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Das Haus am See

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Um zwölf Uhr mittags setzte sich der Schnellzug nach Gotemba am nordwestlich gelegenen Bahnsteig des Bahnhofs Tokio-Shinjuku langsam in Bewegung. Fast alle Plätze waren besetzt, in erster Linie von Leuten, die dem Meiji-Schrein einen Neujahrsbesuch abgestattet hatten und nun nach Hause wollten. Mehr als die Hälfte der Fahrgäste stieg an der nächsten Station wieder aus. Gotemba war das Sprungbrett für Ausflüge in das Gebiet um den Fujiyama; von dort aus waren sowohl der Berg selbst als auch die Fuji-Seen bequem zu erreichen. Im Winter war in dieser Gegend jedoch nicht viel los, und so waren auf dem letzten Stück der Strecke weniger als zwanzig Prozent der Sitze belegt.

In Tokio war es trocken und klar, doch je näher man den Bergen kam, desto mehr dunkle, schwere Wolken zogen auf, und als der Zug in Gotemba eintraf, schneite es leicht.

Jane Prescott stieg aus dem leeren Waggon. Sie zog die Schultern hoch und vergrub das Kinn in den Tiefen ihres dicken Wollschals, um dem eisigen Wind wenigstens ein bißchen zu entgehen. Ihr Blick glitt über die trostlose Szenerie um sie herum, über das schäbige Dach und die ärmlichen Säulen des Bahnhofsgebäudes. Es erinnerte sie an die Bahnstationen auf dem Land zu Hause in Oregon. Als sie die Sperre passierte, in die sie ihr Ticket stecken mußte, sprang die altmodische Uhr im Dachgiebel auf 14.03 Uhr.

Schneeflocken tanzten über den ungepflegten Bahnhofsplatz. An der gegenüberliegenden Seite reihten sich Immobilienbüros und kleine Gasthäuser aneinander. Geweihte Strohflechten, Überbleibsel von den Feiertagen, hingen von den Dachvorsprüngen der Lokale und flatterten gleichgültig im kalten Wind. Binnen weniger Sekunden hatten sich die Fahrgäste zerstreut. Es war keine Spur von den Horden junger Ski- und Schlittschuhwütiger zu sehen, die man hier anzutreffen erwartete – vielleicht weil die Saison gerade erst begonnen hatte.

Mehrere Taxis und Privatwagen schlichen lauernd über den Platz. Ein freies Taxi hielt neben Jane an, aber sie schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung. Ein Schild wies ihr die Richtung zur Bushaltestelle, wo wiederum ein ganzes Meer von Schildern darüber Auskunft gab, welche Busse wohin fuhren. Einige standen bereits zur Abfahrt bereit und bliesen dicke, weiße Wolken durch ihre Auspuffrohre in die kalte Luft.

Janes Ziel war eine abgeschieden liegende Villa auf dem Land, wo sie von Chiyo Wada erwartet wurde. Man hatte sie instruiert, mit dem Bus nach Asahigaoka zu fahren, einem exklusiven Urlaubsort am Yamanaka-See, und vor der Abfahrt kurz anzurufen, damit Chiyo sie von der Bushaltestelle abholen konnte.

Ein Blick auf den Fahrplan verriet Jane, daß alle zwei Stunden drei Busse gingen, der nächste um 14.30 Uhr. Sie durchwühlte ihre Handtasche nach dem kleinen Notizbuch und ihrer Geldbörse und sah sich nach einer Telefonzelle um. Ein großer Mann, der auf sie zuschlenderte, versperrte ihr die Sicht.

»Wollen Sie zum Kawaguchi-See?« erkundigte er sich in fließendem Englisch; seine leicht rauhe Stimme war angenehm tief. Er hatte dicke Lippen und ziemlich derbe Gesichtszüge. Jane schätzte ihn auf Mitte Dreißig, vielleicht war er auch ein, zwei Jahre älter. Ein kurzer, schwarzer Regenmantel hing lässig über seinen massigen Schultern.

»Nein«, erwiderte sie ebenfalls auf englisch, »nur bis zum Yamanaka-See.«

»Und wohin dort genau?« fragte er mit unschuldigem Lächeln, aber Jane hatte den Eindruck, daß er sie vorsichtig taxierte. Sie trug einen pelzgefütterten Burberry-Mantel und hellbraune Lederstiefel, dazu eine Handtasche und eine kleine Reisetasche. Sie sah zweifellos wie das Paradebeispiel einer alleinreisenden Touristin aus.

»Nach Asahigaoka.«

»Das trifft sich gut, dahin fahre ich auch. Wenn Sie möchten, nehme ich Sie mit.« Er zeigte auf einen silberfarbenen Sportwagen, der am Rand des Bahnhofsplatzes abgestellt war, ein Mercedes-Benz mit Tokioter Nummernschild.

Jane schaute erst den Wagen, dann ihr Gegenüber an. Eine solche Einladung war im Grunde nicht ungewöhnlich. Besonders in den ländlichen Gegenden geschah es öfter, daß man aus purer Freundlichkeit mitgenommen wurde, und man hatte in der Regel wirklich nichts zu befürchten. Dieser Brauch mochte der amerikanischen Sitte des Trampens entsprungen sein, sicherer war es auf jeden Fall, bei einem Japaner mitzufahren.

Jane zögerte, holte tief Luft und sagte dann: »Vielen Dank, ich weiß Ihr Angebot wirklich zu schätzen, aber ich habe schon mit einer Freundin ausgemacht, daß sie mich vom Bus abholt.«

Die Augen des Mannes wanderten von der Geldbörse zu dem Notizbuch in Janes Hand. »Haben Sie denn schon einen Zeitpunkt vereinbart?«

»Ich war gerade im Begriff, es zu tun.«

»Wäre es nicht viel einfacher, wenn ich Sie am Haus Ihrer Freundin absetzen würde?«

»Na ja, kann schon sein, aber…« Jane fand, daß die Busfahrt bestimmt eine gute Gelegenheit wäre, sich die Häuser in der Gegend anzusehen. »Ich denke, ich nehme trotzdem den Bus.«

»Gut, wie Sie wollen.« Er machte ein enttäuschtes Gesicht, drehte sich um und stapfte davon. Sie wartete, bis er in seinen Wagen gestiegen und abgefahren war, und setzte ihren Marsch zum Bahnhofsgebäude fort, wo ihr neben einem kahlen Ginkgobaum eine gelbe Telefonzelle aufgefallen war.

Unterwegs überlegte sie, ob es wohl gefährlich gewesen wäre, zu dem Mann in den Wagen zu steigen.

In der Telefonzelle wählte Jane die Nummer der Villa in Asahigaoka. Nach dreimaligem Läuten ertönte eine junge Frauenstimme: »Hier bei Wada!« Die Stimme klang anders als Chiyos; Jane nahm an, daß es eins der Hausmädchen aus Tokio war. Sie steckte eine Hundert-Yen-Münze in den Geldschlitz und sagte in fließendem Japanisch: »Guten Tag, hier ist Jane Prescott. Kann ich Chiyo sprechen?«

»Ja, einen Augenblick bitte.«

Wenig später drang eine sanfte, weibliche Stimme an Janes Ohr. »Hallo?« Das war unverkennbar Chiyo.

»Chiyo? Ich bin am Bahnhof von Gotemba. Soeben angekommen.«

»Na endlich! Ich warte schon die ganze Zeit.« Chiyo klang ehrlich erfreut. »Du bist spät dran – ich hab’ schon befürchtet, dir könnte was passiert sein.«

»Tut mir leid, das wollte ich nicht. Ich war gestern abend ziemlich lang mit den Leuten von der ausländischen Studentenvereinigung zum Mahjongspielen unterwegs und habe heute morgen dummerweise verschlafen. Aber wie kommst du mit der Arbeit voran? Du machst hoffentlich Fortschritte?«

»Ich denke schon, aber ohne deine Hilfe fällt’s mir ganz schön schwer.«

Jane erklärte, sie würde den Bus um halb drei Uhr nehmen, und Chiyo versprach, sie an der Haltestelle abzuholen. Die Fahrt dauerte vierzig Minuten.

»Die andern sind sicher längst angekommen«, sagte Jane, die im Hintergrund Stimmengewirr vernahm.

»Ja, seit gestern. Der Chefbuchhalter der Firma und ein paar Hausmädchen sind zwar noch da, aber wenn die weg sind, sieht es ganz so aus, als wären wir dieses Jahr nur zu acht.«

»Ausschließlich Familienmitglieder?«

»Genau.«

»Hoffentlich störe ich da nicht.«

»Ach was, nicht im geringsten. Wir fühlen uns geehrt, daß du dich auf den weiten Weg gemacht hast, nur um die Neujahrsferien bei uns zu verbringen. Mutter fand es regelrecht unverschämt von mir, dich darum zu bitten. Aber ich bin wirklich froh, daß du gekommen bist.«

Diese Worte beruhigten Jane ein wenig. »Wenn das so ist, werde ich in Kürze bei euch reinplatzen und mich ganz wie zu Hause fühlen«, lachte sie und hängte ein.

Draußen herrschte mittlerweile dichtes Schneetreiben, als sie mit der Reisetasche in der Hand aus der Telefonzelle trat. Die kleine Tasche war erstaunlich schwer, was einem häufig benutzten Wörterbuch und einem anderen dicken Wälzer zuzuschreiben war.

Die zweiundzwanzig Jahre alte Chiyo Wada studierte Anglistik an der Japanischen Frauenuniversität in Tokio, und Jane Prescott, drei Jahre älter als sie, war amerikanische Austauschstudentin im Aufbaustudiengang für Jungakademiker. Sie war nach Japan gekommen, um sich auf moderne japanische Literatur zu spezialisieren, nachdem sie an der Universität von Oregon das Staatsexamen in Japanologie abgelegt hatte. Jane war glückliche Besitzerin eines Stipendiums, hatte aber nach eineinhalb Jahren feststellen müssen, daß es für die Lebenshaltungskosten nicht ausreichte, und gab Chiyo seitdem Nachhilfe in Englisch.

Chiyos familiäre Verhältnisse waren ziemlich kompliziert. Ihr Großonkel, Yohei Wada, war das unangefochtene Oberhaupt der Familie und Präsident der Wada-Arzneimittel, einer der größten Pharmakonzerne Japans. Sein Name sowie der seiner Firma waren bis in den hintersten Winkel des Landes ein Begriff. Bei den Wadas war es Tradition, jedes Jahr zum Neujahrsfest in einer von Yoheis zahlreichen Villen zusammenzukommen. Die Hausangestellten bekamen frei, damit der Klan zwei oder drei Tage vollkommen unter sich sein konnte. In diesem Jahr hatte man das Haus am Yamanaka-See für das Treffen auserkoren. Strenggenommen stellte Janes Einladung zu dem intimen Familienfest einen groben Verstoß gegen die Tradition dar, aber Chiyo hatte darauf gedrängt, weil sie ihre Diplomarbeit demnächst abgeben mußte und sie Janes Hilfe bei der Überarbeitung brauchte.

Gegenstand der Arbeit war eine kritische Interpretation von Virginia Woolfes Mrs. Dalloway. Chiyo besaß zwar den erforderlichen Feinsinn, um Virginia Woolfe zu verstehen und ihre Bücher zu mögen, ihre Kenntnisse in Schriftenglisch waren jedoch bestenfalls fragwürdig. Sie war von klein auf in privaten Mädchenschulen unterrichtet worden und hatte nie für einen Zulassungstest am College büffeln müssen, aber als Examenskandidatin für Anglistik kam sie nicht mehr daran vorbei, die Diplomarbeit in Englisch zu schreiben; außerdem mußte sie noch in eine mündliche Prüfung. Abgabetermin war der 10. Januar, und um die Frist einhalten zu können, hatte Chiyo Jane gebeten, das Manuskript durchzulesen und zu korrigieren.

Chiyo hatte bis nach Weihnachten mit der Einladung gewartet, weil ihr vermutlich erst da der Verdacht gekommen war, sie könnte es allein nicht schaffen. Beim Anblick von Chiyos verzweifeltem Gesicht – sie hatte ausgesehen, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen – war Jane außerstande gewesen, ihr die Bitte abzuschlagen. Chiyo hatte immer ein überaus behütetes Leben geführt und war sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht ein so zartes Persönchen, daß sie ohnehin bei den meisten Leuten Beschützerinstinkte weckte. Sie besaß einen gewissen natürlichen Charme und war trotz aller Unstimmigkeiten innerhalb der Familie die einzige, die jeder gern hatte.

Leider lag genau darin der Ursprung der Tragödie, die den Wadas ins Haus stand.

Bis der Bus losfuhr, hatten sich etwa zehn Personen an der Haltestelle angesammelt. Er schlängelte sich zunächst durch die Einkaufsstraßen im Stadtkern und bog schließlich auf die Staatsstraße 138 ein. Vor ihnen ragte der Fujiyama majestätisch in den Himmel. Er war zwar verschneit, aber nicht vollkommen weiß; dunkelblaue Rinnen, die vom Gipfel in die Tiefe führten, verrieten, wie steil seine Hänge waren.

Die gut ausgebaute Straße wand sich in sanften Kurven um die Bergausläufer. Der Fujiyama thronte wie ein Standbild in der Mitte der Windschutzscheibe. Aus der Nähe betrachtet wirkte der Berg vollkommen anders als vom Zugfenster aus: Man konnte sich seiner mächtigen, imposanten Erscheinung einfach nicht entziehen.

Jane war von der natürlichen Schönheit der Landschaft um die Fuji-Seen beeindruckt. Ununterbrochen wirbelten Schneeflocken durch die Luft, bisweilen sehr dicht, dann wieder ganz schwach. Neben der Straße tauchten abwechselnd Gemüsefelder und Zedernhaine auf. Gelegentlich glitt ein wunderschön anzusehendes Grüppchen kahler, verschneiter Bäume vorbei. An den Hängen lagen Lärchenwälder im Winterschlaf, deren scharfe, knorrige Äste sich wie Arme nach dem Himmel ausstreckten. Sie waren schwer mit Schnee beladen, und das rötliche Licht der Nachmittagssonne vergoldete sie. Der Fujiyama lag vor ihnen, aber die sanft ansteigenden Hügelketten versperrten ihnen hin und wieder die Sicht, während der Bus durch die weiten Felder rollte.

An jeder Haltestelle gab der Fahrer per Mikrofon den Namen der Station durch. Zwei, drei Leute stiegen jeweils aus, nur wenige neue Fahrgäste kamen dazu. Nach einer knappen Dreiviertelstunde ließen sie den Tsuzura-Kamm hinter sich, es konnte also nicht mehr weit sein. Hinter einer scharfen Kurve empfing sie ein Schild, mit der Aufschrift: LANDKREIS YAMANAKA-SEE-VERWALTUNGSBEZIRK YAMANASHI, einige Meter weiter stand auf einem zweiten: KAGOSAKA-PASS. Aus den Buslautsprechern drang eine Tonbanddurchsage: »Wir befinden uns jetzt auf dem Kagosaka-Paß, 1015 Meter über dem Meeresspiegel. Im Altertum wurde diese Straße ›Straße von Kamakura‹ genannt. Auf ihr gelangten sowohl frischer Fisch und Salz als auch die Kultur von Kamakura und Edo in die gebirgigen Provinzen des Landesinneren. Der Paß ist für seine Schneewehen berühmt. Wir werden unser Ziel, Asahigaoka, in wenigen Minuten erreichen.« Kaum waren die Lautsprecher verstummt, nahm der Bus auch schon die steile Abfahrt in Angriff.

Der Schnee fiel inzwischen stärker denn je, die Häuser an der Straße sahen aus wie mit Puderzucker bestreut. Sie mußten das Seeufer erreicht haben, denn plötzlich sah man Unmengen von Sommerresidenzen. Sie unterschieden sich gewaltig von den Bauernhäusern, an denen der Bus bisher vorbeigefahren war, und waren fast ausschließlich kunstvoll gebaute Villen in gepflegten Gärten.

Die Straße führte direkt auf den See zu, machte kurz davor einen Knick und folgte dann dem Ufer. Die Busstation befand sich genau in der Kurve.

Jane rappelte sich von ihrem Sitz auf und erspähte Chiyo unter dem Dach der Haltestelle. Sie trug einen kirschroten, dreiviertellangen Mantel und hatte einen dunkelbraunen Wollschal um den Kopf geschlungen. Ihr Rock hatte die gleiche Farbe wie der Schal, darunter erkannte Jane die kurzen, hochhackigen Stiefeletten, die Chiyos schlanke, feste Beine so hübsch betonten. Chiyo wirkte immer zart und zerbrechlich. Als sie Jane entdeckte, blühte ein Lächeln in ihrem blassen Gesicht auf; sie winkte ihr zu.

Chiyo begrüßte ihre Freundin mit den traditionellen Neujahrswünschen, die Jane herzlich erwiderte. Seitdem Jane die japanische Sprache fließend beherrschte, unterhielten sich die beiden nur während der Nachhilfestunden in Englisch. Ihr Atem schwebte in weißen Wölkchen davon, während sie aufgeregt drauflos plapperten.

»Hoffentlich wird’s dir hier nicht zu kalt«, meinte Chiyo besorgt. Mit ihrem länglichen, ovalen Gesicht, den schmalen Augen und der schmalen Nase sah sie wie eine Bilderbuchjapanerin aus.

»Es ist mindestens so kalt, wie ich befürchtet habe, aber das macht nichts. Mir geht’s prima«, erwiderte Jane fröstelnd.

»Ich hätte besser mit dem Wagen kommen sollen.«

»Wie lang müssen wir denn gehen?«

»Wenn wir uns beeilen, etwa eine Viertelstunde.«

»Gerade noch zu schaffen.«

Sie kamen an Tankstellen, Drive-In-Restaurants und Immobilienbüros vorbei. Hinter ihnen erstreckte sich die Hauptgeschäftsstraße von Asahigaoka.

Chiyo steuerte auf den See zu und deutete auf die Berge zu ihrer Linken. »Unser Haus liegt da drüben. Es steht in einer sehr ruhigen Gegend.«

Die beiden Frauen überquerten auf einer Fußgängerbrücke die Durchgangsstraße und marschierten eine Weile an der Küstenstraße entlang. Ununterbrochen fiel Schnee. Der Verkehr auf der Straße riß nicht ab, aber außer ihnen beiden war weit und breit kein anderer Fußgänger in Sicht.

»Der See sieht ja schon vollkommen zugefroren aus.«

»Nicht überall. An manchen Stellen gibt es Quellen auf dem Grund, die Bewegung hindert das Wasser am Gefrieren.«

Die weiße Oberfläche des Sees schimmerte eisigblau. Hier und da schienen Wogen und Wellen zu zarten Mustern auf dem Eis erstarrt zu sein, doch dazwischen lagen glatte und friedliche Fleckchen offenen Wassers. Auf einem davon schaukelten zwei Fischerboote, offenbar auf der Jagd nach Süßwasserstint, ansonsten war niemand zu sehen, nicht einmal die obligatorischen Schlittschuhläufer. Das vertrocknete Schilf an der Uferböschung zitterte im Wind. Der Anblick war trostlos, was jedoch durch die majestätisch aufragende Silhouette des schneebedeckten Fujiyamas im Hintergrund wettgemacht wurde.

Am Ufer standen mehrere Hotels, deren Tore zu Neujahr mit Kiefernzweigen geschmückt waren. In den Vorgärten wuchsen Birken, aus dem Innern drang Musik. Als sie an ihnen vorbeikamen, erklärte Chiyo: »Außer zu Neujahr haben sie den ganzen Winter über keine Gäste.«

Das Geschäftsviertel von Asahigaoka war an drei Seiten von Ferienhäusern eingeschlossen. Die Hauptstraße verlief neben dem Ufer und verzweigte sich von Zeit zu Zeit in nur wenige Meter breite Nebensträßchen, die wiederum zu schmalen Gassen führten, an deren Ende die Häuser der Anwohner lagen. An der dritten Abzweigung nach der Hauptkreuzung von Asahigaoka, dort, wo sich die Uferstraße ein wenig vom See entfernte, bog Chiyo nach links ab. Der vereiste Asphalt war hier mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die Holzzäune zu beiden Seiten der Straße hatten weiße Kappen auf. Abseits der Straße war der Schnee tiefer, als stamme er noch von einem früheren Schneegestöber.

»Es ist ziemlich glatt, du mußt aufpassen«, warnte Chiyo.

Die ersten Sommerhäuser auf ihrem Weg standen so dicht nebeneinander, daß sich ihre Dachvorsprünge fast berührten, doch je weiter die beiden Frauen gingen, desto breiter wurden die Zwischenräume und desto größer die Gebäude. Viele davon waren elegante, im westlichen Stil gebaute Villen, doch vereinzelt gab es auch einmal ein traditionelles japanisches Haus, hin und wieder wurde sogar das typisch steile Dach einer japanischen Bauernkate sichtbar. Die freien Flächen waren mit Kiefern, Lärchen, Ahornbäumen und Birken bepflanzt.

Jane und Chiyo stapften fröstelnd durch die in den Bergen früh hereinbrechende Abenddämmerung; die tiefhängenden Schneewolken machten den Spaziergang nicht angenehmer. Ab und zu kamen sie an einer Straßenlampe vorbei, die wie eine altmodische Londoner Gaslaterne aussah. Die Ferienhäuser zu beiden Seiten der Straße lagen still und verlassen hinter verschlossenen Gartentoren, nur in einer Reihe größerer Gebäude im Hintergrund, bei denen es sich laut ihren Türschildern um Geschäfte, Gasthäuser oder Pensionen handelte, zeigten sich Anzeichen von Leben.

Die beiden Frauen kämpften sich schweigsam und schwer atmend auf der immer steiler werdenden Straße vorwärts. Plötzlich vernahmen sie das Brummen eines Motors und sahen einen kompakten, kleinen, weißen Wagen von oben auf sich zu kommen. Die Straße war so schmal, daß ein Auto nur mit Mühe hindurchpaßte. Um nicht gerammt zu werden, mußten sich Chiyo und Jane dicht an den Holzzaun neben der Straße pressen. Als der Wagen auf ihrer Höhe war, hielt er an. Ein junger Bursche steckte den Kopf aus dem Fenster und lächelte Chiyo zu. Er hatte kurzes, ordentlich geschnittenes Haar und trug eine Brille mit Goldrand.

»Als man mir gesagt hat, daß du bei dem Schnee zu Fuß unterwegs bist, hab’ ich mir gedacht, ich sollte besser losfahren und dich aufsammeln.«

»Als ich losgegangen bin, hat’s noch nicht so geschneit«, erwiderte Chiyo unbeschwert.

»Na dann los, nichts wie rein!« Er entriegelte die Hintertür, und die beiden Frauen stiegen rasch ein.

»Darf ich vorstellen: Takuo Wada, der Neffe meines Großonkels. Takuos Vater war sein jüngerer Bruder. Takuo arbeitet in der Finanzabteilung der Wada-Arzneimittel. Und das hier«, Chiyo wandte sich zu Jane um, »ist Jane Prescott, meine Englischlehrerin seit vergangenem Frühjahr. Ich sage zwar Lehrerin, aber sie ist natürlich nicht viel älter als ich. Sie studiert moderne japanische Literatur an der Universität.«

Jane spürte, wie Takuos flinke, vogelartige Augen sie blitzschnell taxierten. Er fragte auf japanisch: »Gibt es irgendwelche Schriftsteller, für die Sie sich besonders interessieren?« In seiner Stimme lag ein beinah provozierender Unterton, als wolle er sie auf die Probe stellen.

»Im Moment lese ich gerade Yasunari Kawabata und Yukio Mishima.«

»Dann wundert’s mich nicht, daß Ihr Japanisch so gut ist.«

»Ich habe mein Examen in Japanisch zwar schon an der Universität von Oregon gemacht, bevor ich hierhergekommen bin, aber ich muß trotzdem noch eine ganze Menge lernen, fürchte ich.«

»Ach, Sie machen das schon ganz gut.« Bei diesen Worten schwenkte Takuo unvermittelt auf Englisch um, offenbar um Jane zu beweisen, daß sein Englisch mindestens ebenso gut war wie ihr Japanisch. »Mein Großonkel Yohei hat mich für ein Jahr als Austauschstudent an die Universität von Pennsylvania geschickt.«

Er lachte vergnügt und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Chiyo. »Schön, sollen wir jetzt zum Haus zurückfahren? Es gibt heute schon früh Abendessen. Großvater will sich anscheinend hinterher über irgendwas mit dir unterhalten.« Obwohl Yohei Wada nur Takuos Onkel war, nannte er ihn – wie auch der Rest der Familie – schlicht Großvater.

Während er sich umdrehte und den Motor anließ, preßte Chiyo die Lippen zusammen und blickte auf den Boden.

Takuo legte den Rückwärtsgang ein und raste mit beträchtlichem Tempo und Selbstvertrauen den Berg hinauf. Zur selben Zeit registrierte Jane einen bekümmerten Ausdruck auf Chiyos Gesicht, der in eigenartigem Gegensatz zu Takuos unbeschwertem Tonfall stand.

Jane hatte sich fast ein Jahr lang zweimal die Woche mit Chiyo getroffen, doch sie hatten kaum ein Wort über ihrer beider Privatleben verloren. Jane wußte lediglich, daß Chiyos Großonkel sie zur baldigen Heirat drängte, und er hatte durchblicken lassen, daß ihm ein Kandidat aus dem Familienkreis mit Abstand am liebsten wäre. Sie fragte sich plötzlich, ob Takuo wohl ein potentieller Ehemann für Chiyo war.

Jeder hat Chiyo gern, dachte sie, aber manchmal weiß ich wirklich nicht, ob sie nicht die einsamste von allen ist.

Takuo setzte sein wildes Rückwärtsfahrmanöver über die glatte, verschneite Straße mit halsbrecherischer Geschwindigkeit fort. Er hielt erst an, als sie das gigantische, weit offen stehende Eisentor vor dem Villengrundstück erreicht hatten. Am oberen Teil des steinernen Torpfostens hing ein Messingschild mit der Aufschrift »Wada«. Das riesige, elegant geschwungene große W reflektierte den Schein der Rücklichter.

Kaum hatten sie das Tor hinter sich gelassen, steuerte Takuo den Wagen mit allergrößter Vorsicht auf den freien Platz vor dem Haus und stellte den Motor ab. Es standen bereits zwei andere Wagen dort, deren Dächer sich durch den Schnee langsam weiß färbten.

Jane hatte damit gerechnet, daß die Villa des Präsidenten der Wada-Arzneimittel luxuriös sein würde, aber die unglaubliche Pracht des Anwesens brachte sie nun doch aus der Fassung. Das Grundstück war riesig. Wie auch die übrigen Behausungen in diesem exklusiven Viertel, war das Gebäude von Rasen und Baumgruppen umgeben. Die zweistöckige Villa hatte weiße Außenmauern mit kleinen Fenstern und einem dunklen Schieferdach, wie man es in Nordeuropa fand. Von ihrem Standort aus betrachtet, überspannte das Dach die robusten Fachwerkmauern wie ein Trapez. In beiden Stockwerken gab es Balkone, die Erkerfenster im ersten Stock nahmen die trapezförmigen Umrisse des Daches wieder auf. Die eisernen Balkongeländer verliehen dem Haus eine vage mittelalterliche Note. Im Zentrum des Daches, zwischen zwei Blitzableitern, brannte eine blaue, sternförmige Lampe; der bläuliche Lichtschein verstärkte die überwältigende Eleganz des Hauses noch. Es war inzwischen dunkel geworden, die Schneeflocken tanzten wie besessen unter dem verhangenen Himmel. Die Szenerie wirkte ausgesprochen unwirklich und geheimnisvoll, ganz so, wie man es sich bei einem abgelegenen Haus in den Bergen vorstellte.

»Mein Gott, ist das schön«, flüsterte Jane ergriffen.

»Morgen früh können wir einen ausgiebigen Spaziergang machen, dann zeige ich dir alles. Warum gehen wir nicht erst einmal rein?« fragte Chiyo und nahm Janes Hand.

Takuo nahm Janes Reisetasche. »Ich trag’ das für Sie.«

Sie gingen an einem der Erdgeschoßbalkone vorbei und stiegen dann eine steinerne Treppenflucht zur Eingangstür des L-förmigen Gebäudes hinauf. Obwohl die Tür aus massivem, geschnitztem Holz bestand, wirkte sie neben dem Prunk überraschend schlicht und nichtssagend. Vielleicht sollte dadurch noch ein Funken Landhausstil erhalten bleiben, mutmaßte Jane.

In der Eingangshalle wurde sie von Chiyos Mutter, Kazue Wada, begrüßt. Jane war ihr schon unzählige Male bei ihren Besuchen in Chiyos Haus in Tokio begegnet, aber diesmal sah sie sogar noch eleganter aus als sonst. Sie hatte das Haar wie immer zu der förmlichen Hochfrisur aufgesteckt, die Jane jedesmal an Marie Antoinette erinnerte. Kazue war eine stolze, kultivierte Frau, ohne dabei auch nur eine Spur arrogant zu wirken.

Sie war Yohei Wadas Nichte, Mitte Vierzig und hatte wirklich einen bemerkenswerten Charakter. Sie liebte Chiyo, ihr einziges Kind, von ganzem Herzen und überschüttete auch ihren Mann mit Zuneigung. Jane hielt sie für eine selbstaufopfernde Frau, die ihre Familie über alles stellte.

»Da sind Sie ja endlich, Miss Prescott. So kommen Sie doch rein, Sie müssen ja ganz durchgefroren sein. Chiyo hat uns erst im letzten Moment über Ihr Kommen informiert, aber nun, da Sie einmal hier sind, werden Sie hoffentlich eine Weile bleiben.« Sie raffte mit einer Hand den Rock ihres langen Abendkleids zusammen und stellte ein Paar Hausschuhe vor Jane auf den Boden.

Jane wurde ins Wohnzimmer geführt, das auf der linken Seite der Halle lag. Kazue stellte ihr ihren Mann Sawahiko vor, der allerdings nicht Chiyos Vater war. Chiyo stammte aus Kazues zweiter Ehe, der ein Flugzeugabsturz ihres damaligen Gatten ein jähes Ende gemacht hatte. Nach seinem Tod waren Kazue und Chiyo vorläufig in den Schoß der Familie zurückgekehrt, bis sie dann später ihren dritten Mann, Sawahiko, kennenlernte.

Er hatte es sich neben dem Kamin des geräumigen Wohnzimmers bequem gemacht und stand nun widerstrebend auf, als er sie hereinkommen sah. Sawahiko war ein leicht übergewichtiger, mittelgroßer Mann, der anscheinend gern ausgebeulte Strickjacken trug. Jane war ihm bereits zwei-, dreimal begegnet.

»Schön, Sie zu sehen«, war die ganze Begrüßung, die er auf seine typisch bedächtige Art vorbrachte. Er war einige Jahre jünger als Kazue, etwa Anfang Vierzig.

»Chiyo meinte, sie könnte den Termin für die Diplomarbeit nicht ohne Hilfe einhalten, also habe ich Jane zu uns eingeladen. Sie ist extra aus Tokio hergekommen«, erklärte Kazue.

»Jaja. Schön, Sie zu sehen«, wiederholte er.

Seine Augen standen eng beieinander, seine Nase ragte wie ein riesiger Schnabel aus seinem langen Gesicht. Sawahiko, Biologieprofessor an einer privaten Universität in der Nähe von Tokio, tendierte zu konservativen Ansichten und machte einen ausgesprochen soliden und rechtschaffenen Eindruck. Seine Haare waren stets säuberlich gekämmt und zeigten lediglich an den Schläfen einen leicht grauen Schimmer. Seine Gesichtszüge ließen auf einen umgänglichen und sanften Menschen schließen, doch im Moment gelang es ihm trotz seines Lächelns nicht, seinen Verdruß vollkommen zu verbergen. Es stieß ihn zweifelsohne vor den Kopf, daß ein Außenseiter an einem privaten Familientreffen teilnahm.

»Vater ist zu Hause immer ziemlich einsilbig, manchmal sogar regelrecht griesgrämig, aber er kann mir einfach keine Bitte abschlagen«, hatte Chiyo Jane einmal anvertraut. »Jedesmal wenn er wegfährt, weil er eine Rede halten muß oder was auch immer, bringt er Mutter und mir Geschenke mit.«

Jane hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und bemerkt: »Klingt ganz nach dem typischen, wortkargen Gelehrten; viele Professoren sind so. Manchmal entpuppen sich gerade die Leute, die wenig reden, als sehr warmherzig und mitfühlend.«

»Da hast du wohl recht, aber es ist trotzdem viel netter, wenn die Leute ein bißchen geselliger sind. Vater scheint sich für nichts anderes zu interessieren als für seine Forschungsprojekte.« Damit war das Thema für Chiyo erledigt gewesen.

»Wir haben dir oben ein Zimmer fertig gemacht«, verkündete sie jetzt und ging zu der mit einem Läufer bespannten Treppe voraus. Jane wollte nicht, daß Takuo ihr Gepäck schleppte, also griff sie hastig nach der Reisetasche und heftete sich an Chiyos Fersen. Auf dem Absatz auf halber Höhe der Treppe blieb sie stehen. Da, fein säuberlich umrahmt von einem rechteckigen Fensterstock, thronte der Fujiyama. Sein weißer Kegel hob sich dramatisch gegen das Tintenschwarz des Winterhimmels ab, die unteren Hänge lagen hinter trist anmutenden Wäldern verborgen, deren kahlgefegte Bäume mit weißem Schnee bestäubt waren. Das Fenster wirkte wie ein Bilderrahmen, so daß der Gesamteindruck eines traditionellen japanischen Gemäldes entstand.

»Fast alle Häuser in Asahigaoka sind so gebaut, daß sie nach Südwesten zeigen, denn da liegt der Fujiyama«, erläuterte Chiyo.

»Der Sonnenuntergang über San Diego Bay ist ein phantastischer Anblick, also hat man sämtliche Hotels so hingestellt, daß die Frontseiten nach Westen gehen. Ein und dasselbe Phänomen, meinst du nicht?«

Jane wandte sich vom Fenster ab und wollte gerade weitergehen, da entfuhr ihr ein unfreiwilliger Überraschungsschrei. Ein großer Mann in schwarzem Stehkragenpullover und grauer Flanellhose kam ihnen von oben entgegen. Er hatte buschige Augenbrauen und einen dunklen, großporigen Teint. Als sich ihre Blicke trafen, blieb auch er verblüfft stehen.

»Dr. Shohei Mazaki, Professor für Chirurgie an der Uniklinik und Leibarzt meines Großonkels.« Chiyos Stimme klang wesentlich unbekümmerter und lebhafter als bei Janes Bekanntmachung mit Takuo.

»So trifft man sich wieder«, bemerkte Shohei lächelnd.

»Ich fürchte, ich war nicht besonders freundlich zu Ihnen.«

»Ja, kennt ihr euch denn?« erkundigte sich Chiyo erstaunt.

»Wir sind uns heute nachmittag vor dem Bahnhof von Gotemba über den Weg gelaufen, als ich kurz angehalten habe, um nach dem Weg zu fragen«, sagte Shohei; sein Lächeln war verschwunden.

»Was für ein Zufall.« Er hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, und Chiyo schaute ihm verdutzt nach.

Als sie schließlich im ersten Stock angekommen waren, öffnete Chiyo die erste Tür auf der linken Seite und machte Licht. In der Nähe des Fensters standen ein Bett und ein Schreibtisch, zur Tür hin befanden sich das Bad und eine Frisierkommode. Jane trat ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Ihr Blick fiel auf den Rasen vor dem Haus, wo sie den Wagen geparkt hatten, und sie sah den anderen Flügel des Gebäudes, in dem das Wohnzimmer lag. Durch die geöffneten Vorhänge drang ein warmer Lichtschein in den verschneiten Garten.

»Da drüben ist das Eßzimmer. Wir essen heute schon früh zu Abend, so gegen fünf. Ruh dich erst einmal aus, du kannst dich ja dann später zu uns setzen.«

Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet Jane, daß es bereits zehn nach vier war.

»Wir essen ausnahmsweise so früh, weil der Chefbuchhalter und die beiden Hausmädchen heute noch nach Tokio zurückfahren und es bei diesem Schneegestöber bestimmt besser ist, wenn sie nicht so spät hier wegkommen.«

»Das leuchtet mir ein. Wir können uns dann gleich nach dem Abendessen in die Arbeit stürzen.«

Obwohl Chiyo und die übrigen Familienmitglieder eine ganze Weile hierbleiben würden, hielt Jane es für das Beste, die Diplomarbeit bald zu korrigieren und so schnell wie möglich wieder zu verschwinden.

»Einverstanden – und noch mal vielen Dank fürs Kommen«, sagte Chiyo mit seligem Lächeln.

Während sie hinausging und die Tür hinter sich zuzog, spürte Jane den plötzlichen Impuls, sie etwas zu fragen. Sie hätte zu gern gewußt, wie Chiyo und dieser Dr. Mazaki zueinander standen, beherrschte sich jedoch und ließ die Frage unausgesprochen. Jane konnte nicht genau sagen, ob der Blick, den Chiyo Mazaki vorhin auf der Treppe nachgeworfen hatte, Hoffnung oder Enttäuschung ausgedrückt hatte, aber er hatte mit Sicherheit vielschichtige und tiefe Gefühle offenbart. Dieser eigenartige Dr. Mazaki interessierte sie immer brennender.

Jane saß eine Zeitlang auf dem Bett und dachte nach.

Die stille Abgeschiedenheit hinter dem Seeufer schien das Haus zu verschlingen. Unaufhörlich schwebten riesige, weiche Schneeflocken vor dem Fenster in die Tiefe. Für den Bruchteil einer Sekunde kam Jane der Gedanke, sie könnten eingeschneit werden, und ihr wurde ein wenig beklommen zumute.

Es sollte jedoch nicht der Schnee sein, der sie hier festhalten würde.

Jane trug Jeans und Pullover, es war also unumgänglich, sich zum Abendessen umzuziehen. Sie schlüpfte in ein grünes Wollkleid und suchte dazu passende Ohrringe und eine Halskette aus. Jane hatte ein offenes, jungenhaftes Gesicht und kurzes, naturkrauses Haar; im Grunde mochte sie Ohrringe nicht, denn sie sah damit immer aufgedonnert aus.

Als Jane das Eßzimmer betrat, bot sich ihrem Blick ein strahlend hell funkelnder Kronleuchter, unter dem gerade die Tafel gedeckt wurde, und eine Gruppe von drei oder vier Männern, die herumstanden und dabei zusahen. Auf der makellos weißen Tischdecke wurden Gedecke für neun Personen und riesige Platten mit verschiedenartigsten Leckerbissen angeordnet. Bei näherer Betrachtung entdeckte sie spezielle kalte Gerichte, die auf japanischen Neujahrsfeiern obligatorisch waren, sowie diverse Vorspeisen wie Escargots, Lachs und rohe Austern. Außerdem stand marinierter Süßwasserstint bereit, der ohne Zweifel aus dem See stammte. Zwei Hausmädchen stellten eine große, dampfende, silberne Terrine auf die lange Anrichte und deponierten einen Stapel Schälchen daneben, in denen ihr geheimnisvoller Inhalt offenbar serviert werden sollte. Die beiden Frauen eilten mehrmals in die Küche und wieder zurück, und binnen kurzem war auf der Anrichte kein freier Fleck mehr zu sehen.

»Verzeihen Sie, aber…« Ein älterer Herr in kariertem Sportsakko war zu Jane an die Falttüren des Eßzimmers getreten. »…sind Sie Jane Prescott, die junge Dame, die freundlicherweise hierhergekommen ist, um Chiyo zu helfen?« Er hatte sich lichtendes, fast weißes Haar, das er streng zurückgekämmt trug, und einen dazu passenden, dünnen weißen Schnurrbart. Sowohl in seinen Augen als auch auf seinen Lippen lag ein Lächeln.

»Ja«, bestätigte Jane auf japanisch und lächelte ebenfalls.

»Ich bin Shigeru Wada, Yoheis jüngster Bruder und somit Chiyos jüngster Großonkel.«

»Jane Prescott. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Es ist wirklich ganz reizend von Ihnen, hier rauszukommen und Chiyo zu helfen. Sie haben Neujahr doch sicher selbst alle Hände voll zu tun.«

Shigeru kam einen Schritt näher, so daß Jane der Duft seines teuren Rasierwassers in die Nase stieg. Für eine Amerikanerin war sie durchschnittlich groß, und er überragte sie leicht um einen halben Kopf. Selbst ohne Schuhe mußte der Mann mindestens einsachtzig sein – für japanische Maßstäbe ein wahrer Riese. Er war schätzungsweise um die Sechzig und strahlte eine gewisse Kultiviertheit und Weltgewandtheit aus, die Jane an David Niven erinnerte. Nichtsdestotrotz machte er auf sie einen irgendwie verkrampften und opportunistischen Eindruck.

»Hoffentlich störe ich nicht.«

»Ganz und gar nicht. Wir freuen uns, eine so hübsche junge Dame wie Sie bei uns zu haben. Woher genau stammen Sie, Miss Prescott?«

»Bitte nennen Sie mich doch Jane.«

»Einverstanden, Jane, wo lebt Ihre Familie? Wenn ich raten darf, würde ich sagen, Sie kommen aus einer kleinen Universitätsstadt, die von riesigen Bauernhöfen umgeben ist.«

Janes rehbraune Augen leuchteten auf, als sie an ihre Heimat dachte. »Ich bin in San Diego geboren, aber dann sind meine Eltern nach Eugene, Oregon, gezogen, als ich auf der Oberschule war.«

»Ist es nicht ziemlich ungewöhnlich für ein hübsches, amerikanisches Mädchen wie Sie, sich für japanische Literatur zu interessieren und hierherzukommen, um zu studieren?«

»Kann schon sein. Soviel ich weiß, gibt es in Japan ungefähr siebentausend Auslandsstudenten, wovon, glaube ich, zehn Prozent Amerikaner sind, aber die meisten studieren Naturwissenschaften oder Wirtschaftswissenschaft. Nur sehr wenige beschäftigen sich mit der japanischen Kultur.«

»Wie ist denn dieses Interesse bei Ihnen entstanden?«

»Oh, das lag wohl an meinem Vater. Er war bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Marine und während der Kriegsjahre ziemlich lange in Japan stationiert. Nach seiner Rückkehr nach San Diego hatte er engen Kontakt zu einer japanischen Frau, die einen Soldaten geheiratet hatte, und nach der Pensionierung arbeitete er bei einer Firma, die Holzprodukte herstellte und einen Großteil ihrer Erzeugnisse nach Japan exportierte. Japan hat starken Eindruck auf meinen Vater gemacht; es kommt mir so vor, als hätte ich schon von Japan gehört, als ich noch in den Windeln lag.«

»Aha. Dann sind wir Ihrem Vater eine Menge schuldig, denn schließlich haben wir es ihm zu verdanken, daß wir Sie heute als Gast begrüßen können. Sie haben sich also einfach entschlossen, nach Japan zu gehen, sind auf und davon und haben Ihre Familie und Ihre Liebhaber kurzerhand zurückgelassen?«

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Wollen Sie wissen, ob ich einen Freund oder einen Verlobten oder so was habe?«

»Haben Sie?«

Jane sah keinen Grund, dieser Frage auszuweichen, und erwiderte: »Nein. Zur Zeit gibt es niemanden.«

Der alte Bohemien legte den Kopf schief und betrachtete sie eine Weile, dann meinte er: »Etwas an Ihnen, vielleicht die Art, wie Sie reden, sagt mir, daß Sie eine sehr leidenschaftliche Person sind. Ich kann einfach nicht glauben, daß Sie nicht einige Liebhaber haben.«

Jane dachte an den blauen Himmel über Eugene und den wunderschönen Campus der Universität. Sie hatte während der Studienzeit eine Menge Freunde gehabt, von denen sie manche sogar hatten heiraten wollen, aber sie war einfach noch nicht dazu bereit gewesen, zu heiraten und seßhaft zu werden. Sie hatte vielmehr das Gefühl gehabt, sie müßte unbedingt noch eine Zeit allein über ihr Leben bestimmen können. Sie war immer noch auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem im Leben, und auch wenn sie nicht genau wußte, was es war, wollte sie auf keinen Fall heiraten und die Suche aufgeben.

Sie drehte sich Shigeru Wada zu und lächelte ihn gelassen an. »Sie sprechen da gleich von mehreren Liebhabern, aber ich kann Ihnen versichern, das ist nicht mein Stil.«

Shigeru nickte, doch zur selben Zeit schlich sich ein resignierter Ausdruck in den Blick, mit dem er Jane musterte. Er hatte ohne Frage im Lauf seines Lebens eine Menge intime Beziehungen gepflegt und war äußerst geschickt darin, die Gefühle anderer Leute zu ergründen – diesen Eindruck vermittelte er Jane zumindest.

Plötzlich erhellte ein sonderbares Lächeln Shigerus Gesicht. Er sagte in vertraulichem Tonfall: »Es wäre wahrscheinlich klüger, wenn Sie hier nicht bekannt werden ließen, daß Sie weder einen Ehemann noch einen Liebhaber haben.«

»Was in aller Welt soll das jetzt wieder heißen?«

»Nun ja, die Männer in der Familie Wada – und zwar ohne Ausnahme – haben einen beträchtlichen Ruf als Schürzenjäger. Frei heraus gesagt: Wir sind alle Wüstlinge. Es scheint beinahe so eine Art unglückseliger erblicher Wesenszug innerhalb der Familie zu sein. Das wirklich Seltsame daran aber ist, daß diese Eigenschaft hochgradig ansteckend ist. Sogar Männer, die in die Familie einheiraten, entwickeln diese Eigenart nach gewisser Zeit. Nehmen Sie sich also in acht – Sie sind hier sozusagen ein Lamm inmitten eines Rudels hungriger Wölfe. Ah, sehen Sie nur, da kommt noch so ein armes Lämmchen.« Er deutete auf Chiyo, die soeben das Eßzimmer betrat, doch Janes Aufmerksamkeit konzentrierte sich voll und ganz auf das Paar an ihrer Seite. Sie wußte sofort, daß es sich um Yohei Wada und seine Frau Mine handeln mußte.

Chiyo stand rechts von Yohei, Mine dicht neben ihm links.

Yohei Wada hatte starke Ähnlichkeit mit Shigeru, was die schlanke, elegante Gestalt und das schlohweiße Haar betraf; nur hatte Yohei keinen Schnurrbart. Mine war eine zierliche, in ein blaßviolettes Kleid gehüllte Erscheinung. Sie hatte ein schmales, ovales Gesicht und gelocktes, silbriges Haar. Die Symmetrie ihres Gesichts war irgendwie eigenartig, und die von unzähligen Fältchen durchzogene, graue Haut verstärkte den seltsamen Eindruck noch. Ihre Züge erinnerten Jane an eine Babypuppe mit Dutt.

Chiyo winkte Jane zu sich. Als diese bei der Dreiergruppe ankam, sagte Chiyo mit ihrer sanften Stimme: »Mein Großonkel und meine Großtante. Und das«, sie wandte sich zu Jane um, »ist meine Lehrerin, Jane Prescott.«

Jane registrierte, daß Yohei Wada die gleichen sichelförmigen Augen hatte wie Shigeru, zudem fiel ihr auf, wie dreist er ebendiese Augen benutzte, um sie sorgfältig zu mustern. Auch sie sah ihn sich genauestens an. Soweit sie sich erinnerte, hatte Chiyo ihr einmal erzählt, er wäre sechsundsechzig. Seine Gesichtsfarbe und die Beschaffenheit seiner Haut entsprachen eher einem Mann in den besten Jahren, aber das schneeweiße Haar und die würdevolle Ausstrahlung waren seinem tatsächlichen Alter angemessen. Der Schnitt seiner Nase und die Form seiner Lippen hatten einen besonderen Reiz. Alles in allem wirkte er auf Jane wie ein kultivierter, älterer Gentleman. Obwohl eine frappierende Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Bruder Shigeru bestand, ging von Yohei eine bestimmte Wachheit aus, die vermuten ließ, daß er noch aktiv am Geschäftsleben teilnahm.

»Sie sind also die junge Dame, von der Chiyo uns schon so viel erzählt hat«, stellte Yohei trocken fest und sah ihr dabei direkt in die Augen. Ein Schaudern durchlief Jane, während er ihren Blick festhielt. Einen Unterschied gibt es zwischen ihm und seinem Bruder, dachte sie, und zwar eine seltsame, gnadenlose Eindringlichkeit und das lüsterne Glitzern in seinen Augen.

»Wie reizend, Sie kennenzulernen, meine Liebe«, säuselte Frau Wada mit hoher Stimme. »Bitte setzen Sie sich doch.«

Daraufhin nahmen alle, auch die Männer, die schon von Anfang an in dem Zimmer gewesen waren, ihren Platz an der Tafel ein. Yohei saß auf der einen Seite, flankiert von Mine und Chiyo, neben der Shigeru Platz genommen hatte, auf der anderen befanden sich Sawahiko, Kazue, Shohei, Jane und Takuo.

Die Stimmung während des Essens war weit weniger steif, als Jane erwartet hatte. Chiyo trug ein bauschiges, cremefarbenes Kleid, die Männer waren in allen erdenklichen Stilrichtungen gekleidet, angefangen beim konservativen Anzug bis hin zu Pullovern und bequemen Hosen.

Yohei bediente sich als erster, dann folgten die andern seinem Beispiel und nahmen sich, wonach ihnen gerade der Sinn stand. Eins der Mädchen begann die Suppe in die Schälchen zu füllen, während Chiyo und Kazue aufstanden, um ihr die dampfende Last abzunehmen. Als alle versorgt waren, sagte Mine: »Wir kommen jetzt zurecht. Sie können sich für die Abreise fertig machen.«

Auf dem Weg hinaus begegneten die Dienstmädchen dem Chefbuchhalter, der gekommen war, um sich zu verabschieden; er hatte offenbar bereits gegessen.

Das Klappern der Bestecke wurde von gelegentlichem Gemurmel und hin und wieder aufflackerndem, gedämpftem Gelächter begleitet. Alle wirkten vollkommen entspannt, die Atmosphäre war heiter und gelöst.

Wenig später ertönte das Geräusch eines Motors – der Chefbuchhalter und die beiden Hausmädchen brachen auf. Danach drang kein Laut aus der Außenwelt mehr zu ihnen durch. Dunkelheit umhüllte das Haus, während ohne Unterlaß große, fedrige Schneeflocken vom Himmel schwebten und sich auf dem Boden auftürmten.

Neun Personen waren in der Villa am Ufer des Sees versammelt. Eine davon sollte bald tot sein.

Mord am Fujiyama

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