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Vorhang auf für einen Schneesturm
ОглавлениеDas frühe Abendessen dauerte bis kurz nach sechs. Wein, Sherry und diverse andere alkoholische Getränke hatten die Zungen gelöst, die Stimmung am Tisch wurde ausgelassener.
Yohei gab ulkige Geschichten aus seinem Golfklub zum besten und erzählte von einem geplanten Trip ins Ausland, die anderen waren mit ähnlichen Themen beschäftigt. Nur Sawahiko und Shohei blieben ziemlich still, wirkten aber nicht abweisend. Kazue schaufelte ihrem Mann hin und wieder etwas zu essen auf seinen Teller, lehnte sich dabei zu ihm vor und flüsterte ihm etwas Nettes ins Ohr. In diesen Momenten wurden ihre Liebe und ihre zärtlichen Gefühle für Sawahiko besonders deutlich.
Nach dem Mahl begaben sich die Männer samt ihren Drinks ins Wohnzimmer. Yohei zog sich wenig später in sein Zimmer zurück, und auch der Rest der männlichen Familienmitglieder verschwand, um zu baden, zu telefonieren oder anderen Pflichten nachzugehen. Das Aufräumen wurde den Frauen überlassen, doch da in der Küche eine Geschirrspülmaschine stand, war es keine große Sache. Mine, Kazue und Chiyo stellten das Geschirr hinein, und auch Jane wollte helfen, aber Kazue lehnte das Angebot mit den Worten ab: »Sie und Chiyo sollten lieber so schnell wie möglich mit Ihrer Arbeit anfangen.«
Der Ansicht war auch Mine. »Wir werden das hier schon schaffen«, sagte sie, und schon wurden die beiden aus der Küche vertrieben.
Chiyo führte Jane in ihr Zimmer im ersten Stock. Es war der zweite Raum auf der linken Seite und grenzte direkt an Janes. Die Einrichtung war vollkommen identisch, nur lagen auf dem Schreibtisch neben dem Fenster ein Riesenstapel Lexika und ein wüstes Durcheinander von Schmierzetteln.
Chiyo hatte die Rohfassung ihrer Arbeit auf achtzig Seiten Notizblockpapier festgehalten und bislang etwa die Hälfte des Manuskripts überarbeitet.
»Du siehst dir am besten erst mal den Teil an, den ich schon korrigiert habe. Mach am Rand neben den Fehlern einfach einen Strich, ich werde es dann später verbessern.«
»Eine gute Idee – dann also ran an den Feind.«
Jane war ursprünglich nur als Nachhilfelehrerin für gesprochenes Englisch engagiert worden und hatte einige Zweifel, ob sie imstande sein würde, eine Diplomarbeit zu korrigieren. Für solche Überlegungen war es jetzt allerdings zu spät.
»Ähm – außerdem wäre es mir lieber, du würdest es in deinem Zimmer tun«, fügte Chiyo verlegen hinzu. »Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, wenn jemand dabei ist.«
Jane fand den Wunsch ganz vernünftig und zog sich mit den etwa vierzig Seiten in ihr eigenes Reich zurück.
Die Vorhänge standen noch offen, und als Jane einen Blick aus dem Fenster warf, sah sie, daß es aufgehört hatte zu schneien. Die Bäume im Vorgarten waren ohnehin längst mit einer dicken Schneeschicht bedeckt.
Sie machte sich an die Arbeit. Chiyos Schrift war sauber und sehr leserlich, ihr Stil jedoch ein wenig gestelzt. Die Sätze neigten zur Überlänge, und es bedurfte einer großen Portion Konzentration, den Kern von Chiyos Worten zu erfassen.
Im Haus war es mucksmäuschenstill. Nur ganz selten waren von unten gedämpfte Stimmen oder das Klopfen an eine Tür zu hören. Die Fachwerkkonstruktion des Hauses und die dicken Teppiche sorgten dafür, daß nahezu jeder Laut verschluckt wurde.
Nach zweieinhalb Stunden völliger Versunkenheit in die Diplomarbeit wurden Janes Augen allmählich müde. Sie überlegte gerade, ob sie nicht eine kleine Pause einlegen sollte, als jemand an ihre Tür klopfte. In der Meinung, es handle sich um Chiyo, machte Jane auf und sah zu ihrer Überraschung Kazue vor sich stehen.
»Wir haben Tee gekocht. Wollen Sie nicht ein bißchen abschalten und uns Gesellschaft leisten?«
»Das kommt mir wie gerufen. Was ist mit Chiyo?«
»Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr.«
»In Ordnung, ich komme gleich.« Jane wollte die Seite erst noch zu Ende korrigieren.
Als sie runterkam, war die Ziehharmonikatür des Wohnzimmers fast, die Tür zum Eßzimmer auf der gegenüberliegenden Seite ganz geschlossen. Obwohl die Villa mit einer Zentralheizung ausgestattet war, galt es bei den Wadas vernünftigerweise als unwirtschaftlich, die Türen der über Nacht nicht benutzten Räume offenstehen zu lassen.
Ein wenig unsicher betrat Jane das Wohnzimmer. Der große Raum war mit einem wermutfarbenen Teppich ausgelegt. Sechs oder sieben Leute saßen auf den Sofas und Sesseln um den Kamin herum.
»Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns«, rief Kazue.
Im Wohnzimmer war es wesentlich wärmer als in der Halle, was zweifellos an dem prasselnden Feuer im Kamin lag. Als Jane jedoch näher kam, stellte sie fest, daß es sich gar nicht um einen echten Kamin mit brennenden Holzscheiten, sondern vielmehr um ein enorm großes elektrisches Heizgerät handelte. Auf dem Sims stand eine Uhr mit kleinen Keramikfigürchen, die sich im Stundentakt drehten; laut dieser Uhr war es gerade zehn Minuten nach neun.
»Nehmen Sie doch Platz«, wiederholte Kazue und erhob sich. Sie stellte die für Jane bestimmte Teetasse in ihrer Nähe ab, während Mine kleine Teller mit Käsekuchen verteilte. Sawahiko, Shigeru, Shohei und Takuo saßen an einem niedrigen, ovalen Kaffeetischchen; nur Chiyo fehlte noch.
»Wie geht’s mit der Diplomarbeit voran?« ertönte Sawahikos Stimme aus den Tiefen eines der Ohrensessel.
»Ich habe erst einen Teil davon zu Gesicht bekommen, aber ich denke, sie wird ganz ordentlich.«
»Na großartig, das freut mich.« Sawahikos sanfte Augen schauten sie freundlich an.
»Ich frag’ mich langsam, wo Chiyo so lange bleibt«, bemerkte Takuo und rückte seine Brille mit dem Zeigefinger auf der Nase zurecht.
»Als ich sie vor ein paar Minuten holen wollte, war sie nicht in ihrem Zimmer«, erwiderte Kazue. »Sie hatte heute abend irgendwas mit Großvater zu bereden, vielleicht ist sie noch bei ihm. Jedenfalls habe ich aus seinem Zimmer Stimmen gehört.« Sie schenkte sich Tee nach und warf einen Blick in Richtung Halle.
»So wird’s wohl sein, Großvater ist ja auch nicht hier«, meinte Takuo.
Kazue stellte ihre Tasse ab. »Ich werd’ mal nach ihr sehen. Vielleicht hat Großvater auch noch Lust runterzukommen.« Sie stand auf und eilte hinaus.
Yoheis Zimmer lag am äußersten Ende des Flurs, der jenseits des Eßzimmers in den Ostflügel führte. Kazue lief durch die schwach erleuchtete Halle und verschwand. Zwei oder drei Minuten verstrichen, dann hörten sie das Geräusch einer zufallenden Tür, gefolgt von einem Entsetzensschrei. »Großer Gott, Chiyo! Warum hast du das getan? Warum?«
Während man im Wohnzimmer noch ratlose Blicke wechselte, kamen die beiden Frauen zusammen in die Halle gerannt. Chiyo stolperte und brach hysterisch schluchzend auf dem Fußboden zusammen. Kazue trommelte mit den Fäusten auf den Rücken ihrer Tochter und wiederholte: »Warum hast du das nur getan, Chiyo?«
Jetzt stürzten auch die anderen sechs aus dem Wohnzimmer und liefen in die Halle, irgendwer machte Licht. Überall war Blut – auf dem Boden, an den Ärmeln von Chiyos cremefarbenem Kleid… Shohei schob Kazue zur Seite und ergriff Chiyos Handgelenke. »O mein Gott! Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Schnell! Jemand muß mir meine Tasche bringen, sie steht in meinem Zimmer.«
»Wir haben doch einen Erste-Hilfe-Kasten…« Kazue rannte in die Küche. Shohei hatte unterdessen ein Taschentuch hervorgeholt und preßte es fest gegen Chiyos linkes Handgelenk. »Der Schnitt ist nicht sehr tief, das müßte vorerst reichen.« Es war unklar, ob seine Worte Chiyo oder den andern galten. Als Kazue mit dem Erste-Hilfe-Kasten erschien, träufelte er mit der Geschicklichkeit und Umsicht eines erfahrenen Arztes Desinfektionsmittel auf die Wunde und verband sie. Obwohl die Verletzung im Grunde harmlos war und nicht sehr stark geblutet hatte, waren Kragen und Bruststück von Chiyos Kleid dunkelrot.
Chiyo ließ die Prozedur widerspruchslos über sich ergehen. Sie saß da wie erstarrt und zitterte am ganzen Körper –wie ein Kind, das kurz vor einem Schüttelkrampf steht.
»Chiyo.« Sawahiko kniete sich neben sie; seine Stimme war ruhig und mitfühlend. »Was ist passiert? Versuche, dich zusammenzureißen, und sag uns, was passiert ist.«
Nach einer Weile begann sie vor sich hin zu flüstern, doch außer »Großvater… Großvater…« war nichts zu verstehen, der Rest ging in Schluchzen unter. So ging es eine Zeitlang, bis sie schließlich verstummte und tief Luft holte. Dann sagte sie mit einer Stimme, die vor Verzweiflung ganz heiser war: »Ich hab’ Großvater erstochen!«
Sie brach wieder in Tränen aus und krümmte sich gequält. Einen Moment waren alle wie betäubt, nahmen nicht einmal mehr ihr Schluchzen wahr, als hätten sie Chiyos Bekenntnis zwar gehört, die volle Bedeutung jedoch noch nicht erfaßt.
Chiyos Worte brannten sich unauslöschlich in Janes Gedächtnis ein; sie war absolut sicher, den Klang dieser Stimme nie wieder vergessen zu können. Heiser, fast unmenschlich – wie die einer anderen Person. So schrecklich das Ganze auch war, Jane spürte intuitiv, daß es nur den Auftakt zu einer weitaus schlimmeren Tragödie darstellte.
»So ein Schwachsinn! Was soll das heißen? Weshalb solltest du Großvater umbringen?« lachte Takuo ungläubig auf, als handle es sich lediglich um eine Art schlechten Scherz, doch bald schon erstarb ihm das Lachen auf den Lippen.
Shohei war der einzige, der einen kühlen Kopf behielt und zum Handeln fähig war. Er übergab Chiyo der Obhut ihrer Mutter, überließ es ihr, das Mädchen zu beruhigen, und stand rasch auf.
Dann lief er, gefolgt von den übrigen Männern, auf die sperrangelweit offenstehende Tür zu, durch die Chiyo und Kazue vor wenigen Minuten in die Halle gestürzt waren. Als nächste setzte sich Mine in Bewegung, die bisher kein einziges Wort von sich gegeben hatte, und schließlich hatte sich auch Jane wieder so weit gefaßt, daß sie fähig war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie heftete sich an die Fersen der älteren Frau. Jeder vermied automatisch, in die Blutflecken auf dem Korridor zu treten.
Auf der linken Seite befanden sich zwei Türen, beide geschlossen. Die hintere führte zu Yoheis Zimmer. Shohei machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen, ehe er die Tür aufstieß. Eine Stehlampe sorgte für helles Licht. An der Stirnseite des rechteckigen Raums stand ein Bett, davor lag Yoheis zusammengekrümmter Körper. Er war mit einem dünnen Bademantel bekleidet, sein Gesicht zeigte zur Tür. Die Vorderseite des Mantels stand offen, und sie sahen, daß er noch dasselbe Seidenhemd trug wie beim Abendessen. Aus einer Wunde in seiner Brust war Blut gesickert und zu einem dunklen Fleck auf dem hellgrauen Teppich zusammengeflossen. In der Mitte des Zimmers lag ein kleines Obstmesser. Shohei, Sawahiko, Shigeru, Takuo, Jane und Mine entrang sich fast gleichzeitig ein leises, entsetztes und ungläubiges Stöhnen.
Shohei ging neben der reglosen Gestalt auf die Knie. Er richtete den Oberkörper des alten Mannes auf und sagte: »Halten Sie durch, wir kriegen das schon wieder hin.« Yohei gab keine Antwort.
Er fühlte den Puls, prüfte die Pupillenreflexe, preßte schließlich ein Ohr an Yoheis blutverschmierte Brust, um den Herzschlag abzuhören. Dann griff er nach einer kleinen Lampe, die auf dem Nachttisch stand, und entfernte den Schirm, wobei er mit dem Fuß gegen eine Obstschale stieß, deren aus Pfirsichen und Orangen bestehender Inhalt sich daraufhin, über den Boden ergoß.
Er hielt die Lampe dicht vor Yoheis Gesicht, offenbar um sich die Augen besser ansehen zu können, doch die wächserne Blässe des Todes hatte bereits für jeden sichtbar von den Zügen des alten Mannes Besitz ergriffen; seine Lippen waren leicht geöffnet.
»Wir können nichts mehr tun«, sagte Shohei mehr zu sich selbst. »Kein Puls und keinerlei Pupillenreflexe. Jede Hilfe kommt zu spät.«
Ja, für Yohei kam jede Hilfe zu spät. Hätte er auch nur das geringste Lebenszeichen von sich gegeben, wer weiß, was sie dann getan hätten – aber das Blut hatte bereits aufgehört, aus der Wunde zu sickern, und begann schon zu gerinnen. Es war ohnehin wenig Blut geflossen. Die Wunde war etwa eineinhalb Zentimeter lang und befand sich knapp über der linken Brustwarze, außerdem wiesen die Finger beider Hände Schnittverletzungen auf. Das auf dem Boden liegende Messer war blutverschmiert, auf dem hölzernen Griff war ein roter Fingerabdruck zu sehen. Shohei und Takuo hoben die Leiche aufs Bett, zogen den Bademantel über Yoheis Brust zusammen und breiteten eine Decke über ihm aus.
Nachdem das vollbracht war, kehrten alle gemeinsam ins Wohnzimmer zurück. Unter den gegebenen Umständen bestand keine Dringlichkeit, einen Krankenwagen oder die Polizei zu rufen. Das Opfer war eindeutig tot, die Mörderin in den Armen ihrer Mutter in Sicherheit. Der Ablauf des Verbrechens lag wie in einem billigen Thriller auf der Hand, die einzige offene Frage war das Warum.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug gerade zehn, als Chiyo, die mittlerweile auf einem der Sofas vor dem Feuer lag, nach und nach mit den Einzelheiten herausrückte. »Großvater bat mich, heute abend noch zu ihm auf sein Zimmer zu kommen, als er nach dem Abendessen das Eßzimmer verließ. Er hatte mir offenbar etwas Wichtiges zu sagen«, begann sie unter Tränen und mit schwankender Stimme. Ihr vom Weinen verschwollenes Gesicht sah vollkommen verändert aus. »Ich arbeitete noch ein bißchen an meiner Diplomarbeit, hatte aber Schwierigkeiten mit der Konzentration. Ungefähr um Viertel nach acht ging ich dann zu ihm. Er schien ein wenig zuviel getrunken zu haben und war anfangs sehr gut aufgelegt.« Chiyo biß sich auf die Lippe und schwieg eine Weile. Sawahiko half ihr mit ruhiger Stimme auf die Sprünge: »Worüber wollte Großvater mit dir sprechen?«
Jane erlebte zum erstenmal, daß der sonst stets verdrossene und mißmutige Sawahiko liebevoll auf seine Tochter einredete; auch sein Blick war zärtlich und mitfühlend.
»Hauptsächlich ging es darum, daß wir uns langsam Gedanken darüber machen müßten, wen ich heiraten würde, wenn ich das Examen hinter mir habe.«
Yohei hatte das Mädchen aufgefordert, sich zu setzen, und sich selbst ganz in ihrer Nähe niedergelassen. Dann fragte, er sie ohne Umschweife, ob sie ihr Herz bereits an irgendwen verloren hätte. Als sie das verneinte, äußerte er Zweifel, ob sie auch wirklich ehrlich zu ihm war, und bestand darauf, ihm die Wahrheit zu sagen, denn sie würde ihn doch gewiß nicht hinters Licht führen wollen. Er fragte sie noch einmal, ob es jemanden gäbe, ob sie schon mal verliebt gewesen wäre, und wollte sogar wissen, ob sie noch Jungfrau war.
Das war zunächst alles, was sie Chiyos bruchstückhaftem Bericht entnehmen konnten. Nach einer kleinen Pause erzählte sie weiter. Die Augen des alten Mannes hatten einen unnatürlichen Glanz, als er sich immer wieder erkundigte, ob sie tatsächlich sexuell noch völlig unerfahren war. Er erkundigte sich, welcher Männertyp ihr besonders gefallen würde, und versicherte ihr, den richtigen für sie zu finden. Dann forderte er sie auf, sich neben ihn zu setzen, denn um den richtigen Mann für sie auftreiben zu können, müsse er alles über sie wissen, was es zu wissen gab.
Das betonte er wieder und wieder und brachte sie schließlich dazu, sich aufs Bett zu legen. Obwohl er daraufhin die Tür abschloß, wurde sie noch immer nicht mißtrauisch.
»Dann kam Großvater zum Bett, legte seine Hände auf meine Schultern und sagte: ›Du bist ganz verrückt nach deinem alten Großvater, hab’ ich recht?‹ Und dann versuchte er… er versuchte…« Chiyos Körper begann unkontrolliert zu zucken; sie schrie auf und vergrub ihr Gesicht am Busen ihrer Mutter.
Das Mädchen war nicht die einzige, deren Gesicht vom Weinen verschwollen war. Dicke Tränen rollten über Kazues Wangen, während sie Chiyo tröstete.
»Ist ja gut. Es ist vorbei. Du mußt es uns nicht erzählen. Ich werde es den anderen erklären, wenn du möchtest.« Kazue hatte die ganze Geschichte offenbar bereits erfahren, während die andern in Yoheis Zimmer gewesen waren.
Sie biß die Zähne zusammen und brachte den Bericht unter Tränen zu Ende. »Er versuchte, Chiyo zu vergewaltigen. Als sie endlich merkte, worauf er aus war, entwischte sie ihm und griff im selben Moment nach dem Obstmesser auf dem Nachttisch. Großvater hatte die Angewohnheit, vor dem Schlafengehen noch Obst zu essen, es war also nicht verwunderlich, daß es dort lag. Chiyo war zwar nicht ganz klar im Kopf, als sie das Messer nahm, aber sie hatte ganz sicher nicht die Absicht, ihn damit zu verletzen. Es war ein Unfall. Weshalb wollte er ihr das überhaupt antun…? Wie konnte er nur…?« Sie faßte sich wieder. »Chiyo hat nicht einmal versucht, ihn zu bedrohen. Sie wollte sich umbringen, falls er gewalttätig werden würde. In Wahrheit hielt sie sich die Klinge gegen den eigenen Hals. Aber Großvater war nicht mehr Herr über sich selbst und griff sie an. Es gelang ihm, das Messer mit beiden Händen zu fassen zu kriegen, sie rangen miteinander, und das nächste, woran Chiyo sich erinnert, ist, daß es plötzlich in seiner Brust steckte.«
Kazue war völlig erschöpft und lehnte ihre Wange gegen die Schulter ihrer Tochter.
»War es so, Chiyo? Stimmt es, was deine Mutter sagt?« fragte Sawahiko sanft.
»Ja… Ich kniete eine Weile neben ihm. Ich war wie betäubt und dachte auf einmal, mein Leben hätte keinen Sinn mehr. Dann hörte ich Mutter im Flur nach mir rufen. Sie wollte, daß ich mit euch allen Tee trinke. Ich beschloß, auf der Stelle Schluß zu machen, zog das Messer aus Großvaters Brust und versuchte, mir die Pulsadern aufzuschneiden, aber ich fürchte, ich hab’ mich nicht besonders geschickt angestellt. Erstens hatte ich es viel zu eilig, und außerdem klopfte Mutter genau in dem Moment an die Tür. Ich wollte sie plötzlich noch einmal sehen, bevor ich starb, machte auf und …«
Als sie ihre Mutter erblickte, stürzte Chiyo mit Riesensätzen aus dem Zimmer. Kazue warf nur einen flüchtigen Blick in den Raum und war von dem Anblick derart schockiert, daß sie die Tür zuknallte und Chiyo hinterherlief. Sie erwischte sie erst knapp vor der Halle, der Rest war den andern bekannt.
»Arme Chiyo. Wenn dein Selbstmordversuch geglückt wäre – ich wüßte nicht, was ich getan hätte. Ich hätte wahrscheinlich auch nicht weiterleben wollen. Ich möchte nur wissen, was plötzlich in diesen Mann gefahren ist.«
Kazue war Yoheis Nichte. Sie hatte ihn stark an seine verstorbene Schwester erinnert, und da er keine eigenen Kinder hatte, hatte Kazue eine Art Tochterersatz für ihn dargestellt. Sie ihrerseits war immer ungeheuer stolz auf ihn gewesen. Diese gegenseitige Zuneigung war auch Jane während des Abendessens aufgefallen. Kazue, wie alle anderen auch, hatte Yohei zeitlebens »Großvater« genannt; nun schien sie von ihm nur noch als von »diesem Manne« sprechen zu können.
Das leise Weinen der beiden Frauen verebbte langsam, und die Gruppe verfiel in bedrücktes Schweigen.
Mine brach die Grabesstille als erste. Ihre hohe Stimme wurde von heftigen Seufzern unterbrochen. »Das Ganze ist meine Schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen.«
Die andern starrten sie verblüfft an; ihr Gesicht war grauer denn je. »Ich spürte schon seit geraumer Zeit, genaugenommen seitdem Chiyo körperlich voll entwickelt ist, daß die Art, wie er sie ansah, nicht normal war. Es war falsch von mir anzunehmen, es würde nichts passieren. Ich hätte es wissen müssen, daß er zu etwas Derartigem imstande war.« Sie seufzte tief und schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang resigniert, traurig und verstört, trotzdem verlor sie nicht die Fassung. Jane studierte das puttenartige Gesicht mit den vielen winzigen Fältchen und entdeckte hinter der Maske aus Unerschütterlichkeit plötzlich eine Seele, die die Wahrheit gespürt und begriffen hatte.
»Er hatte schon immer eine Schwäche fürs weibliche Geschlecht«, murmelte Shigeru. »Mine hatte bestimmt am meisten darunter zu leiden, aber all das ist jetzt vorbei.« Jane begegnete dem Blick aus seinen sichelförmigen Augen, die Yoheis so verblüffend ähnlich waren, und stieß darin auf einen Anflug von Traurigkeit. Siehst du, schien ihr Shigerus Blick zu sagen, es stimmt, was ich dir vorhin erzählt habe. Sämtliche Männer der Familie Wada haben eine unkontrollierbare Gier nach jungen Frauen, ein unglückseliger Wesenszug, der offensichtlich erblich ist. Sie dachte an das lüsterne Glitzern in Yoheis Augen und schreckte schaudernd vor der Erinnerung daran zurück.
Wieder herrschte angespanntes Schweigen. Nachdem der erste Schock überwunden war und jeder allmählich begriff, was geschehen war, begann die ganze Tragweite des Unglücks auf ihnen zu lasten.
Sawahiko schaute grimmig drein, runzelte die Stirn und kniff die Lippen zusammen. Schließlich sagte er: »Es spielt keine Rolle mehr, was der Auslöser dieser Tragödie war, Chiyo hat eindeutig überreagiert, und sie kann es nicht mehr rückgängig machen. So sieht es nun mal aus.« Er nickte mehrmals. Sawahiko war zwar kein Blutsverwandter der Wadas, aber daß er einen Großteil der Verantwortung für das Geschehene würde tragen müssen, schien seine Entschlußkraft zu stärken. »Wir können hier nicht ewig wie betäubt rumsitzen. Wir müssen uns langsam Gedanken darüber machen, was wir jetzt tun wollen.«
Die übrigen Männer nickten zustimmend.
»Der übliche Weg wäre vermutlich, umgehend die Polizei zu benachrichtigen. Ganz gleich, was geschieht. Chiyo wird nicht daran vorbeikommen, für ihre Tat geradezustehen.«
Kazue riß ihre Tochter an sich und warf einen wilden Blick in die Runde. »Wie kannst du nur so was Schreckliches sagen? Ich würde es nicht ertragen, wenn die Polizei kommt und mir meine Tochter wegnimmt.«
»Schließlich kann sie immer noch auf Notwehr plädieren«, bemerkte Shohei finster.
»Da bin ich mir nicht so sicher. Immerhin war es nicht Großvater, der das Messer genommen und damit herumgefuchtelt hat.«
»Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß Chiyo nicht den Vorsatz hatte, ihn zu töten.«
»Was redet ihr nur?« warf Mine mit einer gehörigen Portion Würde in der Stimme ein. »Ihr überseht alle völlig das Problem, vor dem wir stehen. Ich werde nicht zulassen, daß diese Sache vor die Polizei gezerrt wird. Zum einen wäre es viel zu furchtbar für Chiyo, zum anderen würden dann eine Menge Dinge ans Tageslicht kommen, die Yohei vor langer Zeit getan hat und die besser vergessen bleiben sollten. Das einzige, was wir dadurch erreichen, ist, daß die schmutzige Wäsche der Familie in aller Öffentlichkeit gewaschen wird. Im Augenblick…«, sie versuchte mit aller Gewalt, ihre Stimme ruhig zu halten, während sie einen nach dem anderen ansah, »im Augenblick können wir nur versuchen, Yoheis Ruf und den der Familie zu wahren. Seht ihr das nicht so?«
»Schlägst du etwa vor, wir sollen das Ganze vertuschen und vor der Polizei und der Außenwelt geheimhalten?« fragte Sawahiko entgeistert.
»Nun ja, ich glaube kaum, daß wir einen solchen Vorfall vollkommen verheimlichen können, aber ich bin der Meinung, daß wir Schritte zu Chiyos Schutz unternehmen sollten. Außerdem wird dadurch verhindert, daß unschöne Dinge über meinen Mann verbreitet werden.«
Anstelle einer Antwort nickte Sawahiko lediglich.
Da platzte Takuo plötzlich überaus erregt heraus: »Soll das heißen, daß wir einfach so tun, als ob er eines natürlichen Todes gestorben wäre? Wir sollen doch nicht die Wunde in seiner Brust unter der Kleidung verstecken und Dr. Mazaki bitten, einen entsprechenden Totenschein auszustellen?«
»Damit wären wir gleich beim nächsten Problem«, murmelte Shohei mit Grabesstimme. Während des vorherigen Tumults hatte er mit der für einen Arzt obligatorischen Unerschütterlichkeit gehandelt und seitdem nur zugeschaut und kein Wort mehr von sich gegeben. »Vor fünf Jahren wurde Yohei wegen einer Gallensteinoperation in die Universitätsklinik eingeliefert. Er versprach dem Chefchirurgen damals, testamentarisch festlegen zu lassen, daß sein Körper der Universität nach seinem Tod zu Forschungszwecken übergeben wird. In einem solchen Fall ist es üblich, den Pathologen eine Einverständniserklärung verfassen zu lassen, und ich nehme an, es wurde auch diesmal so gemacht.«
»Ja, das stimmt. Er hat mal etwas in der Art gesagt«, bestätigte Mine. Offensichtlich waren auch Sawahiko und Kazue über diese Übereinkunft im Bilde, denn sie nickten beide.
»Wenn das so ist, haben wir wohl keine andere Wahl, als die Polizei zu informieren, aber wir müssen ihnen ja nicht unbedingt auf die Nase binden, daß Chiyo ihn umgebracht hat. Aber wenn sie nicht bald mit diesem hysterischen Geheule aufhört, werden sie von selbst drauf kommen«, versetzte Takuo und betrachtete die niedergeschlagene Chiyo.
»Ich denke, es gibt einen Weg, wie wir die Sache handhaben können«, verkündete Shohei entschieden.
»Ach, und welchen?« gab Takuo scharf zurück.
»Wir müssen Chiyo wegbringen, weit weg. Wir könnten sie nach Tokio zurückschicken und dann alles so arrangieren, daß die Leiche erst später entdeckt wird. Da es in dem Fall so aussehen würde, als ob sie zur Tatzeit gar nicht hier gewesen wäre, besteht für die Polizei auch keine Veranlassung, sie zu vernehmen.«
»Meinst du wirklich, wir würden damit durchkommen?« Sawahiko blieb skeptisch.
»Es gibt verschiedene Möglichkeiten, an die Sache heranzugehen«, erwiderte Shohei.
»Jaja, aber sieht es nicht seltsam aus, wenn sie als einzige so früh wegfährt?« fragte Takuo mit leicht provozierendem Unterton.
»Oh, dafür wird uns sicher irgendeine Erklärung einfallen. Wir könnten zum Beispiel behaupten, sie hätte ein wichtiges Nachschlagewerk in Tokio vergessen, das sie dringend für ihre Diplomarbeit brauchte, und wäre zurückgefahren, um es zu holen.«
Bis dahin hatten sich alle Blicke voll und ganz auf Shohei konzentriert, doch nun richteten sie sich plötzlich auf Jane, die gleich neben ihm saß. Die Wadas hatten sie völlig vergessen, erst das Erwähnen der Diplomarbeit brachte sie ihnen wieder in Erinnerung zurück. Jane kamen sie wie ein Rudel Wölfe vor, als ein Blick nach dem andern an ihr hängenblieb; es waren kalte, mißtrauische – wachsame Blicke. Sie spürte ein chaotisches Durcheinander von Gefühlen in sich hochsteigen, aber einer Sache war sie sich schlagartig bewußt: In den Augen der Familie Wada war sie eine Fremde und ein Störfaktor.
»Also gut.« Sawahiko wollte offenbar keine Zeit mehr verlieren. »Wir werden Chiyo so weit wie möglich von hier fortschaffen und keine Mühe scheuen, ihre Tat vor der Polizei und der Außenwelt geheimzuhalten. Glaubt ihr, wir können das schaffen?« Er sprach so ruhig er konnte, dennoch schwankte seine Stimme leicht.
Mine drückte ihr Einverständnis als erste aus; sie nickte. »Vergeßt nicht, wir tun es nicht nur für Chiyo, es ist das beste für uns alle.«
Kazue schluckte die Tränen hinunter und senkte dankbar den Kopf.
Sawahiko drehte sich mit fragender Miene zu Shigeru um.
»Ja. Ich glaube, so sollten wir’s machen.« Dabei strich er hektisch über seinen Schnurrbart, was seine scheinbare Gelassenheit Lügen strafte.
»Auf mich könnt ihr zählen. Hundertprozentig«, bekräftigte Takuo. »Trotzdem, es bleibt immer noch das Problem, was wir der Polizei erzählen.«
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, als einen Einbrecher zu erfinden«, murmelte Shohei.
»Genau! Wir sagen, ein Einbrecher wäre ins Haus eingedrungen, und Großvater hätte ihn gestellt.«
»Gute Idee. Wenn wir etwas anderes behaupten, würde das schlicht und ergreifend bedeuten, daß es einer von uns war.«
Die beiden Männer sahen sich eine Zeitlang schweigend an.
»Völlig richtig. Etwas anderes können wir gar nicht sagen.« Takuo klang ein wenig enttäuscht, aber da ihm spontan kein besserer Plan einfiel, beschloß er schnell, sich auf diese Variante einzulassen. »Wenn wir alle das gleiche erzählen – und das überzeugend –, wird die Polizei uns glauben müssen.«
Shohei schüttelte jedoch stirnrunzelnd den Kopf. »Nein. Das Ganze darf nicht zu glatt erscheinen. Ich bin ziemlich sicher, daß das Fuji-Seen-Polizeirevier für diese Gegend zuständig ist. Vor zwei Jahren geschahen hier zwei Morde, die auf den ersten Blick wie der Doppelselbstmord eines unglücklichen Liebespaares aussahen, aber sie haben den Fall wirklich brillant gelöst. Es gibt dort ein paar hervorragende Kriminalbeamte.«
Takuo zuckte gekränkt mit den Schultern.
Schließlich wandte sich Sawahiko an Jane und fragte sie: »Sie haben unseren Plan gehört, Miss Prescott. Was halten Sie davon? Sie müssen jetzt vollkommen ehrlich sein.«
Jane war ziemlich perplex und schwieg deshalb.
»Was ich von Ihnen wissen will, ist folgendes: Sind Sie bereit, uns zu helfen, Chiyos Tat zu vertuschen, und so zu tun, als ob ein Einbrecher ins Haus eingedrungen wäre? Wenn nicht …«
»Sollten Sie nicht dazu bereit sein«, fiel Takuo ihm ins Wort, »verlasse ich mich darauf, daß Sie kein Sterbenswörtchen über diese Angelegenheit verlieren.« Es klang beinah wie eine Drohung.
»Ganz recht«, pflichtete ihm Sawahiko nachdrücklich bei. »Sie haben zwei Alternativen. Entweder Sie fahren mit Chiyo nach Tokio zurück und tun so, als ob Sie nicht das geringste wüßten, oder Sie bleiben hier und helfen uns. Die Entscheidung steht Ihnen frei.«
»Was wäre Ihnen lieber?« fragte Jane nach einer Weile, um etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
»Na ja, eigentlich…«
Sawahiko wollte gerade sagen, ihm wäre jede Entscheidung recht, als ihn Takuo zum zweitenmal unterbrach. »Da Sie schon fragen – wir würden es wirklich sehr begrüßen, wenn Sie bei uns blieben. In den Augen der Polizei würde unsere Geschichte wesentlich glaubwürdiger klingen, wenn sie zusätzlich von einem Außenstehenden, nicht nur von Familienmitgliedern bestätigt wird.« Diesmal nickte Shohei in vollstem Einverständnis. In gewisser Hinsicht gehörte auch er mittlerweile dazu.
»Ich weiß, es ist viel verlangt, aber es wäre tatsächlich das beste, wenn Sie bleiben«, sagte Mine zuckersüß, aber Jane hatte erst vor wenigen Sekunden einen vielsagenden Blick zwischen ihr und Shigeru aufgefangen. Ließ man sie nach Tokio fahren, bestand jederzeit die Gefahr, daß sie die Geschichte zufällig erwähnen würde oder sogar zur Polizei ging. Hielt man sie dagegen hier fest, könnte man sie im Auge behalten. Außerdem machte sie sich zwangsläufig mitschuldig, wenn sie half, die Polizei zu täuschen, und würde sie schon von daher nicht verraten.
Janes Blick wanderte zu Chiyo. Ihre Augen waren geschwollen, ihr Gesicht bleich, an ihren Wangen klebten Haarsträhnen. Es war ein erschöpftes Gesicht. Überraschenderweise stellte Chiyo die Entscheidung ihrer Familie in keiner Weise in Frage. Die großen, wunderschönen Augen, die sonst immer so gelassen wirkten, waren von Kummer überschattet. Sie schien mit allem einverstanden, was man mit ihr vorhatte. »Bitte laßt Jane tun, was sie selbst für das beste hält«, flüsterte sie kaum hörbar.
Die anderen warteten immer noch auf eine Antwort. Um die gespannte Atmosphäre ein wenig zu lockern, rang sich Jane ein verzerrtes Lächeln ab. »Ich weiß Ihre Freundlichkeit zu schätzen. Es tut mir sehr leid, daß ich Ihnen soviel Scherereien mache. Ich möchte wirklich gern helfen.« Jane mochte Chiyo mit Sicherheit genauso gern wie die Familie Wada.
Sawahiko warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kamin; es war fast Viertel vor elf. »Wenn wir uns zu diesem Plan entschließen, sollten wir besser bald etwas unternehmen.«
»Wie soll sie überhaupt nach Tokio kommen? Der Schnee ist mittlerweile ganz schön hoch.« Kazue sah ihren Ehemann fragend an. Das nächste Problem.
»So schlimm ist es nicht. Seit ungefähr sieben Uhr schneit es nicht mehr, aber wir müssen uns gut überlegen, welchen Wagen sie nimmt.«
»Eigentlich sollte sie einen Mietwagen mit Fahrer bestellen«, schlug Takuo mit Expertenmiene vor. »Wir könnten einen Außenstehenden gut gebrauchen, der bestätigt, daß Chiyo das Haus zu einer bestimmten Zeit verlassen hat und nach Tokio gefahren ist.«
»Eine ausgezeichnete Idee.« Sawahiko hatte es zwar auf sich genommen, das Unternehmen zu leiten, im Moment schenkten jedoch alle Takuo und Shohei ihre Aufmerksamkeit.
»Ich werde einen Wagen rufen«, sagte Kazue und sprang auf.
»Wenigstens ein Umstand kommt uns zugute. Neujahr ist die einzige Zeit im Winter, in der die Geschäfte in Asahigaoka so spät noch geöffnet haben.«
»Hat das Hotel noch offen?« fragte Shohei unvermittelt, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen.
»Meinen Sie das mit der Bar und dem Restaurant?«
»Genau.«
»Während der Sommersaison und zu Neujahr normalerweise bis dreiundzwanzig Uhr. Soweit ich mich erinnere, waren wir dort mal zu einem späten Abendessen.«
»Aha. Ich nehme an, man kann sich von dort auch etwas zu essen ins Haus bringen lassen.«
»Essen ins Haus bringen lassen?« wiederholte Takuo, und auch die anderen starrten Shohei entgeistert an.
»Laßt mich nachdenken – es gibt in diesem Hotel doch ein europäisches Restaurant und eine Sushi-Bar. Wir haben bei beiden schon öfter etwas bestellt.«
»Würden sie auch so spät noch liefern?«
»Heute vielleicht schon«, meinte Kazue und schaute auf ihre Armbanduhr.
»Finden Sie, dies ist der richtige Zeitpunkt, um etwas zu essen zu bestellen?« erkundigte sich Takuo sarkastisch.
Shohei ignorierte die Bemerkung und fuhr unbeirrt fort: »Ich möchte, daß Sie jetzt gleich dort anrufen und es herausfinden.«
»Soll ich wirklich etwas bestellen?«
»Was gibt’s denn alles in dem europäischen Restaurant?«
»Eintopf, Kroketten, Gratin, Pizza und so weiter.«
»Gut, Gratin paßt ausgezeichnet. Bestellen Sie genug für acht Personen.«
»Für mich nicht, danke. Ich hab’ keinen Hunger.«
»Ich mag auch nichts. Ich glaube, ich würde unter den gegebenen Umständen keinen Bissen runterkriegen«, pflichtete Takuo Kazue bei.
»Nein, Sie verstehen mich falsch! Es ist äußerst wichtig, daß wir etwas zu essen bestellen«, erklärte Shohei. »Es muß unbedingt so aussehen, als ob Großvater noch sehr spät auf den Beinen gewesen wäre und plötzlich Appetit auf ein Nachtmahl bekommen hätte. Nachdem Chiyo nach Tokio abgefahren ist, sitzen wir andern zusammen und spielen Karten. Mitten im Spiel beschließen wir, uns etwas zu essen kommen zu lassen, Großvater natürlich eingeschlossen.«
Kazue holte das Telefonbuch aus der Küche und lief damit zu dem Telefon im Wohnzimmer. Während jeder gespannt zusah, rief sie zuerst den Mietwagenverleih in der Hauptstraße von Asahigaoka an, dann das Restaurant. Da der Mietwagenverleih schon öfter für die Wadas gearbeitet hatte, versprach man dort, binnen einer Viertelstunde einen Wagen vorbeizuschicken. Im Restaurant hieß es, das Gratin wäre in dreißig bis vierzig Minuten da.
Chiyo mußte sich beeilen. Kazue scheuchte sie in ihr Zimmer, wo sie die blutverschmierten Sachen gegen frische vertauschte und ihr Make-up in Ordnung brachte. Wenig später stand Chiyo in der Eingangshalle, den Mantel über die Schultern geworfen, den Verband am Handgelenk unter Handschuhen verborgen. In der roten, ledernen Reisetasche neben ihr befanden sich die verräterische Kleidung und das Obstmesser sowie Yoheis Aktentasche und diverse Schmuckstücke: eine mit Diamanten besetzte Krawattennadel und ein Paar Manschettenknöpfe mit Smaragden. In der Aktentasche steckten fast eine Million Yen, einige wichtige Firmendokumente und ein Bündel Wertpapiere. Diese Dinge sollte der »Einbrecher« später mitgehen lassen, wenn er kam, um Yohei »zu ermorden«.
Um fünf vor elf ging die Türglocke. Glücklicherweise kannte der Fahrer Kazue und Chiyo. Sie hatten seine Dienste schon während früherer Aufenthalte in der Villa in Anspruch genommen.
Sawahiko erkundigte sich nach den Schneeverhältnissen und bekam zur Antwort: »Auf den nicht geräumten Straßen liegt der Schnee etwa fünfzehn Zentimeter hoch, aber der Wagen ist selbstverständlich mit Schneeketten ausgerüstet. Die Hauptverkehrsstraßen waren den ganzen Abend stark befahren, das dürfte also kein Problem sein. Ab Gotemba können wir die Tomei-Schnellstraße nehmen und müßten es zu dieser späten Stunde eigentlich in zwei Stunden bis Tokio schaffen.« Der Mann schien sich wegen des Schnees nicht den Kopf zu zerbrechen. »Trotzdem wird die Nachtfahrt für die junge Dame sicher nicht besonders angenehm«
»Das ist uns klar, aber der Abgabetermin für ihre Diplomarbeit steht vor der Tür, und sie kann ohne dieses dumme Lexikon einfach nicht weitermachen. Es bleibt ihr leider nichts anderes übrig«, erklärte Kazue.
»Ich bin so schnell wie möglich zurück. Es paßt mir gar nicht, Jane so lange warten zu lassen«, sagte Chiyo. Sie hatte die eigentliche Bedeutung von Kazues Worten natürlich begriffen. Es führte kein Weg daran vorbei, daß sie am nächsten Tag wieder zurückkam. Schließlich war sie Yoheis Liebling gewesen, und es würde sehr seltsam aussehen, wenn sie nach der Entdeckung seiner Leiche nicht sofort herbeieilen würde.
»Paß auf dich auf.«
»Vielen Dank für alles.«
Mit diesen knappen Abschiedsworten, die die wahre Tiefe ihrer Gefühle verbargen, machte sich Chiyo auf den Weg zu dem Wagen, der vor dem Tor wartete. Sie traute sich offensichtlich kaum, überhaupt etwas zu sagen, aus Angst, sie könnte die Nerven verlieren und alles verderben. Kurz bevor sie sich in Bewegung setzte, trafen sich ihre und Janes Blicke; Chiyo runzelte die Stirn, nickte leicht und marschierte endgültig in die Dunkelheit hinaus.
Die Schneeketten des Wagens knirschten auf der verschneiten Auffahrt. Die Zurückgebliebenen standen schweigend da und lauschten, bis das Geräusch in der Ferne verklungen war.
»So weit, so gut. Wir sollten jetzt den Tisch vorbereiten«, schlug Shohei nervös vor. »Wenn der Lieferant vom Restaurant kommt, muß es so aussehen, als ob wir Karten spielen würden.«
»Ja. Und zwar Poker, denn das kann man bis morgen früh spielen«, sagte Sawahiko und wandte sich vom Fenster ab.
»Was soll das heißen, bis morgen früh?« wollte Shigeru wissen, der plötzlich einen erschöpften Eindruck machte.
Die beiden sahen sich an. »Das heißt, was es heißt«, erklärte Sawahiko. »Morgen früh wird irgend jemand entdecken, daß Großvater von einem Einbrecher umgebracht worden ist, und wir werden auf der Stelle die Polizei alarmieren. Bis dahin müssen wir alle Einzelheiten bedenken. Wenn wir uns auch nur den kleinsten Fehler erlauben, sind wir geliefert.«
Takuo schlenderte zur Hi-Fi-Anlage und suchte eine Platte aus, wenig später ertönte lateinamerikanische Musik. Er stellte sie leise genug, daß sie sich weiterhin unterhalten konnten, aber doch so laut, daß sie eine gute Entschuldigung abgab, weshalb sie keine Kampfgeräusche aus Yoheis Zimmer gehört hatten.
Kazue stöberte ein Kartenspiel auf, während Sawahiko und die andern den Tisch vorbereiteten.
Jane, die selbstvergessen in die winterliche Traumlandschaft vor dem Fenster hinausschaute, wurde von Shigeru gebeten, sich wieder auf die Geschehnisse im Raum zu konzentrieren. Es kam ihr so vor, als wäre der erste Akt des Dramas gerade zu Ende gegangen und der zweite würde in diesem Moment beginnen.