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Einleitung

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1964 stellte Georg Picht seine Thesen von der „deutschen Bildungskatastro­phe“ auf: Das deutsche Schulsystem befände sich in einem „Bildungsnot­stand“; sein Kardinalproblem liege in einer zu geringen Abiturientenzahl. Dem­nach sollten das ländliche Schulwesen modernisiert, die Lehre besser vermit­telt und die Zahl der Abiturienten verdoppelt werden. [1] Diese vermut­lich gut gemeinten Thesen und die damit verbundenen Absichten, den Kin­dern aus ärmeren Bevölkerungsschichten eine bessere Bildung und damit mehr Aufstiegschancen zu ermöglichen, waren folgenschwerer als jede Kritik an anderen gesellschaftlichen Bereichen, nichtsdestoweniger nicht unbedingt in dem Sinne, wie es den Kritikern am traditionellen deutschen Bildungswe­sen erwünscht schien.

Nach Hans Heigerts Ansicht bestand in Deutschland seit der Zeit der Roman­tik und des Idea­lismus stets ein starker Drang, alles Politische pädago­gisch aufzufassen. Der demokrati­sche Staat stellt für einen Großteil seiner Bür­ger eine einzige pädagogische Veranstaltung dar, mit sorgenvoller Kritik an der öffentlichen Meinungsbildung. Da man jedoch stets von der Unmündig­keit der Bürger ausgeht und das Volk als Gegenstand der Erzie­hung auffaßt, ent­springt diese Auffassung einem vordemokratischen, wenn nicht totalitären Denken. [2] Diese volkserzieherische Absicht findet man gewisser­maßen auch in der Vorstellung wieder, ideologi­sche Stereotype (bei­spielsweise über die Fremden) durch einen „pädagogischen Pro­zeß“ nationa­ler Aufklärung, „Einübung der Vernunft“ u.ä. überwinden zu wollen. [3] Daß das „pädagogische Ergebnis“ dieses Prozesses, trotz seiner kritischen Inten­tion, selbst eine Art Ideologisierung bedeutet, war seinen Befürwortern offensicht­lich nicht bewußt.

Ganz im Sinne dieser Tradition, in der sich die „Eliten“ insbesondere für die Volkserziehung zuständig glaubten, war die Pädagogik auch derjenige Wissen­schaftsbereich, der Ende der sechziger Jahre am stärksten in das Magnet­feld linker Theorie geriet. Wie einst die aus der Erlebniswelt der Jugend­bewegung kommenden Akademiker oft in pädagogische Berufe dräng­ten, [4] so zog es auch die weltfremden Revolutionäre von 1968 wieder vorwie­gend in den Bereich der Erziehung. Die linke politische Kultur fand ein neues Betätigungsfeld in der sog. „emanzipatorischen Pädagogik“ als Leitgedan­ken, während ihre politischen Thesen und Grundsätze auch in die offiziellen Rahmenpläne eingingen. [5] Damit setzte eine unaufhaltsame Entwicklung rasch aufeinander folgender Schul- und Bildungsreformen ein mit dem Zweck, durch Schaffung einer besseren Schulatmosphäre und antiautoritäre Unterrichts­methoden die folgende Generation zu „emanzipierten kritischen“ Jugendlichen zu erziehen.

Dieses laut proklamierte Ideal hatte aber wenig mit der Realität der vorgenom­menen „Flurbereinigung der Schule“ durch Zentralisierung und Auf­bau diverser vorschulischer Einrichtungen, Jugendfreizeitheime, Einfüh­rung von Eingangs- und Orientierungsstufen, Förder- und Wahlpflichtfächern zu tun, die man im Zuge des Reformeifers der 60er und 70er Jahre nach dem Muster einer organisierten „gesellschaftsrelevanten“ Pädagogik einführte. Kriti­ker sahen in diesem Trend bereits einen dialektischen Umschlag der emanzipatorischen Pädagogik in ihr Gegenteil: eine Entfremdung des Kindes von seiner natürlichen Lebenswelt durch anonyme Massenanstalten, Verwand­lung des Lehrers in Spezialisten und des Erziehers in Therapeuten, der seine unmündige Klientel in Anstalten innerhalb eines „progressiven Sozialisationsrasters“ sondert und ausgrenzt. Der Begründer der sog. „Antipäda­gogik“ Eckehart von Braunmühl bezeichnete diesen vermeintli­chen pädagogischen Fortschritt der „missionarischen“ Bildungsreformer mit ihren abstrakten „Kompe-tenzen“ und „Problemlösungsoperationen“ als eine „Versklavung des Kindes“ und das Erziehungsgeschäft als ein „gigantisches, mit wissenschaftlicher Akribie aufgebautes und organisiertes Bordell“, in dem man Kinder prostituiere. [6] Der Philosoph Robert Spaemann meinte spä­ter, das Wort „Emanzipation“ habe einen Bedeutungswandel durchgemacht: Durch seine Verwendung nicht mehr in politisch-rechtlichen, sondern in soziopsy­chologischen und schließlich pädagogischen Kontexten habe sich des­sen Sinn in sein Gegenteil verkehrt. Es bedeutet nicht mehr einen Status – die Mündigkeit, sondern ein tabuisiertes Ideal, das als Lernziel und Lernpro­zeß eine politpädagogische Legitimation zur neuen Bevormundung bietet. Die „emanzipatorische Pädagogik“ ist nach seinem Urteil im schlechten Sinne autori­tär; es ist eine Herrschaftsideologie der Pädagogen, die die eigentliche Aufgabe – die Erziehung zur Selbständigkeit und starker Persönlichkeit – ver­fehlt. [7]

Kritik an Schulreformen wurde also von Anfang an geäußert, fand aber lange nicht so viel Beachtung wie die Kritik an parallel entstehenden Massenuni­versitäten und dem damit zusammenhängenden sinkendem Hochschul­niveau. Die Entwicklung an den deutschen Universitäten wurde kaum in Zusammenhang mit den parallelen wenig beachteten Reformen an Grund- und Mittelschulen gestellt. Man betrachtete diese eher wohlwollend und wertete positiv, daß sich die ehemaligen Revolutionäre, anstatt einen Um­sturz zu planen, konkreter Arbeit innerhalb der gegebenen gesellschaftli­chen Strukturen, vornehmlich der Erziehung der Jugend, zuwandten, ja glaubte, daß mit den reformierten Schulen und steigenden Anzahl von Abiturien­ten die Bildungschancen für Kinder aus unteren Schichten tatsäch­lich verbessert würden. Kurt Sontheimer, der diese Entwicklung mit einer gewissen Skepsis beobachtete, zog noch 1983 aus der Bildungsreform eine zwie­spältige Bilanz: Sie schien immerhin bestehende Ungleichheiten der Bil­dungschancen korrigiert, ein differenziertes Bildungsangebot und mehr Mitbe­stimmungsrecht ermöglicht zu haben. [8] Dreißig Jahre später dürfte die Bilanz auch in diesen Punkten nur noch Negatives verzeichnen.

Bildung zur Dummheit?

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