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Der Mädchenpalast
ОглавлениеAm Morgen des 28. August 1963 strömten die Menschen in der amerikanischen Hauptstadt scharenweise auf die National Mall und versammelten sich vor dem Lincoln Memorial. Diese Vorkämpfer für die Bürgerrechte waren gekommen, um dem gutaussehenden jungen Schwarzen zu lauschen, dessen Augen die Leiden der Propheten widerspiegelten. Es handelte sich um Martin Luther King. In schwarzem Smoking und schneeweißem Hemd hielt er eine Rede vor 250000 Männern, Frauen und Kindern, um mit seiner mitreißenden Rhetorik die Geschichte des mächtigsten Staates der modernen Welt auf neue Bahnen zu führen:
Ich habe einen Traum, dass sich diese Nation eines Tages erheben wird
und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird:
»Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich:
dass alle Menschen gleich erschaffen sind.»
Drei Mikrofone reichten an jenem strahlenden Morgen aus, um alle Welt für viele Jahre mit einem Mut bekannt zu machen, der eng mit einer Utopie verbunden war. Die Sykomoren und Kirschbäume warfen ein Echo der Rede zurück, und man sah ihre Wirkung an den Tränen der Männer und Frauen, die in den Teich gegenüber der Kongresskuppel flossen:
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia
die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter
miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.
Mitten im Gedränge stand ein junger braunhäutiger Syrer mit schwarzem Haar und großen, lebhaften schwarzen Augen. Seinen sportlichen Körper aufgerichtet und angespannt, hörte er voller Begeisterung und in dem Bewusstsein zu, einen historischen Augenblick zu erleben. Es handelte sich um Suhail Badran, der später mein Vater wurde, einen Studenten der Universität Boston, die auch Martin Luther King besucht hatte. Nachdem er sein Vorbereitungsjahr mit Bravour beendet hatte, hatte er sich gerade für das erste Semester seines Architekturstudiums eingeschrieben.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht
und jeder Hügel und Berg niedriger werden.
Die unebenen Plätze werden flach
und die gewundenen Plätze gerade,
und die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,
und alles Fleisch miteinander wird es sehen.
Mein Großvater väterlicherseits war ein Großgrundbesitzer im Euphrattal gewesen. Auf seinen weitläufigen Ländereien arbeiteten Dutzende von Bauern, die mit ihren Familien im Umkreis wohnten. Mit der Zeit dehnte er den Verkauf seiner reichen Ernten aus auf den Handel mit Landwirtschaftsbedarf wie Sämereien, Werkzeugen und Geräten, und Gottes Land gedieh in seinen Händen. Obwohl ein Feudalherr, hatte mein Großvater mit den Fürsten im zaristischen Russland oder den südamerikanischen Sklavenhaltern nichts gemein, nicht einmal mit den Grundherren in Aleppo oder Latakia, die ihre Bauern auspeitschten, sie für nicht mehr als ihr tägliches Brot und ihre Unterkunft schuften ließen, ihre Töchter entjungferten und sie in Schulden trieben, um sich ihrer Ländereien bemächtigen zu können.
Al-Hadsch Ali Badran war ein Lehnsherr nach lokalem Brauch, nicht nach der sozialistischen Theorie. Er hatte das Land auch nicht von seinen Vorfahren geerbt, denn sie waren Lehrer und Richter für die verschiedenen Stämme der Region gewesen. Er selbst hatte unter dem osmanischen Staat als Dolmetscher für Persisch und Türkisch gearbeitet und auf diese Weise Geld angespart, mit dem er, wie viele andere, mehrere Grundstücke am Euphrat kaufte. Land war dort damals leicht erhältlich, denn es lebten wenige Menschen auf den verfügbaren Flächen und ihnen war nicht klar, wozu sie einen Besitz jenseits der eigenen Grundbedürfnisse nutzen könnten.
Der Grundstock für das Familienvermögen war von der Seite meiner Großmutter gekommen, die Ländereien und Gold-Lira ihres Vaters geerbt hatte und ihren Mann drängte, etwas daraus zu machen. Er wiederum brachte ein risikofreudiges Wesen mit, das ihn bei den ersten erfolgreichen Abenteuern mit ihrem Geld unterstützte.
Zwischen 1915 und 1965 stürzte sich al-Hadsch Ali auf zahlreiche weitgreifende Neuerungen. Er baute die erste Getreidemühle der Gegend, um den Bedarf der Bevölkerung an Mehl und Grütze zu decken, und wandelte sie später in eine industrielle Mühle um. Als sich immer mehr Menschen in Raqqa und Umgebung niederließen, baute er einen Töpferofen zum Brennen von Tonwaren, und später für Ziegel zum Bauen.
Zu jener Zeit wurden in der Folge zweier Weltkriege die Landkarten ständig neu gezeichnet, und Syrien lag genau im Auge des Sturms. Das führte dazu, dass man sich zunächst gegen die Osmanen auflehnte und für Unabhängigkeit eintrat, und anschließend auch die französischen Kolonialherren bekämpfte. Die meisten Landkartengestalter entstammten feudalen Familien und bildeten die herrschende aristokratische Schicht. Wegen des sozialen Ungleichgewichts stand sie in der Geschichte der Kämpfe in Syrien unter ständiger Kritik. Auch al-Hadsch Ali Badran war einer von diesen Männern, gleichzeitig repräsentierte er in Raqqa und Umgebung den Nationalen Block.
Schon vor diesen heftigen politischen Geburtswehen, nämlich im Jahr 1920, hatte meine Großmutter meinen Onkel Yusuf geboren. Er wurde kurz nach der Schlacht von Maysalun geboren, in der Yusuf al-Azmah, Kriegsminister in der Regierung Faisals I., gefallen war. Nach diesem Yusuf wurde mein Onkel benannt, und das sollte sich auf sein Schicksal auswirken, denn mehr als vierzig Jahre später wurde er Minister der Regierung der Arabischen Republik Syrien, die nach der Abspaltung von der Vereinigten Arabischen Republik auf die syrisch-ägyptische Einheitsregierung folgte.
Nach Onkel Yusuf bekam meine Großmutter nur noch meine Tante Laila, denn nachdem mein Großvater zwei weitere Frauen geheiratet hatte, die ihm fünf Jungen und vier Mädchen gebaren, verweigerte sie sich ihm.
Erst im Jahr 1936 wohnte mein Großvater meiner Großmutter nach mehr als zehn Jahren Trennung wieder bei, und sie wurde mit meinem Vater schwanger, und zwar als die französische Artillerie mit noch nie dagewesenem Brutalität Raqqa in Trümmer legte und die Familie für zehn Tage in einen Unterschlupf an der Straße nach Deir al-Zor zog, der sonst als Speicher für Butterschmalz, Olivenöl und Dörrfrüchte diente.
Ende des Zweiten Weltkriegs beendete mein Onkel Yusuf in Damaskus ein Medizinstudium, während seine Halbbrüder auf den ausgedehnten Ländereien ihres Vaters arbeiteten. Meine Großmutter saß in ihrem Zimmer, das auf ihren prächtigen Garten mit Granatapfel- und Quittenbäumen hinausging, vor sich die Blechkanne mit bitterem Kaffee auf einem kupfernen Kohlebecken. Mit der Hand, auf die eine blaue Ähre tätowiert war, drehte sie am Senderwahlknopf des Cambridge-Radios in seinem Holzgehäuse und wartete auf die Nachrichten. Dort würde man später berichten, dass ihr Ältester, Gesundheitsminister Doktor Yusuf Badran, es möglich gemacht habe, eine erste Ladung Polioimpfstoff nach Syrien zu holen, und die Menge würde ausreichen, um zehntausend Kinder in der Ostprovinz zu impfen. Es handelte sich um die Vakzine, die der amerikanische Wissenschaftler Jonas Salk im Jahre 1955 der Öffentlichkeit präsentiert und der Menschheit zur Verfügung gestellt hatte. In der gleichen Nachrichtensendung hörte meine Großmutter den ägyptischen Sprecher der arabischen Abteilung des BBC, Hassan Abu al-Ala, verkünden: »Amerika wird die Herrin der Welt sein und Europa die Sklavin zu ihren Füßen.« Von da an bestand meine Großmutter darauf, Suhail solle in Amerika, und nur in Amerika, studieren.
Suhail Badran, mein Vater, reiste mit den Füßen eines Elefanten, den Flügeln eines Adlers und dem Herzen eines Tigers nach Washington. Denn einerseits verfügte er über ein umfangreiches und altehrwürdiges Erbe sowie den starken Wunsch, erfolgreich zu sein und aufzusteigen, daneben jedoch auch über starke und glühende Leidenschaften. Meine Mutter, die heimlich sein Tagebuch gelesen hatte, sagte einmal: »Er ist ein wahrer Bulldozer an Liebe und Verlangen. Jedes Mal, wenn er einer Schönheit begegnet war, sagte er: ›Ich habe die Liebe meines Lebens gefunden‹!«
Er schloss sein Studium mit zwei Magisterurkunden ab: eine von der Boston University im Fach Restaurierung antiker Städte und eine weitere von der University of California in Stadtplanung. Danach arbeitete er an den Tennessee Valley Projects im Süden des Landes und wurde Zeuge, wie die USA durch den Bau von etwa dreißig Staudämmen das Aussehen der Region nachhaltig veränderten und wie sich Amerika seiner Vorherrschaft in der Welt weiter näherte. Es entstand das größte Wasserkraftwerk der Welt mit einer Leistung von sechzig Millionen Megawatt jährlich. Der bedeutendste Wandel aber, und hier lag das eigentliche Interesse des Ingenieurs Suhail Badran, vollzog sich in den Randregionen rings um die Hauptprojekte, die durch gezielte Entwicklungsplanung neu belebt wurden. Sie boten Menschen einen Wohnort mit Häusern, Schulen, Kliniken, Parks, Klubs, touristischen Anlagen und Kulturzentren, was wiederum zusätzliches Kapital für die weitere Entwicklung anlockte. Ingenieur Suhail war nicht mehr der idealistische Zwanzigjährige, der davon träumte, Unmögliches möglich zu machen. Und in dem Augenblick, in dem meine Existenz ihre ersten Strahlen aussandte, wie er zu sagen pflegte, beziehungsweise im Moment einer historischen Fehlentscheidung, wie meine Schwester Salma beharrlich schimpfte, beschloss er, aus dieser stolzen Welt jenseits des Ozeans in seine Heimatstadt Raqqa – verloren zwischen Feldern und Wüste – zurückzukehren, die ihm jede Karrieremöglichkeit offenhielt. Mein Vater war überzeugt, dass die Geheimnisse immer in den besonders kleinen Dingen liegen, aus denen sich dann die großen ergeben. Eine vollkommene Form, wie der Kreis, sei tot, in ihr sei kein Platz für ein verstecktes Potenzial.
Damals hatte er gerade die Erinnerungen Ralph Waldo Emersons gelesen, des Mannes, der mit seiner unbezähmbaren Fantasie und seinen selbstentrückten Visionen das geistige Dokument des amerikanischen Traums verfasst hatte. Emerson war im 19. Jahrhundert nach Europa gereist, um die Herrlichkeit der Alten Welt zu erleben. Doch er musste feststellen, dass diese nun, nachdem sie intellektuelle, wissenschaftliche und philosophische Vollkommenheit erreicht hatte, im Sterben lag. Er erkannte die latente Kraft Amerikas, das bereit war in der Stunde null zu explodieren, und so kehrte er eilig dorthin zurück, um von der freien Welt zu berichten. Die USA waren für Suhail Badran auf dem Weg, ihr Versprechen zu erfüllen, während Syrien seinerseits die Stunde null erlebte, woran er große Hoffnungen knüpfte. Raqqa und die Städte des Euphrattals würden jetzt zu neuen Horizonten aufbrechen, wie vorher die Städte des Tennessee-Tals. Die in Syrien im Rahmen der Troika-Bewegung der 70er Jahre vorherrschende politische Atmosphäre stand im Zeichen des Kampfes gegen die Feudalfamilien – Familie Badran eingeschlossen. Sie wurden zwar von der Baath-Partei als reaktionär angesehen, doch Suhail glaubte, dass dies nicht den Bau von Häusern verhindern dürfte, und dass vor allem das Licht der Liebe nötig war, um den Randgruppen der Gesellschaft zu helfen.
*
Ingenieur Suhail stürzte sich in die Projekte am oberen und mittleren Euphrat. Etwa vierzig Kilometer westlich der Stadt al-Tabqa wurde der Euphrat-Staudamm gebaut. Dieser Traum sollte noch das entlegenste Dorf Syriens mit elektrischem Licht und allen seinen Vorzügen versorgen. Es sollte Schulen, Krankenhäuser, Parks, Open-Air-Kinos und Sportklubs geben, und in der syrischen Dschazira würde man tausende Hektar Brachland urbar machen. Suhail überwand alle Hindernisse: bürokratische Vorschriften, Protektionismus und auch die Baath-Funktionäre in den Behörden in Damaskus, die aus der Ferne operierten und die weder von den Einheimischen noch von den lokalen Gegebenheiten eine Vorstellung hatten, aber über Millionen von Dollar bestimmten. Entscheidend dabei war, dass Suhail die Gegend und die dort lebenden Menschen, bestens kannte. Er war mit den Böden und dem Wasser ebenso wie mit den Freuden und Sorgen der Bewohner vertraut. Zum großen Teil handelte es sich nämlich um Ländereien, die die Revolution dem Besitz meines Großvaters entzogen hatte.
Für die meisten Grundbesitzer kam die Verstaatlichung einem Todesstoß gleich. Ihre Ländereien wurden zerstückelt und dem Staat übergeben, der sie gemäß der Devise »Der Boden gehört dem, der ihn pflügt«, an die Bauern verteilte. Zu Hause überschüttete meine Tante Laila den Autor dieses Mottos mit Verwünschungen, weil er ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Erst habe er das Vermögen ihres Vaters eingezogen, sagte sie, um es dann an ein paar Bauern zu verteilen und sie mit ihr gleich zu stellen. Diese hatten ihr immer Butterschmalz und Honig fürs Frühstück gebracht und auf dem Balkon des Sommerhauses mitten in den Feldern am Euphrat serviert, bevor sie sie in ihrem Messingbett aufgeweckt und die Mückenschwärme verjagt hatten.
Im Jahr 1963 starb mein Großvater an der Verstaatlichung. Er erlitt einen Herzanfall, als er sah, wie seine Träume, Ideen und sein Schweiß ins Eigentum anderer übergingen, wobei man sich auf frühere Äußerungen Gamal Abd al-Nassers berief, der sich auf den Rücken von ein paar Hundert Grundbesitzern zum Ritter aufschwingen wollte. Das Revolutionsregime in Syrien folgte Nassers Beispiel: Von denen nehmen, die denken und arbeiten, um jenen zu geben, die sich, wie es Onkel Ibrahim der Landverwalter formulierte, in der Erntezeit über Frauen auf dem Feld herfielen und anschließend im Wasser des Flusses badeten.
Für die Ingenieure, Direktoren und selbst die Arbeiter in den Entwicklungsprojekten war Ingenieur Suhail ein Feudalherr, ein Verbündeter der kapitalistischen Kultur, da er in ihren bedeutendsten Zentren studiert hatte. Sie sahen höhere Bildung als Vergehen an, während ihrer Meinung nach nur die praktischen Erfahrungen aus den sozialistischen Staaten etwas taugten. Kaum jedoch hatten die 80er Jahre begonnen, standen sie im Rauda-Viertel von Damaskus vor einem kleinen Schalter in einem riesigen weißen Gebäude, über dem die amerikanische Flagge wehte, mit ihren Söhnen Schlange. In den Händen hielten sie Empfehlungsschreiben und Bürgschaften von Ingenieur Suhail Badran, die ihren Söhnen erfolgreiche Gespräche mit dem amerikanischen Konsul und ein Visum für die USA garantieren sollten.
Das erste Gebäude, das Suhail nach seiner Rückkehr aus Amerika restaurierte, war die Villa, in der ich geboren wurde und meine Kindheit und Jugend verbrachte. Sie war mehr als einhundertfünfzig Jahre alt. Mein Großvater hatte sie von seinem Vater geerbt, später hatte mein Vater im Austausch für das Gebäude seinen Geschwistern einen Teil seines Erbes überlassen. Er hatte ein feines Gespür für alles, was der Restaurierung bedurfte. Er bewahrte den Charakter des Hauses und fügte die Anbauten so harmonisch an, dass sie weder das Auge noch die Seele verletzten. Dabei war ihm meine Mutter eine große Hilfe, denn ihre Perspektive war ganz anders, städtischer, denn sie hatte sich intensiv mit Philosophie, Kunst und Französischer Literatur beschäftigt. Mein Vater hatte sie über den Bruder ihrer Mutter kennengelernt, der mit ihm zusammen in Boston studiert und ihn zu seiner Hochzeitsparty im Saad-Klub in Aleppo eingeladen hatte. Dort verliebte er sich sofort in sie. Davor war sie mit einem Kapitän zur See verheiratet gewesen, dem Spross einer großbürgerlichen Familie aus Aleppo, hatte sich aber nach weniger als einem Jahr Ehe wieder von ihm getrennt, weil er darauf bestanden hatte, sie auf all seine Seereisen mitzunehmen. Monatelang war sie seekrank gewesen. Während er sie so sehr liebte, dass er sich nicht eine Nacht von ihr trennen konnte, sah sie in ihm nur einen Egoisten ohne Verständnis für ihre Leiden, verließ ihn und heiratete wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung meinen Vater.
Meine Großmutter hielt überhaupt nichts von einer Heirat mit einer geschiedenen Frau, aber meine Tante Laila, die sie in ihren letzten Tagen umsorgte, hatte großen Einfluss auf sie und beschwichtigte sie: »So etwas kommt in den besten Familien vor.« Sogar Jacqueline Kennedy sei schließlich vor ihrer Ehe mit Onassis mit John F. Kennedy verheiratet gewesen. Sie war bestens informiert, denn sobald Tante Laila eine Zeitschrift wie al-Mau’id, al-Schabaka oder Rose al-Yussuf in die Finger bekam, konnte sie nicht mehr davon lassen und verschlang den Klatsch über die Prominenten.
In unserem Haus entstanden zwei Flügel: zunächst der altorientalische, ein restaurierter Ziegelbau, der aussah, als hätte ihm ein Maurer des 18. Jahrhunderts erst am Vortag den letzten Schliff gegeben und sich dann zufrieden den Staub von den Kleidern geklopft. Kuppeln und Stalaktitengewölbe im Abbasiden-Stil bildeten die Decken. In ihm waren ein Büro, zwei Empfangssalons und ein großes Esszimmer untergebracht, das sich zum Innenhof hin öffnete. Im Hof wuchsen Limonen- und Zitronenbäume sowie Rosenstöcke rings um ein Wasserbecken mit einem Boden aus blauem Granit, das sieben Meter lang, drei Meter breit und einen bis anderthalb Meter tief war. Der andere, westliche, Flügel war modern, in ihm lagen, auf zwei Ebenen verteilt, die Schlafzimmer. Beide Stockwerke waren durch eine kleine Innentreppe verbunden, die oben in einem kleinen Zimmer und unten an der Haupteingangstür endete, die in den äußeren Garten führte. Dieser war einfach bepflanzt mit Jasmin, Geißblatt, Basilikum und roten Rosen. Dort standen Korbstühle, deren Sitze mit der Zeit mit bunten Plastiksträngen geflickt wurden, der eine Stuhl blau, der zweite rot, der dritte grün …
Die gesamte Einrichtung war kostbar, sorgfältig ausgewählt und voller Erinnerungen. Der Salon war im Louis-quinze-Stil eingerichtet, die Wohnzimmer kopierten Harrods, alles stammte von dem Möbelmacher Leon Masabaki aus Aleppo. Die Kronleuchter in den Salons, die mein Vater aus Österreich mitgebracht hatte, waren aus echtem Kristall, die in den anderen Räumen waren aus Bronze, drei davon ehemalige Petroleumlampen, die noch aus der Zeit meines Urgroßvaters stammten. Meine Mutter hatte sie im Keller des alten Hauses gefunden und im Antiquitätengeschäft al-Hamawi elektrisch umarbeiten lassen. Die Teppiche waren natürlich alle Perser, unsere Familie wollte keine aus China oder Deutschland, wie alt und vornehm sie auch sein mochten. Mein Vater hatte seine Teppiche von meinem Großvater geerbt, der sie seinerseits von seinem Vater und Großvater erhalten hatte, und so fort … Zwei der Teppiche waren zwölf Meter lang, drei andere genau die Hälfte, und fünf kleinere waren aus Kaschan-Stücken zusammengesetzt. Die Vasen, Gläser und Aschenbecher aus Silber oder weißem und farbigem Kristall waren mit Bedacht auf den Konsolen, Tischen und in den Vitrinen arrangiert. Meine Eltern hatten sie auf ihren zahlreichen Reisen nach Polen, Bulgarien und in die Tschechoslowakei gefunden. Auch die Gemälde waren durchweg Originale und sorgfältig gehängt. Sie stammten von syrischen und arabischen Künstlern, die meist mit meinem Vater befreundet waren und von denen er bei ihren Ausstellungen in Damaskus, Aleppo und Beirut gerne Bilder erwarb: Louay Kayali, Fateh al-Moudarres, Saad Yagan, Wahid al-Maghariba, Scharif al-Muharram, Tamam al-Akhal und der aus Raqqa stammende Fawwaz Yunis.
Das wertvollste Stück, ein Walnussholz-Schrank aus den 30er Jahren, der den großen Salon im alten Flügel zierte, war eineinhalb Meter hoch, einen Meter breit und einen halben Meter tief und hatte unten zwei Türflügel und oben sechs Schubladen, auf jeder Seite drei. Als mein Großvater Repräsentant des Nationalen Blocks für die Region war, hatte er die politischen Dokumente dort deponiert, und so betrachtete mein Vater den Schrank später als Augenzeugen der politischen Geschichte unserer Familie. Nach seiner Rückkehr aus Amerika war der Schrank nur noch ein Stück Sperrmüll gewesen, meine Tante Laila hatte alte Zeitungen und Staubtücher darin verstaut. Leon Musabaki restaurierte ihn, beizte ihn mit dunkler Holzlasur, zeichnete die Ornamente mit Goldstift nach, befestigte neue Bronzegriffe an den Schubladen und legte eine kostbare Platte aus weißem, grau und schwarz geädertem Marmor auf. Er brachte auch drei antike Messingschlösser in Tierform an, eine Schildkröte, eine Eidechse und eine Schlange, die mein Vater im alten Suk von Maskat in Oman gekauft hatte. Darauf stand eine Dose aus rotem Samt mit einer Münze aus reinem, 24-karätigem Gold, die jeder bewunderte. Man hatte den Namen »Suhail Badran« eingraviert, mit Hinweis an den Ersten Preis der »Organisation der arabischen Städte« im Jahre 1984 für den Wiederaufbau der alten Stadtmauer von Raqqa.
Obwohl wir immer genug Dienstboten im Haus hatten, fiel die Aufgabe, diese Raritäten zu polieren und die Teppiche zu reinigen, meiner Schwester und mir zu. Meine Mutter war der Meinung, dass wir uns den großartigen Geist dieser Stücke vor Augen halten sollten, aus dem sie entstanden waren. Wir hinterließen unsere Fingerabdrücke darauf, gaben ein bisschen Wasser auf das Kristall und dann rieben wir es mit einem trockenen Tuch ab. Silber und Messing hingegen putzten wir mit einem speziellen Präparat aus Beirut, das man auf ein Stück feuchten Baumwollstoff gab. Die Ölgemälde durfte man, um die Farben zu erhalten, nur mit einem Federwedel entstauben.
Von außen verriet das Haus nichts von der Pracht im Inneren. Dies entsprach den architektonischen Vorstellungen meines Vaters, er wollte, dass es sich harmonisch zwischen die einfachen Häuser der Verwandten und Nachbarn im Viertel einfügte. Das Anwesen meines Onkels, des Ministers, dagegen, nur fünf Häuser weiter, glich einem Palast, an dessen Tor die Passanten nicht gerne vorbeigingen und lieber die Straßenseite wechselten. Am vertrautesten war uns das Haus Faisals, meines jüngsten Onkels, des Sohnes von Hagar, der Nebenfrau meiner Großmutter. Es war voller Leben, dafür sorgten seine italienische Frau und seine drei Söhne. Onkel Faisal hatte in Rom bildende Kunst studiert und schon von Jugend an den Mädchen nachgejagt. Nach dem Tod seiner Mutter war er von den Hausmädchen aufgezogen worden, und mit siebzehn Jahren erwischte ihn meine Großmutter im Keller des Hauses mit ihrem Dienstmädchen Rahima. Und wie diese eingestand, war es nicht das erste Mal. Deshalb schickte man ihn nach Rom, und Rahimas Angehörige holten das Mädchen zurück nach Afrin, wo sie, wie wir später erfuhren, von ihrer Familie getötet wurde. Mein Vater sagte, das Blut des Feudalherrn sei der Grund für Faisals Lüstgernheit, doch meine Großmutter protestierte: »Er hat das Blut seiner gemeinen Mutter geerbt.« Sie hegte immer noch einen Groll gegen die verstorbene Nebenfrau. Meine Tante Laila erinnerte sie daran, dass sie meinen Onkel Yusuf als Kind ebenfalls dabei ertappt hatten, wie er eins der Dienstmädchen ausgezogen und auf die Terrasse gebettet hatte. Er hatte ihre Umrisse mit einem Kohlestift nachgezeichnet und erklärt, er werde sie operieren. Aber er sei damals doch erst zehn Jahre alt und bereits entschlossen gewesen, Arzt zu werden, erwiderte meine Großmutter in vollem Ernst. All das habe rein wissenschaftlichen Zwecken gedient.
Die Italienerin Natalia war wie mein Onkel Faisal ein Freigeist. In den wenigen Jahren, die sie in Raqqa wohnte, verbrachte sie die meiste Zeit damit, ihren Söhnen, die immer etwas ausheckten, hinterherzurennen und ihnen, was immer ihr in die Finger kam, nachzuwerfen: einen Schuh, einen Pantoffel oder irgendwas aus der Küche, um in gebrochenem Arabisch »Badran ist ein Gangster!« hinterherzurufen. Tante Souaida, die in einem der Nachbarhäuser wohnte und unverheiratet war, wachte jedes Mal von dem Geschrei auf und lief in dem kurzen Unterkleid, das die Frauen in Raqqa unter dem langen Obergewand tragen, hinaus. Da sie keinen BH trug, schwangen ihre Brüste auf und ab, als kündigten sie eine Schlacht an, während sie versuchte, ihr Kopftuch festzubinden, das ihr allerdings immer wieder aus den Fingern glitt, und rief: »Haltet diese Verrückte auf, sonst bringt sie ihre Kinder noch um!« Die drei Jungen flüchteten sich zu ihr und suchten Schutz in ihrem Haus, das eher einer Höhle glich. »Souaida ist auch ein Gangster!«, war Natalias Kommentar dazu.
*
Tante Souaida war sehr hellhäutig, klein und dick und hatte einen gewaltigen Hintern, den ihre traditionellen, weiten Unterkleider nicht verbergen konnten. Ihr Haar hatte sie in zwei kurze Zöpfe geflochten. Jeden Morgen, wenn sie den Gehweg vor dem Haus fegte, rutschte der Stoff ihres Gewandes zwischen ihre Gesäßbacken und zog die Blicke von Groß und Klein, Anwohnern und Passanten, auf sich. Später stellte sich heraus, dass ihr Unterhosen zu sehr ins Fleisch schnitten, und so hatte sie beschlossen, darauf zu verzichten. Dies gab sie auch allen bekannt. Meine Mutter missbilligte dieses Benehmen sehr und sagte, es gehöre sich nicht und Tante Souaida lebe wie eine Ungläubige. Aber sie bete und faste doch und lese im Koran, entgegnete ich. Und Onkel Faisal erhob sie sogar zu einem Muster an revolutionärer Gesinnung, einem modernen Exemplar der Sansculotten während der Französischen Revolution in Paris. Unter ihnen seien auch Arbeiterinnen gewesen, in denen man heute eine der Wurzeln der internationalen Frauenbewegung sehe, die gegen aristokratische Gepflogenheiten aufbegehrten, indem sie keine Kniebundhosen, sondern lange Hosen trugen.
Tante Souaidas Erscheinung und revolutionäre Autorität erfüllten mich stets mit Bewunderung und Freude, und so setzte ich mich gerne auf die Schwelle des Nachbarhauses, um ihren emsigen Bewegungen zuzusehen, für die ihr schwerer Körper kein Hindernis darstellte. »Sitz nicht auf der Schwelle, Djudju«, rief sie mir dann zu, »die Dschinn halten dort Hochzeit, und du störst sie!« Sie war die Einzige, die mich Djudju rief, denn Kosenamen waren in unserem Haus verboten. Ich erschauerte bei ihren Worten, setzte mich woandershin und dachte: ›Warum lassen die Dschinn eigentlich so viel Platz ungenutzt und tummeln sich nur auf den Türschwellen?‹
Irgendwann zog Onkel Faisal mit seiner Familie nach Bagdad, um an der Universität Kunst zu unterrichten. Er hatte von Freunden, die er von seinem Studium in Rom her kannte, ein verlockendes Angebot erhalten. Die Chance, an den Universitäten von Damaskus oder Aleppo eine Stelle zu bekommen, war für einen Nicht-Baathisten ohnehin gering. Er kämpfte zwar in einer seltsamen Mischung von Existenzialismus und Marxismus weiter gegen Privateigentum, Grundbesitz und die Reaktion, lebte aber von den Zinsen seiner Erbschaft, auch wenn von dem Land seines Vaters nur ein Bruchteil übriggeblieben war. Zum letzten Mal sahen wir ihn 1983, als er sich von uns verabschiedete, um nach Rom zu ziehen. Er hatte gerade eine einjährige Haftstrafe verbüßt, weil er trotz des vollständigen Abbruchs der Beziehungen zwischen Syrien und dem Irak Kontakt zu irakischen Staatsbürgern gehabt hatte. Von Rom ging er wieder nach Bagdad, wo er später promovierte. Trotz der Kriege im Irak verließ er das Land danach nicht mehr. Nachdem man ihn beschuldigt hatte, dem irakischen Flügel der Baath-Partei anzugehören, war es ihm auch gar nicht mehr möglich, zurückzukehren. Ihn plagte das Heimweh, bis er wenige Monate nach dem Einmarsch der Amerikaner starb.
Als ich im Jahr 2005 mit einer Alitalia-Maschine von Casablanca zu einer Tagung über mediterrane Frauenmythen nach Mailand reiste, sagte der Steward durch, Käpt’n Qais Badran lasse die Passagiere grüßen. In vier Sprachen wurde der Name bestätigt: Der Pilot war tatsächlich Qais, der Sohn meines Onkels Faisal. Ich bat darum, ihn sehen zu dürfen, und etwa auf halber Strecke besuchte er mich an meinem Platz. Wir hielten uns lange in den Armen. Er war attraktiv und stark. Wie mein Vater hatte er den glühenden Blick der Badrans. Ich verliebte mich sofort in ihn und wünschte mir, immer bei ihm bleiben zu können. In Mailand stellte er mir seine italienische Frau vor und berichtete, dass sie alle nach der amerikanischen Besatzung des Irak nach Italien gezogen seien und dass seine Mutter Natalia vor einem Jahr an einem Stromschlag gestorben sei, als sie den Weihnachtsbaum schmückte.