enthusiasmus eines kolonialen Tropenforschers machte sich Audrey auf Entdecktertour. Schnell verlor sie jegliches Zeitgefühl. Der Pfad führte sie an scheinbar unzähligen Orten vorbei, jeder schöner und majestätischer als der davor. Es waren Traumlandschaften, die in ihre Wirklichkeit einbrachen.
Trotz allem lauerte das Gefühl im Hintergrund, dass etwas falsch war, dass hier irgendetwas ganz furchtbar nicht stimmte. Wie ein ständiger, unsichtbarer Begleiter verfolgte es Audrey.
›Warum kann ich das jetzt nicht genießen?‹, ärgerte sie sich ›Wann erlebe ich sowas denn jemals wieder? Es ist so verdammt schwierig, an das Zeug heranzukommen …
Durchatmen, Audrey, durchatmen. Dir kann absolut nix passieren. Harald passt ja auf. Die Paranoia kannste dir sparen.‹
Aber die Ahnung, dass etwas sie verfolgte und sie heimlich beobachtete, verschwand nicht. Im Gegenteil, sie wurde stärker, je länger sie dem Mosaikpfad folgte. Wurden die Pflanzen tatsächlich immer bedrohlicher, oder bildete sie sich das ein? Verstohlen warf Audrey einen Blick über ihre Schulter, aber da war nichts. Erleichtert wandte sie sich ihrem eingeschlagenen Weg wieder zu. Ihr Atem stockte: Der Pfad hatte sich verändert! Gerade hatte er noch geradeaus geführt, nun bog er aber nach links ab.
›Das ist alles nicht echt‹, versuchte ihre rationale Hälfte sie zu überzeugen. Aber ihre emotionale Seite wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Zwangsjacke, in die sie ihre verantwortungsvolle Schwester wohlmeinend stecken wollte. Statt sich zu beruhigen, fühlte Audrey plötzlich einen Schmerz in ihrem Nacken, als ob sich etwas Glitschiges gewaltsam in sie hineinbohrte und sich von dort unter ihrer Haut durch den Körper schlängelte. Entsetzt griff sie sich mit ihren Händen an den Hals. Aber da war nichts.
Verunsichert rannte sie los.
›Wenn ich dem Weg folge, dann bringt er mich aus diesem Gewächshaus! Irgendwohin muss er führen. Dann bin ich endlich draußen!‹ Zumindest hoffte sie das inständig.
Audrey fing an, Harald zu hassen. ›Manchmal ist es ein bisschen gruselig!‹, äffte sie ihn panisch in Gedanken nach. Aber das hier war nicht ein bisschen gruselig, sondern beschissen furchteinflößend. Warum hatte der Arsch sie nicht vor dieser Scheiße gewarnt?
Äste schlugen ihr ins Gesicht, als sie sich entsetzt ihren Weg durch den zunehmend zugewachsenen Pfad bahnte. Die Pflanzen wurden immer größer und bedrohlicher, ihre Formen verwandelten sich in geradezu grotesk aussehende Monstrositäten, die von einem anderen Planeten aus einer fremden Dimension zu stammen schienen. Wo war sie hier nur gelandet? Die finstere Hand des Dschungels griff nach ihr. Audrey schrie laut auf.
Stille.
Die Angst war verschwunden. Erleichtert blickte sich die junge Frau um. Was auch immer sie noch vor einem Moment verfolgt hatte, es war verschwunden. Sogar die Flora leuchtete wieder hell und freundlich. Verschwunden waren die bizarren Formen der Organismen, die sie soeben noch gierig betrachtet hatten.
Ein gelöstes Lachen drang aus Audreys Kehle. Entschieden schob sie ein menschengroßes Farn beiseite, das ihren Weg versperrte.
Zu Audreys Verwunderung betrat sie einen Raum. Zumindest kam ihr der Ort wie ein Raum vor, denn bei genauer Betrachtung war dies kein Zimmer im herkömmlichen Sinn. Weder gab es Wände, noch war eine Decke vorhanden. Denn anstelle von Stein und Mörtel wurde der bunte Boden vor ihr von Büschen und Bäumen eingerahmt, und wo das Dach sein sollte, begrenzte der viktorianische Glashimmel diesen Ort nach oben. Dennoch wirkte der Platz auf Audrey wie ein Zimmer.
In der Mitte des Raums saß ein Mann auf einem Teppich, seine Beine im Schneidersitz verschlungen. Er rauchte aus einer kunstvoll geschwungenen Wasserpfeife. Seinen Kopf bedeckte ein Turban und ein weit ausladendes Gewand verhüllte seinen Körper. Hochgezogene Wangenknochen formten seine markanten dunkelhäutigen Gesichtszüge, die von einem sauber und kurz geschnittenen Backenbart eingerahmt wurden. Es war wie in 1001 Nacht. Sein stechender Blick musterte Audrey prüfend, ehe er zu ihr sprach:
»Mein Name ist Omar.« Er machte eine Kunstpause »Ich weiß, wer du bist. Du hast Fragen, mehr aus Neugier als aus echtem Interesse. Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber ich kann es nicht. Du bist nicht bereit für die Wahrheit. Nur wer bereit ist, die Hoffnung auf Glück und Zufriedenheit aufzugeben, kann die Wahrheit auch finden. Denn die Wahrheit nimmt keine Rücksicht auf den, der sie sucht. Sie ist auch dann wahr, wenn sie dem Suchenden nicht gefällt. Das ist etwas, das du nie begreifen wirst.«
Audrey wollte erwidern, dass er sich dieses herablassende Gelaber sparen könne, sie sei schließlich kein Kind mehr. Doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Trotz allem hattest du Glück: Du hast mich gefunden und darfst wieder gehen. Das können nicht alle von sich behaupten, die mich besucht haben.«
Omar nahm einen tiefen Zug aus der Wasserpfeife. Dann atmete er eine Rauchwolke aus, die Audrey vollständig einnebelte. Das letzte, was sie von ihm sah, war ein bösartiges Lächeln, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Sie riss ihre Augen weit auf. Audrey wollte schreien, aber ihr Mund war zu ausgetrocknet, sodass nur ein krächzendes Husten herauskam.
»Na, wie war’s?«, meinte Harald abgelenkt. Er sah sich nicht nach ihr um, das Game fesselte ihn zu sehr. Eine überlebensgroße Kettensäge schredderte sich durch eine verschrumpelte Gestalt, die wohl einst menschlich war. Davon war aber nicht mehr viel zu erkennen, denn anstelle von Armen und Beinen besaß sie furchterregende Klauen. Aus dem verwesenden Mund des Zombies triefte grüner Geifer, der normalerweise die verbliebenen Kleidungsfetzen durchtränkt hätte, nun aber zusammen mit dem soeben abgetrennten Kopf durch die Luft wirbelte. Blut und Geifer spritzen über den gesamten Holobildschirm, den Harald auf die Größe der Wand der Wohnwabe maximiert hatte.
Er musste schon eine ganze Weile Merowinger’s Revenge III – The Return of the Space Zombies zocken, denn bis zum Level in der Raumstation hatte es Audrey selbst noch nicht geschafft. Harald wechselte von der Kettensäge zum Plasmaflammenwerfer, als eine größere Zombiehorde auf ihn zurannte. Mit einer lässigen Handbewegung erzeugte er einen blau aufleuchtenden Feuerstoß, der die gesamte Gruppe verbrutzelte. Seine Gegner wälzten sich brennend auf dem Boden. Undefinierbare Zombieschmerzenslaute erfüllten die Luft, ehe die verschrumpelten Gestalten zu Asche zerfielen. Der leuchtende Schriftzug ›ZOMBASSAKER!‹ ploppte für einen Augenblick über die gesamte Bildschirmbreite hinweg auf.
Audrey schäumte. ›Wie es gewesen war?‹ Sie hatte gerade einen stellenweise verdammt fiesen Trip erlebt und er schaffte es nicht einmal, sein blödes Game zu pausieren und sich zu ihr umzudrehen? (Und eigentlich war es ihr Spiel und wenn sie so darüber nachdachte, dann hatte der Wichser sicher ihren Spielstand benutzt und einfach von dort aus weitergespielt, ansonsten würde er jetzt noch irgendwo in der vergessenen sowjetischen Geheimbasis in der Tunguska herumgurken und wehe, er hatte ihren Spielstand überspeichert; Aber ganz sicher hatte er das, denn so angepisst, wie Audrey gerade war, war Harald – das größte Aas der Welt – sicher zu allem fähig, ansonsten hätte das Scheißloch sie auch nicht das Blue nehmen lassen …).
»Du Schwanz, warum hast du mich nicht vor dem gewarnt, was mich da drinnen erwartet?«, fuhr sie ihn an. Harald zuckte vor Schreck zusammen. Ein schwerer Fehler, denn diesen kurzen Moment der Unachtsamkeit nutzte einer der größeren Zombiekreaturen sofort aus. Eine unförmige Pranke packte Haralds Spielfigur. Schon zoomte die Kamera aus dem Geschehen heraus, um einen besseren Blick darauf zu ermöglichen, wie der Zombie Haralds alter Ego (einen generischen, muskelbepackten Soldaten, der in einem Exoskelett steckte, das mehr an eine Ritterrüstung als an modernes militärisches Kampfgerät erinnerte, augenscheinlich der namensgebende Merowinger) in die Luft riss. Dann zoomte die Kamera wieder heran, um in Nahaufnahme zu zeigen, wie der Zombiekloss spektakulär den Kopf von Haralds Figur abbiss. Eine unrealistisch große Blutfontäne schoss aus dem Rumpf und verwandelte die Wabenwand in ein rotes Jackson-Pollock-Gemälde.
»Was ist denn dir in die Vagina gefahren?«, fauchte er sie an »Ich habe dir doch gesagt, dass es beim ersten Mal n’bisschen strange ist.«
»Aber doch nicht so!«, empörte sich Audrey heftig.
»Das AlbinoBlue wirkt bei jedem anders, sorry. Aber du warst es doch, die es unbedingt ausprobieren wollte.«
»Ja, aber nur weil du und deine Kumpels ständig davon geschwärmt habt.« Audrey fing sich wieder, nachdem sie ihre erste Wut losgeworden war. Ihr Tonfall klang fast entschuldigend.
»Ist ja auch der krasseste Shit, den du kriegen kannst«, meinte Harald, nun seinerseits wieder versöhnlich »Das erklärt auch, warum du zwischendurch wie eine bescheuerte Schlafwandlerin durchs Zimmer geirrt bist«.
»Es war absolut oberkrass. Der Trip hat sich so echt angefühlt. Alles war so klar, als ob ich gar nichts eingeworfen hätte.«
»Was hast du denn erlebt?«, wollte er grinsend wissen.
»Ich war in einem gigantisch großen Tropenhaus. Alles voller Pflanzen, die sahen total abgefahren aus. Wie so Sachen, die du im Traum siehst und dann wieder vergisst, wenn du aufwachst. Aber dann hat mich irgendetwas verfolgt …«
Harald wurde hellhörig: »Hast du gesehen, was da hinter dir her war?«
»Ne, habe ich nicht. Es war mehr ein Gefühl, als eine Sache, glaub’ ich mal. War dann auch plötzlich weg. Aber ich hatte echt kurz Schiss wegen des ›Fluch des Pharaos‹, von dem alle reden.«
»Echt jetzt?«, Harald lachte zu laut »Das mit dem Fluch ist nur so’n Scheiß, den sich die Leute erzählen, um kleinen Kindern Angst zu machen.«
»Aber in den Nachrichten reden sie doch überall von diesen Morden.«
»Ach, die haben doch nichts mit dem Blue zu tun. Das ist alles Panikmache«, meinte er achselzuckend »Die suchen nur einen Sündenbock, weil sie bis jetzt noch niemanden geschnappt haben.«
»Hm …« Audrey klang nicht sehr überzeugt. In ihrer Hand hielt sie die Verpackung, in der das AlbinoBlue gewesen war. Dein Weg zur Erleuchtung stand darauf.
»Wie war es denn bei dir?«, wollte sie von ihm wissen.
»Was meinst du?«
»Den Trip meine ich.«
»Ich war in keinem Gewächshaus, das kannst du mir definitiv glauben. Ich bin nicht so der Pflanzentyp.«
»Das meine ich nicht. Bist du auch verfolgt worden?«
Verlegen sah Harald an die Decke. Er schwieg einen Augenblick, ehe er antwortete: »Das erleben alle das erste Mal. Aber du kannst mir glauben, das kommt nicht wieder. Ist wahrscheinlich eine Nebenwirkung, weil sich dein Körper erst einmal an das Blue gewöhnen muss. Bekommt man halt Verfolgungswahn. Ab jetzt wirst du nur noch cooles Zeug erleben, dafür lohnt sich die Paranoia.«
Audrey antwortete nicht. Anscheinend hatte sie der Trip mehr mitgenommen, als er angenommen hatte. Harald überlegte, wie er sie wieder auf andere Gedanken bringen konnte. Schließlich meinte er unvermittelt:
»Woll’n wir noch n’bisschen Mero III zocken? Ich bin kurz vor dem Endboss, kann echt nicht mehr lange dauern. Danach könnten wir doch den Multiplayer ausprobieren«
Sie nickte. Während Harald sich daran machte, die nächste Zombiehorde zu plätten, ging sie zum einzigen Fenster der Wabe und öffnete es. Der Lärm der Straße drang zu ihr hinauf. Immerhin hatte ihre Wohnung den Luxus eines Fensters.
Unter ihr flog eine Drohne am Wohnblock vorbei. Sie projizierte ein Hologramm des New Hoper Bürgermeisters Desmond Giordano. Dazu ertönte eine Lautsprecherdurchsage mit der Stimme des Stadtoberhaupts, die auf schizophrene Weise zugleich sowohl vor der allgegenwärtigen Terrorgefahr warnte, als auch garantierte, dass kein Grund zur Besorgnis bestehe.
Audrey hörte die Stimme nicht. Stattdessen musste sie an die Worte des Mannes denken, den sie während ihres Rausches getroffen hatte: ›Trotz allem hattest du Glück: Du hast mich gefunden und darfst wieder gehen. Das können nicht alle von sich behaupten, die mich besucht haben.‹
Ihre Gedanken schweiften ab zu dem neuesten Mumienmord, der sich laut den Nachrichten am Vormittag ereignet hatte.