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Bagdad-Bahnhof al-Notoraki

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Ich machte mich absichtlich nicht besonders zurecht, sondern begnügte mich mit einer beigen Baumwollhose, einer weißen Leinenbluse und einer kurzen Kette aus pastellfarbenen Majorica-Perlen, als träfe ich eine gute Freundin zum Abendessen.

Stattdessen traf ich mich mit Nasser, er wirkte diesmal respekteinflößend, wie ein wirklicher Doktor, nicht mehr wie der verstörte, trauernde Reisebegleiter. Er trug eine graue Hose und ein dunkelblaues Jackett zu einem weißen Hemd und hatte sein Haar mit Frisiercreme nach hinten gekämmt. Dadurch kam seine breite Stirn zur Geltung und ich musste unwillkürlich an meinen Großvater mütterlicherseits denken.

Äußerlich waren Nasser und ich vollkommen aufeinander abgestimmt: einfach, elegant und authentisch gekleidet entsprachen wir der zeitgenössischen bürgerlichen Ästhetik. Wir machten es uns auf den Ledersofas des Blue Fig bequem und genossen den Blick auf die Villen vor den Fenstern. Nicht weit im Norden flatterte die syrische Fahne an der Botschaft selbstbewusst im Wind und versuchte den Eindruck zu erwecken, die Geschehnisse dort im Land seien nichts weiter als ein böser Traum.

Warum mich Nasser an meinen Großvater erinnerte, weiß ich nicht, vielleicht wegen der Brylcreem in seinen Haaren. Denn mir war die rote Dose wieder eingefallen, die selbst Jahre nach dem Tod meines Opas noch an ihrem Platz, auf dem Toilettentisch des italienischen Schlafzimmers mit dem kostbaren venezianischen Gobelin an der Wand stand. Die Fenster dieses Zimmers gingen auf zwei Straßen des Viertels Bagdad-Bahnhof al-Notoraki hinaus – was dieses angehängte al-Notoraki im Namen bedeuten soll, ist mir allerdings bis heute schleierhaft geblieben. Die Fenster erzählen Geschichten von Liebe, Kunst, Reise und Erfolg, die durch die Geräusche der einlaufenden Züge aus Istanbul, Latakia, Qamischli, Budapest angeregt werden, Züge, die immer wieder losrattern – in Richtung Leben.

In den 1950er Jahren war das Viertel um den Bagdad-Bahnhof eine der schönsten Gegenden Aleppos. Es bestand aus drei breiten Parallelstraßen, die durch eine Querstraße vom öffentlichen Park getrennt wurden. In der Mitte dieses 17 Hektar großen Parks befand sich ein Standbild Abu Firas al-Hamdanis, dem berühmten Poeten aus dem 10. Jahrhundert. Es gab mehrere Springbrunnen und grüne Holzbänke im Schatten der Weiden, Zypressen und Ulmen, dazu Damaszener Rosen und wilde Rosen in Rot, Gelb und Violett. Weiß und blau wuchs der Jasmin über die Mauer, und an den geschmiedeten Kletterhilfen für das wuchernde Grün rankten duftende Pflanzen empor. Ein Bereich war für den Kinderspielplatz reserviert, in einem anderen dagegen war jeglicher Lärm streng verboten. Dort standen Gehege für die Pfauen, die hin und wieder für die Beobachter ihr Rad schlugen, es aber oft auch aus Koketterie unterließen. Schwäne glitten über ihren Teich, ohne das Blau, auf dem sie morgens wie abends ruhten, auch nur wahrzunehmen. Die Statuen, die sich rings um sie erhoben und einem mit der Zeit wie alte Bekannte vorkamen, waren von visionären syrischen Bildhauern wie Jacques Warda und Wahid Istanbuli geschaffen worden.

Hohe Weiden säumten die Straßen des Viertels um den Bahnhof, wo keines der Häuser mehr als 20 Meter hoch war. Ihre Zweige reckten sich durch die geöffneten Fenster, spähten die Bewohner aus, bespitzelten sie in ihren Schlafzimmern und umkränzten die Kaffeetassen morgens und abends. Hier wohnten christliche, muslimische und armenische Familien des Großbürgertums von Aleppo: die Dallas, Saqqals, Kayyalis, Martinis, Sabbaghs, Mudarres’, Aqqads, Traboulsis, Attars, Antakis, Mukarbanas, Hallaqs, Hamawis, Marjanas, Quanaas’, Sakissians, Izmirians, Sawahims. Ein wenig weiter östlich lagen die einfacheren und dichter besiedelten Viertel, Sheikh Taha, Siryian, Ashrafieh und Sheikh Maqsoud, wo Kleinbürger und Proletarier lebten. Dort in Sheikh Maqsoud wohnten die aus Dörfern wie Afrin und Azaz eingewanderten Kurden sowie Armenier und Turkmenen und Araber aus dem ländlichen Osten.

Die Wohnung meines Großvaters lag im ersten Stock mit Fenstern zur Straße, aber ohne Balkon. In den damaligen Altbauten war das erst ab dem zweiten Stock vorgesehen. Im Sommer schliefen wir bei geöffnetem Fenster und ließen uns von den nach Schönheit, Freude und Leben duftenden Abendwinden Aleppos streicheln. Die Schritte der wenigen Passanten lullten mich ein, und ihre Gespräche drangen murmelnd in meinen Halbschlaf herauf, sodass ihre Geschichten sich manchmal in meinen langen Träumen fortsetzten. Soweit ich mich erinnere, lernte ich das erste Sprichwort in meinem Leben von einer alten Frau, die unten am Fenster vorbeiging. »Kinder erwidern die Selbstlosigkeit einer Mutter mit Herzlosigkeit«, sagte sie unter Tränen, und ihre Geschichte drang in meinen Traum ein.

Unsere Fenster zeigten Richtung Westen, zum Haus des Eisenbahndirektors neben dem Bahnhof. Dieser große einstöckige Bau stand in einem schönen Garten mit einem kleinen Teich, Aprikosen-, Pfirsich- und Mandelbäumen und vielen roten und gelben Damaszenerrosen. Hinter der grauen Steinmauer erhob sich eine zweite Wand aus Pinien, und rechts vom Haupteingang befand sich ein hölzernes Häuschen für den wachhabenden Soldaten, der sein Maschinengewehr nie von der Schulter nahm.

Basil, der Sohn des Eisenbahndirektors, studierte Bauingenieurwesen und war in meine Tante Dalia verliebt, die an der Philosophischen Fakultät für Englische Literatur eingeschrieben war. Jeden Morgen folgte er ihr in dem Dienstmercedes, den sein Vater ihm eigens für seine Spazierfahrten zur Verfügung stellte, bis zur Haltestelle vor dem Öffentlichen Park, wo sie in den Bus zur Universität stieg. Als ihr dann der Winterregen von Tag zu Tag unerträglicher wurde, nahm sie schließlich das Angebot an. Basil wartete an der Bushaltestelle auf sie, fuhr sie zu ihrer Fakultät und holte sie später wieder ab.

Eines Abends kam Dalias Bruder aufgeregt nach Hause, denn man hatte in Aleppo fast alle Straßen gesperrt und Tante Dalia war noch nicht wieder zu Hause. Auf der Suche nach ihr war mein Onkel zur Universität gelaufen und kam nun verzweifelt ohne sie zurück. Wenige Tage zuvor hatten Muslimbrüder die Philosophische Fakultät gestürmt und waren mit Unterstützung ihrer studentischen Kräfte in die Hörsäle eingedrungen. Nur unter Schwierigkeiten hatte er nach Hause zurückkommen können, weil die Straßen voller Menschen waren, die um den Innenminister Adnan Dabbagh trauerten, der unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war.

Der feierliche Trauerzug marschierte auch am Öffentlichen Park vorbei, und alle im Haus rannten zum Wohnzimmerfenster, um zu sehen, wie die Massen in einiger Entfernung auf der Hauptstraße zusammenliefen, um das Spektakel um den Sarg zu erleben, der auf Schultern getragen wurde. Dieser Innenminister hatte heimlich die Sängerin Mayada al-Hannawi geheiratet. Sie erbte nun ein gewaltiges Vermögen von ihm, was zu endlosen Schwierigkeiten mit seiner Familie führte; es gab Gerüchte über einen Mordversuch mittels eines Amokschützen.

Mayada al-Hannawi war nicht nur die Sängerin ihrer Generation, sondern eine echte »Diva«, wie man inspirierende Frauen nennt. Der geistreiche, aus Salamiyeh stammende Dichter Ahmad al-Dschundi scherzte: »Ich küsse den Fernseher, wann immer Mayada al-Hannawi zu sehen ist.« Und der Nachbarssohn Ayham, ein Junge in der ersten Primarschulklasse, versetzte seinen Vater mit einem Riesenaufstand in Wut, damit dieser ihn zur Strafe zu Fuß zur Schule schickte, statt ihn mit dem Auto zu fahren. Denn auf dem Schulweg lag Nadas Friseurgeschäft, wo ein großes Poster Mayada al-Hannawis an der Türscheibe klebte, und Ayham versank in ihrem in die Ferne schweifenden, melancholischen Blick und in ihrem Gesicht, das vor lauter Liebreiz einen Stein hätte erweichen können. Der Junge blieb dort vielleicht eine halbe Stunde lang stehen und betrachtete den edlen Marmorhals der Sängerin, bis Nada, der Babier, herauskam und ihn verscheuchte.

Auch meine Tante Dalia liebte Mayada al-Hannawi, ihr Aussehen, ihre Lieder, ihre tiefe Melancholie und ihre leuchtende Haut, durch die eine engelsgleiche Seele schimmerte. Sie war überzeugt, ihr zu ähneln, und wir alle stimmten zu. Schließlich hatte sie denselben Haarschnitt, wechselte genau wie Mayada leicht die Farbe und ahmte ihr Make-up und ihren Nagellack nach. Und wenn Mayada eine neue Kassette herausbrachte, musste sie sie sofort haben.

Am Abend rief Dalia endlich an und sagte, sie habe über Schleichwege von der Universität das Haus ihrer Freundin im Viertel Sulaimaniyeh erreicht, und wenn man sich wieder sicher fortbewegen könne, würden deren Eltern sie nach Hause bringen. In Wirklichkeit telefonierte meine Tante jedoch aus dem Haus gegenüber, nämlich aus dem des Eisenbahndirektors. Sie war an jenem Tag gar nicht in der Universität gewesen, sondern hatte die Zeit mit Basil in seinem Zimmer verbracht.

*

Die Hauptzufahrt zum Bahnhof führte seit Ende der 80er Jahre weiter zur Tischrin-Brücke. Nach Mitternacht kam das Leben in der westlichen Straße zur Ruhe. Bis um zwei Uhr der Nachtzug aus Damaskus eintraf, versank die Umgebung in willkommener Stille. Danach war es wieder still bis zum Sechs-Uhr-Zug aus Latakia. Zwischen Mitternacht und der Ankunft des Zuges aus Damaskus brachte Basil dem Wachposten an der Tür eine Flasche Djuwayyids Andarin-Arak und ein Kilo Grillkebab. Dalia hatte sich dann schon vergewissert, dass alle in tiefem Schlaf lagen, schloss leise die Tür und schlich die wenigen Schritte über die Treppe bis auf die rechte Hausseite, überquerte dann die Straße zum Nachbarhaus und trat geradewegs in Basils Zimmer, das zum Garten hin eine Seitentür hatte, sodass man nicht durch den Haupteingang musste. Basil liebte Dalia von ganzem Herzen. Wenn er sie traf, küsste er ihr jedes Mal vor Leidenschaft seufzend die Hände. Dalia war wunderschön, blond, mit honigfarbenen Augen und schlankem weißen Körper. Sie trug stets hochgeschnittene Straight-Fit-Jeans von Lee und eine blau-weiß-rote Karobluse, die an der Brust eng anlag und die sie vorne oder seitlich über der Hüfte verknotete, um die Rundung ihrer Brüste und ihre schlanke Taille zu betonen. Sie sah aus, als sei sie der Serie »Die Leute von der Shiloh Ranch« entsprungen. Ihre Nägel waren lang und gepflegt und hübsch anzusehen mit dem glänzendroten Lack, der schillerte, wenn sie an ihrem kleinen Schreibtisch in den Nachschlagewerken und Wörterbüchern blätterte oder ihre heißgeliebten Pastetchen aß. Die brachte ihr Basil jeden Abend von »Sumer« oder »Sirup«. Flink lief ich dann die zwanzig Stufen hinunter, um die Tüte von ihm in Empfang zu nehmen, und Dalia gab mir welche ab. Freitags bewahrte sie ihre Pastetchen immer bis Mitternacht auf, damit wir sie essen konnten, während wir die Serie »Das Schiff der Liebe« schauten.

In einer jener Sommernächte lud Basil Dalia in die Zitadelle ein, wo das russische Bolschoi-Theater das Ballett »Der Nussknacker« gab. Basil war über seinen Vater an Freikarten gekommen, die man den meisten großen Staatsfunktionären zugeteilt hatte. Dalia überredete meine Großmutter, sie gehen zu lassen, ihre Kommilitoninnen seien schließlich auch da. Nur unter der Bedingung, dass Dalia mich als Begleiterin mitnahm, war meine Großmutter einverstanden, und so hatte Dalia keine Wahl.

Wir stiegen also hinauf zum Amphitheater in der Zitadelle. Es war einer der milden Juliabende Aleppos mit ruhiger Brise, einem leuchtenden Sternenhimmel und einem Mond so klar wie alles in dieser Stadt: die Steine, die Wege, das Handwerk, der Handel die Meinungen. Viele Geheimnisse gab es hier nicht.

Bei den federnden Tritten der Tänzer, der genialen Musik Tschaikowskys und dem leichten Wind döste ich ein und überließ Dalia in ihrem ärmellosen roten Seidenkleid Basils Liebkosungen. Er konnte nicht von ihr lassen, küsste sie von Zeit zu Zeit in den Nacken und vergrub die Nase in ihren blonden Locken, die den Apfelduft ihres Hamol-Shampoos verströmten. Plötzlich jedoch riss mich ein lautstarker Tumult aus dem Schlaf. Basil und Dalia sprangen auf, sie zog mich an der Hand mit sich fort. In unserer Reihe, die für die Gäste des Eisenbahndirektors reserviert war, hatte auch eine Frau um die Dreißig mit einem etwa sechsjährigen Mädchen gesessen. Die Frau war beeindruckend, groß und üppig, mit blauen Augen und blondem Haar. Durch den Schlitz ihres schwarzen Seidenrocks blitzten ihre hellrosa Oberschenkel, und an den Fingern glitzerten echte Diamantringe. Ihre Tochter sah ihr ähnlich, sie war sehr niedlich und fein herausgeputzt. Und an jenem Abend fand Basil heraus, dass diese Frau mit seinem Vater verheiratet und das kleine Mädchen seine Schwester war! Während der Vorstellung, hatte er mit der Kleinen geschäkert und sie nach ihrem Namen gefragt. Sie hatten beide denselben Familiennamen, denselben Vatersnamen, und der Beruf des Vaters war auch derselbe. Schon vor längerer Zeit hatte der Eisenbahndirektor Ghada, seine Angestellte im Hauptbüro der Direktion, zur Frau genommen, doch sie hatten ihre Ehe geheim gehalten, insbesondere weil sie Sunnitin war und er Alawit.

Nach diesem Ballettabend änderte sich einiges im Hause des Eisenbahndirektors. Denn Basil ließ sich sein Stillschweigen von seinem Vater in barer Münze bezahlen, damit die Heirat vor dem Rest der Familie geheim blieb.

Auch im Hause meines Großvaters wurde vieles anders, denn meine Tante Radscha kehrte aus Saudi-Arabien zurück. Sie hatte sich mit einem der Söhne ihrer Tante Sumayya verheiratet, die wir »Mutter der Brüder« nannten. Radscha trug Hidschab und war heimgekommen, um zu Hause – auf ihre Art – den Islam zu predigen. So wurde am Ende des Sommers der Hidschab zum Thema für die Frauen im Haus, meine Großmutter legte ihn ebenso an wie Tante Dalia, die vor Reue über die Tage, die sie unverschleiert in Basils Armen verbracht hatte, heiße Tränen vergoss. Auch Basil verschleierte sich auf seine Weise, oder besser auf Dalias Weise, denn sie fing an, ihm Predigten zu halten. Das setzte ihm psychisch so sehr zu, dass er sich ins Gebet stürzte und die nahegelegene Tauhid-Moschee nicht mehr verließ.

*

Jeden Abend ging die Sonne Aleppos glühendrot hinter dem Haus des Eisenbahndirektors im Viertel des Bagdadbahnhofs unter. Die Taxifahrer kannten die Ankunftszeiten der Züge und drängten auf die Bahnsteige, waren jedoch samt Fahrgästen schon wieder verschwunden, bevor die grauroten Wagen der »Syrischen Eisenbahn« erneut anfuhren.

Zu Beginn des neuen Jahres zogen Basil und seine Familie aus. Mit Koffern bepackt verließen sie das Haus, traten durch den Bahnhofseingang nebenan, bestiegen den Zug nach Latakia und kehrten nie mehr zurück.

Dalia hatte nicht ein Abschiedswort für Basil übrig. Eine Nacht vor seiner Abfahrt hatte sie sämtliche Fenster zur westlichen Straße hin geschlossen, sodass es im Schlafzimmerflügel stockfinster war.

Sie behauptete, Basil sei verrückt gewesen. Wie bei allen Funktionärskindern habe das Leben für ihn nur aus Autos, Chauffeuren und Pistolen bestanden. Einmal habe er sie vom Bus abgeholt und gefragt: »Komisch, warum sind denn alle Passagiere grün gekleidet?« Dabei klebte nur eine transparente grüne Folie auf den Scheiben der öffentlichen Busse. Ein andermal habe er vor ihr geprahlt, er hätte große Lust, mit seinem Auto in die Menschen zu rasen, die vor der Konsumgenossenschaft Schlange standen und auf Olivenöl, Butterfett und Kleenex-Tücher warteten, nur um zu sehen, wie sie durch die Luft flögen und die Röcke der Frauen aussähen wie umgedrehte Schirme und den Männern die Schuhe auf den Kopf fielen. Dann wieder habe er behauptet, sie und ihre Familie seien arm, denn sie hätten nur einen armen Chauffeur, ein armes Hausmädchen und einen armen Wachmann. Außerdem hätten sie nur einen einzigen Mercedes und sonst nur Peugeots. Wer dagegen beim Gouvernement arbeite, sei reich. Deshalb seien er und seine Familie reich, schließlich hätten sie nur Mercedes.

Und an jenem Abend, an dem Basil in der Zitadelle von der Zweitehe seines Vaters erfuhr, habe er sie mit sich fortgezogen, berichtete Dalia weiter. Sie seien in eine abgestellte Lokomotive gestiegen, und er habe beschlossen, sie zu entführen. Mit einer offensichtlich ungeladenen Pistole habe er den Lokführer dazu gezwungen, ihn mit der Lokomotive in das fünfzehn Kilometer entfernt gelegene Dschibrin zu fahren. Während Dalia Basil unter Tränen gebeten habe aufzuhören, habe der Lokführer nachgegeben.

Wenn Basil beten wollte, ging er in die Moschee, wobei fraglich war, ob er vorher die Waschung korrekt vollzogen hatte, und stellte sich in die zweite Reihe. Einmal stand vor ihm ein Mann in weißer Dischdascha, und weil Basil in den Rumpfbeugen und Sich-Niederwerfen noch ungeübt war, blieb er mit dem Kopf unter dessen Gewand hängen und stieß gegen sein Hinterteil. Der Mann schrie vor Schreck auf, aber Basil bekam seinen Kopf nicht wieder frei. Er habe ja versucht, sich zu befreien, sagte er später, aber es sei plötzlich so dunkel gewesen, und er habe keine Luft mehr bekommen. Die Betenden gerieten in Aufruhr, und als Basil aus der Moschee floh, rannten sie ihm hinterher und verprügelten ihn.

*

Nasser war liebenswürdig und wir waren schnell sehr vertraut, doch um nicht kindisch zu erscheinen, vermieden wir Sätze wie: »Es ist, als würde ich dich schon lange kennen.« Dabei hätte dieser Satz unsere momentane Situation am besten beschrieben. Nasser gab seine Erschöpfung offen zu, aber trotz seiner Trauer habe er in den letzten Tagen immer wieder an meine Worte, mein Lächeln und die Berührung meiner Hand denken müssen und sich daraus eine »Wolke« geschaffen, die ihn »gegen die harte Zeit abgeschirmt« habe. Diese schöne Beschreibung berührte mich.

Als wir auf Aleppo zu sprechen kamen und er zu erzählen begann, suchte ich nach einem anderen Ausdruck für das Klischee: »Die Welt ist klein«. Das Haus seines Großvaters war jene elegante Villa aus rosafarbenem Stein auf der Nordseite des Stadtparks im Viertel Azizieh, die zwischen der Wohnung meines Großvaters und dem Bagdad-Bahnhof lag. Und sein Großvater war der Rechtsanwalt Bahdjat al-Haffar.

»Was? Was, die Villa vor der Cocktail-Bar Kan ya ma kan? Ich spürte einen leichten und freudigen Schwindel, und wir schwiegen eine Weile.

›Wenn du wüsstest, Nasser. Wenn du wüsstest, Nasser. Ich könnte dir aufzählen, wie viele Zaunpfähle den kleinen Garten umgaben, welche Farbe die Stühle auf dem Balkon hatten, welche Pflanzen in den Blumentöpfen auf den breiten Brüstungen wuchsen … Auch von dem Chinarindenbaum vor dem kleinen Tor zur Nebenstraße, wo ich nicht hindurfte, wenn ich mit meinen Cousins und Cousinen draußen gespielt habe, könnte ich dir erzählen.

Vielleicht war deine Mutter Shahira also die Frau, die damals immer im Morgenmantel, mit Lockenwicklern in den Haaren und leuchtendrotem Lippenstift auf den Balkon trat, um uns zu sagen, wir sollten verschwinden oder wenigstens ein bisschen leiser sein. Und ich war das Mädchen, das auf der Gartenmauer eurer Villa saß, den Rücken gegen das Eisengitter gelehnt und die Füße auf eine große Wucherung am Stamm des Chinarindenbaums gestützt.‹

Ich nannte Nasser Beweise dafür, dass wir vom selben Ort sprachen, und wir lachten beide ungläubig über diesen Zufall, der unsere Leben verband.

»Kennst du das Haus der Kayyalis? Sie waren eure Nachbarn«, fragte ich.

»Meinst du Frau Ra’ifa? Natürlich!«

»Ra’ifa war die Schwester meiner Oma, wir nannten sie Nana Umm Baschar. Und die Wohnung meines Opas war in dem großen Haus, das Joseph Nassur gehörte, am Anfang der Straße, genau gegenüber vom Park.«

»Nein, nein, nein, das kann ja nicht wahr sein! Unter euch war Abdus Fahrradgeschäft …«

»Abdu kennst du also auch! Unglaublich!«

»Bei ihm haben wir immer unsere Reifen aufpumpen lassen, bevor wir durch den Park fuhren. Was ist aus ihr geworden?«

»Aus wem?«

»Frau Ra’ifa.«

»Sie ist tot. Sie bekam einen Schlaganfall und ist gestorben.«

»Es gibt keine Macht, noch Stärke außer bei Gott. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein. Und ihr Sohn Baschar, wohnten er und seine Frau nicht auch bei ihr?«

»Genau. Sie sind dann nach Neu-Aleppo gezogen. Die Wohnung war noch nach dem alten Gesetz gemietet.«

»Und eure Wohnung, die Wohnung deines Großvaters meine ich?«

»Sie gehörte ihm, und meine Großmutter wohnt noch immer dort. Unter den gegebenen Umständen ist es ein sicheres Viertel, deshalb ist meine Tante mit ihrer Familie zu ihr gezogen. Deren Wohnung liegt in Mokambo, das ist eine heiße Gegend.«

Frau Ra’ifa, wie Nasser sie nannte, oder Nana Umm Baschar, wie sie bei uns hieß, war eine alte Nachbarin des Hauses al-Haffar. Sie war frisch verheiratet dort eingezogen, zu einem Zeitpunkt, als Madiha Hanim, Nassers Großmutter, bereits in der Villa wohnte. Ich erinnerte mich noch genau an Frau Ra’ifa, sie kam täglich zum Morgenkaffee zu ihrer Schwester, meiner Großmutter. In den Sommertagen, die wir in der Wohnung meines Großvaters in Aleppo verbrachten, stand ich besonders früh auf, um sie und ihre schönen Geschichten nicht zu verpassen. Sie war damals Ende fünfzig und ich zehn. Wenn sie morgens aus dem Haus ging, schlug sie einen Mantel um ihren gedrungenen Leib mit den schmalen Schultern und dem prächtigen Hinterteil. Darunter trug sie noch das hellblaue oder rosarote Valisère-Nachthemd, dessen spitzenbesetztes Dekolleté die kleinen, mageren Brüste durchscheinen ließ, mit denen sie fünf Töchter und zwei Söhne genährt hatte.

Genüsslich schlürfte sie ihren Kaffee aus den mit Romeo-und-Julia-Motiven bemalten Tassen meiner Großmutter und berichtete uns von den Konflikten zwischen der Regierung und den Muslimbrüdern in Hama, von denen uns unser Onkel nichts erzählte:

»Als sie kamen, um das Haus der Bayraqdars zu durchsuchen, versteckte der Hausherr seine Pistole im Heizofen, der von den Wintertagen her noch dastand. Der Offizier und seine Männer betraten das Haus, stellten es auf den Kopf und fragten den Hausherrn nach Waffen. Er verneinte, aber sein kleiner, vierjähriger Sohn, der gesehen hatte, wie sein Vater die Pistole versteckt hatte, plapperte los: ›Onkel, die Pistole ist da!‹, und zeigte auf den Ofen. Augenblicklich verhaftete man den Vater, der für immer verschwunden blieb.« Nana Umm Baschar murmelte noch etwas, seufzte und schloss mit den Worten: »Nun, ja, Gott verschone seine Diener mit solchen Dingen!« Nachdem sie ihr tägliches Füllhorn voller Geschichten geleert hatte, verließ sie die Wohnung meiner Großmutter und ging rüber zu Frau Schahira, Nassers Mutter, die inzwischen ebenfalls aufgewacht war und in Erwartung Ra’ifa Hanims den Kaffee aufs Feuer gestellt hatte.

Nana Umm Baschar hatte zwei Söhne, Baschar und Fatih. Baschar war praktischer Arzt ohne Facharztausbildung und wurde, als langgedienter Baathist, zum Hygienebeauftragten für die Restaurants in Aleppo ernannt. Dies war ein sehr angesehenes Amt, denn Aleppo war berühmt für seine Küche, die den türkischen Mittelmeergeschmack mit der arabischen Tradition verband. Doktor Baschar hatte viel zu tun und besaß großen Einfluss, schließlich war er für die Lizenzen verantwortlich und ahndete Verstöße gegen die Reinheits- und Hygienevorschriften. Vom mobilen Händler für Lakritz und Sahlab über die Sandwichläden bis hin zu den luxuriösesten Hotels gab man sich die größte Mühe, ihn zufriedenzustellen. So kochte Nana Umm Baschar fast gar nicht mehr, sondern bezog all ihre Mahlzeiten reihum von den verschiedenen Restaurants. Vor ihrer Wohnung parkten stets die unterschiedlichsten Fahrzeuge: Fahrräder, deren Fahrer mit Zellophan verpackte Schüsseln auf der Hand balancierten, Motorroller mit in Papiertüten gestapelten Tellern auf dem Gepäckträger und Autos, die bestimmten Restaurants gehörten und aus denen man Speisen und Getränke in mannigfaltigen Farben entlud. Zum Mittagessen gab es bei ihr immer Gegrilltes und Kibbeh Nayyeh, zum Abendessen Wurst- und Schawarma-Sandwiches. Ihr Frühstück aber bestand aus syrischem Grießpudding und Puddingteilchen mit Sahne und Haselnüssen. Zu den Abendveranstaltungen im Aleppo-Club, im Jalaa Sporting Club oder im Restaurant Sirubian war immer ein Tisch reserviert, und auch ihre Angehörigen und Gäste kamen in den Genuss dieser Vorzugsbehandlung.

Fatih hingegen, ihr zweiter Sohn, war schon in jungen Jahren bei ihr ausgezogen, weil er von all dem sündhaften Essen, Geld und Einfluss seines Bruders nicht profitieren wollte. »Doch wenn dich deine Eltern drängen, dass du mir etwas beigesellst, wovon du gar kein Wissen hast – gehorche ihnen nicht!«, hatte er damals zu seiner Mutter gesagt. Seit seiner Pubertät stand Fatih unter dem Einfluss seiner Cousins, der Söhne seiner Tante Sumayya, die in der Organisation der Muslimbrüder Rang und Namen besaßen. Sie hatten ständig über den Bruder hergezogen und ihm die Augen für dessen Sünden geöffnet. Eine subtile Mischung aus Einschüchterung und Versprechen bewirkte, dass er sich ihnen anschloss und später zu einem aktiven Mitglied ihrer Vereinigung wurde.

Fatih hielt sich lange von der Wohnung seiner Mutter fern, erst vor den gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Aleppo im Jahr 1980 erschütterten, bekam sie ihn wieder zu Gesicht. An jenem Abend, an dem eine Ausgangssperre verhängt worden war – im Juni hatten sich die Tore der Hölle aufgetan –, hatte er den Befehl, zehn Maschinengewehre und zusätzlich eine hölzerne Kiste mit zehn Handgranaten, vom Haus eines hohen Funktionärs der Organisation im Viertel Hulluk fünfundzwanzig Kilometer weit nach Süden zu transportieren. Dafür kam er nach Hause zurück und nahm dort den Schlüssel des Doktor Baschar zugewiesenen Landrovers an sich, der als Staatseigentum ein grünes Kennzeichen trug. Das garantierte, dass man ihn nicht durchsuchen würde. Fatih stellte die Kisten in den Kofferraum und brachte seine Aufgabe unbehelligt zu Ende. Stunden später gab es einen Angriff auf die Artillerieschule in Aleppo, bei der etwa hundert alawitische Offiziere ihr Leben ließen. Nach diesem Vorfall reiste Fatih in die Türkei aus und begann an der Universität in Istanbul Chemie zu studieren. Er promovierte, heiratete eine Tochter seiner Tante Sumayya und wurde so zum Schwager seiner Cousins, die ihn in die Organisation gedrängt hatten. Später zog er mit seiner Familie weiter nach Saudi-Arabien und lüftete dort das Geheimnis der Mumifizierung, an dem er schon lange geforscht hatte. Eines Tages hatte er eine spezielle chemische Verbindung hergestellt, die er mit nach Hause nahm, damit sie niemand stehlen konnte. Dort goss er sie in eine Dose, in der ursprünglich Fußbodenreiniger gewesen war, und stellte sie kurz auf dem Küchentisch ab. Die Putzfrau, die gerade dabei war, die Böden zu wischen, hielt besagte Flüssigkeit für ein Reinigungsmittel, goss ein wenig davon in den Putzeimer – und ihre Hand wurde plötzlich steif.

Doch bevor Fatih wegen dieser Erfindung zu Ruhm gelangen konnte, traf Scheich Ammar für ihn ein Arrangement mit der Obrigkeit. Scheich Ammar war weit und breit die einzige Anlaufstelle für alle, die ausgewiesen, auf die Fahndungsliste gesetzt oder zu hohen, möglicherweise bis zur Exekution reichenden Strafen verurteilt worden waren. Nachdem eine im Hinblick auf seine schwere Schuld angemessene Summe bezahlt hatte, war er rehabilitiert und sein Heimatland konnte in der Folge von seinem Wissen profitieren.

Fatih hatte zwei Söhne, die ich erst Jahre später, als der Familie wieder Ein- und Ausreise gestattet waren, im Haus meines Großvaters kennenlernte. Nachdem sie in Saudi-Arabien den Bachelor gemacht hatten, wollten die beiden Jungen ihr Studium an der Universität Aleppo fortsetzen. Sie sahen befremdlich aus mit ihrem langen, ungekämmten Haar und Gesichtern voller zum großen Teil entzündeter Pickel. Ihre Jeans hatten sie bis zur Brust hochgezogen, sodass sie über den Knöcheln endeten, damit sie, wie meine Großmutter sagte, rein blieben für das Gebet. Vom Leben der Nachbarn hielten sie sich fern. Meine Großmutter bestand jedoch darauf, sie zu allen Gelegenheiten, bei denen gemeinsam gegessen wurde, nämlich im Ramadan und an Festtagen, einzuladen, schließlich waren sie die Enkel ihrer Schwester und noch dazu fremd in der Stadt. Wenn sie dann ins Haus kamen, versteckte ich mich immer oder verließ die Wohnung, denn meine Großmutter meinte, sie sähen Frauen ohne Kopftuch nicht gerne und wollten auch nicht mit Frauen zusammensitzen. Jahre später, im Dezember 2009, lief auf CNN ein Video über ein Trainingslager für al-Qaida-Mitglieder im Jemen. Die Kamera zeigte eine Rundumsicht, war aber auf unendlich eingestellt, sodass ich die Aknenarben im Gesicht des Mannes nicht erkennen konnte, der irgendwo in der Wüste hinter einem Felsen stand und schreiend befahl, die Kalaschnikows abzufeuern. Doch es war ganz bestimmt der jüngere von Fatihs Söhnen, da war kein Irrtum möglich. Er gemahnte mich an all die Überzeugungen über das Leben, die ich nicht teilte. Jedes Mal, wenn ich ihn zufällig unterwegs, in der Universität oder gar bei einem Verwandten meiner Großmutter getroffen hatte, hatte er mich streng und vorwurfsvoll angesehen, sodass ich mich stets gedrängt gefühlt hatte, mein Pflichtbewusstsein gegenüber Gott, der Religion, der Familie und meiner Weiblichkeit unter Beweis zu stellen – die Liste endete eigentlich nie.

Als Nana Umm Baschar starb, wussten wir nicht, auf wessen Seite sie war, auf Fatihs oder Baschars. Sie hatte um beide geweint, für beide gebetet und einen korrekten Lebenswandel, Erfolg und den Sieg über ihre Feinde für sie erfleht. Zur Zeit meines Studiums, als ich bei meiner Großmutter in Aleppo lebte, bemerkte Nana Umm Baschar die vielen großen Nachschlagwerke auf meinem Schreibtisch und wollte wissen, was dort eigentlich drinstehe. Also las ich ihr zum Spaß eine Seite vor, auf der es um Sexualität ging und lauter verbotene Wörter vorkamen. Sie war zunächst erstaunt, lachte dann aber laut auf und rief:

»Oh Gott, oh Gott, zeig mal her, steht das wirklich da? Sowas studiert ihr? Und das soll Kultur sein? Muss gute Literatur pornografisch sein?«

Danach kam sie öfter und fragte mich, ob ich ihr Seite 59 des Buches »Gipfel der Genüsse bei der Schilderung der Weine« in der Ausgabe der Wissenschaftlichen Akademie in Damaskus aufschlagen könne, damit sie den Text mit eigenen Augen nachlesen und sich an ihren Neuentdeckungen ergötzen konnte. Manchmal trug sie schwer am Gewicht der Welt, weil sie von ihren beiden Söhnen getrennt war. Baschar hatte man wegen einer Korruptionsaffäre ins Gefängnis geworfen, und Fatih war wieder in Saudi-Arabien. »Spiel mir einen irakischen Mawwal vor!«, sagte sie dann. Ich schaltete den Kassettenrekorder an, und wir hörten Nazim al-Ghazali eine der Rumiyyat von Abu Firas al-Hamdani singen:

»Ich sagte, als neben mir eine Taube gurrte – o Nachbarin, fühlst du wie ich …«

Daraufhin senkte sie den Kopf, brach in Tränen aus und zitterte am ganzen Körper.

Ein paar Tage vor Nana Umm Baschars Tod wachte meine Großmutter morgens wütend auf. Sie sprach kein Wort und brachte mir nicht einmal eine Tasse Kaffee, wie sonst, ans Bett. Ich fragte sie, was los sei, aber sie schwieg. Als ich jedoch insistierte, weinte sie und sagte, sie habe geträumt, mein Großvater, der bereits seit zehn Jahren tot war, habe sie verlassen und ihre Schwester Umm Baschar geheiratet. Sie war sehr aufgebracht und regelrecht eifersüchtig. Als Nana Umm Baschar zum Kaffeetrinken kam, war der Zorn meiner Großmutter noch nicht verraucht, ihre Augen sprühten Funken. In der Nacht darauf erlitt Nana Umm Baschar einen Schlaganfall, und wenige Tage später starb sie. Großmutter vergoss, genau wie ich, viele Tränen. »Welch ein Glück«, meinte sie dann aber, »dass dein Opa sie geheiratet und mitgenommen hat und nicht mich!«

*

Als ich Aleppo verließ, hatte Nadjwan gerade ihren dritten Sohn bekommen. Sie war mit einem Ingenieur für Lebensmitteltechnologie verheiratet. Er war Teilhaber einer Konservenfabrik an der Straße nach Kafr Hamrah, die weiter bis zur Stadt Azaz an der türkischen Grenze führte. Im Januar 2012, nachdem die Angriffe der bewaffneten Gruppierungen auf das nördliche Umland von Aleppo sich zugespitzt hatten, wurde die Fabrik überfallen, in ihre Einzelteile zerlegt und in die Türkei transportiert, um dort zum Schrottpreis verkauft oder von sogenannten Fabrikpiraten wieder zusammengesetzt zu werden. Das gleiche Schicksal ereilte dutzende Fabriken, und wie einige Medien berichteten, arbeiteten manche Geschäftsleute aus Aleppo mit diesen Gruppierungen zusammen und forderten sie von sich aus auf, ihre Werke zu zerlegen, damit sie sie in der Türkei wiedereröffnen konnten. Nadjwans Mann allerdings verlor sämtliche Ersparnisse und begann 2014, mit einem Wagen vor dem Haus Hummus und Bohnensuppe zu verkaufen, die Nadjwan zubereitet hatte. Ich war immer gespannt Nadjwans politische Einschätzungen zu hören, denn sie überraschte mich oft mit unerwarteten Positionen. Seit meinem ersten Studienjahr war sie an meiner Seite. Vier Jahre zuvor war sie aus den Emiraten gekommen, hatte die Sekundarschule in Aleppo besucht und sich dann an der Universität eingeschrieben. Ihre Familie stammte ursprünglich vom Land. Bei den Vorfällen in den Achtzigern, genauer gesagt in ihrem achten Lebensjahr, war ihr Vater wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung festgenommen worden. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Leute in Zivil mit Pistolen in ihr Haus eingedrungen waren. Im Morgengrauen hatten sie ihren Vater, ohne dass er Widerstand geleistet hätte, vor den Augen seiner Frau, seiner Eltern und all ihrer Geschwister abgeführt. Danach hörte niemand mehr etwas von ihm. Fünf Jahre lang schaltete man alle möglichen Leute als Vermittler ein, ob sie ihn nun gekannt hatten oder nicht, bezahlte hohe Summen, und die Frauen gaben ihr Gold, nur um Gewissheit zu erlangen, ob er noch lebte. Dann erhielten sie die Nachricht, man habe ihn liquidiert. Sie kam von einem anderen Häftling, der ihn im Tadmur-Gefängnis getroffen hatte. Nadjwans Mutter heiratete daraufhin den ledigen Bruder ihres Mannes, der mit ihnen in ihrem Haus im Bezirk Bustan al-Qasr lebte. Die Familie mit den drei Kindern und der schönen, noch keine dreißig Jahre alten Mutter sollte schließlich eine Zukunft haben.

Nachdem der Großvater und die Großmutter bereits gestorben waren, hörte man es an einem Septemberabend im Jahr 1995 an die Tür klopfen. Nach fünfzehn Jahren war der Häftling aus dem Gefängnis zurückgekehrt und suchte nun im Hause seines Vaters nach seiner Frau und seinen Kindern. Es war eine harte Zeit, jeder von ihnen, einschließlich der beiden Kinder, die Nadjwans Mutter von ihrem Onkel bekommen hatte, litt schrecklich unter der Situation. Letztendlich jedoch entschieden sie sich alle dafür, bei ihrem Onkel zu bleiben. Sie reisten in die Emirate aus und ließen ihren Vater allein im Haus zurück, der es daraufhin in eine Koranschule umwandelte. Nadjwan war so mutig, Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellten, zu überwinden, sie war gutherzig, fleißig und wissbegierig. Ihr Studium setzte sie bis zum Abschluss fort und ließ sich auch von ihrem Kopftuch nie davon abhalten, sich unter ihre Kommilitonen und Professoren zu mischen, zu reisen oder zu feiern. Genauso wenig stand ihre Vergangenheit ihrer Zukunft im Weg. »Als ich in meinen Erinnerungen keine Ordnung schaffen konnte«, sagte sie einmal zu mir, »habe ich es einfach seinlassen. Genau wie man es sich verkneift, ein schmutziges Zimmer aufzuräumen, wo Chaos herrscht und Reisekoffer herumliegen, sodass man gar nicht mehr weiß, wo man anfangen soll. Da geht man dann lieber hinaus, schlägt die Tür hinter sich zu und verschwindet.«

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Nasser führte mich zurück in lieb gewonnene Regionen meiner Erinnerung, die ich irgendwann verlassen hatte und von denen ich nie gedacht hätte, dass sie noch da waren. Er versetzte mich in eine Zeit zurück, in der mir die Zukunft nicht schnell genug kommen konnte. Jetzt, da sie da war, reiste ich zurück in die Vergangenheit, und Nasser gab den Anstoß dazu.

Er musste einer der gutaussehenden jungen Männer in weißen Shorts und bunten Hemden gewesen sein, die in der Villa der al-Haffar gewohnt hatten. Dieses Haus, mit dem warmen Licht der Kristallleuchter an den hohen Decken hatte ich sehr gemocht. Ich liebte die Gemälde, die sich ordentlich an die Wand reihten, die von der Straße aus sichtbar war. Was ich jedoch am meisten liebte, war der große Chinarindenbaum, dessen Zweige sich bis zu den Fenstern im zweiten Stock reckten, um die Hausbewohner vor den Augen der Neugierigen zu verbergen. An brütend heißen Julitagen, wenn ich von einem ausgedehnten Spaziergang durch den Souk von Azizieh oder von den Hügeln heimkehrte, kaufte ich mir bei Kan ya ma kan ein Glas Tamarindensaft und genoss seinen süßsauren Geschmack im Schatten unter diesem Baum.

Frau Schahira war in Damaskus aufgewachsen, hatte an der Philosophischen Fakultät Arabisch studiert und Herrn Adham al-Amiri geheiratet, den Sohn eines Freundes der Familie, der im Palästina unter dem britischen Mandat ein bedeutender Ökonom gewesen war. Aus Haifa waren sie später nach Amman gezogen. Er war an der Gründung der Arabischen Bank beteiligt gewesen und hatte ihre wirtschaftliche Strategie mitentworfen. Nassers Vater Adham hatte nach seinem Studienabschluss an der École Polytechnique in Paris die Arbeit seines Vaters im Kollektiv der Bank fortgesetzt. Dann starb er mit Mitte fünfzig an einem Herzinfarkt. Nach seinem Tod kam Schahira oft nach Aleppo, denn sie hatte ihren Geschwistern deren Anteile an der Villa ihres Vaters abgekauft. Und wenn Nassers Schule, das Islamic Educational College in Amman, Ferien hatte, begleitete er sie.

Zum letzten Mal hatte er Aleppo vor den gewaltsamen Auseinandersetzungen von 1982 zwischen der Baath-Regierung und den Muslimbrüdern besucht, die Aleppo, die Hochburg der Sunniten, als ihre Heimstätte ansah. Danach war Nasser nach Amerika aufgebrochen. Seine Mutter war ihm gefolgt, kehrte nach seiner Heirat aber zurück, um den Rest ihres Lebens in Amman zu verbringen.

Stundenlang unterhielten wir uns und beschworen den Geist der Vergangenheit herauf, den Duft nach Jasmin, Geißblatt, Jujuben und die von Küchendünsten aus den alten Häusern um den Bagdad-Bahnhof geschwängerte Luft. Gemeinsame Erinnerungen müssen nicht zwangsläufig gemeinsame Gefühle bedeuten, doch Nasser teilte einen sehr wichtigen Schatz mit mir: Aleppo, meine halbe Erinnerung, die zweite Hälfte meiner Identität.

Unser Haus dem Himmel so nah

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