Читать книгу Zen im richtigen Leben - Shundo Aoyama - Страница 6
PROLOG Das Rauschen des Baches
ОглавлениеStetig und unbeirrbar ist der Gebirgsbach unterwegs ins Tal, schnell fließt er und niemals macht er eine Pause. Sein Rauschen erscheint mir wie ein Widerhall der Zeit, die unablässig vergeht.
Im »Flussbett« Universum ist es die Zeit selbst, die ohne Pause fließt. Auch Steine, Bäume, Häuser und Städte sind im Fluss, wenn auch viel langsamer. Menschen fließen und auch alles andere, was lebendig ist, bis hin zu Denken und Kultur. Das mag auf den ersten Blick unveränderlich erscheinen, doch dieser Blick täuscht uns.
Nur wir Menschen beklagen, dass alles vergänglich ist, und bemühen uns deshalb nach Kräften, die Dinge festzuhalten wie sie sind. Doch wie wir auch klagen und schimpfen – verhindern können wir nicht, dass die Dinge dahinfließen. Sehen wir die Dinge aber, wie sie sind, und fließen einfach mit, dann können wir uns über die Vergänglichkeit sogar freuen. Die Vergänglichkeit ist nämlich auch dafür verantwortlich, dass sich das Tuch des Lebens aus so vielerlei zusammensetzt.
Sobald das Zazen im Übungsraum beginnt, wird es sehr ruhig und wir nehmen klar und deutlich wahr, wie der Gebirgsbach dahinrauscht. Nach der ersten Zazen-Periode entlasten wir die Beine und setzen in der Gehmeditation langsam einen Fuß vor den anderen. Jetzt rauscht das Wasser schon leiser, und am Ende der Zazen-Übung hören wir es kaum noch. Wie kann das sein?
In Wirklichkeit rauscht der Bach immer gleich, er wird weder lauter noch leiser und von Verschwinden ist schon gar keine Rede. Doch beim Zazen kommt unser aufgewühltes Herz zur Ruhe. Dann beginnen wir die Stimmen von Wasser und Steinen, Gräsern und Bäumen, Flüssen und Bergen zu hören, und dann können wir von ihnen lernen. Sie sprechen nicht zu uns, solange der Alltag unsere Gedanken besetzt. Nicht dass sie stumm wären. Wir haben nur kein Ohr für sie, solange wir uns intensiv mit der Welt befassen.
Die Ohren sind das Eine, doch mit den Augen ist es auch nicht anders. Wenn unser geistiges Auge klar ist, sehen wir die Dinge und Wesen ganz natürlich, so, wie sie sind. Doch solange die Augen mit den Vorgängen der Außenwelt beschäftigt sind, können wir die Gegenstände nicht wahrnehmen, wie sie eigentlich sind. In diesem Fall richten wir die Aufmerksamkeit von hier nach da und von da nach dort, und das beschränkt unsere Wahrnehmung. In der Folge sehen wir nicht, was zu sehen wäre, und hören nicht, was zu hören wäre.
Versenken wir uns dann in das Rauschen des Baches und denken nicht darüber nach, dann wird es immer leiser. Wir nehmen deutlich wahr, dass der Rhythmus regelmäßig ist. Aber auch das täuscht: kein einziger Wassertropfen fällt zweimal auf den gleichen Felsen, immer neues Wasser plätschert über einen Stein. Der Bach rauscht zwar auf gleiche Weise, aber es ist nicht der gleiche Bach. Es sind nur Ohr, Auge und Denken des Menschen, die das als kontinuierlich wahrnehmen. Doch in Wirklichkeit kann das Wasser keine Stelle im Bachbett ein zweites Mal passieren.
Im menschlichen Leben ist es auch nicht anders. Wir glauben, dass Gestern und Heute dasselbe wären, aber das gaukeln uns die Ohren, die Augen und das Denken nur vor. Ein erwachtes Auge jedoch sieht, dass alles ständig im Fluss ist, und dass jeder Augenblick einzigartig ist.