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DER SCHWARZE WAGEN

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„Da ist sie wieder“, flüsterte Agnes.

„Wer?“

„Die schwarze Steamcoach!“

Kara drehte den Kopf und sah den Wagen unter einer Gaslaterne halten.

„Nicht hinschauen! Da sitzt der Teufel drin!“

Kara musste grinsen. „Ich denke, der reist in einer Schwefelwolke?“

„Und was, meinst du, ist dieser Gestank?“

Das Gefährt, wurde oben von einem Schlot gekrönt, dem eine schwarze Wolke entwich – eine kleine Version der Fabrik-Schonsteine, die beständig ihren Rauch in den Himmel von Neventry bliesen, um die Waffen für den Krieg auf dem Kontinent zu schmieden. Ansonsten glich die Steamcoach einer Pferdekutsche, geschlossen, aber leicht gebaut, mit einem Dach aus Leder, das sich zurückklappen ließ.

„Was ist das für eine Coach?“, fragte Lilly scheu. Sie war noch nicht lange dabei und dazu ziemlich jung. Vince hatte Kara angewiesen, sie unter ihre Fittiche zu nehmen.

„Halt dich von dem Wagen fern“, warnte Agnes. „Keines von den Mädchen, die da eingestiegen sind, ist jemals wieder aufgetaucht.“

Lilly bekam große Augen. „Warum steigen sie dann ein?“

„Weil du tust, was dein Kerl sagt“, gab Kara hart zurück. „Das lernst du schon noch.“ Obwohl sie mit ihren zwanzig Jahren kaum älter war als Lilly, kam sie sich sehr viel lebenserfahrener vor – und war es sicher auch. Sie stieß sich von der rußgeschwärzten Backsteinwand ab, schwenkte ihre Handtasche und schaute unschlüssig zu dem Wagen hinüber. Noch nie war jemand aus dem düsteren Gefährt ausgestiegen. Es kam in dunklen Nächten wie dieser, hielt am Straßenrand und wartete. Die Mädchen hatten gelernt, einen Bogen darum zu machen.

„Bist du wahnsinnig?“, zischte Agnes, als ihr Karas Absicht klar wurde.

„Fragen kostet nichts.“

Mit wiegenden Hüften schlenderte Kara auf den Wagen zu. Durch die Glasscheiben erkannte sie nicht viel. Eine Gestalt saß am Steuer, ebenso schwarz wie der Rest des Gefährts. Die Gaslaterne flackerte und für einen kurzen Moment war Kara geneigt, Agnes‘ Ansicht zu teilen. Doch dann sagte sie sich, dass sie den Teufel nicht fürchten musste. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein als ihr Leben.

Das Seitenfenster war um eine Mittelachse drehbar und geöffnet. Sie beugte sich nieder, um in das Innere sehen zu können.

„Schönen Abend die Herrschaft.“

Die Gestalt am Steuer drehte den Kopf. In der unzureichenden Beleuchtung sah sie einen Herrn mittleren Alters, der ihr entfernt bekannt vorkam, doch sie konnte sich nicht mehr erinnern, woher. Interessanterweise musterte er zuerst ihr Gesicht, dann erst das weit ausgeschnittene Dekolletee.

„Wo ist dein Zuhälter?“, fragte er. Der Satz klang weder fordernd noch verächtlich, sondern sachlich – wie die Frage eines Geschäftspartners.

Kara verzog die Lippen. „Der traut mir zu, die Verhandlungen allein zu führen.“

„Nicht diese“ entgegnete der Mann. Er hatte eine vornehme Aussprache. „Es geht nicht um eine Nacht. Wenn du mitkommst, gehörst du ihm ganz.“

Ein Schaudern lief über Karas Rücken. Das klang nun doch danach, seine Seele zu verkaufen. Aber hatte sie das nicht schon längst getan?

„Das wird nicht billig“, sagte sie betont lässig. Die Summe, die der Mann nun nannte, ließ sie nervös auflachen. „Ich werd’s weitergeben“, versprach sie, stieß sich vom Fenster ab und gewann möglichst schnell Abstand zu dem Wagen. Sie fragte sich, was jemand für einen solchen Preis verlangen würde. Nicht einmal ihre Seele war so viel wert.


Wieder einmal lag eine nackte Frauenleiche vor Coroner Simon Blackwell, doch diesmal war Einiges anders. Zum einen fehlten die üblichen Spuren von sexueller Folter – keine Striemen auf den Brüsten, keine Risswunden im Bereich von After und Vagina. Tatsächlich zeigte der durch das Wasser aufgedunsene Körper gar keine Anzeichen von Misshandlung.

Und noch etwas war anders. Diese Frau kannte er.

Mit einer behutsamen Bewegung strich Blackwell eine nasse Haarsträhne aus Miras Gesicht. Sie war einmal recht ansehnlich gewesen, mit großen Augen und vollen Lippen, die sie stets kirschrot geschminkt hatte – bevor das Wasser des Giffey sie aufgebläht hatte. Er blickte auf, als Schritte erklangen. Detective Inspector Hestridge kam die Treppe herab in Blackwells grün gekacheltes Reich.

„Wieder der Inquisitor?“, fragte der DI, noch bevor er die Leiche in Augenschein genommen hatte.

„Nein“, entgegnete Blackwell. „Diesmal haben wir es offenbar mit einem ganz normalen Mord zu tun.“

„Oder Selbstmord“, entgegnete Hestridge hoffnungsvoll. „Vielleicht ist sie von einer Brücke gesprungen.“

„Splitternackt?“, fragte Blackwell skeptisch und Hestridge seufzte resigniert auf.

„Also haben wir im schlimmsten Fall zwei Frauenkiller in Neventry.“

„Oder es war doch der Inquisitor“, spekulierte Blackwell. „Vielleicht konnte sie ihm entkommen und ist auf der Flucht in den Giffey gestürzt. Das würde die fehlende Kleidung erklären.“

„Möglich. Gibt es schon Hinweise auf ihre Identität?“

„Ihr Name ist Mira – oder zumindest hat sie sich so genannt. Sie hat als Dirne drüben am Trevelyan Square gearbeitet.“

Hestridge musterte seinen Kollegen missbilligend. „Blackwell, Blackwell.“ Er schüttelte den Kopf. „Ihr Zeitvertreib wird Sie noch in Konflikt mit der Partei der Wahren Gläubigen bringen.“

Der Coroner zuckte die Schultern. „Die Gesetze werden nicht von Kirchen gemacht.“

„Noch nicht“, gab Hestridge zurück. „Aber wenn Melcombe zum Premier gewählt wird – und es sieht ganz danach aus – sitzt einer von ihnen bald an der Spitze unseres Landes.“

Blackwell grinste schief und griff nach der Packung Zigaretten auf der Fensterbank. „Dann werde ich jetzt eine rauchen gehen, so lange ich das noch darf“, sagte er. „Kommen Sie mit? Ich habe für Sie auch eine.“


„Na komm schon“, sagte Kara zu dem schüchternen Kunden, der offenbar Schwierigkeiten mit seinem Gürtel hatte. „Deine Zeit läuft.“

Das heruntergekommene Zimmer in Stans Hotel war kaum beleuchtet, und das lag nicht nur an den Gaspreisen. Vollständige Beleuchtung beim Akt galt als pervers – und kostete entsprechend extra. Kara saß auf dem Bett, die Röcke gerafft und bereit. Sie sah nicht genau, was der Kerl in der Ecke trieb, doch sie hatte eine starke Vermutung.

„Kriegst du ihn nicht hoch?“

Die hektische Betriebsamkeit endete abrupt und eine unangenehme Stille breitete sich aus.

Kara seufzte auf.

„Komm her, Kleiner“, sagte sie, und ihre Stimme hatte nun etwas Mütterliches. Als er sich nicht rührte, winkte sie mit der Hand. „Du brauchst dich nicht zu schämen. Bist das erste Mal bei einer Hure, was? Das passiert vielen. Komm, ich helfe dir.“

Mit schlurfenden, kleinen Schritten, zu denen ihn die heruntergelassene Hose zwang, kam er näher, zwischen seinen Beinen ein Bild trauriger Kraftlosigkeit. Als er vor ihr stand griff sie danach und begann zu reiben.

„Normalerweise kostet die Hand extra“, erklärte sie dabei geschäftsmäßig, „aber du bist zum ersten Mal bei mir. Da sind kleine Handreichungen inklusive.“

Sie hatte genug Erfahrung, um den kleinen Kerl zu wecken, obwohl sie nicht ganz bei der Sache war. Ihre Gedanken wanderten zu dem schwarzen Wagen zurück. Die Höhe der Summe, die der Fahrer genannt hatte, erstaunte sie immer noch. Was hatte er nur gemeint mit „dann gehörst du ihm ganz“? Leibeigenschaft gab es seit mindestens zwei Jahrhunderten nicht mehr. Was geschah mit den Frauen, die so teuer bezahlt wurden?

Ein Stöhnen warnte sie, dass sie ihren Freier beinahe zu weit getrieben hatte. Jetzt, da er sich in die Höhe gereckt hatte, war es ein durchaus ansehnlicher Schwengel mittleren Kalibers.

„Prächtig!“, lobte sie, denn sie kannte die Bedürfnisse ihrer Kunden. „So ein Riesending ist mir selten untergekommen!“ Sie hob Rock und Unterrock und spreizte die Beine. Ihre Unterhose reichte zwar züchtig bis zum Knie, war aber praktischerweise geschlitzt, um den Herren unnötige Komplikationen zu ersparen. Im Halbdunkel des Zimmers war das Ziel als klaffender Spalt in weißem Leinen gut auszumachen.

„Darf ich deine Dinger sehen?“, fragte er unbeholfen.

„Aber, aber“, gurrte sie mit unschuldigem Augenaufschlag. „Was würden denn die Wahren Gläubigen dazu sagen?“

„Ich … ich weiß nicht“, stotterte er verlegen. Sie griff nach der Schnur, mit der sie den Halsausschnitt verändern konnte.

„Anschauen drei, anfassen fünf“, informierte sie ihn.

„Dann nicht.“ Es klang wie ein Seufzen.

Kara verzichtete darauf, sich rücklings auf das Bett zu legen. Bis er die richtige Position gefunden hätte, wäre er vermutlich schon gekommen, und sie hatte ohnehin schon Zeit verloren.

Etwas umständlich trat er näher, ging in die Knie, fand dank der Unterstützung ihrer Hand glücklich das Ziel und wie sie es vorausgesehen hatte, genügten ein, zwei Stöße bis er sich grunzend ergoss. Während er sich noch ein wenig wand, kraulte sie gedankenverloren seine schwitzigen Haare und fragte sich, ob Lilly wohl mit dem betrunkenen Fabrikarbeiter gegangen war. Als erster Freier war er nicht gerade geeignet, aber ihre Jungfräulichkeit hatte Lilly bereits an Vince verloren, und früher oder später würde sie sich arrangieren müssen.

Als Kara zurück auf den Trevelyan Square trat, waren sowohl Lilly als auch Agnes verschwunden. Die Nacht war lau und gut für’s Geschäft. Kara fand noch einen durchreisenden Geschäftsmann, mit dem sie die Sache angenehm professionell abwickelte, und einen nach Gin stinkenden Matrosen, der sie ohne Umstände einfach in einer Gasse gegen die Wand drückte. Schließlich läuteten die Glocken von St. Francis den Feierabend für die Huren ein. Der Morgen graute, und Kara, Agnes und Lilly schlurften müde den Gehsteig entlang.

„Lass uns noch am Markt vorbei gehen“, schlug Agnes vor. Sie mussten ein paar Lebensmittel kaufen, bevor Vince ihnen das Geld abnahm. Außerdem war der Markt eine Möglichkeit, sich für eine kurze Zeit wie ein normaler Mensch zu fühlen.

Mithilfe der eingenähten Schnüre zogen sie die Halsausschnitte ihrer Blusen auf ein züchtiges Maß zusammen. Kara wühlte noch ein wollenes Tuch aus ihrer Tasche, das sie sich um die Schultern legte. Auch für Lilly hatte sie eines eingesteckt. So erschienen sie mit Mieder, Bluse, Röcken und Tuch wie ganz gewöhnliche Marktbesucherinnen.

Von der Schminke war ohnehin nicht mehr viel übrig, aber die Frauen wischten sich trotzdem gegenseitig die Gesichter sauber. Dann mischten sie sich unter die Hausfrauen und Dienstmädchen, welche die kühle Morgenzeit nutzten, um verderbliche Waren sicher nach Hause zu tragen, bevor die Schlote die Luft mit ihrem heißen Dunst verpesteten.

Ohne sich abzusprechen, marschierten die drei direkt zu Liams Gemüsestand. Der Ire zwinkerte ihnen fröhlich zu. Er war ein gelegentlicher Kunde, aber anständig genug, ihnen auch außerhalb der Geschäftsbeziehung freundlich zu begegnen.

Mora duit, mo spéirbhean“, grüßte er sie in seinem irischen Singsang und warf ihnen ein paar Pflaumen zu. „Was kann ich für euch einpacken?“

An Kara hatte er einen Narren gefressen. Vermutlich, weil sie genauso feuerrote Haare hatte wie er selbst. Vielleicht, dachte sie, wäre er ein guter Kunde für Lilly – nicht sehr zärtlich, aber geradeaus und völlig ohne Hang zur Brutalität. Sie würde Liam darauf ansprechen, wenn sie ihn am Abend im Pub traf.

„Ich kann heute was ausgeben!“ Agnes förderte grinsend eine braune Lederbörse zum Vorschein, die nicht die ihre war. „Einer meiner Freier hat meinen Hintern so festgehalten, dass er sein Geld dafür loslassen musste.“

Kara wandte sich an Lilly und fragte beiläufig: „Was hast du verdient?“ Lilly senkte den Blick und wurde rot, sagte aber nichts.

„Du hast dich wieder versteckt“, stellte Agnes fest und stemmte die Hände in die Hüften. Als Lilly aufblickte, hatte das Mädchen Tränen in den Augen.

„Ich weiß ja, wie dringend Vince das Geld braucht!“, jammerte sie. „Ich will ja auch gerne arbeiten gehen! Aber das doch nicht!“

Kara und Agnes wechselten einen besorgten Blick. Sie wussten aus eigener Erfahrung, wie ungehalten Vince werden konnte, wenn er nicht bekam, was er wollte. Agnes hob fragend die Geldbörse und Kara begriff, was sie vorhatte. Sie konnten das zusätzliche Geld als Lillys Verdienst ausgeben. Doch Kara schüttelte den Kopf. So würden sie das unvermeidliche nur hinauszögern. Früher oder später würde Lilly anschaffen müssen, und je eher sie das begriff, umso besser.


„Ich kann es nicht, Liebling! Bitte! Ich will das mit keinem anderen machen!“

Es war die vierte Nacht, in der Lilly nichts verdient hatte, und Vince war über ‚tu es für mich‘ hinaus. „Was denkst du dir eigentlich?“, fragte er unheilvoll. Die Haut gerötet, die Brauen zusammengezogen, zeigte er ihr zum ersten Mal sein wahres Gesicht.

Kara hatte diese Fratze selbstverliebter Brutalität inzwischen oft genug gesehen. Sie wandte sich ab, doch seine Stimme ließ sich nicht aussperren.

„Du bist mein Eigentum, ein Pferd in meinem Stall, und wenn ich verlange, dass du dich von zehn Männern am Stück rannehmen lässt, dann wirst du das tun!“

Kara konnte das Entsetzen in Lillys Gesicht nicht glauben. Hatte die Kleine wirklich immer noch nicht begriffen, wohin sie hier geraten war?

„Wie kannst du so etwas sagen?“

„Weil es so ist! Ich hab dein Loch geöffnet, und jetzt hat es verdammt noch mal seine Arbeit zu tun!“

Unwillkürlich legte Lilly die Hände schützend vor ihren Schritt. „Aber es ist doch nur für dich …“

Er lachte grob auf. „Nur für mich? Ich werde dir zeigen, was da alles reinpasst!“ Er riss an ihren Haaren und zerrte sie zum Tisch hinüber, wo er sie neben ihren Einkäufen grob auf die Tischplatte drückte. Sie wehrte sich, doch er war unbarmherzig. Als Kara sah, dass er nach einer Gurke griff, sprang sie auf.

„Sie hat es verstanden!“, rief sie in Lillys panisches Schreien hinein. Sie griff nach seiner Hand und hielt ihn fest. Als er ihr den Kopf zuwandte wusste sie, dass sie einen Fehler begangen hatte.

„Du?“, zischte er. Er ließ Lilly los, die weinend auf dem Küchenboden zusammensackte, und wandte sich zu Kara um.

Vince schlug Kara nie ins Gesicht. Ihr Gesicht war schön: ebenmäßig, unverbraucht und jung. Das Gesicht war ihr Werbeschild. Darum hieb er seine Faust in ihren Unterleib.

Sie krümmte sich stöhnend und wusste, dass das erst der Anfang war. Seine Schläge warfen sie zu Boden, wo sie seinen Stiefeln ausgeliefert war. Er trat in ihren Bauch, in ihre Seiten und auch in ihren Schritt. Sie wimmerte, flehte ihn an, aufzuhören, bis ihr die Sinne schwanden.


Kühle Feuchtigkeit in ihrem Gesicht weckte Kara. Agnes hockte vor ihr und wischte ihr mit einem Lappen über die Wangen.

„Besser?“ Agnes hatte selbst schon oft unter Vinces Schlägen die Besinnung verloren. Sie wusste, wie man sich danach fühlte.

Kara richtete sich stöhnend auf und blickte sich um.

Alles war in Unordnung: der Tisch verrückt, die Stühle umgeworfen, das Gemüse überall verteilt. Sie vermutete, dass Vince der armen Lilly alles eingeführt hatte, was nur im Entferntesten hinein gepasst hatte.

„Hier.“ Agnes reichte ihr einen Becher Wasser und Kara trank dankbar.

„Wo ist Lilly?“, fragte sie.

„Keine Ahnung, bin gerade erst gekommen.“ Agnes schaute sich um. „Vielleicht ist sie in Vince‘s Zimmer.“

Kara bezweifelte, dass Lilly sich ausgerechnet dorthin geflüchtet hätte, wo alles nach dem Kerl stank. Doch sie sagte nichts, als ihre Freundin aufstand und hinüber ging. Agnes öffnete die Tür – und wich mit einem Aufschrei zurück. Dann lief sie, die Finger vor die Lippen gepresst, zum Tisch hinüber und erbrach sich in eine Schale.

Als Kara Lillys leblosen Körper vom Fensterkreuz baumeln sah, zerbrach etwas in ihr.


„Das müsst ihr wieder reinholen!“, hatte Vince verlangt, als wäre es ihre Schuld gewesen, dass Lilly sich das Leben genommen hatte.

Jetzt, am frühen Abend, hatten sich die Huren des Trevelyan Square um einen Tisch im ‚Nassen Dackel‘ versammelt, um sich noch ein wenig aufzuwärmen, bevor sie draußen ihre Plätze einnahmen. Einige Tische weiter saßen ihre Zuhälter und spielten Karten.

Mit wogenden Hüften kam die Fette Liz an den Tisch der Frauen und schob ihren Hintern auf einen für ihre Masse viel zu kleinen Stuhl.

„Schaut euch den Mistkerl an“, sagte sie mit einem Seitenblick auf die Männer. „Sitzt und spielt als wäre nichts geschehen.“

Kara dachte zuerst, dass Vince gemeint war, doch niemand wusste, dass Lilly sich umgebracht hatte. Oder hatte es trotz des Schweigegeldes die Runde gemacht?

„Was ist denn geschehen?“, fragte eine der Frauen.

„Hast du es nicht gehört?“ Die füllige Hure ließ einen bedeutungsvollen Blick in die Runde gehen. „Miras Körper ist gestern Mittag im Osthafen angeschwemmt worden!“

Agnes schlug die Hand vor den Mund und Kara warf einen Blick zu Tom hinüber, für den Mira seit drei Jahren gelaufen war. Sein Gesicht war gerötet vom Ale und seine Augen leuchteten über eine scheinbare Glückssträhne – dabei verlor er seit einer guten Woche Beträge, über die jeder nur den Kopf schüttelte. Es kursierten die verschiedensten Vermutungen darüber, woher er das Geld hatte. Die meisten Geschichten liefen darauf hinaus, dass man ihn früher oder später mit gebrochenen Beinen in einer Gasse finden würde. Mit fettigen Fingern schob er einen Stapel Münzen in den Pott.

„Was ist passiert?“

Liz beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme. „Mira musste in den schwarzen Wagen steigen. Ihr wisst schon: die Steamcoach! Zehn Tage ist das her.“

„Was wurde mit ihr angestellt? War es der Inquisitor?“

Die Frauen rückten näher zusammen und Liz, die einen Polizisten zu ihren Stammkunden zählte, genoss die Aufmerksamkeit. „Mein Coroner meint, sie hätte keinerlei Verletzungen gehabt. Vermutlich ist sie ertrunken. Aber sie war völlig nackt! Und aufgedunsen. Sie muss schon ein paar Tage im Wasser gelegen haben.“

„Großartig“, meinte Agnes. „Dann haben wir jetzt schon zwei Irre in Neventry, die es auf uns abgesehen haben.“

„Aber diesem können wir wenigstens aus dem Weg gehen. Ich steige da jedenfalls nicht ein, egal, was Dermot mir androht.“

Kara schaute zu den Männern hinüber. Tom erhöhte den Einsatz des Pokerspiels gerade wieder, als hätten seine Taschen keinen Boden. Als Kara Vince‘s Blick nachdenklich auf sich ruhen sah, erhob sie sich abrupt.

„Komm, Agnes, an die Arbeit.“

Die Freundin schaute erstaunt auf. „Du hast es heute aber eilig.“

„Das wird ‘ne gute Nacht, das hab ich im Gefühl.“


Die Steamcoach stand an der gleichen Stelle wie gestern, und Kara steuerte direkt darauf zu. Agnes hielt die Freundin an der Schulter zurück. „Bist du verrückt?“

Kara wandte sich um. „Ich weiß genau, was ich tue. Komm schon!“

„Ich gehe keinen Schritt weiter!“

„Du wirst mitkommen. Ich brauche dich, Agnes.“

Ein erstaunter Ausdruck trat in Agnes‘ Augen. „Was hast du denn vor?“

„Keine Angst. Es wird gut ausgehen.“

Agnes Blick war noch immer ängstlich, doch sie nickte ergeben. „Was immer du meinst.“

Es war der gleiche Mann hinter dem Steuer, und er schien sie ebenfalls wiederzuerkennen, denn er stellte keine Frage, schaute sie nur abwartend an.

„Mein Freund ist einverstanden“, sagte Kara ohne Umschweife.

„Wo ist er?“

„Sie kriegt das Geld.“ Kara zeigte auf Agnes. „Sie bringt es ihm.“

Der Mann nickte. Ihm schien es egal zu sein.

„Steig ein, dann reiche ich die Bezahlung nach draußen.“

„Du bist völlig übergeschnappt!“, zischte Agnes. „Du willst da nicht wirklich einsteigen!“

„Doch, das will ich. Und du wirst das Geld nehmen und damit direkt zum Bahnhof gehen. Geh nicht in die Wohnung zurück um zu packen, nicht zu Vince. Du nimmst es und fährst direkt zurück zu deiner Mutter, verstanden?“

Sie konnte sehen, wie Tränen in Agnes‘ Augen traten.

„Das darfst du nicht tun! Nicht für mich!“

„Meinst du, ich warte, bis Vince das Geschäft macht?“ Kara nahm ihre Freundin in den Arm und drückte sie fest an sich. „Lass dir nicht einfallen, dir dein neues Leben von irgendwem wegnehmen zu lassen“, flüsterte sie. „Das bist du mir schuldig!“ Dann öffnete sie die Wagentür und stieg ein.

Wie er es versprochen hatte, reichte der Mann ein ledernes Etui durch das Fenster und Agnes nahm es zitternd entgegen. Sie öffnete es, und als sie losfuhren, hörte Kara einen leisen Schrei der Überraschung, der ihr eine tiefe Befriedigung verschaffte. Es war nicht nur die Freude, der Freundin ein neues Leben eröffnet zu haben. Es war auch die Befriedigung darüber, dass Vince an einem einzigen Tag alle seine Mädchen verloren hatte. Er würde wohl selbst anschaffen gehen müssen – und bei seinem Aussehen hatte er bestimmt bald eine Menge Kunden.

Sie lehnte sich zurück und atmete den Geruch der Ledersitze ein. Merkwürdigerweise hatte sie keine Angst. Sie war neugierig auf den unbekannten, reichen Mann, der sich Frauen für eine Nacht kaufte, um sie dann zu töten. Vor dem Tod fürchtete sie sich nicht. Er konnte nicht schlimmer sein als dieses Leben, das sie mit jedem Meter, den der Wagen zurücklegte, weiter hinter sich ließ.

Das Haus der Masken

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