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Kapitel 3 - Giulio Bonfortuni

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Graziano Russo räusperte sich und gab bekannt, er habe die Herren Bonfortuni in dringender Angelegenheit um dieses Gespräch ersucht.

«Signori», sprach er eindringlich im düsteren Licht der Tischleuchte und wandte sich Matteo zu: «Es gibt ein Problem!»

Russo informierte, dass eine hochvertrauliche Information in die falschen Hände geraten sei und die Polizei von der geplanten «Operation Glücksspiel» erfahren hätte.

Angelo wirkte schläfrig und unbeeindruckt. Ganz anders Giulio, der sich die Hände vors Gesicht schlug. Er fluchte in süditalienischem Dialekt: «Von wem kam der Tipp?»

Das wollten auch Matteo und Angelo wissen. Längst war ihnen klar: Jemand aus den eigenen Reihen hatte sie verpfiffen; ein Eingeweihter, der ihr Vertrauen genoss, denn nur eine Handvoll Leute hatte von der Operation gewusst.

Graziano Russo hüllte sich jedoch beharrlich in Schweigen. Endlich bemerkte er beiläufig, dass dieses Treffen nun beendet sei und warf Giulio Bonfortuni einen auffordernden Blick zu.

Giulio hatte den Wink verstanden und hielt den Augenkontakt für wenige Sekunden aufrecht. Dann holte er ein gefaltetes Bündel Euronoten aus seiner Hosentasche und schob etwa die Hälfte davon wortlos über die Tischplatte. Graziano Russo griff in selbstverständlicher Manier nach den Noten, zählte sie durch und verzog dann verächtlich den Mund. Er mimte den Beleidigten. Giulio kannte Graziano zu gut und interpretierte die Mimik unmittelbar: Somit schob er auch die zweite Hälfte des Bündels über den Tisch.

Graziano Russo grinste vor sich hin und steckte das Geld zufrieden weg. Anschließend stand er auf, klopfte Giulio versöhnlich auf die Schultern und gab zu verstehen, dass er zum Gehen bereit sei.

Kaum war Russo verschwunden, kam alles plötzlich. Giulio erfasste gerade noch den Moment, als vier Polizisten durch den Haupteingang in die Espressobar und direkt auf Matteo Bonfortuni losstürmten. Ein Polizist packte ihn an der Schulter, der andere drehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte ihn hart gegen die Wand. Einer der Polizisten kontrollierte den Eingang, ein weiterer eilte herbei und schloss ihm die Handschellen ums Handgelenk.

Alle Augenpaare der anwesenden Gäste waren auf Matteo gerichtet. Dieser genoss die Aufmerksamkeit und ließ die Verhaftung kommentarlos geschehen. Als ihm seine Rechte erläutert wurden, war seine einzige Reaktion ein hämisches Grinsen. Er war sich sicher, dass er demnächst wieder auf freiem Fuß sein werde.

Währenddessen beobachtete Giulio den Bürgermeister Russo, wie er sich seinen Hut aufsetzte und elegant und mit gesenktem Kopf fluchtartig die Espressobar verließ. Giulio wunderte sich über die Eile, und er hegte den Verdacht, dass Russo eine gewisse Rolle bei Matteos Verhaftung spielte. Möglich war, dass er vom Polizeieinsatz gewusst hatte. Nun aber galt Giulios Interesse Matteo.

«Kein Problem, Matteo! Du bist bald wieder draußen», war das Letzte, was Giulio seinem Neffen zurufen konnte, bevor dieser in den Polizeiwagen gedrückt wurde.

Er selbst war es gewesen, der Matteo vor fünfzehn Jahren in den Clan eingeführt und ihn bei den wichtigsten Funktionären vorstellig gemacht hatte. Wer zur Familie dazugehören wollte, musste sich erst beweisen. Diese eiserne Regel galt für jeden, auch für Matteo. Erst, wer diese Prüfungen bestanden hatte, wurde als Mitglied des Clans aufgenommen. Eine von Matteos Prüfungen war die «Operation Kino» gewesen. Matteo war in ein Kino der nahegelegenen Stadt eingestiegen und hatte den Tresor mit den Einnahmen vom Wochenende mitgehen lassen. Doch als er sich mit der Beute hatte abseilen wollen, hatte sich ihm ein Mitglied des verfeindeten Clans in den Weg gestellt. Ob es sich um einen Zufall handelte oder nicht, Matteo hatte sich nach den Regeln der Mafia-Familie verhalten.

Ein einziger Kopfschuss hatte gereicht. Der Mann war sofort tot gewesen.

Dass Matteo einen Schalldämpfer benutzt hatte, war ein kluger Zug gewesen und wurde von den ranghohen Mitgliedern des Clans mit Anerkennung goutiert. Niemand hatte den Mord danach mit den Bonfortuni in Verbindung gebracht.

Giulio erinnerte sich an jenen Tag zurück, als Matteo ein offizielles Mitglied geworden war und sich gefreut hatte, dass er nun endlich dazu gehörte. Das war lange her. Inzwischen hatte sich Matteo zu einem führenden Mitglied der «Familie» etabliert.

Die Organisation bestand aus dem Zusammenschluss einflussreicher Familien und breitete sich über die gesamte süditalienische Küste aus. Hier galt es, den klaren hierarchischen Strukturen zu folgen und nach den Gesetzen des Clans zu leben. Matteos Stufe war direkt unter dem Boss, mit dem auch Giulio in einem engen Austausch stand. Bis heute war er sein Informant und Vertrauter geblieben.

Angelo hingegen hatte länger im Ausland gelebt und verdiente sein Geld als Türsteher an den verbotenen Glücksspielabenden.

Ähnlich war auch die Funktion von Giulio Bonfortuni im Clan. Nach vielen Wendungen in seinem Leben war er in die Fußstapfen seines Erzeugers getreten. Sein Vater war ein Mann mit eigenwilligem Charakter und mit gefürchtetem Ruf gewesen und hatte während des zweiten Weltkrieges unter Hitlers Kommando als Telegraph gearbeitet. Er war an der Küste stationiert gewesen und hatte die Ein- und Ausfuhr der Schiffstransporte rapportiert. Unter der Schiffsfracht wurden Zigaretten geschmuggelt.

Nach Ende des Krieges hatte sein Vater untertauchen müssen, andernfalls wäre er in Gefangenschaft genommen, gefoltert oder vielleicht sogar erschossen worden. Den Erzählungen zufolge hatte er in der Schattenwirtschaft Fuß gefasst und sich wegen seiner Kriegsvergangenheit schnell zu einer ranghohen Persönlichkeit etabliert.

Mit dem Geld aus dem Schmuggelgeschäft finanzierte er sich sein erstes Bordell. Das Sexgeschäft mit den Frauen hatte Giulios Vater in der Folge zu einem berühmten und reichen Mann gemacht. Die Männer waren von nah und fern ins Küstendorf gereist, um die Dienstleistungen attraktiver junger Damen in Anspruch zu nehmen.

In dieser Zeit hatte Giulios Vater mit verschiedenen Frauen Kinder gezeugt, darunter Gloria, Angelos‘ Mutter, sowie Giovanni, Giulio und einen weiteren Sohn, der ebenfalls auf den Namen Giulio getauft worden war. Das waren die drei Geschwister, von denen Giulio wusste, aber sicher gab es da noch andere.

Von dem Vermögen seines Vaters allerdings hatten Giulio und seine Mutter keine Lira gesehen. Der Mann hatte sich nie um den Nachwuchs gekümmert. Eher warf er seinen Ex-Geliebten, den Müttern seiner Kinder, vor, dass sie wegen ihrer Schwangerschaft zu fett und fürs Geschäft unattraktiv geworden seien. Also mussten frische Frauen rangeschafft werden – auch die wurden von ihm geschwängert.

Verantwortung tragen war nicht sein Thema, das überließ er den Frauen. Vom Geld war nichts mehr übrig geblieben. Sein Vater hatte es verhurt und beim Glücksspiel verprasst. Zum Zeitpunkt seines Todes war er hochverschuldet gewesen.

Mit dem Tod seines Vaters wollte Giulio mehr über seine familiären Wurzeln erfahren. Natürlich war es ihm nicht verborgen geblieben, dass die Leute hinter seinem Rücken über ihn redeten. Und wie sich später herausstellte, hatte jeder im Küstendorf die Geschichte gekannt, nur Giulio wusste nicht Bescheid.

Er erinnerte sich, als wäre es gestern geschehen. An einem gewöhnlichen Tag, kurz vor dem Abendessen, hatte ihm seine Mutter, anstelle der Spaghetti, die Wahrheit serviert: Sein Vater hatte entschieden, dass er den gleichen Namen wie sein Bruder tragen sollte. Also wurden zwei Söhne Giulio getauft. Dies aus einem ganz einfachen Grund: Sein Vater wollte sich keine weiteren Namen mehr merken.

Das war für Giulio ein harter Schlag gewesen. Am meisten schmerzte ihn, dass er seinem Vater nichts wert war, noch nicht einmal für einen eigenen Namen war er ihm gut genug gewesen; ein Schmerz, den Giulio nicht einfach wegstecken konnte. Er verlor jegliches Vertrauen in andere, aber letztendlich in sich selbst. Es war erst der Anfang seiner bitteren Realität. Von nun an musste er mit der brutalen Wahrheit leben: Seine Mutter hatte als Prostituierte gearbeitet und sein Vater war ihr Zuhälter gewesen. Mehr nicht. Er selbst war lediglich das Resultat von unfreiwilligem Sex.

Wie geht man mit so einer Wahrheit um? Giulio wehrte sich gegen die Vorstellung, doch das half nicht.

Er musste verstehen, dass seine Zeugung lediglich ein Akt des Versehens gewesen war, weit entfernt von Romantik oder sogar Gefühlen der Liebe.

Zu ihrer Verteidigung hatte es seine Mutter so erklärt, dass eine Abtreibung wegen ihres katholischen Glaubens nicht zur Diskussion gestanden hätte. Ihre religiösen Grundsätze wären der einzige Grund gewesen, weshalb sie ihn damals ausgetragen und zur Welt gebracht hätte. Ernüchternd war die schonungslose, kalte Art, wie seine Mutter ihm die Wahrheit servierte.

Nach diesem fürchterlichen Tag hatte sich sein Leben um hundertachtzig Grad gedreht. Oder anders ausgedrückt: Das Leben war noch dasselbe, aber Giulio war «von jetzt auf gleich» erwachsen und auf seine eigenen Beine gestellt worden. Sein Vater war gestorben und das Vertrauen zu seiner Mutter zerbrochen. Verständnis für sein emotionales Desaster bekam Giulio keines. Als er geweint hatte, war die Mutter wütend geworden: «Du wolltest es wissen, selber schuld.»

Später dementierte sie ihre Aussagen, doch es war zu spät: Giulio zweifelte keine Sekunde am Wahrheitsgehalt der Geschichte. Sie sprachen nie mehr darüber.

Als das alles geschehen war, war Giulio gerade mal sechzehn Jahre alt. Das war in der Zeit der Siebzigerjahre. Die Wirtschaft produzierte Konsumgüter mit neuer Fließbandtechnik, und es herrschte weltweit Aufbruchsstimmung. Die neue Generation der Jugend war voller Ideale und Perspektiven. Junge Freidenker, die nach dem amerikanischen Vorbild lebten. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, reizte auch Giulio. Die Schule hatte er abgebrochen, zwischendurch verdiente er sich ein wenig Geld mit Botengängen. In Santa Berta wurde es ihm schnell zu eng, hier kannte er jeden Stein, jeden Winkel und jeden Riss in den Hausmauern.

Bei einem nahestehenden Onkel, der zwei Jahren vorher nach Amerika gezogen war und inzwischen dort eine eigene Tankstelle und ein Haus besaß, hatte Giulio beobachtet, dass man im Ausland schnell reich werden konnte.

Ausschlaggebend für seinen Entschluss, ebenfalls auszuwandern, war dann aber ein weiterer Verwandter gewesen: Giulios Cousin. Auch er war aus Santa Berta weg und in die Schweiz gereist, um Arbeit zu finden. Als er erstmals für den Sommerurlaub in die Heimat zurückgekehrt war, hatten ihn die Dorfbewohner wie einen König behandelt. Giulios Cousin hatte sich in der Schweiz extrem verändert: Er trug nun Klamotten feinster Qualität, an seinem Handgelenk eine edle Schweizer Uhr und eine Goldkette mit einem schweren Jesus-Kreuz-Anhänger um den Hals. Von ihm hatte Giulio gehört, dass es in der Schweiz viel Arbeit zu bester Bezahlung gäbe. Abends war er lange wach im Bett gelegen und hatte darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, in diesem Land zu leben. Nach drei Nächten des Grübelns war sein Entschluss gefasst: Giulio wollte nicht wie seine Eltern enden, die das Dorf kaum verlassen hatten. Er hatte sich höhere Ziele gesteckt, wollte raus in die Welt, die Welt seiner Träume und dieser unbegrenzten Möglichkeiten.

Am nächsten Tag waren die Koffer gepackt, und er folgte seinem Cousin in die Schweiz.

Doch es kam anders als geplant: Nach vier Jahr war Giulio nach Santa Berta zurückgekehrt. Die Nachricht, dass er eine bildschöne, blonde Frau aus der Schweiz an seiner Seite habe, sprach sich schnell herum. Man munkelte, dass er mit der Frau zusammen ein Kind habe. Es sei ein Mädchen mit dem Namen Maya.

Was genau damals in der Schweiz vorgefallen und wer die schöne, junge Frau an seiner Seite gewesen war, darüber wurde geschwiegen. Seither hatte Giulio Bonfortuni sein Heimatdorf nie wieder verlassen.

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