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Angriff der Dunkelheit

Engel und Dämon

Hastige Schritte eilten über den von Laub bedeckten Boden. Man erkannte nur wenig im Schein des Vollmondes, dennoch bewegte sich die Gestalt zielstrebig und ohne große Mühe. Sie schien sich in diesem Wald auszukennen, wodurch sie kein einziges Mal stoppte.

Die Luft kündete von einem kommenden Winter, denn sie ließ den Atem als kleine Wölkchen zu Tage treten und auch begann der erste Raureif sich auf den Blättern und Gräsern zu bilden. Verwandelte dadurch die Umgebung in ein mystisches Reich, das zum Träumen einlud.

Doch dies alles störte sie nicht. Sie rannte unbeirrt weiter. Die Krallen ihrer Pfoten gruben sich unnachgiebig in den Boden. Gaben Halt und sorgten so dafür, dass sie sich mit aller Kraft ohne zu stürzte nach vorne bewegen konnte. Egal wie steil die Kurven auch waren.

Ihr Ziel war ein kleines Dorf, das sich zwischen die Bäume gezwängt hatte und somit hoffte, dass der Wald um sie herum die Bewohner vor der Welt dort draußen schützen würde. Doch vor diesem Wesen konnten sie nicht geschützt werden, denn es näherte sich unnachgiebig der kleinen Ansammlung und verlangsamte seine Schritte erst als es den Schutz der Bäume verlassen hatte und in den ersten Schein der Straßenlaternen trat.

Die Kerzen in den Gestellen spendeten nur wenig Licht und erzeugten eher noch mehr unheimliche Schatten, als sie zu vertreiben. Doch die Menschen in den einfachen Häusern aus Holz und Lehm schienen einfach nur froh darüber zu sein, dass sie in der Nacht nicht in völliger Dunkelheit unterwegs sein mussten.

Die gekrümmte Gestalt nutzte jedoch das tanzende Licht, um sich in den neuen Schatten zu bewegen. Sie hatte an sich nichts zu befürchten. Ihr Körper war zu kräftig, als dass ihr irgendeiner der hier anwesenden Menschen etwas anhaben könnte. Dennoch wollte sie unbemerkt bleiben.

Der Wolf wollte jetzt keine Aufmerksamkeit erhaschen. Die Unruhe würde ihm eher schaden als nutzen, wodurch er weiterhin versuchte sich leise fortzubewegen, was allerdings durch die gefrorene Erde zu einer fast unlösbaren Aufgabe wurde. Immer wieder scharrten seine Krallen über den harten Boden. Zeugten so von Unheil und ließen die Gefahr spürbar werden.

Doch ihm kam eh keine Menschenseele entgegen. Nur hier und da huschte er unter dem erleuchtenden Fenster eines einzelnen Gebäudes hindurch und hörte die gesenkten Stimmen, welche vor Angst leicht zitterten.

„Ob es heute Nacht wieder zuschlägt?“

„Wir haben doch kaum noch Vieh.“

„Wenn es noch mehr frisst, dann werden wir verhungern.“

Diese Worte sollten ihn traurig stimmen, doch so konnte er nicht empfinden. Niemand hegte auch nur einen Funken Mitleid für ihn und er hatte es sich nicht einmal ausgesucht. Nein, er wurde bestraft.

Bestraft für die Tatsache, dass er jemand helfen wollte, dem man nicht mehr helfen konnte. Also versuchte er die Stimmen zu ignorieren, die über ihn schimpften. Obwohl sie nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatten, was die Wahrheit war.

Sein Ziel war ein Haus, das herunter gekommen war und von dem ganzen Dorf gemieden wurde, wodurch es trotz seiner zentralen Lage sehr einsam wirkte, denn der Abstand zu den Nachbarhäusern war größer als üblich. Als würde man sich vor dem Unheil, das in diesen vier Wänden wohnte, fürchten.

Doch er musste dorthin. Dorthin und einen Weg aus seinem Fluch finden, wodurch er sich zielstrebig dem Gebäude näherte und kaum ließ er die letzte Hütte hinter sich spürte er, wie seine Glieder schwerer wurden. Ein gewaltiger Druck begann sich auf seiner Lunge auszubreiten und ihm das Atmen zu erschweren - schon fast unmöglich zu machen.

Doch er wollte nicht aufgeben. Heute nicht. So oft hatte er es schon versucht. Doch jedes Mal war er umgekehrt. Aber jetzt nicht. Er wollte zum Fenster und endlich Klarheit erlangen.

Sein Bauch berührte den kalten Boden, als er sich nur noch kriechend fortbewegen konnte, doch er hielt nicht an. Der Schmerz, der sich immer tiefer in seinem Körper grub, begann sämtliche Nerven zu überladen und ließ Schweißperlen aus seinen Poren dringen, dennoch versuchte er sich weiter nach vorne zu ziehen.

Näher heran. Nur noch ein wenig näher heran. Ein letztes Mal durch dieses Fenster sehen und vielleicht dadurch endlich verstehen. Wodurch er sich verzweifelt hoch zu stemmen begann, als er sein Ziel erreicht hatte.

Der Schmerz benebelte seine Sinne und er erkannte nur noch Schemen. Doch es hatte sich nichts verändert. Die Couch. Das Kaminfeuer. Die kauernde Gestalt. So wie an dem Tag, als sein Grauen begann.

Er spürte, wie der Hass sich in seinem Inneren ausbreitete. Hass auf dieses Haus. Die Gestalt und alles, was ihn dies angetan hatte, doch er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

Plötzlich durchschoss ihn ein gleißender Schmerz, der ihn gepeinigt aufjaulen und seine Wirbelsäule ungesund krümmen ließ.

„Kevin.“ Die Stimme war schneidend und kühl, wobei er über seine Schulter zurück sah und erkannte, dass ein junger Mann mit ausgestreckter Hand hinter ihm stand. Sein Gesicht war vor Abscheu und Zorn verzerrt, während er seine Finger weiter krümmte und so neuen Schmerz im Körper des Wolfes entfachte.

„Was suchst du hier? Du weißt doch, dass du hier nicht willkommen bist. Wann werdet ihr törichten Menschen das endlich verstehen? Dieses Haus gehört mir und ich werde jeden bestrafen, der es unbefugt betritt.“ Der Neuankömmling schnaubte abfällig, wobei der Angesprochene spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor.

Im nächsten Moment wurde er schon durch die Luft geschleudert und schlug hart an der nächsten Wand auf. Ein schmerzhaftes Jaulen wurde aus seinen Lungen gepresst und er zitterte am ganzen Körper. Seine Glieder wollten ihm nicht gehorchen und dennoch versuchte er sich wieder aufzurichten. Ohne Erfolg. Er sank zurück und konnte unter den Schmerzen kaum noch klar denken, dennoch gab er nicht auf.

„Also, lauf, Wölfchen. Lauf so schnell du kannst. Und komm nie mehr zurück. Denn hier wirst du nur deinen Tod finden.“ Der Magier lachte und Kevin stemmte sich nun gänzlich in die Höhe, bevor er sich abwandte und das Dorf so schnell es sein momentaner Zustand zuließ verließ. Er humpelte und immer wieder brachen seine Beine unter seinem Gewicht zusammen, wodurch er stürzte. Doch er blieb nicht lange liegen, sondern eilte weiter. Weg von diesem verfluchten Haus. Hinein in den schützenden Wald.

Wie sollte er es schaffen? Wie konnte er den Fluch brechen? Wie nur? Eine einzelne Träne der Verzweiflung rollte über seine Wangen, als er ein leises Jaulen ausstieß. War er für immer verloren? Hoffentlich nicht. Irgendwo musste es doch Rettung geben. Es musste ein Ausweg existieren. Aber Kevin konnte ihn nicht sehen und die Verzweiflung kam zurück. Warum? Warum er? Er wollte doch nur helfen. Nur nett sein.

Er ließ sich in einer kleinen Höhle auf den Boden fallen. Seine Glieder zitterten immer noch unter den letzten Wellen der Schmerzen, doch sein Körper begann schon mit der Heilung. Nichts konnte ihn töten. Er war hier gefangen. Für alle Zeit. Warum ist er damals nur gegangen? Er hätte auf seine Mutter hören sollen. Dieses eine Mal hätte er hören sollen, dann würde er jetzt noch ein normaler Mensch sein und kein Monster. Kein Monster, das niemand töten konnte. Kein Monster, das nur töten kann und nicht sterben wird. Niemals...

„Nein, du wirst nicht zu diesem Haus gehen.“

Kevin sah seine Mutter an, die sich erbost über ihn aufbaute, als würde diese Haltung ihr Verbot bestärken, doch den Jungen erreichte es dadurch nur noch weniger.

„Warum nicht? Was soll an diesem Haus so schlimm sein?“, versuchte es der fünfzehnjährige weiter, doch seine Mutter schnaubte abfällig: „Es bringt Unglück, wenn man sich ihm nähert. Dieses Haus hat noch nie etwas Gutes vollbracht. Niemals. Darum bleib fern, wenn dir dein Glück und das Wohlergehen deiner Familie wichtig ist.“

Kevin spürte, dass sie damit etwas in ihm traf, dennoch wollte er es nicht für bare Münze nehmen, denn er war nicht abergläubisch. Er glaubte nicht an Flüche, Verwünschungen und sonstigen Kram. Für ihn war dieses Haus ein normales Gemäuer, das man nur ein wenig mehr pflegen müsste, dann würde es bestimmt wieder sehr gut aussehen.

Aber in seinem jetzigen Zustand konnte es ja nur Angst und Schrecken verbreiten. So viel verstand Kevin zumindest schon, dennoch sah er sich seiner wütenden Mutter gegenüber, die von seiner Idee, die neu zugezogene Frau in dem Haus zu besuchen, gar nicht begeistert war.

„Haben wir uns da verstanden?“, kam die alles entscheidende Frage, als Kevin nach einer Weile immer noch nicht reagierte, wodurch er schwer seufzte und schließlich nickte: „Ja, ich werde mich von dem Haus fernhalten.“

Er wusste, dass er auf verlorenen Posten stand. Wenn er weiter diskutieren würde, dann käme irgendwann das Elternargument und dagegen hatte ein Kind keine Chance. Wie er es hasste. Nur weil sie seine Eltern waren, hatten sie nicht das Recht gepachtet, dass sie immer wussten, was nun richtig oder falsch war.

Eigentlich war er ja schon fast erwachsen. Eine Hochzeit wurde schon arrangiert. Er hatte seine Eltern mit Nachbarn reden hören, die ihre Töchter anboten. Doch eigentlich hatte Kevin auf diese arrangierten Ehen keine Lust. Er sah seinen Eltern an, dass sie nicht wirklich glücklich waren.

Doch das war ein Thema, mit dem sich Kevin erst nach seiner Erkundungstour beschäftigen wollte, wodurch er sich schließlich erhob und die Wohnstube verließ. Seine Mutter hatte sich schon nach seiner Einwilligung von ihm abgewandt und sich ihren täglichen Arbeiten zugewandt, wodurch sie es wahrscheinlich nicht einmal mitbekam, dass ihr Sohn das Gebäude verließ.

Die Blätter der Bäume um das Dorf herum begannen sich schon zu verfärben und kündigten so den kommenden Herbst an. Kevin mochte diese Jahreszeit. Er atmete die klare Luft tief ein um das reinigende Gefühl zu genießen.

Seine Kleidung war schon ein wenig dicker, um die aufkommende Kälte von seinen Körper fernzuhalten, dennoch kratzte das raue Leinen leicht auf seiner Haut, die diese grobe Behandlung jedoch schon seit seiner Geburt gewöhnt war.

Seine Füße trugen ihn ruhig durch die Straßen des kleinen Dorfes, während um ihn herum schon die Vorbereitungen auf den Winter langsam ihren Anfang fanden. Er war gespannt, wann sein Vater ihn wieder damit nerven würde, dass er ihm dabei zur Hand gehen sollte.

Nein, Kevin half nicht gerne dabei. Er hasste es Holz zu hacken, es zu stapeln und das Vieh winterfest zu machen. Alles lästige Arbeiten, mit denen er sich nicht anfreunden konnte. Dem ungeachtet würde er wahrscheinlich auch dieses Jahr wieder damit belästigt werden und sein Vater würde ihm erneut sagen, dass dies alles nötig war, damit sie den Winter überleben konnten. Was ja durchaus wahr sein mochte, dennoch würde sich Kevin ein anderes Leben wünschen.

Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als er spürte, wie es um ihn herum ruhiger wurde und die Atmosphäre spürbar abkühlte. Und als er seinen Blick hob, erkannte er auch den Grund.

Er stand auf dem Grundstück des Hauses. Noch ein paar Schritte von den Mauern entfernt, dennoch schon auf dem Grund, der normalerweise gemieden wurde, weil er verflucht war.

Flüche. Kevin konnte darüber nur müde lächeln, doch er konnte sich auch nicht dagegen wehren, als er spürte, dass dort etwas nicht so war, wie es bei einem alten verkommenen Haus sein sollte.

„Spinnst du, Junge?!“ Man packte ihn grob am Arm und zog ihn aus der gefährlichen Zone heraus. „Warum gehst du so nah heran? Willst du unbedingt Pech in deinem Leben haben?“

Als er seinen Blick von dem Gemäuer abwandte, sah er in das Gesicht des Bauern, der das nächst gelegenem Haus bewohnte. Wodurch er den Blick demütigt senkte. „Tut mir Leid, ich war wohl zu sehr in meine Gedanken vertieft.“

„Pass das nächste Mal auf. Das könnte auch ins Auge gehen.“ Man tätschelte seine Wange und dann verschwand der ältere Mann auch schon wieder in seiner Hütte, um sich wieder seiner Arbeit zu zuwenden.

Kevin seufzte nur. Sah noch einmal zurück zu dem Haus, bevor er nur kurz lächelte. Verflucht von wegen. Und er würde es allen beweisen. Heute Nacht würde er zu dem Haus gehen und der Frau einen Besuch abstatten. Dann würden sie sehen, dass es totaler Schmarn war, was sie von sich gaben. Dieses Gebäude war ganz normal. So normal wie alles andere hier auch. Kevin war sich dieser Sache sicher und so freute er sich schon darauf, wenn er es den anderen unter die Nase rieb. Und dann würde man ihn endlich ernst nehmen und nicht mehr wie ein Kind behandeln. Dann müssten sie ihn alle respektieren und achten. Er müsste sich nichts mehr sagen lassen. Ja, er würde endlich frei sein. So unendlich frei…

Die Nacht warf ihre Schatten über das Dorf und alle Bewohner schliefen seelenruhig in ihren Betten.

Das war die perfekte Zeit. Kevin schlüpfte durch das Haus. Lauschte den Geräuschen seiner Eltern, die in einem anderen Raum lagen. Fern von ihm. Und das war gut so. Sein Vater schnarchte leise vor sich hin und drehte sich in unregelmäßigen Abständen von einer Seite zur anderen, während seine Mutter schon fast wie tot in dem Bett lag. Nur das leichte Heben und Senken der Brust verriet, dass sie noch am Leben war.

Er hatte noch nie begriffen, wie man es neben so einer Schnarchnase aushalten oder gar nur an Schlaf denken konnte. Manchmal schnarchte sein Vater so laut, dass es Kevin nicht einmal in seinem eigenen Zimmer aushielt. Geschweige denn neben dem Mann zu liegen.

Kevin schauderte kurz und schüttelte sich, bevor er leise weiter huschte und somit nun auf die nur schwach beleuchtete Straße trat. Behutsam schloss er die Tür hinter sich und versuchte so jedes Geräusch zu vermeiden.

Erst als das Schloss mit einem leisen Klicken einrastete, wagte er es wieder normal zu atmen. Das Schwierigste hatte er hiermit geschafft und er war stolz auf sich. Früher wurde er regelmäßig erwischt, wenn er in der Nacht abhauen wollte.

Er konnte sich das Lächeln nicht verkneifen, als er sich mit einem ungewohnten Hochgefühl umdrehte und die Straße zu dem alten Haus entlang schritt. Wenn er an den Gebäuden vorbeiging, hörte er ab und zu gedämpfte Stimmen, doch er konnte nicht wirklich verstehen worüber die Menschen sprachen. Und eigentlich war es ihm ja auch egal. Er hatte andere Pläne und diese wollte er, ohne zu zögern, verwirklichen.

Es fröstelte ihn leicht, als ein kurzer Windstoß kam und ihn daran erinnerte, dass die Welt nun begann abzukühlen, wodurch er sich unwillkürlich tiefer in seine Jacke, die aus einem dicken Wollstoff bestand, kuschelte.

Seine Füße trugen ihn zielstrebig zu dem abgeschotteten Haus und er erreichte es irgendwie schneller als am Mittag zuvor, wodurch er sich nun dem gewaltigen Gemäuer gegenübersah.

Bedrohlich ragte es in den schwarzen Himmel empor und schien damit jeden ungewollten Besucher vertreiben zu wollen. Auch Kevin spürte, wie der Wunsch in ihm erwachte, doch einfach auf dem Absatz kehrt zu machen und wieder nach Hause zurückzugehen.

Doch sein Stolz ließ es nicht zu. Er wollte dem Dorf beweisen, dass keine Bedrohung von diesem Haus ausging und er wollte auch die Frau kennen lernen. Schließlich hatte er sie bis jetzt nur einmal gesehen und zwar an dem Tag ihres Einzuges. Sie hatte das Haus betreten und war nie wieder heraus gekommen.

Der Schrei, der in der darauf folgenden Nacht durch das Dorf hallte, ließ Kevin allein bei der Erinnerung schon das Blut in den Adern gefrieren, doch er schüttelte die Gedanken daran ab und zog noch einmal die Jacke enger um seine Schultern.

Als er dann einen weiteren Schritt auf das Haus zutrat, wurde eine Lichtquelle in einem der Zimmer entzündet und erhellte den Weg, der zwischen ihm und dem Fenster lag, als würde das Haus ihn hereinbitten und sich wünschen, dass er näher trat. Der Lichtschein wirkte wie ein gelber Teppich aus Licht, der nur für Kevin ausgerollt wurde.

Er trat näher heran. Erkannte Schemen in dem hell erleuchteten Zimmer, die es als Wohnstube enttarnten. Er hatte auch das Gefühl, dass auf der Couch ein Mensch lag, doch dieser bewegte sich nicht.

Kevin trennten nur noch zwei Schritte von dem Fenster und er sah nun genug, um seine Vermutungen zu bestätigen. Es war eine Couch, die vor einem Kamin stand und auf ihr lag eine Person, die sich unter einer Decke zusammen gekauert hatte.

Das Feuer tanzte zu einer ihm unbekannten Melodie. Es bewegte sich ungewöhnlich, wodurch es die Aufmerksamkeit von Kevin forderte. Als er näher hinsah, tauchte ein Kopf in dem Feuer auf, der ihn mit seinen Augen fixierte. Es war nicht zu erkennen, ob er einem Mann oder einer Frau gehörte, doch der Blick war stechend und drohend.

Unwillkürlich kam Kevin näher um ihn genauer betrachten zu können. Im nächsten Moment löste sich der Kopf aus den Flammen. Schnellte mit einem Nerven zerreißenden Kreischen auf Kevin zu. Erschrocken wich dieser zurück und stürzte nach hinten, wobei er einen Schrei nicht gänzlich unterdrücken konnte.

Sofort sah er sich um, doch anscheinend war sein Ausrutscher unbemerkt geblieben, wodurch er sich wieder nach oben arbeitete und zurück auf das Feuer, das ihm dieses Mal eine Gänsehaut über den Rücken jagte, sah.

Vielleicht war es doch nicht so gut dieses Gemäuer zu betreten. Kevin spürte, wie er in seiner Entscheidung zu schwanken begann. Das Alles, was gerade passiert war, war irgendwie sehr unheimlich gewesen, wodurch er sich langsam nur noch nach dem sicheren Zuhause sehnte.

„Komm, Kevin. Komm herein. Ich warte auf dich. Und du wolltest mich doch auch besuchen, oder nicht? Also, trau dich. Komm herein.“ Die Stimme hatte keine wirkliche Herkunft. Es wirkte, als wäre sie einfach nur in seinem Kopf erklungen. Dennoch konnte Kevin den Impuls sich umzusehen nicht unterdrücken.

Doch er sah nichts. Er war alleine und auch die Stimme schwieg. Stattdessen wurde die Stille von einem leisen Knarzen durchbrochen und der Junge sah, wie sich die Tür einen Spalt weit öffnete. Fast so als wünschte man es sich wirklich, dass er dieses Haus betrat.

Nur noch ein letztes Mal zögerte er und sah über seine Schulter zurück. Doch er war immer noch alleine und somit begann er einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich so unaufhörlich der Tür zu nähern.

Seine Hand berührte das kalte, alte Holz, als er sie langsam und behutsam öffnete. Schwerfällig knarrte sie unter der Bewegung und gab den Blick auf einen verwahrlosten Flur frei, wobei ihm zeitgleich der Geruch von Staub, Alter und Fäulnis entgegenschlug.

Hier hatte schon lange niemand mehr wirklich gelebt. Es wirkte eher gerade so, als wäre hier jemand beim Auspacken oder Einpacken gestört worden. Denn überall standen Körbe und Kisten herum, die mit Sachen gefüllt waren. Die einen mehr und die anderen weniger. Als hätte man einfach mitten drinnen aufgehört, weil man von irgendetwas unterbrochen wurde. Doch von was?

Kevin verstand es nicht, doch er hatte eigentlich nur ein Ziel. Das Feuer mit dem Kopf und die Person auf dem Diwan. Auch wenn alles in ihm schrie, umzukehren und das Haus zu verlassen, so konnte er nicht mehr. Er war wie verzaubert von dem Gemäuer und trat näher. Hinein in das Licht und den Raum, der von dem Schein des Feuers erhellt wurde.

Da lag sie. Die Decke und darunter…

Kevin konnte es nicht genau zuordnen. Es waren eindeutig die zierlichen Umrisse einer Frau zu erkennen, doch sie wirkte noch lebloser als seine Mutter, wenn sie schlief und der Verwesungsgeruch wurde stärker. Immer stärker desto näher er sich der zugedeckten Frau näherte.

Seine Hand zitterte als er sie nach der Decke ausstreckte. Er spürte den weichen Stoff und wollte gerade zugreifen, als plötzlich eine Bodendiele hinter ihm knarrte. Das Geräusch krallte sich in seinen Nacken und glitt über seinen Rücken bis tief in seine Beine.

Erschrocken drehte er sich um, doch es war schon zu spät. Ein dumpfer Schlag traf seine Schläfe und alles um ihn herum wurde schwarz…

„Er ist weg!“ Panik lag in der Stimme der Frau, als sie zu dem Esstisch eilte, wo ihr Mann saß, der sie nur verwirrt ansah. „Wer ist weg?“

„Kevin! Er liegt nicht in seinem Bett und die Matratze ist schon kalt.“ Sie begann hysterisch zu werden, wobei ihre Stimme damit zu kämpfen hatte, dass sie sich nicht überschlug.

„Was soll schon passieren? Er ist halt früh raus.“ Er zuckte mit den Schultern, doch sie wollte sich nicht beruhigen. Ihre mütterlichen Instinkte verrieten ihr, dass etwas nicht in Ordnung war und als es plötzlich an der Tür klopfte, wurde aus der Vermutung Gewissheit.

„Morgen. Ist bei euch alles in Ordnung? Man hat gestern Nacht einen Schrei gehört.“ Ein Kloß bildete sich in der Kehle von Kevins Mutter, als sie die Worte des Nachbarn hörte, wobei sie ihn mit weit geöffneten Augen ansah. „Nein, Kevin ist weg.“

Die Augen ihres Gegenüber wurden von Schrecken geweitet und im nächsten Moment wandte er sich ab, um davon zustürmen. Sofort brach ein wildes Treiben aus. Er klopfte an jede Tür, um die Dorfbewohner zur Suche zu alarmieren und auch die Eltern streiften mit ihren Nachbarn durch den Wald.

Der Name des Jungen schallte bis zu den frühen Abendstunden durch den Wald, doch es kam keine Antwort. Niemand hatte auch nur die geringste Spur von Kevin gefunden. Er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

„Leider konnten wir Kevin nicht finden.“ Der Dorfälteste, ein Mann, der von der Zeit gezeichnet war, mit tiefen Falten im Gesicht und schon weißen, schütteren Haar, sah die beiden Erwachsenen aus dunklen Augen bemitleidend an. „Aber gebt die Hoffnung nicht auf. Vielleicht haben wir ja das ein oder andere übersehen.“

„Dorfältester! Dorfältester! Es ist schrecklich! Einfach grausam!“ Ein aufgebrachter Bürger stürmte auf die kleine Ansammlung zu und blieb dann schwer atmend vor ihnen stehen. „Irgendetwas hat das Wild zerfleischt!“

„Das war bestimmt nur ein Wolf“, winkte der alte Mann ab, doch der Neuankömmling begehrte sofort dagegen auf: „Nein! Es kann kein Wolf sein. Ein Wolf würde seine Beute fressen, aber die Tiere wurden einfach nur zerfleischt. Keine Spuren davon, dass wirklich viel gegessen wurde. Als hätte man sie einfach nur der Grausamkeit willens getötete.“

Die Augen des Dorfoberhauptes wurden schmaler und man erkannte, dass sämtliche Farbe langsam aus seinem Gesicht zu entweichen schien. „Du musst dich irren.“

„Nein, es ist wirklich so. Vielleicht war es ja auch eine Seuche. Wer weiß. Es gibt doch kein Tier, das so grausam ist und nach einem Menschen sah es nicht aus.“ Der Bürger versuchte die von ihm angefachte Panik im Nachhinein ein wenig zu entschärfen.

„Bete zu Gott, dass du Recht behältst. Gut, dann sperrt das Tier erst einmal für eine Weile in die Ställe. Es wäre schlecht, wenn sie sich bei dem Wild anstecken würden“, gab der alte Mann den nächsten Befehl, bevor er sich wieder zu den verzweifelten Eltern wandte: „Keine Sorge. Wir werden morgen weiter nach Kevin suchen. Der Junge wird schon auftauchen. Bis jetzt hat dieser Wald noch niemanden verloren.“

Er versuchte die Angst der Beiden mit einem Lächeln ein wenig zu mildern, doch er erkannte in ihren Augen, dass er dies nicht geschafft hatte. Nur die Rückkehr von Kevin würde dieses Wunder vollbringen können. Vorher würde nichts sie auch nur annähernd beruhigen können. Denn sie hatten ihren einzigen Sohn verloren und nur Gott wusste, ob er jemals wieder lebendig zurückkehren würde. Nur Gott...

Das Holz der Stalltür zerbrach mit einem lauten Krachen und eine gebückte Bestie trat in den Raum dahinter. Die Schafe schrien ängstlich auf und drängten sich so gut es ging in eine Ecke zusammen, während sich ihr Tod mit gemächlichen und langsamen Schritten näherte.

Speichel tropfte ihr aus der Schnauze, als sie sich über die Lefzen leckte. So viel Nahrung. So viel frisches Fleisch. So starker Hunger. Hunger. Musste fressen. Musste zerreißen. Musste zerfleischen. Die Schnauze tief in das blutige Fleisch treiben.

„Hey!“ Eine Stimme stoppte sie mitten in der Bewegung, wodurch sie sich mit einem tiefen Knurren umdrehte und auf den Bauern, der diese Schafe sein Eigen nannte, blickte. Er zitterte leicht, doch versuchte es zu verbergen. Nein, er war keine Gefahr für die Bestie. Niemand war das. Keiner konnte sie aufhalten oder gar ihren Hunger stillen.

„Du wagst es hier einzubrechen. Dir werde ich es zeigen, was es bedeutet sich an meinen Schafen vergreifen zu wollen.“ Er umschloss die Armbrust in seiner Hand fester mit seinen Fingern.

Im nächsten Moment legte er an, zielte und schoss. Der Schmerz war gleißend und tauchte das Sichtfeld der Bestie für einen kurzen Moment in ein grelles Weiß, bevor der Zorn und das Adrenalin durch ihre Adern rauschten.

Ein letztes, tiefes Knurren mit dem sie nach vorne stürmte und sich vor dem Bauern auf zwei Beine stellte, wodurch sie ihn nun um gute zwei Köpfe überragte. Erneut erklang ein Schnalzen. Der Schmerz kehrte zurück, doch er entfachte nur neuen Hass und ließ die Pranken nieder sausen.

Das Blut fühlte sich auf ihrer Haut warm und lebendig an, als es sich verzweifelt durch das räudige Fell schlängelte. Sie sah in die weit aufgerissenen Augen des Bauern, die nur noch durch ein Wunder in dem zerschmetterten Schädel gehalten wurden.

Der ausgerenkte Kiefer ließ das Gesicht als eine groteske Maske erscheinen, wodurch sich die Bestie nur abwandte und den Leichnam fallen ließ. Unwillkürlich riss sie noch ein weiteres Stück aus dem Schädel heraus, weil es sich an ihren Krallen verhakt hatte.

Dieses Stück zerbrach unter ihrem nächsten Schritt mit einem hässlichen Knacken und sie sah auf die Schafe, die wahnsinnig vor Angst durcheinander schrien und kurz davor waren sich gegenseitig niederzutrampeln. Wie sie diese Panik genoss. In ihren Augen. In ihren Schreien.

Niemand würde sie jetzt noch aufhalten. Keiner konnte sie aufhalten. Sie konnte die Angst riechen. Das pulsierende Blut. Die weit aufgerissen Augen und das Blöken in ihre Richtung. All das war für sie so wunderschön.

Ein letztes Mal schleckte sie sich über die Lefzen und sprang dann nach vorne. Packte das erste Schaf, grub ihre Zähne tief in das saftige Fleisch und schlug mit ihren Pranken nach zwei weiteren Schafen, denen sie damit tiefe Wunden zufügte.

Die Panik brach aus. Doch es gab kein Entkommen. Die Bestie wütete. Sie zerriss, zerfleischte und tötete. Warf durch die pure Kraft ihrer Bewegungen ganze Körperteile quer durch die Scheune und färbte den Boden und die Wände in ein tiefes Rot.

Nein, hier gab es kein Entkommen mehr. Nicht für Tier und nicht einmal für den Menschen, der selbst im Tode nicht davor bewahrt war, diese Gräueltaten mit ansehen zu müssen.

Nach einer schieren Ewigkeit war das Werk vollbracht und die Bestie wandte sich ab. Watete durch das Blut, doch ihre Pfoten hinterließen keine Abdrücke. Als würde sie trotz ihrer schieren Masse kein Gewicht besitzen. Schritt an dem toten Bauern vorbei, berührte ihn unabsichtlich leicht mit ihrem Schweif, was ihn zur Seite kippen ließ. Doch sie ging unberührt weiter. Verließ das Dorf, um in den Schatten der Bäume zu verschwinden.

Doch ihr Hunger war noch lange nicht gestillt. Niemand konnte ihn stillen. Er trieb sie weiter. Weiter durch die Welt und sie würde zurückkehren. Bis es nichts mehr zum Holen gab und dann. Ja, dann würde sie weiterziehen. Bis in alle Ewigkeit und immer vom Hunger getrieben, der all ihr Sein ausmachte. In ihrem Leben existierte nur noch er. Dieser niemals endende Hunger, der sich tief in ihre Gedärme fraß und all ihr Denken befiel. Für alle Zeit...

Ein panischer Schrei riss das Dorf am frühen Morgen aus dem Schlaf, als die Frau des Bauern in den Stall kam und das Massaker der letzten Nacht erblickte. In nur wenigen Augenblicken hatten sich alle Anwohner vor dem Schauplatz des Grauens versammelt.

„Mein tiefstes Beileid.“ Das Oberhaupt hatte seine Hand sanft auf die Schulter der jungen Frau gelegt und drückte diese leicht, bevor er sich zu den anderen wandte: „Legt Fallen im Wald aus. Wir müssen das Tier fangen, das dieses Massaker angerichtet hat. Niemand soll mehr zu Schaden kommen.“

Sofort eilten die Bewohner davon und setzten den Befehl in die Tat um, doch es half nichts. Die Fallen blieben leer. Nicht einmal das Wild verfing sich in ihnen, denn es gab in diesen Wald nichts mehr, was atmete. Die einst so frische Luft war erfüllt mit dem Gestank des Todes.

„Was sollen wir tun? Es läuft immer noch da draußen herum.“ Ein Bewohner begehrte bei der Abendversammlung auf, wobei der Dorfälteste nur den Kopf schüttelte. „Vielleicht ist es schon weg. Nachdem es hier keine Nahrung mehr gefunden hat, ist es vielleicht weiter gezogen.“

Ängstliche Blicke wurden ausgetauscht. Niemand konnte diese Worte so wirklich glauben, dennoch zwangen sich die meisten dazu und verschwanden schließlich mit einem Nicken in ihren Häusern. Sie hatten keine andere Wahl. Zwar dachten es alle, aber keine traute es sich dies auszusprechen. Die Angst vor einer Eskalation war zu groß. Sie mussten sich an diesen winzigen Halm der Hoffnung klammern. Es war ihre einzige Chance hier zu bleiben.

„Hoffentlich ist es weiter gezogen.“ Der Mann schien um Jahre gealtert zu sein, als er sich auf seinen Gehstock stützte und seine Augen erschöpft schloss. Er war nicht fähig sein Dorf zu schützen, wenn die Bestie immer noch in der Nähe war. Diese Kraft, die er in dieser Scheune erblickt hatte, konnte von niemand hier gebändigt werden.

Langsam wandte auch er sich ab, um sich schlafen zu legen, doch die Nacht sollte nicht ruhig bleiben. Denn die Stille wurde aufs Neue von dem Krachen einer Scheunentür durchdrungen und dann hörte man nur noch die Schreie der Tiere. Voller Verzweiflung und Todesangst. Sie wünschten sich ihnen zu entkommen, aber sie schafften es nicht. Nicht allein.

„Nein, du darfst nicht gehen.“ Die Frau klammerte sich verzweifelt an den Arm ihres Mannes, als dieser seine Armbrust packte und dabei war das Haus zu verlassen. „Es wird auch dich töten.“

„Das kann durchaus sein, aber wenn ich es nicht davon abhalte die Tiere zu töten, dann wird der Winter uns umbringen.“ Er stieß sein Weib sanft von sich, sodass sie von ihm ablassen musste und ein paar Schritte zurückwich.

Dann verschwand er aus der Tür und ließ seine Ehefrau leise weinend zurück. Der Knall der Armbrust durchriss die Nacht. Einmal, zweimal und sogar ein drittes Mal. Dann hörte man seinen dunklen Schrei, bevor er gurgelnd erstarb.

Das Wimmern der Frau wurde zu einem verzweifelten Schrei, bevor sie der Heulkrampf packte und sie in sich zusammenfiel, während die Tränen ihren Körper durchschüttelten. Kaum erstarben die gepeinigten Schreie der Tiere, erklangen die Schritte der Bestie, die sich aus dem Dorf entfernten und somit die Stille zurückkehrte, die nur von dem Weinen der frisch verwitweten Frau durchbrochen wurde. Keiner rührte sich. Es blieb ruhig und dunkel. Man spürte nur diese eisige Klaue der Angst, die sich tief in diese Gemeinde grub und dabei Wunden schlug, die nie wieder verheilen würden. Sie waren alle verloren...

Es zogen einige Tage in das Land und die Dorfbewohner kamen nicht weiter. Die Tiere wurden immer weniger. Niemand hatte die Bestie gesehen, denn wer sich ihr stellte, überlebte das Zusammentreffen nicht.

Dennoch gab es Gerüchte von Menschen, die ihren Schatten gesehen haben wollten. Sie beschrieben die Bestie, als eine buckelige, mit langen, scharfen Klauen ausgestattete Wolfsgestalt, die sich trotz der Verformungen sehr geschmeidig und schnell bewegen konnte. Ihr Anblick sollte einen das Blut in den Adern gefrieren lassen. So voller Grausamkeit und kaum lebensfähig, aber doch so stark und unbezwingbar. Ein wahrer Fluch.

„Ältester! Wir müssen etwas unternehmen! Bald haben wir kein Vieh mehr!“, begehrte ein Bewohner bei der Versammlung, die mittlerweile jeden Morgen stattfand, auf, wobei ihm eine weitläufige Zustimmung zuteil wurde. So konnte es nicht mehr weitergehen, sonst würden sie den Winter nicht überleben können.

„Der Winter kommt immer näher! Wenn wir es nicht bald aufhalten, dann werden wir sterben!“, erhob der nächste Einwohner seine Stimme, während der alte Mann schwer seufzte: „Ich weiß, meine Kinder. Aber wir sind machtlos. Die Götter meinen es gerade nicht gut mit uns.“

Er wollte noch etwas sagen, doch ein wütender Bürger unterbrach ihn: „Kevin! Daran ist bestimmt Kevin Schuld! Die Bestie ist erst seit dem Abend da, an dem der Junge verschwunden ist. Bestimmt hat der Bengel irgendwas getan, was die Götter erzürnt hat. Das Balg war noch nie zu irgendetwas nutze!“

„Nein! Kevin war das nicht! Er ist ein lieber Junge! Niemals würde er etwas tun, was uns schaden könnte“, widersprach die Mutter von Kevin sofort, wobei man ihr ansah, dass der Kummer auch sie gezeichnet hatte. Sie wirkte wie eine alte, schwache Frau, die mit ihren zitternden Händen verzweifelt ein Taschentuch umklammert hielt.

„Euer Vieh lebt doch noch, oder? Und das obwohl ihr so nah am Rand wohnt. Wie kommt das denn?“, schaltete sich nun ein weiterer Bewohner ein, wobei die Frau diesen verunsichert ansah und somit meldete sich der Vater zu Wort: „Das hat nichts zu bedeuten. Wir hatten einfach Glück. Aber mein Junge ist zu so etwas nicht fähig. Er kann ja nicht einmal vernünftig Holz hacken.“

„Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich habe Kevin an dem Tag, bevor er verschwunden war, bei dem verfluchten Haus gesehen. Bestimmt ist er in der Nacht dort hinein gegangen und hat somit den Zorn des Gemäuers auf uns gezogen!“ Kaum war dieser Anklagepunkt ausgesprochen, richteten sich alle Augen voller Hass und Zorn auf die verzweifelten Eltern.

„Ihr seid an diesem Unheil Schuld! Ihr alleine! Wegen euch werden wir alle sterben! Ihr habt uns verflucht!“ Die Worte vermischten sich und die Stimmung drohte umzukippen, wodurch der Dorfälteste laut mit seinem Stock auf den Boden schlug, um die Aufmerksamkeit zurück zubekommen.

„Das Letzte, was wir jetzt noch brauchen können, ist, dass wir uns nun gegenseitig abschlachten. Wir haben keine Beweise dafür, dass Kevin das Monster ist. Aber was ich vorher sagen wollte, bevor man mich unterbrach.“ Sein Blick legte sich zornig auf den Bauern, der ihn vorhin ins Wort gefallen war. „Ich habe mit unseren Nachbardörfern geredet. Sie werden uns ein paar ihrer Vorräte abgeben, dass wir den Winter überleben können. Natürlich nicht umsonst. Ich habe ihnen versprochen, dass wir ihnen im nächsten Jahr bei den Feldarbeiten ein wenig unter die Arme greifen werden. Das ist ein geringer Preis dafür, dass wir den Winter überleben werden.“

Die Stimmung lockerte sich durch diese gute Nachricht ein wenig auf, doch der Hass blieb. Und als sich die Versammlung auflöste, wurden die verachtenden Blicke, die man den Eltern von Kevin zuwarf, nicht weniger, sondern schienen sich sogar mit Mordlust zu füllen. Sie waren für alle schuld. Sie alleine und dafür würden sie bezahlen...

Der Schnee begann mittlerweile zu schmelzen, als eine neue Familie in das Dorf kam. Sie hatten zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn, die ungefähr das gleiche Alter wie Kevin hatten.

Der Sohn schritt ruhig durch die Straßen des Dorfes um sich ein wenig um zu sehen. Die Blicke der Menschen bemerkte er sehr wohl. Sie waren voller Groll und Misstrauen. Keiner sprach ihn an. Jeder wandte sich ab, wenn sich ihre Augen trafen, derweil sah er nicht ganz so merkwürdig aus. Seine roten, schulterlangen Haare waren nichts Besonderes. Auch seine Kleidung bestand aus einfachem Leinenstoff, der nicht sonderbar gefärbt war.

„Von was ernährten sich die Dorfbewohner hier überhaupt?“, schoss es ihn in den Kopf, als er weder Vieh noch Ackerfelder sah und erst jetzt bemerkte er die eingefallenen Gesichter und die mageren Körper.

„Sie waren am verhungern!“, schoss es ihn voller Entsetzen in den Kopf. Warum war seine Familie nur hier her gezogen? Er begriff es immer weniger. Dieser Ort hatte nichts zu bieten. Es war nur ein trauriger Flecken Erde. Nicht mehr und auch nicht weniger. Er wollte hier nicht länger als nötig bleiben. Hoffentlich hatten das auch seine Eltern vor.

Sein Blick fiel ebenfalls auf ein Haus, das einsam in der Mitte des Dorfes stand, wobei er sich diesem langsam näherte. Es wirkte alt und verfallen, doch der Garten darum war gepflegt und gehegt. Nur die Mauer war von Efeu überwachsen und schien das Menschenwerk langsam wieder in die Natur einzufügen.

„Wer dort wohl wohnt? Er scheint das Haus ja nicht sonderlich zu mögen“, sprach er eher zu sich selbst, als er näher trat, aber bevor er das Grundstück betreten konnte, wurde er hart am Arm gepackt.

"Autsch!", verließ ein Schmerzenslaut seine Lippen, als er sich zu jenem umdrehte und in das schwache Gesicht eines Bauers sah, welches gar nicht vermuten ließ, dass so viel Kraft noch in diesem Arm steckte.

„Nicht, Junge. Das Haus ist verflucht. Niemand darf sich ihm nähern. Verstehst du? Niemand. Du würdest Unheil über dich und deine Familie bringen. Bitte, Junge, bleib davon fern.“ Die Augen des Mannes wurden flehend und sie füllten sich langsam mit Tränen, bevor er den Arm des Jungen wieder losließ und dann einen Schritt nach hinten ging.

„Sei bitte vernünftiger als er.“ Die Worte waren fast zu leise, um verstanden zu werden, allerdings gelang es dem Jungen. Jedoch noch bevor dieser etwas erwidern konnte, drehte sich der Bauer um und ging zurück an seine Arbeit.

Noch ein Mal sah der Junge zurück zu dem Haus, bevor er den Kopf schüttelte und sich abwandte. Er konnte spüren, dass etwas Unheimliches davon ausging und er wollte dies nicht erforschen. Dafür war er nicht mutig genug. Noch nie hatte er Abenteuer gesucht, sondern war froh, wenn er seine Ruhe hatte. Er wollte nirgends hineingezogen werden, sondern nur sein Leben beschreiten. Die Welt war schon grausam genug, da musste man sich nicht noch verzweifelt in jedes Problem stürzen.

Ein Seufzer schlich sich über seine Lippen, als er sich dann auf den Heimweg machte, denn schließlich musste er noch seine Sachen auspacken und irgendwie hatte ihm die Reaktion des Bauers Angst gemacht. Sein Oberarm schmerzte noch an der Stelle, an der er gepackt wurde und so strich er ein wenig darüber. Irgendwas stimmte hier nicht. War das der Grund, warum sie hierher gekommen waren? Wollten seine Eltern diesen Fluch lösen? Hoffentlich schafften sie es, denn irgendwie hatte er das Gefühl, dass es dieses Mal anders war. Bedrohlich anders...

„Und, Sebi, wie ist das Dorf so?“ Seine Schwester saß neben ihm auf dem Boden und half ihm die letzte Kiste auszupacken. Der Junge besaß nicht fiel, doch dafür hing sein Herz an seinen Sachen. Dank der häufigen Umzüge hatte er es sich angewöhnt nicht zu viel zu besitzen. Erleichterte die Sache des Ein- und Auspacken ungemein.

„Es ist tot.“ Seine Stimme war leise und deprimiert, wobei er seinen Blick senkte und kurz in seiner Handlung innehielt.

„Wieso ist es tot? Es laufen doch noch genügend Leute draußen herum. Also wie ausgestorben hat es nicht auf mich gewirkt.“ Das Mädchen lächelte und strich sich eine ihrer taillenlangen, blauen Strähnen hinters Ohr, damit sie ihr nicht im Weg umging.

„Ja, es leben noch Menschen hier, Sarah. Aber sie sind dürr, ausgehungert und schwach. Sie werden nicht mehr lange überleben. Hier gibt es nichts zu essen. Kein Tier und kein Getreide.“ Sebastian seufzte schwer und räumte schließlich eine kleine Schleuder in eines seiner Regale. Sie war das Letzte und somit war er hier eingezogen. Die Frage war nur für wie lange.

„Der Winter ist ja jetzt vorbei. Sie werden es schon schaffen. Mach dir da keine Sorgen.“ Sie winkte mit einem Lächeln ab und erhob sich schließlich, wobei sie ihr braunes Kleid glatt strich.

„Ich würde es gerne, aber da ist ein Haus.“ Sebi wollte weiter sprechen, doch seine Schwester unterbrach ihn spöttisch: „Ach wirklich? Ein Haus? Stell dir vor, in einem Dorf gibt es mehr als nur ein Haus.“

Ihr Bruder strafte sie dadurch mit einem bösen Blick, bevor er dann schwer seufzte: „Nein, so meinte ich das nicht. Als ich mich dem Gebäude nähern wollte, hielt man mich auf und warnte mich davor, dass es Unglück bringen würde. Ich frage mich, ob es an dem Leid der Bauern schuld ist.“

„Du wirst es aber nie herausfinden. Warum zerbrichst du dir dann den Kopf darüber?“ Sie sah ihn fragend an, wobei er ihren Blick verwirrt erwiderte. „Wie kommst du denn darauf?“

„Na ja, du bist ein Feigling. Niemals würdest du den Mut dazu aufbringen, auch nur einen Fuß in dieses Gemäuer zu setzen. Vor allem wenn man dich davor gewarnt hat, dass es dort gefährlich sein könnte“, spottete sie weiter über ihn, wodurch sein Blick sich verfinsterte.

„Ein Mensch kann sich ändern“, grummelte er leise in sich hinein, wobei seine Schwester kurz auflachte: „Ja, dass kann er vielleicht, aber nicht, wenn er ein so großer Angsthase ist wie du. Du traust dich ja nicht einmal eine Spinne zu entfernen und rennst vor allem davon, was auch nur ansatzweise für Probleme sorgen könnte. Seien es nun Lehrer, Mitschüler oder Mutproben. Du bist und bleibst ein Feigling, Sebastian Hudo.“

Sebastian spürte einen Kloß in seinem Hals. Sie hatte ihm sämtliche Argumente genommen, wodurch er sie nur entgeistert anstarrte, was sie mit einem kurzen Lächeln das Zimmer verlassen ließ. „Schach matt, Bruderherz. Lass die Bauern lieber selber damit klar kommen. Du bist der Letzte, der ihnen helfen kann.“

Sie war gemein und Sebi spürte, wie er einen Groll gegen seine Schwester entwickelte. Warum machte sie sich so über ihn lustig? Ja, er war früher ein Feigling gewesen und ist den Problemen, wo es nur ging, aus dem Weg gegangen. Aber hatte er nicht auch eine Chance verdient, zu beweisen, dass er sich ändern konnte?

Er starrte in sein Zimmer, bevor er sich langsam auf sein Bett fallen ließ und die mit Holz verkleidete Decke betrachtete. Ja, seine Familie war nicht arm gewesen. Sie gehörten zu der Oberschicht, deswegen war ihnen Bildung zuteil geworden, die anderen Kindern verweigert wurde.

Seine Eltern waren hierher gezogen, um den Bauern zu helfen, ihre Krise zu überstehen, denn sie waren Abgesandte des Herzogs von diesem Landstrich. Sie zogen oft um. Viel zu oft. Wodurch sie sich darauf geeinigt hatten so wenig Gepäck wie nötig mitzunehmen, damit sie nicht allzu viel Zeit mit Ein- und Auspacken verschwendeten.

Ein Seufzer stahl sich über seine Lippen, als er weiter über das Haus und die Bevölkerung nachdachte. Es schien ein wirklich gravierendes Problem zu sein, wenn seine Eltern gerufen wurden. Und die abgemagerten Bewohner bestätigten diese Vermutung sogar.

Er wollte gar nicht wissen, wie viele kleine Kinder in dem Winter gestorben waren. Alleine bei dem Gedanken fröstelte es ihn, wodurch er nach der Decke aus Lammfell griff, um sich kurzerhand in sie einzuwickeln.

Ob er diesen Leuten auch irgendwie helfen konnte? Wenn er nur wüsste, was sie heimgesucht hatte und nun plagte. Er spürte in sich den Wunsch diesen Leuten zu helfen. Egal wie. Einfach nur etwas für sie tun, dass sie wieder einen Funken Hoffnung bekamen. Dass sie wieder die Chance verspürten, doch noch irgendwie weiterleben zu können.

War er dazu wirklich in der Lage? Er fühlte sich plötzlich so alleine und schwach. Niemand stand hinter ihm. Seine Freunde waren nicht hier und seine Schwester verspottete ihn nur.

Keiner war hier, der an ihn glaubte. Sein bester Freund nicht und die beiden anderen auch nicht. Es waren nur drei gute Freunde, aber Sebastian war immer schon der Meinung, dass er lieber wenig gute, als viele schlechte Freunde haben wollte, deswegen ließ er nur die wenigsten an sich heran.

Sie fehlten ihm und er spürte, wie dieses Gefühl sich immer tiefer in seine Brust bohrte. Wie gerne würde er jetzt einfach zu ihnen gehen und sie um Rat fragen. Bestimmt würden sie ihm sogar behilflich sein, diesen Menschen zu helfen.

Eine einzelne Träne lief über seine Wange, als er langsam seine Augen schloss und sich zusammenrollte. Er wollte einfach nur schlafen. Ein wenig schlafen und diese Einsamkeit und Hilflosigkeit vergessen, wodurch er sich in die Traumwelt geleiten ließ, um den Problemen erneut zu entkommen…

Ein lauter Schrei ließ Sebastian aus seinen Schlaf hochschrecken. Erst glaubte er, dass er sich das Geräusch eingebildet hat, doch als weitere Geräusche des Chaos an sein Ohr drangen, war er hellwach.

Er dachte nicht viel nach, als er aus dem Bett sprang und nach unten stürzte. Immer wieder drang ein kurzer Schrei zu ihm hindurch. Sie gehörten alle seiner Schwester und die Panik wuchs mit jedem weiteren Geräusch, das er vernahm.

Nicht jetzt. Nicht jetzt durfte er zu spät kommen. Schneller. Er musste schneller laufen, sonst würde er sie nicht retten können und das durfte nicht passieren. Nein, er musste einfach rechtzeitig ankommen.

Die Treppenstufen nahm er gleich mehrfach und sprang mehr, als dass er lief. Weit ausgreifende Schritte brachten ihn immer näher an sein Ziel, wobei er sich an dem Geländer festhalten musste, als er um die Ecke bog.

Dennoch wurde er abrupt gestoppt. Irgendetwas lag im Weg und brachte ihn somit zu Fall. Hart prallte er längs auf den Boden auf. Sein Kopf schnellte in die Höhe und er sah in das Gesicht von Sarah. Ihr Körper war erschlafft und ihre Augen geschlossen. Anscheinend war sie ohnmächtig geworden. Der Stress war wohl zu viel für sie gewesen oder sie hatte den Anblick ihres Entführers nicht verkraftet.

Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle als er sah, wer oder besser gesagt was Sarah gerade über seiner Schulter trug. Eine behaarte Bestie stand auf zwei Beinen in der Mitte des Zimmers und erfüllte den Raum mit dem Geruch von nassem Hund.

Der Wolfsschwanz peitschte unruhig hin und her, während immer wieder Blut auf den Boden tropfte. Das eine Bein war länger als das andere, genauso wie die Arme unterschiedlich aussahen. Hier und da erblickte man einen Knochen, der durch das Fleisch brach.

Plötzlich kam Bewegung in den Koloss und Sebastian konnte sehen wie der Geifer von dem Maul tropfte und eine Pfütze auf den Boden bildete, wobei ihn ein eisiger Schauer durchstreifte, als er in das Gesicht der Bestie sah.

Der Kiefer wirkte ausgerenkt, und war voller scharfer und krummer Zähne. Hellrosaner Schaum klebte an den Lefzen und im Fell. Das Gesicht war voller Narben, während ein einzelnes giftgrünes Auge den Jungen fixierte. Die andere Augenhöhle war leer. Das dunkelgraue Fell wurde immer wieder von Wunden, Knochen und Narben durchbrochen, weshalb sich der Brustkorb schwerfällig hob und senkte.

„Wenn du deine Schwester wiedersehen willst, dann komm zu mir in den Wald. Ich werde auf dich warten.“ Das Maul bewegte sich nicht, dennoch erfüllte die dunkle Stimme den Raum und Sebastian wollte gerade antworten, doch mit einem Satz war die Kreatur auch schon durch das Fenster verschwunden.

„Warte.“ Sebastian streckte seine Hand aus, doch seine Bitte blieb unerhört, wodurch er sich langsam erhob und in dem Raum umsah. Der Tisch und die Stühle waren umgestoßen. Sämtliche Teller und Bestecke waren quer über den Boden verteilt.

Anscheinend hatte es Sarah der Bestie nicht unbedingt einfach gemacht. Dennoch wurde sie gefangen und es lag an ihm sie zu befreien. Doch konnte er das wirklich? Er lauschte in sein Inneres. Hörte das schnelle Schlagen seines Herzens und wie der Puls in seinen Ohren pochte.

Dennoch verspürte er keine Angst. Er hatte keine Furcht vor diesem Tier. Denn auch wenn es grausam aussah, es wirkte nicht so. Es hatte in keiner Sekunde Bedrohung ausgestrahlt und wahrscheinlich hatte es auch seine Gründe, warum es Sarah entführt hatte.

Sebastian atmete noch einmal tief ein und aus, bevor er sich dann abwandte und das Haus verließ. Seine Schritte führten ihn zielstrebig zu dem Wald, der das Dorf umschloss, um dann in dessen Schatten einzutauchen. So schnell wie möglich, bevor die Angst zurückkam und den Mut verschlang. Er musste sie retten. Nur er alleine. Das wollte die Bestie so und auch wenn Sebastian es nicht verstand. Vielleicht war jetzt der Tag gekommen, an dem er sich verändern konnte. An dem er endlich beweisen konnte, was in ihm steckte...

Der Weg war matschig von dem Tauwasser des Schnees und ließ die Füße des Jungen immer wieder ein Stück weit versinken. Sebastian wusste nicht, wo er hin musste, doch er folgte einfach seiner Nase. Irgendein Gefühl sagte ihm, dass es der richtige Weg war.

Vielleicht lag es daran, dass es nur diesen einen zu geben schien. Die Bäume wichen vor ihm zurück. Öffneten sich oder verschlossen sich vor ihm. Unbekannte Geräusche drangen an sein Ohr, die ihn das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Die Bäume schienen immer näher zu kommen. Sebastian begann bei jedem Geräusch zusammen zu zucken und sich panisch umzudrehen. Doch er erkannte in der Dunkelheit nichts außer tanzenden Schatten, die sich in seinem Geist zu grausigen Gestalten formten.

„Weitergehen. Immer weitergehen, Sebastian. Du darfst keine Angst haben. Nichts in diesem Wald kann dir gefährlich werden. Einfach weitergehen. Du musst deine Schwester befreien. Sonst ist doch niemand da, der das tun könnte. Sie verlässt sich auf dich. Du darfst jetzt nicht kneifen“, versuchte er sich selbst Mut zuzureden, wobei er plötzlich ein lautes Knacken hinter sich hörte und mit einem Schrei umfuhr.

Doch dort war nichts. Nur die Dunkelheit mit ihren flackernden Schatten. Sebastian atmete erleichtert aus und war dabei sich zu entspannen. Er drehte sich wieder um und erneut entfuhr ihm ein Schrei, denn vor ihm auf dem Weg stand das Wesen. In sicherere Entfernung und so dass er nur ihre Umrisse erkannte.

„Du bist doch kein Feigling. Hast dich getraut in der Nacht hier in meinen Wald zu kommen. Wusstest du nicht, dass ich jeden töte der ihn in der Nacht betritt? Ja... Ich bin das Monster, das die Bewohner verzweifeln lässt. Und ich bin auch daran schuld, dass es kaum noch Wild hier in den Wäldern gibt. Denn ich habe Hunger. So unsagbar viel Hunger.

Doch wenn ich dann etwas gefunden und gefangen habe, bin ich satt. Ich brauche nur meine Zähne in ihr Fleisch bohren und das warme Blut auf meiner Zunge schmecken, dann bin ich satt. Doch kaum lass ich von ihnen ab, verstärkt sich wieder mein Hunger. Selbst wenn ich sie esse. Später kotze ich sie wegen zu vollem Magen aus. Ich bin verflucht. Verflucht von einem Wesen, das du nicht kennst. Und nur einer kann mich erlösen.

Doch diese Person habe ich noch nicht gefunden. So oft wollte ich mich töten lassen. Doch kaum haben sie mich angegriffen, schlug ich sie tot. Ich hab es nicht leicht. Nur weil ich zu neugierig war. Weil ich jemanden helfen wollte, den man nicht mehr helfen konnte. Bitte... finde diese Person für mich. Ich habe schon viel zu viel opfern müssen.

Ein Auge zum Beispiel. Aber ich sehe noch genauso gut wie mit zwei. Schmerzen spüre ich keine mehr. Was bin ich nur für ein Monster geworden? Sieh mich an und sag mir was oder wer ich bin!“, hörte er eine dunkle Stimme, die voller Verzweiflung und Schmerz war.

„Du bist ein verstümmeltes Tier. Siehst aus wie ein Wolf aber gehst auf zwei Beinen. Hast nur ein Auge und überall Narben. Deine Glieder sind ungleich lang. Tja, ich würde sagen, dass du ein Werwolf bist, der ein wenig zu viel einstecken musste“, erwiderte er.

„Du bist ehrlich. Das muss ich dir wirklich lassen. Darum werde ich dich nicht umbringen. Aber wenn ich dich jetzt zu deiner Schwester bringe, dann versprich mir, dass du mir hilfst wieder ein ganz normaler Junge zu werden. Denn ich habe das Leben als Bestie wirklich satt“, sagte das Biest, zu Sebastians Überraschung ohne jegliche Wut.

„Ich würde gerne erst einmal meine Schwester sehen und dann können wir ja besprechen, wie es weitergeht. Denn ich bin mir nicht sicher, ob ich dir wirklich helfen kann“, meinte der Junge ruhig und das Biest sah ihn gelassen an: „Ich verstehe. Folge mir. Aber komm mir bitte nicht zu nahe. Das könnte dir nicht gut tun.“

Sie wandte sich ab und schritt voraus, wobei Sebastian zur Verfolgung ansetzte. Der Wald veränderte sich in der Nähe des Monsters. Es wirkte, als würde er vor ihr zurückweichen und neue Wege entstanden, die vorher nicht da waren. Da war sich Sebastian mehr als sicher.

Dennoch verwirrte ihn das Verhalten der Bestie viel mehr als das Verhalten des Waldes. Warum war sie plötzlich so freundlich? Warum wollte sie auf einmal, dass er ihr half? Eigentlich war sie doch sein Feind. Warum sollte er sich mit ihr verbrüdern? Aber was würde wohl mit seiner Schwester passieren, wenn er diesem Monster nicht zur Seite stand? Würde es sie einfach umbringen oder noch viel schlimmere Dinge mit ihr machen?

Sebastian schauderte es alleine bei der Vorstellung, was dieses Biest bereit war zu tun. Er konnte es nur sehr schlecht einschätzten. Zu verschieden waren ihr erstes Auftreten und das jetzige Verhalten.

Dennoch freute sich Sebastian, seine Schwester zu sehen. So sehr, dass er unbewusst seine Schritte beschleunigte. Er wollte so schnell wie möglich bei ihr sein und ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde. Das war er ihr doch irgendwie schuldig. Denn so wie es aussah, war er der Grund, warum man sie entführt hatte.

Plötzlich ging er einen Schritt zu weit und die Umgebung kühlte spürbar ab. Es geschah alles in Zeitlupe vor seinen Augen. Wie in dem Moment, in dem man sterben müsste. Das Biest drehte sich um, wobei ein dunkles Knurren aus ihrer Brust grollte und seine Zähne waren weit auseinander gerissen. Die Pranken tödlich erhoben, dennoch war das Auge anders. Es passte nicht zu diesem Bild des Angriffs, denn es war erfüllt von Enttäuschung und Trauer.

Sebastians Körper reagierte eher instinktiv, als er versuchte zu flüchten. Doch er war zu langsam, denn die Bestie kam über ihn und begrub ihn unter sich.

Noch im Fall drehte er sich um, damit er sich verteidigen konnte und es war mehr Glück als Können, dass seine Hand beim Aufprall einen Ast ertastete, den er fest umschließen konnte und in die Höhe riss.

Die gewaltigen Kiefer, die eigentlich für seinen Hals bestimmt waren, bohrten sich mit einer enormen Kraft in den erhobenen Stock und drückten weiter dagegen. Sebastian brauchte all seine Energie, um diesem Monster etwas entgegen setzen zu können. Doch er konnte sich anstrengen, wie er wollte. Die Bestie kam näher und näher. Er würde verlieren.

„Ich bin verflucht. Dieser Körper gehört mir nicht mehr. Es tut mir Leid, dass ich dich gleich töten werde“, erklang erneut diese Stimme, die eindeutig der Bestie zu gehören schien, doch sie klang viel zu menschlich dafür.

Geifer tropfte auf Sebastian herab, wodurch er sich angewidert wegdrehte und sich weiter gegen die Bestie stemmte. Er würde verlieren. Wenn jetzt nicht bald ein Wunder geschah, dann war er dazu verdammt hier und jetzt zu sterben.

Zerrissen von diesen Monster. Nutzlos gestorben. Er würde seine Schwester nicht retten können. Das Dorf würde untergehen. Er war zu schwach. Einfach zu schwach.

Das Knurren war dunkel an seinem Ohr und er konnte den widerlichen Atem auf seiner Wange spüren. Der Mundgeruch der Bestie trieb Sebastian näher an die Ohnmacht, wodurch er sich zwang so flach wie möglich zu atmen, doch er brauchte den Sauerstoff, um seine Muskeln zu versorgen.

Nein, er durfte hier nicht sterben. Dafür stand viel zu viel auf den Spiel. Er alleine konnte seine Schwester retten. Sonst würde es doch niemand tun. Seine Eltern würden ihr Fehlen wahrscheinlich nicht einmal bemerken.

Noch ein letztes Mal spannte er all seine Muskeln an und befreite sich mit einem gewaltigen Ruck von dem Biest. Rappelte sich sofort in die Höhe und begann die Bestie zu belauern, die ebenfalls um ihn herum zu schleichen begann.

„Was? Du lebst noch? Hey, vielleicht kannst du es ja doch schaffen! Los! Besiege dieses Monster!“, erklang die Stimme erneut, doch Sebastian konnte ihren Ausgangspunkt nicht feststellen, denn der Mund des Wolfes bewegte sich kein Stück.

War er nicht alleine hier? War noch jemand anderes da? Wenn ja, warum half er ihm nicht?

Suchend sah er sich um, doch diese Unachtsamkeit nutzte der Wolf sofort und sprang den Jungen aufs Neue an, wodurch er ihn grob zu Boden riss. Die abgestorbenen Blätter krallten sich in das Fell und die Kleidung des Jungen, während sie sich in dem Laub wälzten.

Immer wieder schnappte der gewaltige Kiefer der Bestie nach dem Hals des Jungen, doch bis jetzt konnte er jedes Mal im letzten Moment ausweichen. Seine Kraft begann schon zu schwinden. Der Abstand zwischen Zähne und Haut wurde immer geringer und im nächsten Moment passierte es.

Ein gleißender Schmerz schoss ihn in den Hals und er spürte wie man ihm ein Stück der Haut abzog, wobei er sah, wie die Bestie dieses kleine Stück Fleisch genüsslich verschlang.

Mit einem lauten Schmatzen ließ sie das Stückchen Nahrung ihre Kehle hinunter gleiten, wobei es leicht sein Auge schloss. Doch Sebastian konnte diesen Moment der Unachtsamkeit nicht ausnutzen, denn die Pranke lag schwer und tödlich auf seiner Brust, als auch schon das Gesicht der Bestie zurückkam.

Ihr Auge leuchtete durch die Vorfreude, die in ihr wütend musste, dass sie nun eine sichere Beute hatte, doch Sebastian wollte nicht glauben, dass er wirklich schon verloren war. Es musste doch noch einen Weg aus diesem tödlichen Gefängnis geben.

Das Monster spielte mit ihm. Seine Zunge schleckte den Jungen ab und immer wenn er über die Wunde leckte, durchfuhr Sebastian ein brennender Schmerz, der ihn zusammenzucken ließ.

Der Kiefer der Bestie war so nah. Er musste nur zuschnappen, dann wäre alles vorbei. Sebastian wäre tot und würde seine Schwester nicht retten können. Er hatte versagt. Oder doch nicht?

Er spürte wie die Kraft auf der Pranke ein wenig nachließ, wodurch er versuchte seine letzten Energiereserven zu mobilisieren, um sich zu befreien. Doch kaum bewegte er sich einen Zentimeter verlagerte der Wolf sein Gewicht zurück auf seine Pfote und Sebastian spürte, wie sich dessen Klauen in den Stoff und leicht in seine Haut gruben.

Das Gesicht des Monsters kam näher und der Junge konnte direkt in das giftgrüne Auge sehen, das ihn finster fixierte. Er spürte, wie sich die Angst in seinen Magen vergrub und ihn zu einem schweren Klumpen machte, als er nur trocken schlucken konnte.

Ja, jetzt war er sich sicher. Er würde hier sterben. Hier auf diesem Waldboden und von dieser Bestie einfach zerfleischt werden. Niemand würde seine Leichen finden. Niemand würde auch nur nach ihm suchen. Denn sie hatten alle Angst. Noch mehr Angst als Sebastian jetzt.

Der Atem roch widerlich und er war gehetzt und schwerfällig, als hätte die Bestie vor kurzem einen langen Lauf hinter sich gebracht, doch ihr Kampf war dafür eigentlich zu schwach gewesen. Niemals hätte sie so schwer atmen dürfen. Zumindest nicht wegen der kleinen Rangelei. Aber er fand keine Erklärung für diesen unnatürlichen Zustand.

Vielleicht fiel es ihr einfach wegen dem verkrüppelten Brustkorb generell schwer zu atmen? Wenn er ehrlich war, konnte er nicht einmal verstehen, wie dieses Wesen überhaupt leben konnte. So viele Knochen, wie aus der Haut heraus ragten. Genauso wie die vielen klaffenden Wunden, die schwach vor sich hin bluteten. Das Tier müsste eigentlich irgendwann daran sterben. Aber sie schien nicht eine Sekunde schwächer zu werden. Warum?

„Du bist es also auch nicht“, durchbrach eine enttäuschte Stimme seine Gedanken. „Wer bin ich nicht?“, hakte Sebastian nach. „Der Auserwählte. Du bist zu schwach. Wenn du nicht einmal gegen mein zweites Ich ankommst, wie willst du ihn dann besiegen?“, erklärte sie es ihm. „Wen denn?“ Er ließ nicht locker.

„Den Mann in dem Haus“, antwortete sie. „Aber was hat das Ganze mit ihm zu tun?“ Sebastian verstand überhaupt nichts mehr. „Er… Er hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin“, stotterte die Stimme. „Also muss ich zu ihm?“, fragte er weiter. „Ja.“ Die Stimme wurde immer leiser. „Wenn sonst nichts Weiteres dabei ist, dann verlass dich ruhig auf mich. Ich werde das Kind schon schaukeln“, sagte Sebastian siegessicher.

„Es gibt nur ein Problem“, fügte er nach einer Weile kleinlaut hinzu, „das Vieh auf meiner Brust.“ „Er wird dich nicht gehen lassen bis er mit dir fertig ist. Tja und dann wirst du nicht mehr in der Lage sein zu gehen“, erwiderte die Stimme nur. „Wie meinst du das?“, fragte Sebastian ängstlich und irritiert. Doch es kam keine Antwort.

Die Stille schürte die Panik in dem Jungen, wodurch sein Blick wieder zu dem Monster auf seiner Brust wanderte. Ein breites Lächeln kam ihm entgegen. Ja, auch diese Kreatur war sich seiner Beute sicher und Sebastian spürte deutlich, dass sie beide Recht hatten. Er war so gut wie tot.

Erneut kam das Maul der Bestie näher und als er sich sicher war, dass sie ihm jetzt die Kehle durchbeißen würde, hob sie plötzlich ihre Pranke und nahm leicht Abstand zu ihm.

„Lauf.“ Die Stimme war dunkel und rau. Sie kam direkt aus dem Maul des Wolfes und fuhr Sebastian ohne Umwege ins Gemüt. Er erschauderte und sah nur noch einen Wimpernschlag in das Gesicht seines zukünftigen Mörders, bevor er begriff, was man ihm gerade schenkte: Eine zweite Chance.

Ohne groß nachzudenken, zog er sich unter dem Monster hervor und rappelte sich auf, bevor er dann zu laufen begann. So schnell er konnte. So weit wie er kam. Es war ihm egal. Er wollte diesem Monster entkommen. Seinem Tod davonlaufen. Und obwohl er sich müde und ausgelaugt fühlte, wurden seine Beine nicht langsamer.

Im Gegenteil, er wurde sogar schneller als ein Furcht einflößendes Heulen hinter ihm erklang und man schon die schweren Schritte der Bestie vernahm. Sie jagte ihn und würde ihn töten, wenn sie ihn erwischte.

Ins Dorf. Ja, er wollte ins Dorf. Dort suchte er dann Schutz. Schutz vor dem Unbekannt. Schutz vor dem Tod. Doch er hörte die Schritte von der Bestie hinter sich. Sie wurden immer lauter. Das Laub raschelte unter ihren Bewegungen. Und tief in seinem Inneren konnte er auch das Grinsen auf ihrem Gesicht sehen. Die Schadenfreude, dass sie gesiegt hatte.

Gesiegt über sein Leben. Seinen Tod konnte sie jetzt bestimmen. Dieses Gefühl beflügelte sie wie jedes Mal wenn sie einen der Dorfbewohner jagte. Ihn all seine Kraft durch eine Hetzjagd nahm. Dann fühlte sie sich wie Gott. Wie der Gott, der sie bestraft hatte. Bestraft für etwas, das kein Unrecht war. Bestraft für das Handeln nach den Zehn Geboten.

Plötzlich spürte Sebi ihren Hass. Ihre Wut auf die Menschheit. All die Wärme, die er einst gefühlt hatte, war verschwunden. Hinter ihm lief eine Bestie, die geboren war um zu töten. Zu töten was ihren Leben nicht gleich gestellt war. Die Schritte kamen immer näher. Der Tod war sein Verfolger und er wusste, dass es keinen Ausweg mehr für ihn gab. Doch da erblickte er das Licht des Dorfplatzes. Es stieg Hoffnung in ihn auf und er spürte neue Energie in seinem Körper, wodurch er instinktiv noch ein wenig schneller lief.

Doch die Bestie war schon hinter ihm. Ihren Atem konnte er an seinen Nacken wahrnehmen. Im nächsten Moment spürte er wie sich zwei kräftige Arme um seine Brust legten und wie er hochgehoben wurde. „Du entkommst mir nicht“, hörte er eine Stimme hinter sich, „du bist mein Allein. Dein Leben liegt in meiner Hand. Was wirst du jetzt tun? Um Hilfe schreien? In diesem Dorf sieht und hört niemand mehr etwas wenn die Sonne untergegangen ist. Sie haben Angst. Angst vor dem, was dich gerade bedroht. Sie werden nicht kommen. Niemand wird deinen Tod bemerken. Nicht einmal deine Eltern. Denn sie kamen zu nah an mein Versteck. Und das hat bis jetzt niemand überlebt.“

Sebi wusste nicht, was es war, doch er hob langsam seinen Blick. Über ihn waren die Baumkronen, die sich dunkel vor dem erleuchteten Himmel abhoben. Es dauerte ein paar Atemzüge bis er in den Blättern etwas erkannte, doch es schauderte ihn: Ein Menschenkopf und daneben ein zweiter.

Sein Blick wandte sich vor Grauen ab, doch um ihn herum sah es nicht besser aus. Überall lagen Körperteile verstreut. Sie gehörten einen Mann und einer Frau. Erst jetzt roch er die Fäulnis und das Blut in der Luft, wodurch er spürte, wie sich sein Magen umdrehte.

Wie konnte solch ein Massaker unbemerkt bleiben? Sebastian verstand es nicht, dennoch zwang er sich die Köpfe noch einmal genau anzusehen.

Es dauerte lange bis seine Augen in der spärlichen Beleuchtung etwas erkannten, doch dann traf es ihn wie ein Blitz: Seine Eltern!

Sein Körper begann zu zittern und die Farbe wich aus seinem Gesicht, bevor er trocken schluckte. „Vater? Mutter?“

Seine Stimme war nur ein krächzender Laut und er spürte, wie Tränen in seine Augen krochen, als erneut diese menschliche Präsenz zu ihm sprach: „Es tut mir Leid.“

So lange hatte sie nun geschwiegen und jetzt wagte sie es erneut zu sprechen. Sebastian konnte diese Unverschämtheit gar nicht fassen, wodurch er spürte, wie sich sein gesamter Körper anspannte und im nächsten Moment begann er wie wild auf das Biest vor sich einzuschlagen. „Was hast du mit ihnen gemacht?! Ich werde dich umbringen! Wo hast du meine Schwester versteckt?! Rück sie sofort raus!“

Seine Schläge waren unkoordiniert und gingen deswegen oft ins Leere, wodurch Sebastian nach einer Weile schwer atmend auch aufgab und das Lächeln auf den Lippen der Bestie zurückkehrte.

Dieses selbstgefällige und siegessichere Grinsen, was Sebastian schon den ganzen Kampf über sah und ihm immer wieder unter die Nase rieb, wie schwach er und wie hoffnungslos seine Gegenwehr doch war.

Aber er war nicht schwach. Er war stark und er würde kämpfen. Solange er lebte, würde er kämpfen. Immer und immer wieder. Dieses Grinsen wollte er ihr aus dem Gesicht schlagen und bevor er diesen Gedanken zu Ende geformt hatte, schnellte seine Faust schon wieder nach vorne und traf.

Es war ein Kinnhaken. Hart und direkt, wodurch der Kopf der Bestie in den Nacken geschleudert wurde und im nächsten Moment die Stille von einem dunklen Knurren durchdrungen wurde.

Als der Kopf in seine Ausgangsposition zurückging, blickte Sebastian in ein rot glühendes Auge, das nur noch töten wollte. Ihn töten. Sie würde ihn dafür bestrafen, dass er sich so gegen sie gewehrt hatte. Dass er es gewagt hatte sie zu schlagen. Und Sebastian würde sich dann wünschen, dass er einfach vorher gestorben wäre. Schon bei der ersten Jagd, bevor er seine toten Eltern gesehen hatte.

Langsam hob sie eine Pranke und hielt den Jungen ohne große Mühe mit einem Arm fest, wodurch Sebastian seine Arme schützen vor sich erhob und zu beten begann: „Bitte lass mich nicht so enden wie meine Eltern. Ich muss doch noch meine Schwester befreien.“

Die Luft wurde von den gewaltigen Klauen durchschnitten. Sebastian wusste, dass er jetzt sterben würde. Er sah seine Eltern, wie sie ihn verließen, als sie der Sache auf den Grund gehen wollten. Diese Bestie war ihr Ziel und sie hatten sie gefunden. Doch auch gleichzeitig mit ihren Leben bezahlt.

Seine Schwester. Er sah sie, wie sie ihn anlächelte. So unschuldig und engelsgleich. Wer würde sie jetzt retten? Niemand wusste mehr von ihrer Existenz. Das Dorf würde sterben. Die Bestie hatte gewonnen.

Als er sich sicher war, dass der tödliche Schlag kommen müsste, kam nichts. Er hatte nur kurz ein Zischen und einen dumpfen Aufprall gehört, wodurch er irritiert seine Augen öffnete und die Arme leicht senkte.

Die Bestie hatte in seiner Bewegung inne gehalten und Entsetzten war in ihr Auge eingebrannt, als erneut das Zischen und der Aufprall folgte, wodurch ein Ruck durch das Monster ging.

Sebastian sah über ihre Schulter zurück und erkannte einen Schatten zwischen den Bäumen, der etwas Längliches in der Hand hielt, wo er etwas hineinlegte und im nächsten Moment erklang erneut das Zischen und kurze Zeit später der Aufprall.

Erst jetzt bemerkte der Junge, dass jemand mit Pfeilen auf den Wolf schoss, der kurz röchelte und Blut spuckte, bevor er den Jungen mit einem Knurren von sich stieß, um sich umzudrehen und auf den Fremden zu zulaufen.

Jetzt flogen die Pfeile in einem schnelleren Rhythmus auf das Biest zu, doch es stoppte keinen Augenblick. Wich nur hin und wieder leicht zurück, doch es kam den Fremden gefährlich nahe.

Sebastian traute seinen Augen nicht. Jemand kämpfte gegen dieses Monster und er hatte ihn damit vorerst vor dem Tod gerettet, doch statt zu fliehen näherte sich Sebastian immer weiter den Kampfschauplatz.

Irgendetwas zog ihn magisch dorthin und er spürte erneut eine fremde Präsenz, die sich in seine Gedanken schlich. Sich viel tiefer in ihn grub und seine Gedanken besetzte, wodurch er nicht mehr Herr über sich selbst war.

Doch es war eine andere Präsenz. Eine viel dunklere, als die menschliche Stimme der Bestie und sie kontrollierte ihn. Eigentlich wollte er weglaufen. So weit ihn seine Füße trugen und seine Schwester suchen. Sie aus der Hölle befreien. Doch er konnte nicht. Man zwang ihn sich den Kampf anzusehen.

Kaum war die Bestie zu nah für die Pfeile zog der Fremde ein Schwert, das silbern unter den Mondstrahlen glänzte. Er ließ sich nicht davon beeindrucken, als sich das Monster auf seine Beine stellte und ihn somit um einige Köpfe überragte. Doch der Mann rückte nicht zurück, sondern nahm eine Kampfhaltung ein und kaum versuchte die Bestie nach ihm zu schlagen, verpasste er ihr einen tiefen Schnitt in der Bauchgegend, die sie kurz schmerzerfüllt aufschreien ließ.

Doch das Monster stoppte nicht in seiner Bewegung und versuchte ihn mit einem Klauenhieb von den Füßen zu reißen, der wurde jedoch durch die Schwertklinge pariert. Sebastian war mittlerweile an dem Ort des Geschehens angekommen, wodurch er seine Stimme erhob.

Er formte Worte, die er sich nicht selbst ausgedacht hatte. Man zwang ihn dazu dies zu sagen: „Hört auf. Das bringt doch nichts. Wer immer du bist, lass meinen Freund in Ruhe! Oder du bekommst es mit mir zu tun!“ Er begriff es nicht und auch der Fremde schien von den Worten verwirrt zu sein. „Was hast du gesagt? Dieses Biest hätte dich getötet! Ist dir das eigentlich klar?!“

Sebi spürte einen Kloß in seinem Hals, als er merkte, dass er einfach nickte. Er fühlte sich wie ein Gefangener im eigenen Körper. Was geschah hier mit ihm? Er begriff es nicht mehr. Niemals würde er diese Bestie als seinen Freund betiteln. Sie wollte ihn doch umbringen.

Seine Füße bewegten sich von selbst, als er sich dem Monster näherte und legte eine Hand auf das struppige Fell des Tieres. „Es ist mein Freund. Er hat es sich nicht ausgesucht ein Monster zu sein, sondern man hat ihn verflucht und ich versuche ihm beizustehen in dieser Zeit. Denn dafür sind Freunde da. Also lass ihn in Ruhe.“

Warum sagte er das? Das empfand er doch gar nicht und sein Geist wurde von der Panik überrannt, als er sein Gesicht in dem Fell des Wolfes vergrub, wodurch dieser langsam wieder auf alle Vier ging.

Der Atem des Monsters ging schwer und er sah auf den Jungen, wodurch sein Auge menschlich war. Menschlicher als es für solch ein Wesen eigentlich möglich war und es begann feucht zu glänzen, wodurch sich Sebastian plötzlich schuldig fühlte, dennoch kuschelte sich sein Körper noch näher an das Biest.

„Nein.“ Es war zuerst nur ein Hauch, der von der nächtlichen Brise beinahe ungehört davon geblasen worden wäre, doch dann wurde die Stimme fester und zorniger: „Nein! Nein! Ich kann es nicht am Leben lassen! Ich will Rache! Rache für meine Familie, die es hinterhältig und brutal ermordet hat! Es muss sterben!“

Der Schwertgriff wurde fester umschlossen, als sich der Körper des Kriegers anspannte und er im nächsten Moment mit einem Kampfschrei auf das Monster zustürmte. Bereit es zu töten und Sebastian sah das Kommende, als würde er irgendwo zwischen den Bäumen stehen.

Sein Körper bewegte sich. Trat zwischen den Kämpfer und das Biest. Er fing die tödliche Klinge ab und der Schmerz raste durch sein Bewusstsein, bevor er nichts mehr spürte. Nur einen Glücksrausch, der alles auslöschte. Sein gesamtes Sein und das, was in der Wirklichkeit passierte nicht mehr zu ihm durchließ. Nicht einmal den kurzen Aufprall auf den Boden und das feuchte Gras unter seinem Gesicht, das nun von seinem Blut bedeckt wurde.

Die Wärme und sein Leben verließen ihn durch die klaffende Wunde quer über seinen Oberkörper. Sein Blick war auf das Monster gerichtet, das genauso wenig verstand wie er und im nächsten Moment erfüllte Hass seinen Blick. Sie wollte sich auf den Fremden stürzen, doch die leise Stimme von Sebastian erfüllte den Wald zum letzten Mal, bevor sein Leben endgültig erlosch. „Nein, Kevin, tu es nicht.“

Der Kämpfer verschwand in der Nacht, die sich gegen die aufgehende Sonne wehrte. Er sagte kein Wort und hatte auch das Schwert wieder in die Scheide gesteckt. Der Kampf war erloschen als Sebastian leblos zu Boden sank und das Blut den Boden tränkte.

Kein Wort kam über die Lippen der Anwesenden. Niemand wollte auch nur ansatzweise aussprechen was hier gerade passiert war. Und der Hass und die Wut, die in der Luft gelegen haben, schienen niemals existiert zu haben.

Langsam trat Kevin an den toten Körper heran und stupste ihn leicht mit der Schnauze an. Er wusste, dass er keine Reaktion bekommen würde, dennoch hoffte er es. Dieser Junge war der Erste, der in ihm kein Monster mehr sah. Wieso musste er sterben? Er und so viele andere.

Er wollte sich gerade neben den Toten legen, als das Rascheln des Gebüsches ihn hochschrecken ließ und er seinen Kopf in die Richtung wandte.

Es war ein Junge mit hüftlangen braunen Haaren, der auf die Lichtung trag. Seine Kleidung wirkte abgenutzt und dreckig. Das rote Leinenhemd und die hellblaue Hose schienen von einer langen Reise zu erzählen.

Seine Bewegungen wirkten schlapp und müde. Immer wieder hatte Kevin das Gefühl, dass der Neuling vor seinen Augen einfach zusammenbrechen würde, wobei dies nicht geschah und er schließlich vor ihm zum Stehen kam.

Doch egal wie sehr sich Kevin auch anstrengte. Er konnte die Augen des Jungen nicht sehen, denn sie versteckten sich hinter der braunen Haarpracht, wodurch er bedrohlich wirkte und ein Knurren von dem Monster forderte.

„Habe keine Angst. Ich bin nicht hier um dich zu töten.“ Die Stimme war so leise, dass sie Kevin ohne sein gutes Gehör wohl kaum vernommen hätte, doch so traute er seinen Ohren kaum, wodurch sein Knurren noch tiefer wurde. „Ich habe keine Angst. Es gibt nichts, was ich zu fürchten habe. Nur will ich jetzt niemanden sehen und deswegen fordere ich dich hiermit auf zu gehen.“

„Dann sind wir uns dort ja einig, denn ich fürchte mich auch nicht vor dir. Du bist ein menschliches Wesen und wirst mir nichts tun. Dieser Junge hat deine Menschlichkeit geweckt und somit ist das Monster aus dir verschwunden. Du wirst niemanden mehr ohne Grund töten. Schade, dass er dafür sterben musste. Das hätte es nicht gebraucht. Aber ich kann dich beruhigen. Er musste nicht lange leiden. Er war auf der Stelle tot. Der Hieb hat sein Herz getroffen und noch einige weitere Organe. Wahrscheinlich wäre dieser Angriff auch für dich tödlich gewesen.“ Ein Lächeln zeigte sich auf den Lippen des Jungen, wodurch sich das Monster noch unbehaglicher fühlte. Denn es wirkte falsch. Irgendetwas stimmte mit diesem Neuling nicht. Nur konnte er noch nicht sagen, was es war.

„Niemand kann mich töten“, widersprach Kevin sofort, doch ein sanftes Lachen erklang, wie das eines wahnsinnigen Engels. „Oh doch. Man kann dich töten. Nicht viele. Aber dieser Krieger hätte es geschafft. Du lebst nur noch dank dem Jungen.“

Langsam hob der Neuling seinen Arm und streckte die Hand nach dem Monster aus, wodurch ein dunkles Knurren aus der Brust des Tieres erklang und im nächsten Moment schnappte es nach der Hand, doch er wollte sie nicht treffen, wodurch er kurz davor stoppte.

Es sollte eine Warnung sein und Kevin hoffte, dass der Fremde dies auch verstehen würde, doch erneut kam nur ein Kichern. „Siehst du? Ich hatte Recht. Du wirst mir nichts tun. Dazu bist du einfach nicht mehr in der Lage. Man hat dich gezähmt, Monster.“

„Was? Was willst du von mir? Willst du meinen Tod?“ Kevin ging absichtlich nicht auf die Provokation ein, sondern starrte den Jungen weiter an. Angriffsbereit oder fluchtbereit, je nachdem was er brauchen würde.

„Nein, ich will nicht deinen Tod. Ich möchte dir helfen.“ Das Monster traute seinen Ohren nicht, als es die Antwort des Jungen hörte, wodurch es diesen verwirrt und überrascht ansah. „Du willst was?“

„Dir helfen“, wiederholte der Braunhaarige ruhig seine Antwort, jedoch konnte Kevin dies immer noch nicht glauben. „Mir kann man nicht mehr helfen.“

„Doch ich kann es. Vorausgesetzt dass du mich auch helfen lässt“, beharrte der Junge weiter auf seinem Wunsch, wodurch Kevin nur knurrte: „Auch du nicht.“

„Doch, lass mich dir einfach helfen. Was hast du schon zu verlieren?“ Da hatte der Mensch vor ihm direkt recht. Kevin hatte nichts mehr zu verlieren. Sein Messias lag hier tot im Gras. Das Dorf hasste ihn und nun kamen schon Fremde, um ihn zu töten. Es konnte nicht mehr wirklich schlimmer werden. Außer er starb. Doch ob dies wirklich eine Verschlechterung war, da war er sich nicht mehr sicher.

Kevin kämpfte innerlich mit seinen Erfahrungen, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schnauze fühlte und er in das Lächeln des Jungen blickte. „Bitte lass mir dir helfen. Ich will nur dass du wieder so wirst, wie du einst warst.“

Sein Herz fühlte sich warm an. Er spürte die Tränen in seinem Auge, als ihn ein wohliges Gefühl überrannte. Seit seiner Verwandlung hatte er so etwas nicht mehr gefühlt. Man wollte ihm helfen. Seinen innersten Wunsch endlich erfüllen.

Dennoch wanderte sein Blick zurück zu der Leiche. „Man kann mich nicht retten. Er hat es auch versucht. Nein, er hat es schon getan. Mehr kann man nicht retten. Er hat sein Leben für meines gegeben. Wir kannten uns nicht und dennoch betitelte er mich als Freund. Und all das, obwohl ich ihn vor einer Stunde noch töten wollte. Einfach so sein Licht auslöschen. Ich habe ihn alles genommen. Seine Familie und sein Leben. Und er hat nie etwas von mir dafür bekommen. Nein, man kann mich nicht mehr retten. Ich bin verloren. Ja, wenn du mir helfen willst, dann töte mich. Töte mich hier und jetzt.“

Das Lächeln erlosch und der Junge seufzte tief, bevor er dann eine Strähne aus seinem Gesicht strich und das Monster die grünen Augen dahinter erblickte. So warm und einladend wie ein Wald. Aber Kevin wusste, was für eine Gefahr dort auch lauern konnte. Versteckt hinter all dem Grün.

„Nein, das kann ich nicht tun. Denn dann wäre dieser Junge umsonst gestorben. Du solltest dich erheben und meine Hilfe annehmen. Mache etwas aus dem Leben, dass er dir durch seinen Tod geschenkt hatte. Das bist du vielleicht nicht dir schuldig, aber ihm.“

Ohne es zu wollen, sah Kevin noch einmal auf den leblosen Jungen, bevor ein Seufzer über seine Lippen schlich und er dann nickte. „In Ordnung. Nur eine Frage. Wie willst du mir helfen?“

„Keine Sorge. Ich kenne deinen Feind besser als mir lieb wäre. Und ich weiß, wie ich ihn besiegen kann. Denn ich habe auch noch eine Rechnung mit ihm offen.“ Mit diesen Worten wandte sich der Junge ab, doch Kevin wollte ihn noch stoppen. „Was? Eigene Rechnung? Wieso? Was hat er dir angetan?“

Doch er bekam keine Antwort. Der Junge schritt einfach in Richtung Dorf, wodurch der Wolf keine andere Wahl hatte, als ihm hinterher zu eilen. Er brauchte nur wenige Schritte, um zu seinem unverhofften Helfer aufzuholen, wodurch er diesen irritiert ansah.

Er wirkte so schwach, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Das lange Haar wiegte sich sanft unter seinen Schritten, wo jeder so wirkte, als wäre er der Letzte, den dieser Junge tun würde.

Wie sollte dieser Mensch Kevin überhaupt helfen? Er war so dürr und zierlich, dass man das Gefühl hatte er würde unter der geringsten Belastung zerbrechen. Kevin schätzte ihn auch ungefähr auf sein eigenes Alter ein. Mehr als sechzehn Sommer wird er wohl nicht gesehen haben, wenn nicht sogar weniger.

Ohne sein Zutun sah er noch einmal zurück zu Sebastians Leiche. Das Gras war dunkel von dem vielen Blut, das es aufnehmen musste. Er starb für ihn. Gab sein Blut für den Mörder seiner Familie. Für das Monster, das ihn selbst töten wollte. Er war sein Messias. Das war Kevin nun klarer als jemals zuvor. Doch wenn der Messias tot war, welche Rolle nahm dann dieser Junge ein?

Warum lief er ihm überhaupt nach? Was erhoffte er sich dadurch? Dieser Junge konnte sich doch nicht einmal selbst verteidigen, wie sollte er dann gegen den Zauberer bestehen? Das war doch gar nicht möglich.

Seine Schritte wurden langsamer. Er war sich nicht sicher, ob er das wirklich tun konnte. Wollte er sich wirklich für einen weiteren Tod verantwortlich machen? Konnte er sich ein weiteres unschuldiges Leben auf sein Mordkonto schreiben lassen?

„Was ist los, Kevin? Hast du Angst?“, ertönte die Stimme des Jungen, doch der Angesprochene schüttelte nur den Kopf. Der Kerl musste nun wirklich nicht all seine Gedanken wissen.

„Du wirkst so unsicher. Was bedrückt dich?“, stocherte der Junge weiter nach. Er schien einfach nicht loslassen zu wollen, wodurch Kevin nur schnaubte und dann an diesem vorbei schritt.

Auf dem Gesicht des Jungen war ein Lächeln gezaubert, doch als dieser der Meinung war, dass Kevin ihn nicht mehr sehen würde, verschwand die Wärme aus dieser kleinen Mimik und sie wurde kalt und höhnisch. Ein eisiger Schauer rannte über den Rücken des Tieres, als er dann stoppte und sich zu dem Jungen umdrehte.

„Wer bist du?“ Die Frage war stechend und auch wenn es Kevin gerne gewollt hätte, die Furcht konnte er nicht gänzlich aus seiner Stimme vertreiben, dennoch trieb das Tier in ihm ihn dazu an, sich auf den Jungen zu stürzen und ihn unter sich zu begraben.

Seine Klaue lag auf der Brust, wobei er seine Krallen in den Stoff grub, sodass er den Menschen binnen weniger Sekunden einfach umbringen konnte, wenn es denn wirklich sein musste.

„Wer ich bin, willst du wissen? Ich habe schon darauf gewartet, dass du mir diese Frage stellst“ Das Lächeln verschwand nicht von den Lippen des Jungen und es wurde voller Siegessicherheit noch breiter. Wieso hat das Kind keine Angst? Kevin verstand es nicht.

„Mein Name ist Cido. Cido Hiwatari“, stellte er sich schließlich vor, „und jetzt habe ich eine Frage an dich: Du hast doch bestimmt diesen Deckenhaufen gesehen und die Leiche darunter gerochen. Diese Leiche war meine Mutter und sie wartet darauf, dass man sie rettet. Du hast sie nicht gerettet. Niemand hat das. So wie sie keiner davor gewarnt hat in dieses Haus zu gehen. Warum hast du sie nicht gerettet? Hast du ihre verzweifelten Schreie nicht gehört? Du bist unbesiegbar und wagst es dennoch nicht in ein Haus um eine gepeinigte Seele zu retten? Wie kannst du dir selbst noch in die Augen sehen?“

Kevin wusste nicht, was da gerade geschah, als er spürte wie sich eine gewaltige Energie um den Jungen herum sammelte und im nächsten Moment wurde er einfach von dem Körper herunter an den nächsten Baum geschleudert.

Schmerz durchströmte seinen gesamten Leib und ein kurzes Winseln verließ seine Lippen, als er die Worte des Jungen nur noch am Rande wahrnahm: „Du bist schwach. So schwach. Du hast es nicht verdient zu leben. Niemand hier hat das. Sie alle haben sie getötet. Meine Mutter, die doch niemanden etwas angetan hatte. Dafür werdet ihr alle bezahlen und du, Kevin, wirst der Erste sein.“

Die Schritte des Jungen näherten sich und er blieb vor dem Werwolf stehen. Die gewaltige Haarpracht wurde von der Energie leicht nach oben geweht, wodurch sie sanft darunter tanzte.

Kevin konnte nicht auf diese Anwesenheit reagieren. Der Schmerz, den er das erste Mal fern von dem Haus in diesem Körper wieder wahrnahm, benebelte seine Sinne und machte das Denken für ihn fast unmöglich.

„Warum hast du ihr nicht geholfen?“ Mit dieser Frage hatte Kevin nicht gerechnet, wodurch er nur schwer ein- und ausatmete, um Kraft zu sammeln. „Ich durfte nicht. Meine Eltern haben es mir verboten zu diesem Haus zu gehen. Und als ich kam, war es schon zu spät. Es tut mir Leid.“

„Was für ein Unsinn. Das werde ich dir bestimmt nicht glauben. Du lügst doch nur, um deine Haut zu retten. Ja, du bist wie alle anderen Mörder in diesem Dorf. Ihr habt sie im Stich gelassen. Allesamt! Und jetzt bin ich hier. Hier um sie zu rächen! Und du wirst der Erste sein, der von ihnen sterben wird!“ Erneut wurde die Energie fester und greifbarer, als die Wut des Jungens zunahm, doch Kevin war es nur recht.

Erschöpft legte er seinen Kopf auf den Boden und schloss das Auge. Seine Brust zitterte unter den Schmerzen, die ihm das Atmen noch schwerer machten, bevor er seine Stimme sanft erhob: „Tu es. Töte mich. Erlöse mich. Solange habe ich mich danach gesehen. Einfach zu sterben. Diese Existenz zu beenden. Ich will mich nicht mehr so sehen. Einfach kein Monster mehr sein. Ich habe so viele Leben genommen. So viel Leid zugefügt. Ich möchte nur noch sterben. Doch ich will, dass du es weißt. Ich habe nach der Verwandlung noch einmal versucht zurück zu gehen. Zurück in dieses verfluchte Haus. Doch ich konnte es nicht. Es hätte mich getötet.“

„Was? Wieso wolltest du noch einmal zurück?“ Die Verwirrung in der Stimme des Jungen ließ das Energiefeld langsam verschwinden, wodurch Kevin nur erschöpft sein Auge wieder öffnete. Er würde doch nicht sterben. Noch länger so existieren. Wie lange würde Gott ihn noch bestrafen wollen?

„Ich wollte zurückgehen, um mich für die Verwandlung zu rächen. Doch immer wenn ich mich dem Haus nähere, wird mein Körper von Schmerzen gestürmt, die mich fast in die Bewusstlosigkeit treiben. Ich konnte deine Mutter nicht befreien, weil ich gestorben wäre, bevor ich sie auch nur gesehen hätte“, erklärte Kevin die Situation.

Erneut atmete er schwer, bevor er seinen Kopf wieder zurück auf das Gras legte. „Man verwandelte mich, als ich in das Haus kam und deine Mutter beinahe gesehen hätte. Und seitdem kann ich nicht mehr zurück. Aber du wolltest deinen Rachedurst stillen. Nur zu. Töte mich. Lass mich leiden. Erlöse mich von meiner Qual. Ich will nicht mehr leben und wenn du dadurch noch deinen Zorn freien Lauf lassen kannst, soll es mir nur Recht sein.“

„Nein, das wäre Unrecht. Denn ich kannte nicht die ganze Wahrheit. Man hat mich getäuscht. Es tut mir Leid. Ich werde meine Mutter selbst holen gehen. Auch wenn es mich mein Leben kosten sollte. Ich werde sie holen und falls ich nicht zurückkommen sollte. Vergiss mich bitte nicht.“ Cido wandte sich ab und verschwand dann auf den Weg zum Dorf, wodurch Kevin nur enttäuscht aufwinselte, bevor er sein Auge schloss und unter den Schmerzen das Bewusstsein verlor. Er wurde schon wieder nicht erlöst. Wann würden seine Qualen endlich ein Ende finden? Er konnte und wollte nicht mehr...

Unter der schwerfälligen Bewegung jaulten die Angeln der Tür auf, als man sie langsam öffnete und ein zierlicher Schatten durch den Spalt schlüpfte. Kurz darauf fiel sie auch schon wieder ins Schloss und so kehrte das Zwielicht in das Gebäude zurück.

Das hüftlange Haar ließ die Umrisse des Jungen breiter wirken, als sie wirklich waren, doch es war ihm egal, denn er sah sich in den leicht erhellten Zimmer um. Die Möbel standen alle noch so da, wie sie es bei seinem ersten Besuch getan hatten. Niemand hatte etwas umgestellt oder gar entfernt. Also würde sie auch immer noch hier liegen.

Ein enttäuschter Seufzer schlich sich über seine Lippen, doch er schüttelte den Kopf, um dann dem Fäulnisgeruch ins Wohnzimmer zu folgen. Auch dort ist alles gleich geblieben. Der Deckenhaufen lag immer noch auf der Couch und darunter würde sie auf ihn warten: Die Leiche seiner Mutter.

Eigentlich hatte er gehofft, dass er sie hier lebendig antreffen würde. So lange hatte er nach ihr gesucht. So oft gehofft, dass sie ihn wieder abholen würde. Doch es geschah nicht. Es würde nie wieder geschehen. Sie war für immer fort.

Ihr Lächeln würde für ihn für immer unerreichbar bleiben. Nie wieder würde er ihre Stimme hören. Nur noch der kalte Stein ihres Grabes würde seine Familie sein. Zumindest die Familie zu der er zurückkehren möchte.

Er schluckte schwer, als er sich dazu zwang näher an den Haufen zu gehen und sich endlich der Wahrheit zu stellen. Sie war tot und er musste sie beerdigen. Das war er ihr schuldig. Schließlich war er ihr einziger Sohn.

Gerade wollte er seinen Arm nach der Decke ausstrecken, als er plötzlich eine Diele hinter sich krächzen hörte, wodurch er sich panisch umdrehte und den Schlag in letzter Sekunde ausweichen konnte.

Er hechtete an der Geschalt in schwarzer Kleidung vorbei und rannte auf die Tür zu, denn er wusste, dass sie sich niemals bei Tageslicht im Dorf zeigte. Sie konnte es nicht ohne ihre Identität preis zu geben und das schien sie mit aller Macht verhindern zu wollen.

Doch als seine Hand die Türklinke umfasste und das Holz aufdrücken wollte, bewegte sie sich keinen Zentimeter. Sie war verschlossen. Er war hier gefangen, wodurch er die Schritte näher kommen hörte und im nächsten Moment tauchte schon der Schatten in der Tür zum Wohnzimmer auf. Verdammt! Wo sollte er hin? Was war die nächste Möglichkeit?

Die Panik trieb Cido nach oben in den ersten Stock. Er nahm gleich immer zwei Treppenstufen auf einmal, um so schnell wie möglich das Ende der Treppe zu erreichen, wobei er dann nicht einmal wusste, wohin er eigentlich fliehen sollte.

Das Haus war ihm unbekannt. Er kannte sich hier keinen Zentimeter aus, wodurch er einfach mal nach Links abbog. „Hoffentlich kann ich dort irgendwo raus. Ich muss diesem Zauberer entkommen.“

Ohne lange nach zudenken, sperrte er sich in das nächstbeste Zimmer ein, wobei er sich an die Tür gelehnt zusammenkauert und hoffte, dass der Kerl daran vorbeigehen würde.

Er wollte hier nicht sterben. Er durfte hier einfach nicht sterben. Schließlich musste er doch seine Mutter befreien. Er war der Letzte, der sie kannte und es für sie tun konnte. Das war er ihr schuldig. Damit ihr Geist in Frieden ruhen konnte. Sie durfte hier nicht für alle Zeit gefangen sein. Das hatte sie nicht verdient. Nicht sie.

Die Schritte kamen näher, wobei man deutlich hörte, dass der Zauberer sich Zeit ließ. Er war sich seiner Beute sicher, wodurch Cido das Zittern seines Körpers nicht mehr bändigen konnte. War er so einem Feind überhaupt gewachsen? Er hatte doch gar keine Kampferfahrung.

Sie verstummten. Direkt hinter ihm. Auf der anderen Seite der Tür. Die Gedanken von Cido überschlugen sich, als er versuchte zu begreifen, was das für ihn zu bedeuten hatte. Aber er wollte es nicht. Das durfte nicht sein. Sie mussten weitergehen.

So lange geschah nichts. Es blieb still und Cido dachte schon, dass er aufgegeben hatte, als plötzlich an dem Türknauf gewackelt wurde. Immer wieder und energischer, bevor dann wieder Stille einkehrte. Cido traute sich kaum zu atmen. Er wollte auf keinen Fall durch irgendein unbedachtes Geräusch entdeckt werden.

Zwei Schritte ertönten, die sich leicht entfernten und Cido wartete auf den Rest. Darauf dass sich die Gestalt gänzlich zurückzog, doch es geschah nicht. Denn nach ein paar Herzschlägen hörte er schon einen dumpfen Aufprall und das Holz hinter ihm vibrierte leicht unter dem Schlag.

Er war gefunden. Jetzt würde er sterben. Cido spürte die Tränen in seinen Augen, doch er zwang sie nieder und sah sich im Zimmer um. Es war nur sehr spärlich eingerichtet. Ein Schrank, ein Bett und eine Kommode. Nichts wo man sich wirklich gut verstecken konnte ohne dass es offensichtlich wurde. Dennoch stieß er sich von der Tür ab, um sich unter der Schlafstätte zu verkriechen. Ja, der Unterschlupf war abgedroschen, doch der Junge war froh, dass er überhaupt irgendeinen Gedanken fassen konnte und nicht gänzlich in bodenlose Panik verfiel. Außerdem hatte er dort bessere Chancen zu flüchten, als wenn er sich in dem Schrank einsperrte.

Ein paar Schläge gegen die Tür zwang er sein Herz dazu sich zu beruhigen und auch seinen Atem flacher und ruhiger zu gestalten. Er wollte nicht auffallen. Er durfte nicht auffallen. Davon hing sein Leben ab.

Noch zwei Schläge und das Holz gab splitternd nach, wodurch der Zauberer in das Zimmer trat und sich kurz umsah, bevor er sich dann erst dem Schrank widmete und die Türen schwungvoll öffnete.

Er durchwühlte die Kleidung und verteile sie im ganzen Raum, bevor sich die Füße dann zu ihm wandten. Langsam näherten sie sich dem Bett und Cido spürte, wie sich die Panik in seinem Körper ausbreitete. Sein Herz schlug gegen seinen Hals und er musste sich zwingen nicht zu laut zu atmen.

Doch alles vergebens. Im nächsten Moment flog das Bett einfach gegen die Wand und Cido blickte in die Augen des Zauberers. Sie waren braun, wie der Stamm einer Fichte und voller Zuversicht, wodurch er erneut mit dem Knüppel in seiner Hand ausholte, um nach den Jungen zu schlagen.

Dieser wich aber mit einer Rolle aus und kam in der nächsten Sekunde wieder auf die Beine, um das Zimmer stürmisch zu verlassen und zurück ins Erdgeschoss zu laufen. Er musste aus dem Haus, denn egal wo er sich versteckte, der Kerl würde ihn finden.

Seine Beine trugen ihn in die Küche, wo er eine Hintertür entdeckte. Voller Zuversicht rannte er auf sie zu, griff nach der Türklinke und drückte sie herunter, um die Tür in die Freiheit zu öffnen.

Doch sie rührte sich auch nicht und ein dumpfer Knall erklang, als er einfach gegen das unnachgiebige Holz prahlte, wobei der Schmerz Sterne in sein Sichtfeld zauberte, bevor er sich dann benommen umdrehte. Gab es kein Entkommen?

„Sie nennen es ‚das Haus des Verderbens’. Wusstest du das nicht?“, erklang die ruhige Stimme des Zauberers, als er langsam in das Licht des Tages trat, wodurch man nun sein kurzes braunes Haar sah, welches leicht im Schein der Sonne schimmerte, während seine Kleidung komplett in die Farbe der Nacht getaucht war und dadurch jegliche Helligkeit verschlag. Der Mantel auf seinen Schultern verlieh ihn ein breiteres Kreuz und ließ ihn dadurch bedrohlicher wirkte.

„Was willst du von mir? Ich möchte doch nur meine Mutter holen.“ Cido versuchte sich aus dieser Lage zu befreien, doch der Hexer lachte nur höhnisch. „Hier wird nichts geholt. Solange sie hier ist, wird niemand anderes kommen und glauben, dass er hier wohnen könnte. Dieses Haus gehört mir, Zero, dem großen Magier. Außerdem hatten wir eine Abmachung. Du tötest den Jungen und ich gebe dir deine Mutter. Hast du diese eingehalten?“

Cido senkte den Blick, ließ alles an seinem Körper hängen und schüttelte den Kopf. „Nein, ich konnte nicht.“ „Tja, Pech für dich. Aber wenn dir dieser Wolf so viel bedeutet, dann erlaube ich dir hiermit ihm Gesellschaft zu leisten, als Oger.“ Zero sammelte seine Magie in der rechten Hand und wollte den Fluch gerade auf Cido schleudern, als das Fenster der Hintertür zerbrach und Kevin im Raum stand.

Sein Gesicht war verzerrt vor Schmerzen und seine Beine zitterten, als würden sie jeden Moment unter seinem gewaltigen Gewicht zusammenbrechen, dennoch erhob er seine Stimme. „Los, Cido! Lauf!“

Damit wandte sich die Bestie kurz um und zerschlug die Holztür als wäre sie aus Papier mit einem gewaltigen Hieb seiner Pranke, bevor er sich dann wieder zu dem Magier wandte: „Und jetzt zu dir, Hexer.“

„So sieht man sich also wieder, Kevin. Schön dass du hier bist, obwohl dir ein Besuch bei mir gar nicht bekommt. Willst du für diesen Jungen wirklich dein Leben aufs Spiel setzen?“ Zero lächelte siegessicher und ließ Cido ziehen, als dieser ins Freie flüchtete.

„Ich habe kein Leben mehr, denn ich habe es in jener Nacht, als ich dir das erste Mal begegnet bin, verloren. Ich bin nur noch eine Kreatur, die niemand respektiert. Nur fürchtet. Wenn ich nur töten kann, dann versuch ich meine Freunde wenigstens vor deiner schmutzigen Magie zu bewahren!“, schrie Kevin ihn an.

„Du nennst meine Magie schmutzig? Meine Magie soll schmutzig sein? Was fällt dir ein, du verdammte Mistgeburt von einer verstümmelten Schnecke!“, geriet Zero in Ekstase, wobei sich um ihn herum eine Magiefeld aufbaute, das seine Kleidung und Haare leicht tanzen ließ, bevor er mit einem Aufschrei eine gewaltige Energiewelle von seinem Körper löste, „meine Magie ist nicht schmutzig!“

Kevin wurde von der Welle erwischt und wie ein Blatt im Wind einfach aus dem Haus geschleudert. Draußen prallte er hart auf dem Boden auf und schlitterte noch ein Stück, ehe er wenige Schritte von Cido entfernt zum Liegen kam.

Sofort rannte der Junge zu dem Wolf, wobei er die Menschenmasse um sich herum ignorierte, die sich von Sekunde zu Sekunde vergrößerte. Angelockt von dem Tumult in dem verfluchten Gemäuer. Doch sie trauten sich alle nicht näher als nötig. Blieben den Grundstück fern und beobachteten nur von Weitem.

Er spürte die Energie des Hexers, als dieser aus dem Haus trat und seine ganze Kraft entfaltete. Die einst so braunen Augen waren nun schneeweiß und konzentrierten sich, wie ihr Besitzer Zero, vollständig auf Kevin, der schwer atmend am Boden lag.

Niemand bezeichnet meine Magie als schmutzig und wer das getan hat, lebt heute nicht mehr! Also mach dich bereit zu sterben, Kevin!“, wütete Zero weiter, wobei die Menge nun zu tuscheln begann:

„‚Wer ist dieser Junge?’

‚Wohnt er etwa in diesem Haus?’

‚Hat er zu dem Werwolf gerade Kevin gesagt?’

‚Der Kevin, der vor einige Zeit verschwunden ist?’

‚Wieso ist er der Wolf?’

‚Die Frau war damals doch alleine. Wie kann er also in diesem Haus wohnen?’

‚Kennt ihn jemand?’

‚Nein, ich nicht.’“

„Hört auf zu flüstern!“, schrie Zero die Menschenmasse an, wobei er seinen Zorn nun gänzlich auf sie lenkte, „niemand kennt mich! Ihr könnt mich gar nicht kennen! Denn ich war ein Diener von den Besitzern dieses Hauses! Niemals würdet ihr euch auch nur ansatzweise daran erinnern! Denn ihr habt mich nie gesehen! Ich habe diesen Leuten geholfen, doch sie haben meine Magie auch als schmutzig bezeichnet! Darum musste ich sie umbringen! Sie haben es nicht besser verdient! Schließlich nahmen und nahmen sie nur ohne mir je etwas zurückzugeben! Sie wollten immer mehr! Waren nie zufrieden! Derweil tat ich mein Bestes! Ich habe ihnen gute Ernte gebracht! Ich habe alles für sie getan! Und sie? Sie wollten mich einfach vertreiben! Das konnte ich nicht zulassen! Sie waren Vollidioten! Wie ihr alle welche seid! Die Ernte hatten sie nur wegen mir! Ich habe ihnen mit Magie nachgeholfen!“

Das Raunen der Menge verstummte durch die Ansage nur kurz, bevor es nach ein paar Denksekunden wieder von vorne begann:

„‚Wovon redet der da?’

‚Das Gemüse war nie gut.’

‚Es schmeckte doch immer leblos und fad.’

‚Sie konnten nichts mehr verkaufen.’

‚Aber wenn das an der Magie lag.’

‚Ja, dann hat er sie nicht gerettet sondern in den Ruin getrieben!’

‚Dieser Heuchler!’

‚Nieder mit ihm!’“

Zorn überrannte die Dorfbewohner und sie griffen zu ihren Heugabeln, bevor sie dann auf den Zauberer zustürmten, doch Zero löste nur erneut eine Energiewelle von seinem Körper und schleuderte somit alle Angreifer von sich, wodurch viele leblos liegen blieben und sich der Boden unter ihnen langsam dunkel färbte.

„Ich bin kein Heuchler! Nein, ich bin ein Hexer! Der Beste auf der Welt! Warum kann das niemand sehen?!“, tobte Zero weiter und ohne sein Zutun löste sich erneut eine Welle aus purer Energie. Doch statt weiterer Schimpftiraden stieß er plötzlich einen schmerzerfüllten Schrei aus und sank auf ein Knie.

Er hielt sich den blutenden rechten Arm und als er sich umdrehte, erblickte er Cido, der mit einem blutigen Messer hinter ihm stand. Der Körper des Jungen zitterte aus Angst, er könnte seine Affekthandlung nicht überleben. Aber er musste doch irgendwas tun, um diesen Wahnsinn zu stoppen. Irgendetwas und dieses Messer hatte sich so angeboten. Es war doch richtig, oder?

„Du kleine Mistkröte! Man greift keinen wütenden Hexer an! Willst du so dringend sterben?!“, brüllte Zero den Jungen an, der das Messer vor Schreck fallen ließ und ängstlich ein paar Schritte zurückwich.

Sein Leben lief vor seinen Augen ab, als er begriff, dass er hier und jetzt sterben würde. Plötzlich erklang jedoch ein dunkles Knurren und im nächsten Moment wurde Zero unter dem Monster begraben, das ihm mit einem gezielten Biss den Kopf von den Schultern trennte.

Das Haupt rollte ein Stück weit vom Körper weg. Die Augen waren schon erloschen und im nächsten Augenblick brach auch der Körper von Kevin zusammen. Immer wieder zitterte sein gewaltiger Leib unter den Schmerzen und sein Atem war nur noch ein Röcheln, denn das Blut des Magiers brannte in seinem Maul wie Säure und verätze dort alles. Machte ihm das Atmen schwer und begann ihn von innen heraus aufzulösen.

Cido handelte sofort und rannte zu der Bestie, um sie von der Leiche fort zu ziehen, wobei er ihr traurig ins Gesicht sah und kurz durch das raue Fell strich. „Warum hast du das getan? Du weißt doch, dass dieser Körper für dich den Tod bedeutet.“ Kevin durfte jetzt nicht sterben. Nicht jetzt, wo er endlich ein Held war. Bestimmt würde der Fluch jetzt auch vorbei sein. Er konnte endlich wieder ein normales Leben führen.

„Irgendwer musste es doch tun, oder? Und nachdem es Sebastian nicht tun konnte, musste ich es erledigen.“ Immer wieder brach Kevin ab, um Luft zu holen und neue Kraft für die nächsten Worte zu sammeln.

Er spürte wie sein Körper schwächer wurde, weil er innerlich verblutete, dennoch zwang er sich weiterzureden: „Bitte, Cido. Räche Sebastian und vergiss uns nicht. Trage uns in deinem Herzen und lasse uns dort weiterleben, sodass wir nicht umsonst gestorben sind. Sebastian war ein guter Mensch. Er glaubte an mich, obwohl ich ein Monster war und er opferte sein Leben für meins.“

Die Schmerzen forderten immer mal wieder ein Stöhnen von ihm, bevor er zittrig Luft holte und weiter sprach: „Finde den Mörder. Tu es für mich. Damit ich in Frieden ruhen kann, denn meine Zeit ist endlich zu Ende. Ich werde sterben und damit dieser ewigen Qual entkommen. Cido, danke, dass du mich damals nicht getötet hast und mir so die Möglichkeit gegeben hast, dass ich das Dorf befreien und somit meinen Fehler wieder gut machen konnte. Leb…“

Bevor sich Kevin verabschieden konnte, stoppte sein Atem und der Kopf sank nach unten. Der Brustkorb bewegte sich nicht und die Wärme verschwand aus dem Körper des Monsters.

Es war vorbei. Kevin war tot. Cido konnte es nicht glauben. Er spürte die Tränen in seinen Augen, die sich kurz darauf heiß über seine Wangen schlängelten, als er seine Finger zittrig immer wieder durch das Fell gleiten ließ. „Nein… Nein… Kevin… NICHT!“

Seine Stimme war leise, bevor er seinen Schmerz herausschrie und das Gesicht in dem struppigen Fell vergrub. „Mach die Augen auf! Bitte, bleib bei mir! Ich brauche dich! Ohne dich bin ich alleine und ich kann diesen Kerl doch niemals finden! Geschweige denn überhaupt besiegen! Wie hast du dir das vorgestellt?! Sag es mir! Atme! Atme und rede mit mir! Lass mich nicht alleine!“

Tränen liefen ungehemmt über seine Wangen und durchnässten das graue Fell seines Lebensretters, während die Verzweiflung seinen gesamten Körper durchflutete und sämtliches Denken unmöglich machte.

Cido nahm nur am Rande wahr, dass die überlebenden Bauern langsam das Feld räumten und ihn somit alleine ließen. Alleine mit dem Schmerz und der Trauer. Er war wieder alleine, wie all die Jahre zuvor.

Seine Finger vergruben sich tiefer in dem Fell, als würde er es so möglich machen, dass er das Leben in Kevin halten konnte. Doch es war vergebens. Der Junge war schon lange nicht mehr in dieser Existenz.

Im nächsten Moment spürte Cido wie sich das Fell aus seinen Fingern zurückzog und sich das Gewicht des Biestes verringerte, bevor sich sein Körper auch langsam wieder umformte. Nur wenige Herzschläge dauerte die Verwandlung und im nächsten Moment lag der Junge Kevin in den Armen des Braunhaarigen.

Er war nackt und sein Körper war gezeichnet von blauen Flecken und Wunden, die nicht richtig verheilt waren. All die Verletzungen, die das Monster damals eingesteckt hatte, waren zu sehen und zeichneten den erkaltenden Körper des Jungen.

Cido strich über die einzelnen Male. Wie sehr musste Kevin gelitten haben und wie oft musste man ihn angegriffen habe, nur weil man ihn töten wollte? Cido wollte darüber gar nicht nachdenken. Nicht die Wunden zählen und begreifen, was für ein Hass dem Monster immer entgegen gekommen war.

Ein schwerer Kloß bildete sich in seiner Kehle, als er daran dachte, dass auch er dieses Biest töten wollte. Wie so viele zuvor. Und er hätte es gekonnt. Das wusste er. Wenn er seinen Zorn nicht verloren hätte, dann hätte er ihn umgebracht ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich werde dich nicht vergessen.“ Sanft strich er eine Strähne hinter das Ohr des Jungen, wobei ein trauriges Lächeln auf seine Lippen trat. „Ich werde dich niemals vergessen. Und Sebastian auch nicht. Das verspreche ich dir.“

Plötzlich lief Blut aus dem Mund von Kevin und begann sich in viele weitere Bahnen aufzuteilen. Es lief in den Wald, in bestimmte Bereiche des Dorfes und auf den Friedhof. Cido verstand nicht, was hier gerade geschah, doch als er seinen Blick wandern ließ, konnte er gerade noch sehen, wie die Leiche von Zero zu Asche zerfiel und vom Wind davon geweht wurde.

Im nächsten Moment erhoben sich die getöteten Bauern und das Zwitschern der Vögel kehrte zurück, genauso wie Cido ein Reh in den Schatten der Wälder springen sah. Die Stimmen der Schafe kehrten zurück und auf dem Friedhof erhoben sich Schatten, die sich aus der Erde kämpften.

Cido verstand es nicht. Genauso wie die Bauern und Tiere, die sich über das neue Leben wunderten, aber es dennoch dankend annahmen. Langsam ließ er den Körper von Kevin zu Boden sinken, bevor er den Mantel von Zero aufhob, um die Blöße des Jungen zu bedecken.

Er erhob sich und ging an den Bauern vorbei, die nicht begriffen, was gerade passiert war. Er folgte den Blutspuren auf den Boden. Eine führte zur Lichtung auf der sie sich das erste Mal getroffen hatten und die Leiche von Sebastian lag.

Seine Schritte wurden von der Hoffnung beflügelt und er betete zu allen Göttern, dass der Junge auch leben würde. Er hatte es doch so sehr verdient. Viel mehr als alle anderen Gestalten zusammen. Doch die Spur endete kurz vor der Lichtung in einem Gebüsch, wodurch Cido auf die Leiche des Jungen blickte.

Sie lag da. Unbewegt und unverändert. Das Gras glänzte nicht mehr, weil das Blut mittlerweile getrocknet war und Cido begann zu verstehen. „Ach ja, er wurde ja nicht von Zero oder Kevin getötet. Seine Familie tut mir Leid. Alle werden leben. Nur er nicht. Sie werden die Einzigen sein, die nicht feiern können, sondern trauern werden.“

Er ging zu Sebastian und sah auf ihn herab, als er spürte, wie sich eine unendliche Trauer in ihm ausbreitete. Ruhig setzte er sich einfach an den nächstliegenden Baum in der Nähe hin und zog seine Knie näher an den Körper. „Wieso kannst du nicht auch leben? Wie soll ich deinen Mörder nur finden? Die Welt ist groß und er könnte überall sein.“

Seine Stimme zitterte im Wind und er seufzte, bevor er in die Richtung sah, in die damals der Kämpfer verschwunden war. Richtung Westen. Was war dort überhaupt? Cido wusste es nicht. Zwar kam auch er aus dieser Richtung, doch die Welt war sehr groß. Niemals würde er sein Versprechen einhalten können. Er würde den Kämpfer nie wiedersehen.

Die Verzweiflung überrannte den Jungen und er war den Tränen nah, als er plötzlich ein leichtes Stupsen in der Seite spürte und überrascht seinen Blick hob, um in die großen braunen Augen eines schwarzen Pferdes zu blicken.

„Nanu? Wo kommst du denn her?“ Langsam richtete er sich auf und strich über die Stirn des Tieres, wobei er sich dann suchend umsah. „Wo hast du denn deinen Besitzer gelassen?“ Der Friese schnaubte nur und schüttelte wild den Kopf, bevor er Cido erneut anstupste, als wollte er ihn auf seinen Rücken schieben.

Das Tier trug kein Zaumzeug und auch keinen Sattel, wodurch es wirklich so aussah, als würde es frei sein und niemanden gehören. Aber warum war es dann zu ihm gekommen? Wieso wollte es, dass der Junge aufsaß? Es ergab keinen Sinn und selbst als er sich noch einmal umsah, konnte er keinen anderen Menschen ausmachen. Der Friese schien wirklich wild zu sein.

Langsam trat Cido an die Seite des Tieres und legte seine Hände auf dessen Rücken, dennoch zögerte er und wurde somit prompt erneut angestupst. Dieses Mal wirkte es, als würde das Tier ihn am liebsten selber auf seinen Rücken heben, doch dies war ihm nicht möglich.

Ein Seufzer stahl sich über die Lippen des Jungen, bevor er sich mit ein wenig Kraftaufwand auf den Rücken des Tieres schwang. Er rückte sich zurecht und spürte die Atmung zwischen seinen Schenkeln. Ruhig strich er über das weiche Fell und versuchte ein Gefühl zu bekommen, bevor er sich in dem untersten Teil der Mähne festhielt.

„Aber sei vorsichtig. Ich bin kein guter Reiter“, warnte er das Tier, als dieses schon davon schritt und sofort in einen leichten Trab wechselte. Cido schrie erschrocken auf und klammerte sich panisch fester in die Mähne des Tieres, wobei er seine Beine so gut es ging an den Körper unter sich presste, damit er nicht fiel. Er brauchte all seine Konzentration, um nicht zu stürzen. Doch der Friese störte sich nicht daran, denn er trabte unbeirrt weiter. Denselben Weg, den auch der Kämpfer nach seinem Mord an Sebastian gegangen war…

Engel und Dämon

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