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Vorwort

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Der vorliegende Text stellt die Gegenthese zu den Behauptungen heutiger Reformpädagogen und „Bildungsrevolutionäre“ dar. Er beinhaltet ein Kapitel aus einer längeren Arbeit, in der einige As­pekte der deutschen Geschichte und Gegenwart behandelt werden. Darin wurde festgestellt, daß heute fast alle Bereiche des gesellschaftli­chen Lebens, die sozialen Systeme, die Infrastruk­tur, die Sorge für Umwelt und Bildung, bis hin zu den gesellschaftlichen Abwehrkräften, von einer Denkweise geprägt sind, die stets das gleiche Muster aufweist: Bei der Anwen­dung einer Methode zur Behebung eines Mißstands werden weder Nebenwirkun­gen noch Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck berück­sichtigt, ja der Zweck mit dem Mittel verwechselt. Dadurch kommt das zustande, was als „typisch deutscher“ Selbstzweck bekannt ist, inzwischen aber zu einer Art Grundmuster vieler verschiede­ner Erscheinungen der heuti­gen Gesellschaft ge­worden ist. Auf die Dauer wirkt sich dieser Zustand in den jeweiligen gesellschaftli­chen Bereichen wie ein Krebsgeschwür aus, der des eigenen Wachstums wil­len die Funktionsfähigkeit ursprüng­lich sinnvoller Einrichtungen und Struktu­ren der Gesellschaft zerstört.

Eine der treffendsten Beschreibungen einer sol­chen selbstzerstörerischen Gesellschaft findet man beispielsweise in der berühm­ten Satire Jonathan Swifts: Im dritten Buch seiner fantastischen Reise trifft Gulli­ver auf das Volk der Laputaner, das alles nach wissenschaftli­chen Methoden der Mathematik und Musik aufbauen will – mit dem Ergebnis, daß alles Praktische mißlingt. Die Menschen in diesem Land haben eine leidenschaftli­che Neigung zur Politik und zur Neuigkeitskrämerei und mi­schen sich in Sachen ein, die sie nichts angehen und für die sie sich nicht eig­nen. Fer­ner pflegen sie Ängste über unbestimmte Gefahren, wie den Unter­gang der Erde durch den Zusammenstoß mit einem Kometen oder das Erlö­schen der Sonne, so daß sie sich nicht mehr an den gewöhnlichen Vergnügun­gen des Lebens erfreuen können. Bezeichnend ist vor allem Swifts Beschrei­bung der „Akademie der Projektmacher in Lagodo“, die für alles neue Metho­den einführen, weshalb das Land verwüstet, die Häuser verfallen und überall Mangel herrscht. Statt aber davon zu lernen, verfolgen sie mit noch mehr Ei­fer ihre Ent­würfe und werfen denjeni­gen vor, die sich daran nicht beteiligen wollen, sie seien schlechte Bürger, die zur Verbesse­rung des Vaterlandes nicht beitra­gen wollen. Die logische Reaktion auf das Mißlin­gen des Vorha­bens mit der einzig wahren Methode kann daher nur eine Kurzschluß­folge­rung sein, die Su­che nach Sündenböcken, die Vermutung von Sabotage und Verschwörung.

Es handelt sich um die gleiche Denkweise, die am Zweck vor­bei Maßnahmen er­greift oder von einer Fehlinterpretation des Zwecks aus­geht. Mit ihr wird ein gleichsam vorprogrammierter Pro­zeß in Gang gesetzt, der mit einem Ideal beginnt, die Mittel jedoch bald zum eigentlichen Zweck erhebt und durch einen Planungs­wahn von Anfang an auf dessen Ergebnis fest­legt, während man deren An­wendung übertreibt, ja verabsolutiert. Der anfängliche Erfolg scheint die Richtigkeit der Me­thode zu bestätigen, und wenn nicht, wird dieser Erfolg einfach vorgetäuscht oder der Mißerfolg auf an­dere Ursachen zurückgeführt; in einem späteren Stadium bzw. einem veränder­ten Wirkungszusam­menhang beharrt man aber immer noch auf der gleichen Me­thode, vergrößert jedoch die Anstrengung, ja schießt sogar maß­los über das Ziel hinaus. Beim Schei­tern sucht man Sünden­böcke, die die Anstren­gung vermeintlich böswillig vereitel­ten, und glaubt schließlich die Lö­sung in deren Verfolgung oder Überwachung zu finden.

Die gleiche Denkstruktur findet man heute in den meisten politischen Ent­scheidungen, mit denen überflüssige Aktivitäten produziert, Scheinreformen durchgeführt oder sinnvolle blockiert werden, die aber immer wieder treffsicher am Ziel vorbei irgend etwas in Bewegung setzen, das dem eigentlichen Zweck entgegenwirkt, diesen verhindert oder gar völlig ins Gegenteil ver­kehrt. Indem man nicht in der Lage ist, unabhängig von ideologischen Mu­stern Ziele zu bestimmen, geeignete Methoden zu ihrem Erreichen zu analysie­ren und folgerichtig anzuwen­den, und weil die Be­wahrung von Besitz­ständen und Sonderinteressen wichtiger er­scheint als der Erhalt der Funkti­onsfähigkeit der ganzen Gesellschaft, verspielt man heute nicht nur den erworbenen Wohl­stand, sondern opfert auch alle gesellschaftlichen Ressour­cen, die Natur und Umwelt, die Bildung der nachfolgenden Generation und schließlich auch die eigenen humanisti­schen Werte.

Im diesem Kapitel werden Aspekte der seit über 10 Jahre heftig umstrittene Bildungsproblematik disku­tiert, wie veränderte Formen und Inhalte der deutschen Schulbil­dung, festge­stellte Mängel der heutigen Schüler, ihre Ursachen bzw. Schuldzuweisungen, Vorstellungen der Reformpädagogen über veränderte Rolle der Schule, der Leh­rer und Eltern und ihre Folgen, die einzelnen in den letzten Jahren vorgenom­menen Reformen (mit einem Exkurs über die vor einigen Jahren durch­geführte „Rechtschreibreform“) bis hin zur derzeit verlaufenden Hochschul­reform und ihren Folgen. Ihre Darstellung stützt sich neben den aufge­führ­ten Quellen, von denen dieses Kapitel eigentlich am wenigsten auf­weist, auf sechzehn Jahre persönliche Erfahrungen mit dem deutschen Schulsy­stem und zahlreiche private Berichte anderer Eltern. Dabei geht es weni­ger darum, Kritik zu üben und Patentrezepte vorzu­schlagen, mit denen sich gern manche „Bildungskritiker“ hervortun, als auf ein Phänomen hinzuweisen, das von den meisten Bürgern, vor allem den Kinderlo­sen, überhaupt nicht wahrgenommen wird – auf den allmählichen Be­wußtseinswan­del von nachfolgenden Generationen durch veränderte In­halte und Formen des heutigen Bildungswesens.

Wer keine Kinder im schulpflichti­gen Alter hat, weiß überhaupt nicht, wie es heute in den Schulen abläuft, und interessiert sich auch kaum darum. Auch den meisten Eltern geht es vor allem darum, die eigenen Kinder möglichst erfolgreich durch die Schule durchzubrin­gen, um ihnen einen guten Start ins Berufsleben zu gewährleisten. Kritisiert werden hautsächlich nur die mangelhaften Kenntnisse deutscher Schü­ler, z.B. wenn sie eine Ausbildung beginnen. Warum sie in der Schule so gut wie nichts gelernt haben, wird auf verschiedene Sündenböcke zurückge­führt. Kaum jemand fragt danach, zu welcher Art von Menschen die Schule unsere Kinder „bildet“. Es geht aber nicht nur um den jeweiligen Wissens­stand, wie auch immer er für die Heranwachsenden in ihrem späteren Leben sinnvoll oder nützlich sein mag. Wis­sen kann man sich gegebenenfalls noch später aneignen, wobei Lerninhalte ebenso variieren können wie politi­sche Meinungen, ethische Postulate oder Lebensweisen, ohne den Men­schen selbst zu verändern. Von größerer Bedeutung sind die Denk- und Verhal­tensmuster, die sich jeder Mensch von Kindheit an aneignet und die dann entsprechend das Weltbild sowie die Entwicklung unserer Gesell­schaft mitprägen.

Dieser Zusammenhang wird aber in der gesamten Bildungsdiskussion entweder gar nicht oder verzerrt thematisiert. Es wird weder hinterfragt, ob die in der Schule vermittelten Denkmuster überhaupt sinnvoll sind, noch ob und inwiefern sie überhaupt dazu berechtigt ist, die Kinder über die Wissensvermittlung hinaus zu „bilden“ im Sinne von „erziehen“. Stattdessen scheint sich immer mehr die Forderung durchzusetzen, die Schule als Lernort zugunsten einer allgemeinen Erziehungsanstalt umzufunktionieren. Der Tragweite dieser Vorstellung werden sich nicht einmal die bestimmte „alternative Lernmethoden“ naiv befürwortenden Eltern bewußt. Wird die Bildung von Vermittlung bestimmter Wissensinhalte auf die Erziehung des ganzen Menschen ausgeweitet und die Eltern in ihrer erzieherischen Funk­tion durch „Bildungsexperten“ und verschiedene „Pädagogen“ entmün­digt, bedeutet es nämlich eine allmähliche Verwandlung der ganzen Gesellschaft nach eigenen Vorgaben in einem viel größeren Ausmaß, als dies durch immer neue gesetzli­che Regelungen oder Manipulation der öffentlichen Meinung der Fall ist. Denn wer die Denk­weise der Jugend beeinflußt, besitzt den Schlüssel zur Zukunft der Gesellschaft.

Ob dieser seitens selbsternannter Eliten angestrebte Bewußtseinswandel der Gesellschaft über­haupt legitim und von der Bevölkerung erwünscht ist, oder vielmehr einen unzulässigen Versuch darstellt, die Entwicklung der Gesellschaft ideologisch zu manipulieren, bleibt dahingestellt. Es ist jedoch nicht dasjenige, worü­ber während der gesamten Bildungsdiskussion gestritten wird. Kritisiert werden Fehlstunden, Klassenstärken, fehlende Schulmittel oder mangelnde Schullei­stungen, und dem jeweiligen Sündenbockschema entsprechende Patentrezepte angeboten: Einheits- oder Privatschulen, Ganztagsschulen, mehr Unterricht oder mehr „Leistungskontrollen“. Wie die Kinder in der Schule unterrichtet werden und warum, liegt meistens jenseits bildungspoliti­scher Interessen oder wird gemäß eines ideologischen Musters festgelegt. Dementsprechend sind fast alle in den letzten Jahren vorgenommenen „Bildungs­refor­men“ entweder unsinnig oder verkehrt, insbesondere diejeni­gen, die als „Modernisie­rung“ präsentiert und hochgepriesen werden, ohne je nach ihrer praktischen Relevanz über­prüft worden zu sein. Dadurch wird mehr Schaden angerichtet, als es bei anderem unverantwortlichen Handeln der Fall ist.

Die Hauptthese des vorliegenden Kapitels lautet: Unabhängig von den äuße­ren Bedingun­gen des Lernens und anderen Faktoren, wie negative Ein­flüsse der postmodernen Gesellschaft, sind es die reformierten Lehrmethoden, die für den Niedergang der Bildung verantwortlich sind. Diese „modernen didakti­schen Methoden“ funktionieren nicht, weil sie von falschen Annahmen über den Menschen, dessen Lernbereitschaft und Lernfähigkeit ausgehen und eine für ganz andere Lebensbedingungen entwickelte Pädagogik an Schulen mit unterschiedlichen Lerntraditionen zwanghaft implementieren wollen. Da­durch verschlechtern sie nicht nur die Lernergebnisse der Schüler; auf die Dauer bewirken sie das Gegenteil des Erwünschten: Fleiß, Selbstdisziplin und Konzentrationsfähigkeit bleiben unterentwickelt, die Lernbereitschaft schwin­det, Selbständigkeit, analytisches und systematisches Denken und Unterschei­dungsvermö­gen verkümmern. Trotz schlechter Ergebnisse werden die bereits eingeführ­ten Lehrmethoden nicht hinterfragt, sondern im Gegenteil lautstark propagiert und inzwischen auch auf die Berufsschulen und die Erwachsenenbil­dung ausgeweitet. Ihre flächendeckende Einführung bedeutet nicht nur eine nennenswerte Lernbehinderung, sondern auch eine Verdum­mung der ganzen Gesellschaft im katastrophalen Ausmaß.

Kinder sind un­sere Zukunft; ihre Erziehung und Bildung ist die unerläßliche Bedingung für den Fortbestand unserer Gesellschaft, ja unserer Zivilisation überhaupt. Wir überlas­sen sie aber lieber selbsternann­ten „Fachleuten“, diversen „Bildungsexper­ten“ und „Fachpädagogen“ – Ingenieu­ren der menschlichen Seele, die meinen, mit ihrem Fachjargon die Problematik bes­ser verstehen und regeln zu können, als es die Menschen immer schon getan haben. Zumin­dest so lange, bis wir eines Tages feststellen, daß wir und unsere Kinder einan­der nicht verste­hen. Daß sie eine andere Sprache sprechen oder bei glei­chen Begriffen etwas anderes meinen und in einer anderen Welt leben als wir. Dann ist es aber zu spät, ihnen erklären zu wollen, daß ihre Welt ein Trugbild ist.

Bildung zur Dummheit?

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