Читать книгу Verhasst - Shino Tenshi - Страница 3

1. Kapitel

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"Verpiss dich!"

Ich wurde grob nach hinten geschubst, wo mein Rücken hart gegen das Metall der Spindtüren prallte, was mich kurz vor Schmerz aufkeuchen ließ.

"Dich will niemand hier haben, du Perverser!"

Man schlug einfach noch einmal zu. Aus Prinzip. Mitten in die Magengrube, wodurch sie sämtliche Luft aus meinen Lungen pressten und mich zusammenklappen ließen.

Ihre Schritte entfernten sich, als ich in die Knie ging und immer weiter hinunterrutschte. Ich spürte die Tränen in meinen Augen und das Zittern meines Körpers.

Man spuckte mich an, als man an mir vorbeiging und ich mich noch nicht erhoben hatte, wodurch ich ein Schluchzen nicht verkneifen konnte, bevor ich mich dann langsam erhob.

Der Schmerz grub sich weiter durch meinen Leib und verhinderte, dass ich meine Hand von meinem Bauch nehmen konnte, als ich nach meiner Schultasche griff und sie mir über die Schultern warf.

Sie waren alle weg. Wie jeden Tag war ich der Letzte, der ging, nachdem alle mir ihren Hass entgegen geschmissen hatten.

Meine Wange brannte und mein rechtes Auge war geschwollen und blau verfärbt, so wie viele andere Stellen an meinen Körper.

Wenn die Lehrer fragten, sagte ich, dass ich irgendwo dagegen gelaufen wäre. Sie glaubten mir schon lange nicht mehr, doch sie würden mich nicht schützen können. Niemand konnte das.

Ich würde es entweder selbst überleben oder unter ihrem Hass sterben. Das war mir damals klar gewesen.

Damals als ich mich geoutet hatte...


„Felix, was ist los? Du sagtest, dass du etwas mit mir besprechen wolltest.“ Seine blauen Augen sahen mich verwirrt an, wobei ich kurz seufzte und ihn darum bat einfach auf dem Bett Platz zu nehmen, während ich auf meinem Schreibtischstuhl saß.

„Robert, du bist mein bester Freund und ich bin der Meinung, dass du es wissen solltest.“ Ich hatte ihm so sehr vertraut und ich musste einfach mit jemanden darüber reden. Ja, ich dachte, dass Robert die richtige Person sein würde. Wir kannten uns schon so lange und hatten uns bisher alles erzählt.

„Jetzt mach es mal nicht so spannend. Wo drückt der Schuh?“ Er sah mich wieder mit diesem gewinnenden Lächeln an, wodurch ich mich noch sicherer fühlte. Es musste einfach so laufen. Perfekt.

„Gleich. Ich will dich nur darum bitten, dass mein gleich Gesagtes nichts zwischen uns ändern wird. Wir bleiben Freunde. Egal, was passiert, oder?“, verlangte ich dennoch noch einmal nach Sicherheit. Er war ein Kerl. Ich würde verstehen, wenn er mich danach hassen würde, trotzdem wünschte ich mir, dass dies nicht passierte.

„Klar, wie lange kennen wir uns nun schon? Zehn Jahre? Reicht das überhaupt?“ Er hörte gar nicht auf zu lächeln, wodurch ich mich davon anstecken ließ und ein wenig schüchtern den Blick senkte. „Ja, du hast Recht. Wir kennen uns schon so lange. Da gibt es kaum etwas, was die Beziehung zwischen uns zerstören könnte.“

„Also, rück schon raus, sonst platz ich noch vor Neugier.“ Sein Grinsen wurde breiter und ich fühlte mich dadurch sicher und geborgen, wodurch ich schließlich nickte. Es war okay. Er würde mich verstehen und es würde nichts zwischen uns ändern. So dachte ich es damals. Wie naiv ich doch gewesen war.

„Du weißt ja, dass ich noch keine Freundin hatte und es gibt auch einen Grund dafür.“ Ich hätte aufhören sollen, als ich gesehen hatte, wie sich Finsternis in seinen Augen ausbreitete, doch ich war in so einem Höhenflug, dass ich nicht mehr stoppen konnte: „Der ist auch ganz simpel und einfach. Ich mag einfach keine Frauen in meinem Bett. Robert, ich stehe auf Männer.“

Es trat Ekel in seinen Blick und ich schluckte trocken. Sämtliche Wärme und Zuneigung verschwanden aus seinen Augen, wobei ich die Worte schon bereute. Ich hätte das Thema anders angehen müssen. Viel anders.

„Du bist schwul?“ Seine Art, wie er das letzte Wort ausspuckte, ließ mich erschaudern, wobei ich erneut trocken schluckte und dann leicht nickte: „Ja.“

„Wie bist du da drauf gekommen? Hast du dich etwa in mich verliebt?“ Angst schwang bei der letzten Frage in seiner Stimme mit, wobei ich sofort beschwichtigend die Hände hob: „Nein, nein. Ich liebe dich nicht. Du bist mein bester Freund. Wir sind schon weit darüber hinaus. Aber wie ich es gemerkt habe? Nun ja, weil ich Männer einfach interessanter finde und ich mich auch schon ein paar Mal verliebt habe.“

„In wen?“ Diese Frage wollte ich gar nicht beantworten, wodurch ich nur den Kopf schüttelte und leicht abwinkte: „Nicht so wichtig. Sie haben mich nicht zurück geliebt und es ist schon eine geraume Weile her. Doch ich musste einfach mit irgendwem darüber sprechen und ich dachte, da wir so gute Freunde sind und ich niemanden mehr vertraue als dir, dass ich mich dir anvertrauen kann.“

„Ich wünschte, du hättest es nicht getan. Tut mir Leid, Felix. Ich muss gehen.“ Er erhob sich und verließ das Zimmer. Er umarmte mich nicht, wie sonst immer zum Abschied, sondern schenkte mir nur einen angewiderten Blick.

Als ich die Tür ins Schloss fallen hörte, wusste ich, dass ich ihn damit verloren hatte. Er konnte mit mir nicht mehr befreundet sein, weil ich Männer liebte.

Mein Körper zitterte. Ich hatte meinen besten Freund verloren. Wie sollte ich jemals mit jemanden darüber reden können, wenn nicht einmal er mich verstand und so nahm, wie ich nun einmal war? Meine Eltern würden mich auch verfluchen. Ich…

Ich hätte einfach schweigen sollen. Es weiter verstecken und in mir herumtragen. Warum verstand er mich nicht? Wieso machte es ihm so viel aus? Ich liebte ihn doch nicht. Nein, ich könnte ihn gar nicht mehr lieben. Er war mein bester Freund. Wir hatten so viel zusammen unternommen. Ja, wir hatten einfach die Schwelle schon längst überschritten, wo noch eine Beziehung hätte entstehen können. Er war einfach mein bester Freund gewesen.

Ja, er war es gewesen. Denn so wie er gegangen war, war ich jetzt zu einem hassenswerten Wesen geworden, das er nie wieder in seinem Leben sehen wollte.

Und ich spürte, wie die ersten Tränen über meine Wangen liefen…


„Verpiss dich, Schwuchtel!“, wurde ich begrüßt, als ich am nächsten Tag in meine Klasse trat. Kurz suchte mein Blick Robert und fand ihn auch. Er saß allerdings nicht mehr auf seinen gewohnten Platz, der neben mir gewesen wäre, sondern hatte sich zu einem anderen Jungen gesetzt, wodurch ich spürte, wie ein Dolch des Verrats in mein Herz gerammt wurde. Ich hätte nicht gedacht, dass er wirklich so etwas tun würde, doch ich hatte mich wohl geirrt.

Als ich zu meinen Platz gehen wollte, versuchte man mir ein Bein zu stellen, aber ich konnte mich an einem Tisch abfangen und so verhindern, dass ich fiel. Dennoch lachte die ganze Klasse über mich. Zumindest die männliche Partei. Die Mädchen hielten sich aus der Streiterei heraus, weshalb ich froh war, dass ich mich an dem Tisch einer Klassenkameradin festgehalten hatte, sonst wäre wahrscheinlich noch mehr passiert.

Man bewarf mich mit Stiften und Papierkugeln. „Hast du nicht gehört? Du sollst dich verpissen! Niemand will eine Schwuchtel wie dich hier haben!“

Es war mir egal, wer das rief. Ich wünschte mir, dass sie einfach nur damit aufhörten, doch es geschah nicht, denn selbst als ich an meinem Platz angekommen war, bewarf man mich weiter mit den unterschiedlichsten Sachen.

Ich wollte mich gerade schützend auf dem Tisch zusammenrollen, als man plötzlich an meinem Stuhl zog und so beinahe einen Sturz verursachte, doch ich konnte mich in letzter Sekunde noch festhalten.

Nichtsdestotrotz ging meine Sitzgelegenheit scheppernd zu Boden und als ich mich gerade bückte, um diese aufzuheben, griff man nach meinem Federmäppchen, um es hin und her zu werfen, bis es sein Ziel im Mülleimer gefunden hatte.

„Da gehörst du auch hin“, knurrte man mich an, als ich es mir zurückholte, wobei ich kurz seufzte. Ich hatte damit gerechnet, dass es schlimm werden würde, doch nicht mit so viel Hass.

Als ich wieder an meinem Platz ankam, betrat endlich der Lehrer den Raum, wobei er die Atmosphäre durchaus wahrzunehmen schien, jedoch begann er nach einem kurzen, skeptischen Blick kommentarlos mit seinem Unterricht.

Ich hätte es ihm sagen können, aber ich wollte nicht noch mehr Schwäche zeigen. Irgendwie würde ich das Ganze schon überleben. Sie würden sich ja hoffentlich irgendwann damit abfinden und selbst einsehen, wie sinnlos ihre ganze Hasstirade war.

Doch ich hatte mich geirrt. Erneut…


„Du kannst dich in den Duschen umziehen! Hier will dich keiner haben, perverses Schwein!“ Man nahm mir einfach meinen Sportbeutel weg und schmiss ihn in die besagten Duschen, wobei ich noch einmal den Blick von Robert suchte. Er wich mir aus und tat so, als würde er mich nicht mehr kennen.

Und das alles nur, weil ich schwul war. Ich wünschte mir langsam, dass es anders wäre, doch ich hatte es mir nicht ausgesucht. Mädchen waren für mich einfach uninteressant. Ich empfand es nicht als antörnend, wenn ich Busen sah oder die wohlgeformte Taille. Nein, ich mochte auch nicht diesen süßlichen Geruch, sondern liebte diesen herben, animalischen Moschusduft. Alles Dinge, die mir in den letzten Jahren aufgefallen waren.

Ich seufzte und begab mich zu den besagten Duschen, wobei ich mich dann ohne weitere Umschweife umzog. Ignorierte dabei das Gelächter aus dem anderen Raum. Irgendwie wollte ich einfach nur noch diese schreckliche Zeit hinter mich bringen. Aber es würde noch viel zu lange dauern.

Ob ich einfach die Schule wechseln sollte? Noch einmal von vorne anfangen und dann niemanden das Geheimnis sagen? Ach! Was spielte ich mir vor? Wir waren hier auf dem Land. Jeder kannte jeden und wahrscheinlich würden die Schüler der umliegenden Schulen auch bald herausfinden, wie es um mich stand, also war es auch egal.

Ich zog mir gerade mein T-Shirt über den Kopf als mich plötzlich eine gewaltige Ladung kaltes Wasser traf. Einpaar Sekunden verstrichen, in denen ich nur das spöttische Lachen der anderen wahrnahm, ehe ich begriff, dass jemand die Dusche aufgedreht hatte, unter der ich stand. Sofort drehte ich sie ab, dennoch war es zu spät und ich stand da wie ein begossener Pudel.

Mein weißes T-Shirt klebte an meiner Haut und zeigte deutlich die zierliche Brust darunter. Ich war dürr und man erkannte die Rippen, weil sich aufgrund der Kälte alles in mir zurückzog und ich zitternd da stand.

Verständnislos starrte ich meine Mitschüler an, wobei diese erneut nur laut auflachten und selbst Robert schmunzelte ein wenig. Wie ich ihn dafür hasste. Er könnte wenigstens einen Moment zu mir stehen. Mich nicht so alleine lassen. Aber nein, das ging nicht. Es wollte einfach nicht gehen.

Ich wrang mein T-Shirt aus und versuchte auch aus der Hose ein wenig des Wassers zu bekommen. Allerdings wollte dies alles nicht so recht funktionieren, während ich weiter fror und bereits schon wieder alleine war.

Schließlich erklang der Schulgong und ich wusste, dass ich in der Turnhalle erscheinen musste. Was würde der Lehrer dazu sagen? Und vor allem, was würde ich ihm sagen? Konnte ich meine Mitschüler verpetzen? Machte ich dadurch nicht alles nur noch schlimmer?

Ich seufzte und schritt dann in die besagte Turnhalle, wobei ich einfach hoffte, dass sie mich nun wenigstens den Sport einigermaßen heil überstehen ließen. Die Hoffnung starb ja bekannterweise zuletzt…


„Wieso bist du so nass?“ Die Stimme des Lehrers drang zu mir durch, wobei ich nur kurz mit den Schultern zuckte. „Ich bin aus Versehen an den Hebel der Dusche gekommen, als ich mich darunter umgezogen habe.“

„Wieso das?“ Die Skepsis in der Stimme des Erwachsenen nahm weiter zu, weshalb ich einen kurzen Moment überlegte. Mein Blick huschte dabei immer mal wieder zu meinen Mitschülern, doch ihre Haltung zeigte deutlich, was passieren würde, wenn ich jetzt die Wahrheit sagte, wodurch ich kurz trocken schluckte.

„Ich weiß nicht. Irgendwie ziehe ich mich lieber fern der anderen um“, log ich schließlich und wich dem Blick des Lehrers aus, wobei ich hörte, wie er schwer seufzte und ich spürte, dass ich mich getäuscht hatte. Er glaubte mir nicht, doch er schien auch zu sehen, dass ich nichts anderes von mir geben würde.

„Gut, so kannst du nicht mitmachen. Jetzt ist eh eure letzte Stunde. Zieh dich um und geh nach Hause, bevor du mir krank wirst.“ Seine Stimme war sanft und ich nickte nur. Sah in den Augen meiner Mitschüler, dass sie doch so viel mehr noch mit mir vorhatten. Tja, diese Chance hatten sie sich selbst genommen.

Als ich mich abwandte, konnte ich mir ein siegessicheres Lächeln nicht verkneifen. Schließlich hatte ich diese Schlacht doch noch gewonnen. Die Erste in einem langen Krieg. Und ich wusste noch nicht, wer als Gewinner hervorgehen würde.

Langsam betrat ich wieder die Umkleidekabine und holte mein Zeug. Es war egal, ob ich mich umzog oder nicht, denn auch meine anderen Klamotten waren pitschnass, weswegen ich sie einfach in meine Sporttasche stopfte und den Raum so verließ, wie ich gerade war.

Zuhause würde meine Mutter auf mich warten und sie würde sich bestimmt fragen, warum ich jetzt schon zurückkam. Ich musste mir eine gute Ausrede einfallen lassen.

Erneut seufzte ich. Eigentlich hatte ich es Robert gesagt, damit diese Welt aus Lügen endlich verschwand, doch jetzt musste ich weiter die Wahrheit vertuschen. Es wäre nicht unbedingt das Beste, wenn sich die Erwachsenen nun auch einmischten. Nein, wahrscheinlich würde das Alles die Situation nur noch schlimmer machen. Viel, viel schlimmer.

Ein Seufzer stahl sich über meine Lippen, als ich mein Fahrrad aufschloss und meine Taschen auf dem Gepäckträger befestigte, bevor ich es aus dem Keller schob und schließlich aufsaß.

Noch einmal sah ich auf das Schulgebäude zurück. Gestern war ich noch beliebt gewesen. Ich hatte mit ihnen gelacht und ihre Nähe genossen. Niemand hatte geahnt, dass ich so war, wie ich nun einmal war: Schwul.

Jetzt war alles anders. Ich hatte mich dem falschen Menschen anvertraut. Der Mensch, dem ich blind gefolgt wäre, hatte mich in diese Welt gestoßen. Er hatte meine Gutmütigkeit einfach ausgenutzt und so getan als wäre ich der Feind. Hat es allen erzählt, wie ich zu dem männlichen Geschlecht stand und vielleicht noch viel mehr.

Ich wollte gar nicht wissen, was er gesagt hat oder was sich die Jungs nun dachten. Es würde mich wahrscheinlich nur noch mehr verletzten. Morgen würde ich zurückkommen müssen. Es würde weitergehen. Ich wollte das Alles nicht, aber ich konnte auch nicht mehr lügen. Freiheit. Ich wollte einfach nur frei sein und mich nicht mehr verstecken müssen.

Die Sonne schien warm auf mich herab und begann meine Kleidung langsam zu trocknen, wodurch ich leicht lächelte und noch einmal zurücksah. Das Schulgebäude erhob sich wie ein riesiges Monster vor mir, das mich bedrohte und irgendwann verschlingen würde, es sei denn ich würde es selbst einmal erlegen.

Wer würde aus diesem Kampf als Gewinner hervorgehen?


„Ich bin Zuhause“, rief ich in die kleine Wohnung, wobei meine Mutter sofort zu mir trat und mich irritiert ansah. „Was ist passiert? Hast du kein Sport?“

„Ja, schon. Aber der Lehrer hat mich nach Hause geschickt, weil es mir nicht so gut ging. Ich habe einen Ball gegen den Kopf bekommen. Aber keine Sorge. Ich habe nur Kopfschmerzen und lege mich sofort hin.“ Mit diesen Worten ging ich einfach an ihr vorbei und missachtete ihren sorgenvollen Blick. Ich hatte genug eigene Gedanken, um die ich mich kümmern musste, da konnte ich mich nicht auch noch damit befassen.

In meinem Zimmer angekommen schloss ich die Tür hinter mir ab und ließ die Taschen einfach irgendwo liegen. Es war mir egal und so schlüpfte ich aus der immer noch leicht feuchten Kleidung, wobei ich auch diese achtlos zu Boden fallen ließ, bevor ich mich einfach auf mein Bett schmiss.

Jetzt erst erlaubte ich es mir zu weinen. Immer wieder spürte ich, wie sich mein Körper unter den Tränen verkrampfte und ich rollte mich immer enger zusammen. Versuchte so die Angriffsfläche zu verkleinern und einfach zu verschwinden. Sie sollten mich in Ruhe lassen. Ich hatte ihnen nichts getan und ich hatte auch nicht laut geschrien, dass ich schwul sein wollte.

Wer konnte schon bestimmen, wen er liebte? Welcher Mensch war in der Lage selbst festzulegen, ob er nur Männer oder nur Frauen toll fand? Niemand.

Ich umschlang mich selbst und versuchte mir so Halt zu geben, weil das Gefühl zu fallen immer stärker wurde. Immer wieder durchlebte ich in Gedanken die Szenen des heutigen Tages, hörte ihre Beschimpfungen, spürte die Stöße gegen meinen Körper und vernahm ihr Lachen, wenn sie mich bloß stellten.

Was hatte ich ihnen getan? Ich liebte keinen von ihnen. Niemand war attraktiv genug, dass ich auch nur eine Sekunde daran dachte, mit einem von ihnen ins Bett zu gehen. Sie waren alle nicht mein Typ. Warum sprachen sie mit mir nicht darüber? Ich könnte es ihnen erklären. Sie könnten mich vielleicht verstehen. Warum lachten sie mich lieber aus? Versuchten mich zu vertreiben?

Meine Hände krallten sich in das Laken unter mir, als die Tränen weiter den Stoff durchnässten, während immer mal wieder ein Wimmern über meine Lippen kam. Ich wollte nicht mehr lügen und mich verstecken. Vor niemanden mehr. Doch ich konnte es keinem sagen, wie sie mit mir umsprangen, weil es dann nur noch schlimmer würde. Warum half mir niemand? Sah es denn keiner? Tat ich niemandem Leid?

Ich fühlte mich so verlassen und schutzlos. Wie sollte ich mich dagegen wehren? Was konnte ich tun, damit sie endlich aufhörten? Ich hatte so viele Fragen und keine einzige Antwort. Es tat einfach nur weh, hier zu liegen und zu wissen, dass der morgige Tag genauso weitergehen würde. Doch ich musste in die Schule gehen. Es irgendwie ertragen. Schließlich waren es nur noch ein paar Jahre. Die konnten doch nicht so schlimm werden, oder?

Ein verzweifeltes Lachen kam über meine Lippen, wobei ich erneut spürte, wie sich mein Magen verkrampfte, wodurch ich mich noch einmal tiefer in das Laken unter mir verkroch. Sie würden mich leiden lassen. Immer mehr und irgendwann würden sie körperlich auf mich losgehen. Das wusste ich. Ich hatte es so oft gehört, gelesen und selbst gesehen gehabt. All das würde mir jetzt auch passieren. Ich hatte keine Chance. Sollte ich vielleicht doch mit jemanden darüber reden?

Erneut verkrampfte sich alles in mir und ich schüttelte den Kopf. Nein, das war keine Lösung. Es würde nichts bringen. Rein gar nichts. Wahrscheinlich würde dadurch nur alles schlimmer werden. Viel schlimmer, als es mir selbst lieb war.

Ein Seufzer stahl sich über meine Lippen und ich zwang mich zur Ruhe. Versuchte zu erzwingen, dass das Zittern in meinem Körper nachließ und die Tränen versiegten. Es dauerte eine Weile, in der ich mich bewusst auf das Atmen konzentrierte und mich so immer mehr beruhigte.

Ich musste durchhalten. Vielleicht sollte ich sie einfach nur ignorieren. Das wäre zumindest eine Idee, die man ausprobieren könnte…


Der nächste Tag kam und ich versuchte, meine Idee in die Tat umzusetzen. Erneut beschimpfte und bewarf man mich. Ich ignorierte es einfach, so gut es ging, und reagierte in keiner Weise auf irgendetwas von ihnen. Sah sie nicht einmal an und es hörte auf. Sie stoppten tatsächlich.

Ich konnte es gar nicht begreifen und mein Glück kaum fassen, wodurch ich dem Unterricht wieder mit einem kleinen Lächeln verfolgte. Vielleicht war dieser Terror nun vorbei. So hoffte ich es zumindest.

Doch auch dieses Mal sollte ich mich irren. Als die Glocke schließlich zur Pause schlug, ging ich auf den Schulhof und ließ mich in einer ruhigen Ecke nieder, wo der Schatten mich vor der Sonne schützte und ich auch nicht sofort jeden ins Auge fiel. Ich wollte einfach nur verschwinden und niemanden mehr zur Last fallen.

Gerade biss ich in mein Sandwich, als sich plötzlich vier Jungs vor mir aufbauten. Um eine Konfrontation zu vermeiden, unterdrückte ich den Impuls, den Kopf zu heben und sie anzusehen, denn ich wollte einfach nur meine Ruhe haben. Warum ließen sie mich nicht in Frieden? Was erhofften sie sich davon? War meine Anwesenheit wirklich eine solche Pein für sie?

„Wie lange willst du uns noch ignorieren, Felix?“ Es war die Stimme von Robert gewesen, die diese Frage ausgesprochen hatte, was mich trocken schlucken ließ. Nein, es schien ihm nicht zu genügen, dass er mich verraten hatte. Anscheinend führte er diese ganze Bewegung auch noch an. Warum?

Doch ich reagierte nicht, sondern biss noch einmal von meinem Sandwich ab und hoffte, dass sie einfach verschwanden, wenn ich weiter schwieg und so tat, als wären sie nicht da. Warum wurde meine Hoffnung nicht erfüllt?

Man packte mich grob am Kragen und zog mich in die Höhe, wodurch ich in die Augen von Robert blickte. All die Freundlichkeit und Wärme, die ich in den ganzen Jahren unserer Freundschaft dort hatte sehen dürfen, waren verschwunden. Nun spiegelten sich darin nur noch bodenloser Ekel und Hass.

„Wieso?“ Ich konnte nicht mehr sagen und ich bekam auch keine wirkliche Antwort, sondern man schlug mir stattdessen nur das Sandwich aus der Hand und ich sah wie es im Dreck landete. Warum taten sie das? Weshalb tat Robert das Alles?

Bevor ich erneut etwas sagen konnte, schlug man mir hart in die Magengrube. Ich stöhnte auf, als der Schmerz durch meinen Körper raste und war kurz davor, dass ich mich übergab, jedoch konnte ich das noch in letzter Sekunde verhindern.

Immer wieder wurde mein Körper von neuen Schmerzen überrannt, als Robert einfach weiter auf mich einschlug. Dabei konzentrierte er sich vorzugsweise auf meinen Oberkörper, damit man die blauen Flecken nicht sofort sah, weshalb ich mich irgendwann nur noch schützend zusammen rollte.

Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern bis die Fäuste und Füße verschwanden und der Schmerz langsam abebben konnte. Nur am Rande nahm ich dabei die Schulglocke war, doch ich blieb einfach liegen und erneut liefen mir Tränen über die Wangen.

Alles tat mir weh und die Hilflosigkeit stürmte meine Gedanken. Warum kam niemand um mir zu helfen? Wieso ließen alle es einfach geschehen?

Erneut warf sich ein Schatten über mich, wodurch ich mich instinktiv noch mehr zusammenrollte aus Angst, dass man mich erneut schlagen könnte, jedoch drang stattdessen eine sanfte Stimme zu mir durch: „Brauchst du Hilfe?“

Unsicher öffnete ich die Augen und blickte in ein Paar Smaragde, die mich besorgt ansahen, was ich nicht verstand.

„Der Unterricht beginnt bald. Wir sollten gehen“, sprach er weiter, „kannst du aufstehen? Was ist denn passiert, dass du hier so liegst?“

Ich begriff nicht, warum dieser Junge vor mir stand. Sein braunes Haar fiel in einem Pferdeschwanz über seine Schultern, als er weiter die Hand nach mir ausgestreckt hielt und ich sie schließlich zögerlich ergriff.

„Nichts Besonderes. Ich bin wohl eingeschlafen“, versuchte ich erneut zu lügen, doch ich sah, dass er es mir nicht glaubte. „Dann schläfst du aber verdammt komisch.“ Er lächelte kurz und begann vorsichtig den Dreck von meiner Kleidung zu klopfen „Wir müssen uns echt beeilen, sonst kommen wir beide noch zu spät. Ich würde gerne mit dir ein wenig reden. Lust, dass wir uns in der nächsten Pause hier an diesem Ort treffen?“

Ich musste warm lächeln und nickte dann. „Gerne.“ Zwar kannte ich diesen Jungen nicht, doch er war freundlich zu mir und das tat verdammt gut, wobei ich mich dann schließlich vorstellte: „Mein Name ist Felix.“

„Ich heiße Alex“, nannte er ebenfalls seinen Namen und reichte mir dann noch kurz meine Tasche, „also bis zur nächsten Pause.“ Damit verschwand er auch schon wieder und ich lief ebenfalls zurück in meinen Klassenraum. Es tat gut, nicht mehr alleine zu sein und wer wusste, vielleicht würde die Anwesenheit von Alex mir auch ein wenig Frieden gewähren.

Als ich das Zimmer betrat, war der Lehrer schon da, wodurch ich unbehelligt auf meinen Platz gehen konnte. Jede Bewegung schmerzte, doch ich versuchte, mir so wenig wie möglich anmerken zu lassen.

Nur kurz ließ ich meinen Blick zu Robert wandern, doch dort sah ich etwas, was ich nicht erkennen wollte. Er hasste mich dafür, dass ich hier auftauchte und hatte damit wohl auch nicht gerechnet.

„Gut, dann sind wir ja vollzählig.“ Mit diesen Worten begann der Lehrer den Unterricht, wobei ich erneut die kleinen Schikanen ignorierte und mich weiter auf den Stoff konzentrierte. Die nächste Pause kam bestimmt und dann würde ich Alex wiedersehen.

Alleine bei dem Gedanken legte sich ein Lächeln auf meine Lippen. Es tat gut, wieder gemocht zu werden. Seine Sorge war echt gewesen und obwohl er mich nicht kannte, hatte er mir geholfen. So etwas kam so gut wie nie vor. Er hätte mich auch wie alle anderen ignorieren können. Doch er hatte es nicht getan.

Hoffentlich blieb er auch, wenn er über meine Sexualität erfuhr und das würde er wohl sehr schnell, wenn Robert und die anderen mitbekamen, dass wir zusammen rumhingen. Vielleicht gingen sie dann auch auf ihn los. Konnte ich das verantworten?

Zweifel stiegen in mir auf und ich wusste nicht, ob ich wirklich zu ihm gehen sollte. Ich konnte nicht einfach so in Kauf nehmen, dass jemand anderes wegen mir litt. Er war so nett und er hatte es nicht verdient, dass man ihm Unglück brachte.

Vielleicht sollte ich besser nicht zu ihm gehen und ihn meiden. Er hatte es nicht verdient, dass man ihn so behandelte, wie man momentan mit mir umsprang. Dafür war er viel zu nett.

Nein, ich konnte nicht zu ihm gehen. Ich durfte mich einfach nicht mit ihm treffen. Das würde ihn nur in die Sache mit hineinziehen und das konnte ich nicht zulassen. Es war mein Kampf. Meiner ganz alleine.

Ich seufzte und spürte, wie das Glücksgefühl wieder verschwand. Ich war alleine und würde es auch bleiben. „Verzeih mir, Alex, aber ich kann dich da nicht mit hineinziehen“, entschuldigte ich mich in Gedanken bei dem Jungen und hoffte, dass er es mir nicht allzu übel nahm. Doch das war mein Kampf und ich konnte nicht zulassen, dass Unbeteiligte mit hineingezogen wurden. Vor allem wenn sie eigentlich nur helfen wollten…


Die nächste Pause kam und ich erkannte, dass Alex wirklich am vereinbarten Ort auf mich wartete. Immer wieder sah er sah sich nach mir um, doch ich blieb im Verborgenen. Warum ging er nicht einfach? Doch er wartete weiter und plötzlich schritt Robert auf ihn zu. Er wusste, dass dies eigentlich mein Ort war, an dem ich die Pause verbrachte. Sie unterhielten sich und die Panik stieg in mir auf.

Ich wusste nicht, was mein ehemals bester Freund erzählte, aber ich konnte erkennen, dass Alex kurz verwundert war. Doch dann lachte Robert los und Hass stürmte Alex Gesicht. Schneller als ich schauen konnte, stürzte er sich auf Robert.

Nein, ich begriff nicht, was dort abging, allerdings konnte ich auch nicht mehr im Verborgenen bleiben. Sofort eilte ich zu den Beiden und zog Alex von Robert runter, wobei mich die anderen Jungs überrascht ansahen und sich mein ehemaliger Freund mit einem zornigen Blick aufrichtete.

„Was fällt dir ein? Hältst du etwa zu dieser Schwuchtel?“ Es war purer Hass, der aus der Stimme von Robert triefte und ich spürte erneut die Angst in meinem Körper, die mir Übelkeit bescherte, wodurch ich Alex schließlich losließ. Dieser baute sich sogleich vor mir auf und hielt mich somit dem Blick von Robert fern.

„Ja, das tue ich! Seit wann ist es ein Verbrechen, wen man liebt?! Ihr seid erbärmlich, wenn ihr andere deswegen niedermacht!“, schnaubte mein neuer Freund, wobei ich nicht wusste, warum er so handelte. Was versprach er sich davon? Wieso tat er das alles für mich?

Mein Blick glitt über den Pausenhof, doch die anderen Kinder und Jugendlichen sahen nur zu uns her. Manche verstohlen und andere offen und ehrlich, aber niemand kam zu uns. Sie alle wollten damit nichts zu tun haben. Feiglinge! Der Lehrer unterhielt sich mit einem von Roberts Leuten und schien nichts von der kurzen Schlägerei mitbekommen zu haben.

„Es ist einfach nur krank und widerlich! Wie kann man einen anderen Mann lieben?!“, begehrte Robert weiter auf, was mich kurz schlucken ließ, jedoch gab Alex nicht auf: „Indem man es nun einmal tut! Niemand kann sich aussuchen, wen er liebt oder warum! Es ist ein Armutszeugnis, wenn man das nicht begreift und andere deswegen angreift!“

„Halt dich da raus oder stehst du etwa auch auf Männer? Das ist eine Sache zwischen mir und Felix! Geh zur Seite!“ Er wollte Alex grob wegstoßen, doch dieser griff einfach nur nach dem Arm und drehte diesen auf den Rücken, wodurch Robert schmerzhaft aufschrie und in die Knie ging.

„Felix wird in Ruhe gelassen! Haben wir uns da verstanden? Und es ist egal, auf wen oder was ich stehe! Ich sehe es nur nicht ein, dass andere deswegen niedergemacht werden. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?!“ Die Stimme von Alex war hart und unnahbar. Ich wusste nicht, warum er das für mich tat, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass etwas Großes dahinter stand.

Robert gab auf und wurde sogleich losgelassen. Noch einmal trafen sich unsere Blicke und ich spürte, dass es noch lange nicht vorbei war, weshalb ein Zittern durch meinen Körper ging. Er entfernte sich und Alex wandte sich zu mir, wobei ein Lächeln auf seinen Lippen lag: „Wo warst du denn die ganze Zeit? Ich dachte schon, dass du wieder irgendwo zusammengeschlagen liegst.“

„Es tut mir Leid. Ich… ich wollte dich da nicht mit hineinziehen“, entschuldigte ich mich und wusste nicht, was ich nun tun sollte. Ich war mit dieser Situation gänzlich überfordert, als ich dann sein Lachen hörte: „Das ist ja süß. Tja, leider habe ich mich wohl selbst in die Sache hineingezogen. Also brauchst du dich jetzt nicht mehr von mir fernhalten.“

Wie gerne hätte ich diese Worte geglaubt, doch ich kannte Robert. Er gab nicht so schnell auf. Jetzt war er alleine, doch er hatte fast die ganze Klasse hinter sich und gegen die hatte Alex keine Chance, wodurch ich bedrückt meinen Kopf hängen ließ.

„Was ist los?“ Ich hörte erneut die Sorge in seiner Stimme, was mich kurz seufzen ließ. „Ich weiß es nicht. Aber irgendwie glaube ich, dass dies nur der Anfang war.“ Ich wünschte mir, dass es nun endlich vorbei war, doch irgendwie konnte ich es einfach nicht glauben. „Ich mache mir Sorgen, dass du nun auch von ihnen angegriffen wirst. Einer gegen einen ist ja noch in Ordnung, aber wenn es dann plötzlich mehr werden, hast du auch keine Chance mehr.“

„Kann schon sein. Aber ich will nicht wegsehen, denn das lässt Menschen sterben.“ Ich hörte die Trauer in seiner Stimme, doch ich traute mich nicht nachzufragen. Schließlich kannten wir uns noch nicht lange und irgendwie wollte ich nur endlich wieder akzeptiert werden, einen Freund haben. Konnte Alex das für mich werden?

„Danke.“ Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, das von dem Braunschopf erwiderte wurde, bevor er mir dann deutete, auf einer Bank Platz zu nehmen, wo wir uns noch ein wenig unterhalten konnten, bevor der Gong das Ende der Pause bekannt gab und sich unsere Weg erneut trennten…


Es tat gut endlich einmal wieder mit jemanden normal zu reden, wodurch ich mit einem leichten Lächeln nach der Pause zurück ins Klassenzimmer ging. Ich spürte wie die stechenden Blicke auf mir ruhten und mein Lächeln erlosch. Hier war ich der Feind und alle waren gegen mich.

Dennoch taten sie nichts und ließen mich auf meinen Platz gehen. Doch kaum saß ich, kamen Robert und zwei weitere Jungen auf mich zu und bauten sich vor mir auf. Ich fühlte mich klein und hilflos, wodurch ich fast automatisch tiefer in dem Stuhl versank.

„Du fühlst dich stark. Jetzt da du einen Freund hast. Aber er wird mit dir untergehen. Ich hoffe, dass du das verkraften kannst. All das Leid, was diesem Kerl jetzt widerfährt, ist deine Schuld, Felix. Deine ganz alleine.“ Ich spürte erneut, wie mein Körper leicht unter den Worten zitterte, doch ich krallte mich nur an dem Saum meiner Ärmel fest und versuchte den Blick meines ehemaligen besten Freundes stand zu halten. Doch es ging nicht, weshalb ich bald mein Haupt demütig senkte.

„Ich… ich… er wollte das selbst. Ich habe ihn nicht darum gebeten und er hat keine Angst vor euch“, begehrte ich leicht auf und Robert lachte nur finster, als sein Blick sich in meinen fraß und ich nur trocken schlucken konnte: „Noch nicht. Aber glaub mir, Felix, er wird sie noch bekommen und dann stehst du wieder ganz alleine auf weiter Flur.“

Er schlug demonstrativ vor mir auf den Tisch, was mich zusammenzucken ließ, bevor er sich mit einem dunklen Lachen von mir entfernte. Seine Freunde folgten ihm und ich spürte erneut die Verzweiflung in meinem Herzen, die mir Tränen in die Augen trieb.

Ich durfte hier nicht weinen. Nein, das durfte ich nicht. Es würde sie nur bestätigen und sie würden noch mehr auf mir herumhacken. Ich musste stark sein und durchhalten. Nur noch eineinhalb Stunden. Das würde doch gehen, oder?

Ich schluckte hart und atmete tief ein und aus, wodurch die Tränen langsam wieder verschwanden und ich diese Katastrophe gerade noch einmal abwenden hatte können. Aber was tat ich nun? Alex wollte sich nicht raushalten und ich wollte ihn auch nicht von mir stoßen. Ich brauchte jemanden, der mir durch diese Zeit half. Sonst tat es doch niemand. Allen anderen war ich nur egal.

Ich musste leicht grinsen, als ich an das Lächeln von Alex dachte. Er begegnete mir ohne Vorurteil und verteidigte mich sogar. Ihm war egal, wen oder was ich liebte. Es tat so gut, wenn man mich mal nicht als Monster bezeichnete. So verdammt gut.

Als der Lehrer ins Zimmer kam, lauschte ich seinem Unterricht nur mit halbem Ohr und versuchte, immer noch irgendeinen Weg zu finden, Alex zu beschützen. Allein der Gedanke war eigentlich lächerlich. Ich konnte mich ja nicht einmal selbst verteidigen, wie sollte ich dann überhaupt noch einen Zweiten in Schutz nehmen.

Vielleicht sollte ich noch einmal mit ihm reden. Nein, das war auch nicht möglich. Alex würde nicht weichen. Ich hatte seinen Ernst gesehen. Er würde mich nicht im Stich lassen, egal, wie sehr ich ihn darum bitten würde.

Der einzige Weg wäre, ihn von mir zu stoßen. Doch das konnte ich nicht. Das war für mich keine Lösung, denn dafür genoss ich die Gesellschaft von ihm viel zu sehr. Ich wollte nicht mehr alleine sein.

Ein tonloser Seufzer entwich meiner Kehle, als der Schlussgong erklang und ich meine Sachen zusammenpackte. Jeder Kerl, der an meinem Platz vorbeiging, schmiss irgendetwas von meinen Sachen runter, sodass ich mich bücken musste und erst als Letzter das Zimmer verließ. Der Lehrer bekam es jedoch nicht mit, weil er selbst mit Packen beschäftigt war und ich hatte nicht vor zu petzen.

Schließlich war alles in meiner Tasche verstaut und ich konnte sie schultern, bevor ich dann das Zimmer verließ und nach Hause gehen wollte, doch als ich den Schulhof überquerte, wurde ich erneut umzingelt.

Robert sah mich wieder eiskalt an und ich konnte sein Verhalten immer noch nicht verstehen. Wie war es für ihn so einfach, mich zu hassen? Schließlich waren wir Sandkastenfreunde gewesen. Wir hatten unseren ersten Schmetterling zusammen gefangen, Sandburgen gebaut und Mädchen geärgert. So oft gelacht und einander immer wieder getröstet. Wie konnte er das alles nur vergessen und mich so stark verachten? Ich begriff es nicht...

„Na, wo ist dein Wachhund jetzt?“ Der Spott in seiner Stimme tat mir weh, doch ich zuckte nur mit den Schultern: „Keine Ahnung. Vielleicht schon auf den Weg nach Hause.“

Er stieß mir grob gegen den Brustkorb, was mich kurz nach hinten taumeln ließ. Direkt in die Arme eines anderen Kerls, der mich gnadenlos festhielt. Und bevor ich verstand, was für ein Spiel das jetzt wieder wurde, spürte ich einen steinernen Schmerz in meiner Magengrube. Ich wollte mich zusammenkrümmen, doch der Junge hinter mir ließ mich nicht, wodurch Robert immer wieder zuschlug.

Die anderen feuerten ihn an und ich spürte neben dem Schmerz wieder diese Verzweiflung in mir. Warum taten sie das? Was versprachen sie sich davon? Welches Ziel verfolgten sie?

Dieses Mal beschränkte sich Robert aber nicht nur auf meinen Oberkörper, sondern schlug mir auch ins Gesicht. Ich wusste nicht mehr, woher der Schmerz genau kam und wo man mich traf, doch irgendwann ließ man mich los. Irgendwie glaubte ich auch, dass man mich anspuckte, doch das war mir egal, als ich endlich in mich zusammenfallen konnte und sie mit einem schadenfrohen Lachen davongingen.

Ich begriff es nicht und durch diese Hoffnungslosigkeit spürte ich erneut die Tränen auf meiner Wange. Nein, ich durfte nicht weinen. Ich wollte nicht weinen. Warum hörten sie nicht auf zu fließen? Sie sollten verschwinden. Dadurch würde alles nur schlimmer werden.

Plötzlich berührte man mich sanft an der Schulter, wodurch ich zusammenzuckte und mich auf einen weiteren Schlag gefasst machte, doch er kam nicht. Stattdessen hörte ich die besorgte Stimme von Alex: „Felix? Ist alles in Ordnung? Es tut mir Leid, dass ich zu spät komme.“

Ich konnte ihm nicht böse sein. Es ging einfach nicht. Schließlich hatte er ein eigenes Leben und selbst Unterricht, den er besuchen musste. Er konnte nicht immer bei mir sein, wodurch ich ihm antworten wollte, doch aus meiner Kehle drang nur ein leises Schluchzen.

„Komm, lass uns gehen.“ Er half mir aufzustehen, wobei mir fast sofort schlecht wurde und ich mich übergeben musste. Das Blut darin ignorierte ich, denn so wie es schmeckte, kam es aus meinem Mund. Bestimmt fehlte mir irgendein Zahn. Oh ja, da schwamm er auch.

„Du musst es jemanden sagen“, drang seine Stimme zu mir durch, wodurch ich nur den Kopf schüttelte: „Nein, das würde nichts bringen. Niemand kann mich beschützen. Solange ich hier bin, werden sie es tun und nicht damit aufhören.“

„Dann zeig sie an“, drängte er weiter und ich sah ihn geschockt an. Das konnte ich doch nicht tun. Sie waren meine Klassenkameraden und wahrscheinlich meinten sie es auch gar nicht so. Eigentlich waren sie doch nur mit der Situation überfordert. Sie wollten mir nicht wirklich schaden und bestimmt nicht meinen Tod. Irgendwann würde es schon aufhören.

„Nein, das kann ich nicht tun. Sie sind meine Klassenkameraden.“ Energisch schüttelte ich den Kopf, aber Alex sah mich nur besorgt an: „Sie schlagen dich zusammen, bespucken und hassen dich. Willst du wirklich darauf warten, dass dir einer von ihnen ein Messer in den Leib rammt und du daran verreckst?“

Ich verstand die Ekstase in der Stimme von Alex nicht, doch ein unangenehmer Schauer glitt bei seinen Worten über meinen Rücken. Würden sie wirklich so weit gehen? Wäre Robert dazu in der Lage? Ich wusste es nicht, denn es schien für mich, als würde ich ihn nicht mehr kennen.

„Ich kann nicht“, meinte ich leise und wandte mich dann ab, um in Richtung Heimat zu gehen. Ich spürte, wie Alex hinter mir blieb und mich einfach nur ansah. Hoffentlich verstand er es. Aber es ging einfach nicht. Sie waren meine Klassenkameraden. Ich hatte so oft mit ihnen gelacht und gespaßt. So viele Erinnerungen mit ihnen. Sie mussten sich einfach nur an meine Sexualität gewöhnen, lernen damit umzugehen und dann würde alles wieder wie früher. Bestimmt…


„Oh Gott, Felix! Was ist passiert?!“ Meine Mutter war sofort bei mir, als sie meine Verfassung sah. Sie berührte meine Wange und ich zuckte zurück, weil ein gleißender Schmerz durch meinen Körper raste. „Nichts Schlimmes.“

„Nichts Schlimmes?! Bist du des Wahnsinns? Hast du schon einmal in den Spiegel geschaut? Schatz, du siehst furchtbar aus. Wer hat dir das angetan?“ Ihre Stimme war voller Sorge und ich versuchte zu verstehen, warum sie so mit mir redete, doch ich lächelte nur kurz, bevor ich dann mit den Schultern zuckte. „Irgendwelche Fremden. Ich weiß nicht, was ich ihnen getan habe.“

Ich musste lügen. Immer wieder lügen. Solange hatte ich schon mit einer Lüge gelebt. Jetzt sah sie nur anders aus. Früher hatte ich so getan, als würden mich Mädchen interessieren. Jetzt tat ich so, als würden es nicht meine Klassenkameraden und mein bester Freund sein, die versuchten mich zu zerstören.

„Das… das kann doch nicht sein. Dir ist doch früher nie etwas passiert. Was hat Robert denn gemacht? Hat es ihn auch erwischt?“ Ein Dolch raste in mein Herz, als sie mich auf meinen ehemals besten Freund ansprach, doch ich schluckte nur trocken und versuchte mich zu beruhigen. Sie wusste ja noch nicht, dass diese Beziehung beendet war.

„Nein, er war nicht dabei gewesen.“ Es tat weh, zu lügen und falsch zu lächeln. Doch ich konnte es nicht verhindern. Es musste sein, um noch Schlimmeres zu verhindern. Was würde meine Familie tun, wenn sie wusste, wie ich empfand und warum man mir das antat? Sie würden mich bestimmt auch verachten.

„Komm mit in die Küche. Wir kühlen deine Prellungen.“ Sie führte mich in den besagten Raum und ich nahm am Esstisch Platz, wobei ich ihr dabei zusah, wie sie eine Kältekompresse in ein Handtuch wickelte und zu mir kam.

Ich zog scharf die Luft ein, als sie erneut einen kurzen Schmerz entfachte, bevor die lindernde Wirkung einsetzte und ich mich langsam wieder entspannte.

„Du siehst furchtbar aus. Gibt es vielleicht irgendwelche Zeugen?“, durchbrach sie schließlich die Stille, doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich wusste nicht, ob es neben Alex noch jemand gesehen hatte, aber es war auch egal. Ich wollte meine Klassenkameraden nicht anzeigen.

„Ich habe zumindest keine gesehen“, meinte ich ruhig und die Sorge in den Augen meiner Mutter wuchs noch einmal, weshalb ich versuchte zu lächeln. Doch ich spürte, dass es nicht funktionierte und ich glaubte, mittlerweile Tränen bei ihr zu sehen.

„Wir müssen Anzeige erstatten, Felix. Und wenn auch nur gegen Unbekannt. Vielleicht hat ja doch jemand etwas gesehen“, sprach sie wieder das Thema an, das ich nicht wollte, woraufhin ich den Kopf schüttelte: „Nein, das bringt doch nichts. Du weißt doch, wie die Menschen sind. In solchen Momenten hat niemand etwas gesehen. Das ist reine Zeitverschwendung.“

Ich bemerkte, dass es ihr nicht gefiel, doch sie gab schließlich nach: „Wenn du meinst. Pass bitte besser auf dich auf. Du bist mein einziger Sohn und ich will dich nicht verlieren.“

Ihr einziger Sohn… ihr schwuler Sohn…

Ob sie mich noch so liebevoll behandelte, wenn ich ihr sagte, wie ich mich fühlte und was wirklich geschehen war? Wenn ich ihr sagte, was für Menschen ich liebte und attraktiv fand? Könnte sie mich dann noch lieben oder hasste sie mich dann auch?

Im nächsten Moment ging die Wohnungstür auf und mein Vater meldete sich zurück: „Hallo, Schatz. Ich bin heute ein wenig früher weg, weil die Arbeit nicht genug war.“

Er trat in die Küche und sah mich überrascht an, bevor er dann auch zu mir eilte. „Felix?! Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?“

„Irgendwelche Fremden. Ich weiß es nicht“, log ich weiter und er sah mich noch einmal an, bevor er dann breit grinste: „Aber du hast hoffentlich auch ein wenig zurückgeschlagen. Bist ja schließlich keine schwächliche Tunte, oder?“

Die Bezeichnung tat weh und ich zwang mich zu einem Nicken durch. Ja, vielleicht würde es meine Mutter verstehen, doch für Vater wäre ich gestorben. Er hasste Menschen wie mich und war der Meinung, dass dies keine richtigen Männer wären sondern alles nur Waschlappen. Ich musste lügen. Weiter lügen.

„Oh, du hast einen Zahn verloren. Ich hoffe, dass dein Gegner auch nicht mehr alle hat, oder?“ Er wirkte stolz auf mich. Als wäre man nur ein richtiger Mann, wenn man sich geprügelt hatte und ich nickte erneut. Ich konnte nicht sprechen, denn die Verzweiflung schnürte mir meine Kehle zu.

Niemand würde mich akzeptieren, so wie ich war. Nur Alex. Ja, nur für Alex war ich immer noch ein normaler Junge. Aber für alle anderen musste ich entweder lügen oder das Monster sein, dass sie hassten und vernichten wollten…


Der nächste Tag kam. Die Torturen gingen weiter. Immer wieder wurde ich gehänselt, geschubst, geschlagen und bespuckt. Ab und an stellte man mir ein Bein, doch ab den zweiten Mal konnte ich mich jedes Mal wieder selbst fangen und einen Sturz verhindern.

Ich ignorierte es so gut es ging. Den Schmerz in meinem Körper und auf meiner Seele. Vermied den Kontakt zu Alex, damit er nicht auch noch in diese Situation mit hineingezogen wurde. Wich ihm immer wieder aus, wenn er mich sah und auf mich zu gerannt kam. Nein, ich könnte nicht verantworten, wenn er ebenfalls Schläge bekam, weil er in meiner Nähe war. Da musste ich alleine durch.

Es ging meistens gut. Langsam bekam ich ein Gefühl dafür, wann sie kamen, um mir zu schaden und konnte ihnen gekonnt ausweichen. Kapselte mich von Mal zu Mal mehr ab. Wurde immer stiller und in mich gekehrt. Die besorgten Blicke meiner Eltern ignorierte ich, genauso wie die Hartnäckigkeit von Alex.

Es vergingen Wochen und ich nahm langsam an Gewicht ab, weil ich keine Ruhe fand, um zu essen oder mir schlichtweg der Appetit fehlte und die Blicke wurden besorgter. Doch sie schienen nicht zu wissen, wie sie es ansprechen sollten. Auf die Frage „wie es mir geht“, bekamen sie nur die Standartantwort „gut“.

Nach und nach hörte auch Alex auf, zu mir kommen zu wollen und ich verkroch mich immer mehr in den dunklen Ecken des Schulgebäudes, um dort meine Ruhe zu haben. Hin und wieder weinte ich stumm für mich alleine. Ich wusste nicht, wie mein Leben weitergehen sollte und wünschte mir, dass ich irgendwo anders sein könnte. Dass ich den Tag noch einmal erleben könnte und alles zurücknehmen. Ich wollte wieder in der Lüge leben, dass ich Mädchen liebte. Mein Outing war ein riesiger Fehler gewesen.


„Felix?“ Ich saß am Esstisch und stocherte eher lustlos in meiner Mahlzeit herum, die irgendwann vor meiner Sezierung mal ein Schnitzel mit Pommes gewesen sein musste, als mich meine Mutter besorgt ansprach.

Nur träge hob ich den Kopf und sah sie an. Die Sorge in ihren Augen war allgegenwärtig, wodurch ich sie schon gar nicht mehr richtig wahrnahm und wartete darauf dass sie weitersprach.

„Wir haben einen Termin für dich ausgemacht und wir möchten, dass du ihn wahrnimmst“, redete sie weiter und schien auf irgendeine Reaktion von meiner Seite zu hoffen, doch ich blieb regungslos.

Ich fühlte nichts dabei, als sie mir das sagte, wobei ich meinen Blick wieder auf mein zerlegtes Essen gleiten ließ: „Wann und wo?“

„Diesen Freitagnachmittag gleich nach der Schule und zwar bei dem Psychologen Dr. Kreuz“, erklärte sie weiter und ich zuckte zusammen. Sie schickten mich zum Psychologen?! Hatten sie nicht mehr alle? Was sollte mir dieser Seelenklempner schon bringen? Er würde nur herumstochern und noch mehr kaputt machen! Hatten sie nicht mehr alle Tassen im Schrank?

„Warum?“ Meine Stimme war nur ein Krächzen und erneut tauschten sie besorgte Blicke aus, bevor dann mein Vater zu sprechen begann: „Weil wir dir nicht mehr glauben, dass mit dir alles in Ordnung ist und wir wollen nicht, dass du an irgendetwas zerbricht, dass du in dich hineinfrisst. Du willst nicht mit uns reden, also hoffen wir, dass du bei einem Psychologen, der zum Schweigen verpflichtet ist, vielleicht offener wirst.“

Ich verstand ihre Sorge und ich wünschte mir auch, dass ich anders handeln könnte. Doch mit wem sollte ich reden? Alle verachteten mich oder ich wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen.

Die aktuelle Situation hatte mich einfach zum Schweigen verdammt. Ich kam nicht mehr vor und zurück und daran würde auch ein Psychologe nichts ändern, dennoch nickte ich und seufzte resigniert: „Okay, wenn es euch dann besser geht, werde ich ihn besuchen. Versprecht euch aber nicht zu viel davon.“

„Danke, Schatz.“ Meine Mutter wirkte glücklich und es tat weh. War sie so leicht zufrieden zu stellen oder gar zu beruhigen? Warum sah sie es nicht, dass ich innerlich vor Schmerzen schrie? Könnte sie mich nicht einfach in den Arm nehmen und sagen, dass sie mich liebte?

Ich spürte erneut, wie Tränen in meinen Augen brannten, wodurch ich die Gabel niederlegte und mich erhob. „Ich hab keinen Hunger mehr.“

„Aber du hast gar nichts gegessen“, protestierte meine Mutter, doch ich ignorierte es und ging einfach in mein Zimmer zurück, das ich auch sogleich abschloss. Dort ließ ich mich auf mein Bett fallen, um erneut zu weinen.

Sie sahen es alle nicht. Wagten sich nicht an mich heran und sie nahmen mich nicht mehr in den Arm. Keiner mochte mich mehr. Ich fühlte mich alleine und verloren. Die Tatsache, dass man mich nun zu einem Psychologen schickte, machte es nicht gerade leichter für mich.

Was sollte ich diesem Kerl denn sagen? Würde er meine Situation überhaupt verstehen? Was tat ich, wenn er mich dann plötzlich auch hasste?

All diese Fragen rasten durch meinen Kopf und ich wünschte mir, dass ich nicht gehen musste. Ich wollte einfach nur stumm leiden und die Schule irgendwie überleben. Warum verstanden sie das nicht? Es war mein Leben. Mein verfluchtes Leben.

Und nichts würde es wieder kitten können. Auch kein Besuch bei so einem bescheuerten Psychiater.

Warum sahen sie das nicht? Diese Situation war da und sie würde erst verschwinden, wenn ich die Schule beendet hatte. Danach würde ich weit wegziehen. Irgendwohin, wo man mich nicht kannte und dort ein Leben beginnen, in dem man mich wieder lieben könnte.

Bis dahin musste ich nur überleben. Nur irgendwie überleben…


„Hallo, Felix. Setz dich doch bitte.“ Ich betrat den Beratungsraum des Psychiaters und sah ihn kurz unsicher an. Er war gerade einmal knapp über dreißig, hatte braunes, kurzes Haar, das neckisch immer mal wieder in sein Gesicht fiel. Seine blauen Augen sahen mich sanft und verständnisvoll an.

Als ich ihm meine Hand zur Begrüßung gereicht hatte, war der Druck sanft und stark zu gleich gewesen. Er schien ein netter, junger Mann zu sein. Aber er war halt ein Mann und Männer hassten Menschen wie mich.

Unsicher nahm ich schließlich auf der Couch Platz, wobei sich Dr. Kreuz auf einen Sessel in meiner Nähe setzte, um so zu verhindern, dass ich allzu laut sprechen musste. Ich fühlte mich nicht wohl. Er würde mir nicht helfen können. Das wusste ich jetzt schon.

„Deine Eltern haben den Termin ausgemacht. Ist er überhaupt in deinem Interesse?“ Der Anfang des Gespräches überraschte mich doch sehr, wobei ich kurz unsicher lächelte: „Nicht unbedingt. Aber wenn ich sie damit beruhigen kann, dann werde ich es wohl tun.“

„Okay, dann bezweifle ich, dass es irgendetwas gibt, worüber du eigentlich sprechen möchtest, oder?“, fragte er ruhig nach. Seine Stimme war sanft und erweckte in einem das starke Gefühl, geborgen zu sein, wodurch ich mich konzentrieren musste, um dieser Illusion nicht zu verfallen.

„Ich weiß es nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern und wich seinem Blick aus, der mich glauben ließ, dass er bis tief in meine Seele sehen konnte und das wollte ich nicht. Niemand sollte in meine Seele sehen können. Dort unten gab es nichts zu entdecken außer Schund und Müll. Zerbrochene Scherben meines früheren Ichs.

„Felix.“ Seine Stimme blieb sanft und ich schrak hoch, wodurch ich wieder in seinen Augen versank. So ein wunderschöner Mann.

„Etwas bedrückt dich. Das riecht man zehn Meter gegen den Wind. Ich kann verstehen, wenn du darüber noch nicht sprechen kannst, weil du vor irgendetwas Angst hast. Aber ich will auch, dass du verstehst, dass ich nicht hier bin, um dich zu verurteilen oder dir deine Fehler aufzuzeigen. Ich bin hier, damit du jemanden hast mit dem du reden kannst. Und vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung für das Problem, das deine Augen so traurig macht.“ Auf seine Worte hin musste ich trocken schlucken und wünschte mir, dass er es anders gesagt hätte.

Meine Hände krallten sich ohne mein Zutun in meine Hose und ich wünschte mir, dass es einen anderen Weg gäbe. Doch ich sah keinen. Nun war ich hier. Für zwei Stunden und musste mich mit dem Mann unterhalten, wenn ich nicht wollte, dass meine Eltern ihr Geld ganz umsonst ausgaben.

„Alle hassen mich“, kam es leise über meine Lippen. Ich wünschte mir, dass er es nicht verstanden hätte, doch mein Wunsch ging nicht in Erfüllung, denn er antwortete sofort: „Alle? Deine Eltern wirkten nicht so.“

„Sie wissen es ja nicht. Darum hassen sie mich noch nicht. Aber sie würden es tun, wenn sie die Wahrheit wüssten.“ Ich spürte, wie ich mich mit jedem Wort, das über meine Lippen kam, freier zu fühlen begann.

„Was ist denn die Wahrheit?“, fragte Dr. Kreuz ruhig nach und ich schluckte trocken. Konnte ich es ihm sagen? Er war ein Mann. Bestimmt würde er mich dann auch hassen und mich sofort aus dem Zimmer jagen.

„Das ist nicht wichtig. Sie alle hassen mich. Schlagen auf mich ein und werfen mir Steine in den Weg. Ich will nur noch weg. Einfach so weit weg wie möglich. Aber es geht nicht. Noch nicht. Ich muss nur aushalten. Nur solange bis ich mit der Schule fertig bin. Dann kann ich wegziehen“, sprach ich meine Gedanken weiter aus, wobei mich der Arzt skeptisch ansah. „Du willst also davonlaufen?“

„Ja, es ist am einfachsten“, stimmte ich ihm zu, wobei er erneut eine Augenbraue hob, bevor er dann schwer seufzte: „Wie viele Jahre hast du auf dieser Schule noch vor dir?“

„Mit diesem Jahr sind es vier“, antwortete ich auch auf diese Frage, wobei er erneut seufzte und den Kopf schüttelte, bevor er etwas auf seinem Blatt Papier notierte und mich dann wieder ansah. „Vier Jahre sind eine lange Zeit. Viel Zeit um die Kraft endgültig zu verlieren und sich selbst das Leben zu nehmen.“

„Nein, das habe ich nicht vor“, widersprach ich sofort, wobei er mich nur traurig anlächelte: „Einen Keks für jeden Patienten, der mir das gesagt hatte und es dann doch tat. Ich bräuchte nichts mehr zum Essen kaufen.“

Ich verstand diese Aussage nicht ganz. Schließlich hatte ich nur einmal solche Gedanken gehabt. Aber ich würde es niemals tun. Denn solange ich lebte, konnte es doch immer noch irgendwann besser werden.

„Warum hassen sie dich? Es muss ja wirklich etwas sehr Gravierendes sein, wenn sie dich so fertig machen. Kannst du es nicht ändern?“, fragte er ruhig weiter nach und ich schluckte erneut trocken, bevor ich dann nur den Kopf schüttelte: „Nein.“

„Wieso nicht?“ Konnte er sich keinen Reim darauf machen oder wollte er die Wahrheit nicht wissen, so wie Robert damals?

„Weil ich es mir nicht aussuchen kann. Es geht einfach nicht. Würde es, hätte ich es schon längst getan.“ Ich wollte mich nicht erneut outen. Die Erinnerungen an das letzte Mal waren noch allzu präsent. Es schmerzte, wenn ich daran zurückdachte, wie Robert auf mein Geständnis reagiert hatte.

„Hat es etwas mit deiner Sexualität zu tun?“, fragte der Therapeut ruhig weiter nach, wodurch ich ihn überrascht ansah und er wartete gar nicht auf eine Antwort: „Anscheinend hab ich Recht. Du bist also schwul. Und daran ist was schlimm? Ich habe mehr als genug Patienten, denen es genauso ergeht wie dir. Es ist mir egal, wer wen liebt. Sie alle sind wunderbare Menschen und durchlebten denselben Schmerz, der dich im Moment ereilt. Aber ich kann dir helfen. Wenn du mich lässt.“

Mein Herz machte einen Sprung. Ich war nicht mehr alleine. Endlich half mir ein Erwachsener und neben Alex der Zweite, der meine Sexualität nicht als schlimm empfand. Es nahm mir eine ungemeine Last von den Schultern und zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen.

Vielleicht war es doch nicht so schlimm, dass ich schwul war…


Verhasst

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