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Mordverdacht

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Wer sich nicht an die Regeln hielt, flog gnadenlos raus. Für härtere Fälle gab es Hausverbot – für immer. Der Mann, der dafür verantwortlich war, war Antonio Rodriguez, Türsteher und Sicherheitsverantwortlicher des Stadtzürcher In-Clubs.

Im berühmt-berüchtigten Szeneclub schlüpften die Schönen und Reichen aus ihren Alltagsrollen und zeigten sich von einer Seite, die niemals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden durfte. Antonio Rodriguez kannte sie alle – und jeder kannte Antonio.

Die vergangene Nacht an der Türe war anstrengend gewesen, der Club knallvoll. Stets hoch konzentriert, hatte Antonio die Leute unter Kontrolle gehalten, bis auf eine Situation, als er in einem Streit unter zwei Jungs dazwischen gehen musste. Ein Kraftakt an sich ohne weiterführende Konsequenzen, dachte er.

Es war bereits sieben Uhr in der Früh und unmittelbar nach beendeter Nachtschicht, als sich ein Anrufer auf seinem privaten Mobiltelefon meldete. Der Herr von der Kriminalpolizei erkundigte sich nach seinem Standort. Offenbar gab es etwas Dringendes, das der Polizist mit ihm unter vier Augen besprechen wollte. Um was es sich dabei handelte, verriet er ihm am Telefon nicht.

Antonio zog in Erwägung, dass sich einer der Jungs eine Verletzung zugezogen und die Eltern daraufhin eine Anzeige erstattet hatten. Gedanklich war er noch dabei, den Streit zu rekonstruieren, als der Polizeiwagen in die Einfahrt des Szeneclubs fuhr. Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus und schritten auf ihn zu.

«Aemisegger, Kriminaloberkommissar bei der Kantonspolizei Zürich. Das ist mein Kollege, Kommissar Köppel.»

Rodriguez nickte den beiden aufmerksam zu. Noch hatte er nicht die geringste Ahnung.

Von der Seite musterte er den jüngeren Kommissar. Als Beschreibung fielen ihm spontan drei Worte ein: Dynamisch, ehrgeizig, arrogant. Köppel befanden sich etwa in demselben Alter wie er, war gleich groß und von sportlicher Statur. Insgeheim beneidete er ihn um sein volles dunkles Haar, während bei ihm die grauen Stellen an den Schläfen dichter wurden und sein Haar weniger.

Um die Veränderung zu kaschieren, rasierte sich Rodriguez die Haare alle zwei Tage und trug aus Überzeugung eine Glatze.

«Können wir ungestört reden?»

«Kommen Sie mit.»

Routiniert öffnete Rodriguez die schwere Metalltüre und führte die beiden Kommissare bei hellem Licht durch den Club. Einige Leute der Reinigungsequipe waren dabei, den Abfall auf dem Boden und den Lounge-Tischen zu beseitigen. Ansonsten war es im Club ruhig geworden.

Antonio stand der Schweiß auf der Stirn. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Er wusste innerlich, dass es um etwas Schwerwiegendes handeln musste - und um etwas, das mit ihm zu tun hatte.

Erst als sie im Mitarbeiterbüro angekommen waren, begann Kommissar Aemisegger zu reden: «Wie wir informiert wurden, sind Sie der Bruder von Frau Emilia Rodriguez, geboren am 18. März 1988.»

Die Blicke beider Kommissare waren auf ihn gerichtet. Antonio stockte, die Frage irritierte ihn.

«Richtig, Emilia ist meine Schwester. Kriminalpolizei? Hat Emilia etwas angestellt?»

«Ist es ebenfalls richtig, dass Sie ihr einziger lebender Verwandter in der Schweiz sind?»

«Ja. Unsere Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Aber deswegen sind Sie bestimmt nicht hier.»

Antonio verstand noch immer nicht, was der Kommissar von ihm wissen wollte. Begriffen hatte er, dass die Polizei wegen Emilia hier war und sich nach ihren verstorbenen Eltern erkundigte. Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend bemerkbar. Die Situation erinnerte ihn irgendwie an damals, als die Polizei an einem Sonntagmorgen bei ihnen geklingelt und mitgeteilt hatte, dass ihre Eltern tödlich verunfallt waren.

Mit heiserer Stimme befahl er dem Kommissar: «Sagen Sie mir sofort, was mit Emilia los ist! Wo ist sie?»

Die beiden Kommissare wechselten wortlos ihre Blicke.

«Ihre Schwester wurde tot aufgefunden. Der Leichnam wird derzeit obduziert.»

Antonio fühlte den Druck im Brustkorb, sein Herz pochte laut und die Hände waren eisigkalt. Die Nachricht fuhr ihm durch Mark und Bein. Er schnappte nach Luft.

«Sind Sie in der Verfassung, uns Fragen zu beantworten?»

Wohl hörte Antonio den Kommissar sprechen, doch war er unfähig, auf ihn einzugehen. Der Schock sass tief. Benommen flüsterte er: «Sind Sie sich wirklich sicher?»

«Inzwischen ja. Zu Beginn war die Identität der Leiche noch unklar. Erst gestern kam die entscheidende Wende. Ein Waldhüter ist auf eine Tasche gestossen. Sie hatte sich in einem Zweig eines Busches verfangen – nur etwa hundert Meter vom Leichenfundort entfernt. Der Bach hatte die Tasche wohl mitgerissen. Wir konnten die Ausweispapiere sicherstellen und die Tote im Wald anhand der Ausweisfotos identifizieren. Es besteht kein Zweifel, dass es sich um Emilia Rodriguez handelt.»

«Davon will ich mich selber überzeugen!»

«Selbstverständlich, Herr Rodriguez. Möchten Sie uns zwecks Identifizierung begleiten?»

«Nein, auf keinen Fall. Das würde mir viel zu nahe gehen. Ich würde es nicht ertragen, ihren Leichnam zu sehen.»

«Ja, klar, das verstehe ich. Aber wir können Ihnen die Aufnahmen zeigen, falls das für Sie erträglich ist.»

Vorsichtig drehte Antonio den Kopf und schaute auf das erste Bild und drehte sich schnell wieder weg. Mit wackliger Stimme bestätigte er dem Kommissar: «Das ist sie.»

«Gemäß unserer Rechtsmedizin lag Frau Rodriguez etwa vier Tage tot im Wald, bevor ihre Leiche vor einigen Tagen entdeckt wurde.»

Feingefühl war keine Eigenschaft, die Kommissar Aemisegger besaß. Eher pragmatisch informierte er Rodriguez über die wenigen Details, die ihm zum aktuellen Ermittlungsstand vorlagen.

«Als Todeszeitpunkt wurde der Samstag, 13. August, zwischen 21.30 und 22.00 Uhr festgestellt. Wir gehen davon aus, dass sie von einem Fels gestürzt und rund zehn Meter in die Tiefe gefallen ist.»

«Wo soll das passiert sein?»

«In einem Wald im Zürcher Oberland.»

War es Wut, war er traurig? Er wusste es nicht. Antonio fühlte sich schwermütig und leer.

«Klingt für mich völlig absurd. Woran ist sie gestorben?»

Dazu äußerte sich Kommissar Aemisegger knapp: «Gemäß dem aktuellen Stand der Ermittlungen hat sie sich bei einen Sturz von einem Felsen tödliche Verletzungen zugezogen. Die Rechtsmedizin geht davon aus, dass Emilia Rodriguez nach dem Aufprall maximal noch zehn Minuten gelebt hat, bevor sie ihren Verletzungen erlegen ist.»

«Ersparen Sie mir die weiteren Details.» Antonio hörte, wie seine Stimme zitterte.

«Die Umstände, die zu ihrem Tod geführt haben, sind derzeit noch unklar. Bis jetzt gibt es nur wenig Anhaltspunkte. Wegen der heftigen Regenfälle wurden die Spuren verwischt, so dass wir die Abrutschstelle nicht eindeutig eruieren konnten. Wissen Sie vielleicht, hatte Ihre Schwester Probleme?»

Für Antonio war jedes Wort vergleichbar schmerzhaft mit einem heftigen Faustschlag in den Magen. In seiner Wut kämpfte er dagegen.

«Wenn Sie darauf hinaus wollen, dass meine Schwester Selbstmord verübt hat, dann vergessen Sie das gleich wieder. Meine Schwester hätte sich niemals freiwillig vom Felsen gestürzt. Genauso wenig wie sie sich fahrlässig in die Situation begeben würde, einen Unfall zu verursachen. Jemand muss sie hinuntergestoßen haben.»

«Tatsächlich gibt es einige Ungereimtheiten. Möglicherweise hatte sie eine körperliche Auseinandersetzung oder sie wurde von jemandem festgehalten.»

«Sag ich doch. Es bestehen keine Zweifel: Emilia wurde ermordet!»

«Ihre Theorie können wir zum jetzigen Zeitpunkt weder bestätigen noch ausschließen.»

«Wehe dem, der Emilia das angetan hat. Ich schwöre, dem mache ich das Leben zur Hölle!»

«Sie unternehmen nichts, Herr Rodriguez. Lassen Sie uns unsere Arbeit machen!»

Nach einem Moment unangenehmer Stille nahm Kommissar Aemisegger den Gesprächsfaden wieder auf und fragte: «Hatte Emilia Rodriguez Streit mit jemandem?»

«Hören Sie auf! Sie wollen es nicht verstehen: Emilia war sehr beliebt. Sie hatte alles, wovon andere in ihrem Alter träumen. Emilia war bildschön, intelligent und sie verdiente ihr eigenes Geld. Natürlich gab es solche, die neidisch auf sie waren. Ihre Arbeitskollegin zum Beispiel, die Sophie. Mit ihr lag sie in dauerndem Zickenkrieg. Nicht, dass ich der einen Mord zutrauen würde. Oder würden Sie jemanden töten, nur weil sie neidisch sind?»

«Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand aus Neid getötet wird.»

Rodriguez war reflektiert genug, um sein anfänglich störrisches Verhalten – wenn auch aus einem Leidensdruck heraus entstanden – zu korrigieren, um sich den Ermittlungsarbeiten nicht in die Quere zu stellen. Doch das fiel ihm außerordentlich schwer. Er musste sich Luft verschaffen.

Kommentarlos stand Rodriguez auf und kam sogleich mit drei Flaschen Wasser zurück. Zunächst setzte er sich auf einen Stuhl und strich mit beiden Händen über seine rasierte Glatze, bis zum Hinterkopf, wo er seine Hände verschränkt hielt. Aus dieser Perspektive starrte er auf die blaulackierten Röhren der Wasserleitung an der Industrie-Decke und informierte die Herren der Kriminalpolizei vorausschauend: «Falls Sie wissen wollen, wann ich Emilia das letzte Mal gesehen habe – das war vorletzte Woche, am Freitag, dem 12. August. Sie wollte bei mir übernachten. Um einundzwanzig Uhr bin ich zur Arbeit. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen oder von ihr gehört.»

Nach kurzem Besinnen fügte Antonio hinzu: «Was nicht ungewöhnlich ist. Emilia ist eine selbständige, erwachsene Frau. Oder besser gesagt: sie war es.»

«Kam das öfters vor, dass Ihre Schwester bei Ihnen übernachtete?», wollte Köppel wissen.

«Immer dann, wenn es für sie praktisch war. So war es auch am 12. August. Am nächsten Tag fand ein Ausflug statt.»

Das schrille Klingeln von Kommissar Aemiseggers Mobiltelefon unterbrach das Gespräch. Aemisegger hielt sich knapp, so dass nichts aus seinen Worten oder Gebärden abzuleiten war. Anschließend an das Gespräch informierte er Köppel: «Der Kollege aus der Forensik meldet soeben, dass ein roter Damenschuh gefunden wurde. Wir gehen davon aus, dass es sich um den Schuh des Opfers handelt.»

«Man hat nur einen Schuh gefunden?», wollte Köppel wissen.

«Ja. Den linken Schuh. Nach dem rechten wird derzeit gesucht.»

Rodriguez bestätigte: «Ich erinnere mich. Meine Schwester trug am 12. August rote Pumps.»

Konzentriert zupfte Aemisegger die Kringel seines Schnurrbarts spitz: «Sie sagten vorhin: Ausflug?»

Die Antwort kam prompt: «Was weiss ich, das habe ich lediglich aufgeschnappt. Verstehen Sie denn nicht; meine Schwester war erwachsen. Sie tat, was sie für richtig hielt und liess sich von niemandem ins Zeug reden. Auch nicht von mir.»

«Beruhigen Sie sich! Niemand ist Ihr Feind, wir schon gar nicht.»

Auch Kommissar Köppel war nicht empathischer als sein Chef: «Darf ich Sie fragen, wo Sie sich am Samstagabend aufgehalten haben?»

«Das fragen Sie mich aber nicht im Ernst?»

«Doch. Wo waren Sie am Samstagabend?»

«Im Club.»

«Das werden wir überprüfen.»

«Volltrottel!»

Kommissar Aemisegger schritt dazwischen. «Meine Herren, so kommen wir nicht weiter.» Er blickte scharf zu seinem Kollegen, der den Wink sofort verstand – und wandte sich anschließend an Antonio Rodriguez:

«Bitte denken Sie nach, Herr Rodriguez. Jede Information könnte hilfreich sein.»

Rodriguez sah ein, dass er sich kooperativ verhalten musste, alles andere wäre unvernünftig gewesen.

«Ich erinnere mich, dass sie am Samstag, dem 13. August, mit ihren Arbeitskollegen unterwegs war.» Antonio dachte kurz nach: «Ja, genau so war es, sie wollte zum alljährlichen Firmenausflug.»

Sofort wurden die Kommissare hellhörig. Herr Köppel vergewisserte sich motiviert: «Firmenausflug, sagten Sie? Bei welcher Firma hat Ihre Schwester gearbeitet?»

«Im Landgasthof von Sebastian Peckard. Ihm gehört auch der Club.»

«Sebastian Peckard? Der prominente Unternehmer?»

Antonio Rodriguez nickte.

«Der ist uns aus den Medien bekannt.»

«Er ist mein Chef.»

«Wir werden Sebastian Peckard einen Besuch abstatten und Ihre Angaben überprüfen. Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.»

Nachdem die Kommissare den Club verlassen hatten, fühlte sich Antonio Rodriguez erschlagen. Die Nachricht hatte ihn bis ins Innerste getroffen. Die Erinnerung an die letzte Begegnung mit seiner Schwester schmerzte ihn. Noch hatte er den Kommissaren verschwiegen, dass er sich mit seiner Schwester am 12. August heftig gestritten hatte. Dabei war es wieder um ihr Outfit gegangen. Einmal mehr hatte er seine Schwester auf ihr viel zu knappes Minikleid aufmerksam gemacht. Er wusste, wie sehr er Emilia verletzt hatte, als er sie wegen ihrer Klamotten als nuttig und billig betitelt hatte.

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ENDE DER SCHULD

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