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Kapitel 3:
Oh mein prophetisches Gemüt

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Lindau am Bodensee,

14. und 15. Juli 2018

Bei aller Liebe zu meinem Lucas: Miteinander leben und arbeiten funktioniert bei uns nur, wenn wir einander Luft und Zeit zum Alleinsein lassen. Üblicherweise ist es Lucas, der sich zu langen, einsamen Spaziergängen verzieht, aber an diesem Samstag habe ich zu viel bekommen.

Wir waren mit Mischas Assistenten Christopher, Riikka, die in unserer Produktion die Eboli sang, und ihrem jeweiligen Wochenendbesuch – Riikkas Ehemann Arne und Christophers Freundin Claire – bei einem netten, kleinen Italiener gewesen. Und weil es so ein schöner warmer Sommerabend war, haben wir uns auf dem Rückweg wieder in das Straßencafé gesetzt, in dem ich nach der Probe Mischa und Lucas getroffen hatte.

Damit saßen wir aber auf dem Präsentierteller. Zuerst war’s nicht unangenehm. Mischa kam vorbei, seine neue Eroberung an der Hand. Sie war – wie bei Mischa nicht anders zu erwarten – eine Hübsche, obendrauf hatte sie sogar etwas im Kopf und war so etwas wie eine Kollegin von mir. Isabell arbeitete als Kulturredakteurin beim »Bodensee Boten«. Mischa setzte sich mit ihr zu uns, wir waren schnell in einer fröhlichen Unterhaltung, zu der dann auch noch Rocco, Bass und unser König Philipp, stießen.

Ein paar Minuten danach tauchte die Familie Miercoledi auf: Vater, Mutter, beide Töchter. Und die setzten sich natürlich auch dazu und damit wurde es laut und anstrengend. Ich hatte schon nach einer halben Stunde genug und sehnte mich nach Ruhe. Stattdessen bliesen mir von links Giulia und von rechts Rocco ins Ohr, dabei hatte ich Riikka im Blick, die Miercoledi mit finsterer Miene beobachtete.

Nach einer halben Stunde hatte Lucas Erbarmen mit mir. Er stand abrupt auf. »Kinder, seid mir nicht bös’, aber ich bin hundemüde. Ich muss ins Bett.« Er streckte mir die Hand hin. »Kommst du mit, Vic?«

Als wir im Hotel ankamen, hatte ich Kopfweh – und leider war’s in unserem Zimmer nicht so still, wie ich mir gewünscht hätte. Lucas telefonierte, wie meist am Wochenende, mit seiner Tochter. Ich schnappte mir meine Fleecejacke und verzog mich nach unten. Zu unserem Hotel gehörte nämlich ein sehr gepflegter Park mit altem Baumbestand und lauschigen Bänkchen.

Ich wanderte an einem prachtvoll blühenden Rosenbeet vorbei ein Stück nach unten und an den See. Eine Entenflottille – Mama und sieben Küken – paddelte an mir vorbei und ich ertappte mich bei der Überlegung, wie man als Entenmutter wohl seine Kinderchen ins Bett brachte. Hatte die Familie irgendwo ein Nest, in dem die Siebenlinge aneinander gekuschelt schlafen konnten?

Leise Musik drang zu mir herüber – draußen war ein bunt erleuchteter Partydampfer unterwegs, ungefähr 25 Meter entfernt lag eine große Jacht, bei der ein Segel schlampig am Hauptmast gammelte. Ich setzte mich auf das Bänkchen unter eine Trauerweide, schnupperte dem süßen Duft der Rosen nach, die der leichte Wind zu mir trug, und genoss die Ruhe, die der See ausstrahlte. Mein Kopfweh verflüchtigte sich langsam wieder, dafür wurde ich müde, hatte aber dennoch keine Lust, nach oben zu gehen.

Immerhin konnte ich mich aber dazu überreden, aufzustehen und noch ein Stück zu gehen – dieses Mal Richtung Parkmauer, denn mittlerweile war der Wind kühl geworden und ich fröstelte. An der Parkmauer war es besser. Die Sonne hatte sie aufgewärmt, außerdem schützte sie ein wenig vor dem seewärts gerichteten Wind. Und da war eine Nische in der hohen, alten Hecke und darin stand ein Bänkchen. Ich setzte mich, legte die Arme auf die Lehne und streckte die Beine.

Ich weiß gar nicht, wie lange ich dasaß, bis ich Schritte auf dem gekiesten Weg hörte. Ich hob den Kopf, schaute mich um und sah im Mondlicht eine schmale Gestalt, die aus der hinteren Ecke des Parks kam und nun Richtung Hotel einbog.

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Der andere Parkbesucher – er war ganz in Schwarz und trug eine weite Jacke, sodass ich nicht erkennen konnte, ob es sich dabei um ein Männchen oder Weibchen handelte – hatte einen Strauß in der Hand, blieb aber dennoch vor dem Rosenbeet stehen und guckte nach links und rechts. Mich in meiner Nische sah er dabei nicht und so glaubte »er-sie-es« sich wohl allein. Jedenfalls brach er eine Rose ab – und ich fand den Gedanken, dass das ein Junge war, der für seine Freundin Blümchen klaute, durchaus romantisch.

*

Sonntagmorgen – und mir wäre nach ausschlafen, ein wenig schmusen und einem langen, gemütlichen Frühstück auf unserem Balkon mit Seeblick gewesen. Doch dazu kam es nicht, denn ich durfte nicht von selbst aufwachen, sondern wurde durch einen ohrenbetäubenden, schrillen Schrei geweckt. Ich fuhr hoch, schaute erst auf die Uhr – es war kurz vor neun – und dann zu Lucas, der hochgefahren war und aufrecht im Bett saß.

»Was war das denn?«, fragte ich.

Lucas zuckte mit den Achseln und deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Wand, die uns von der Nachbarsuite trennte.

Der Schrei war verstummt, doch die Ruhe währte nur einen Augenblick. Dann ging es wieder los – und es schien noch lauter zu sein als vorher. Lucas und ich sprangen aus dem Bett, ich rannte ins Bad, um mir meinen Bademantel überzuwerfen, er schlüpfte in seine Jeans und Wildlederslipper. Auf dem Weg zur Tür zog er sein Hemd an, kam aber nicht dazu, es ganz zuzuknöpfen, weil er schon an der ersten Tür zur Miercoledi-Suite war. Von innen ertönte Heulen – offenkundig mehrstimmig und in der Lautstärke einer Alarmsirene. Lucas’ Klopfen und Rufen ging in dem Lärm von innen fast unter, aber dann rührte sich doch etwas: Mafalda Miercoledi öffnete die Tür. Sie trug nur ihr Nachthemd, wobei das Wort eine eindeutig zu profane Beschreibung für das edle Stück aus champagnerfarbener Seide mit Spitze war. Dazu hatte sie ihr langes, dunkles Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Ihr schmales Gesicht mit den vollen Lippen schien weiß wie die Wand hinter ihr, wodurch ihre sonst sorgfältig überschminkten Sommersprossen noch mehr herausstachen.

Mit einem Aufschrei warf sie sich Lucas in die Arme. »Zio Lucaso!« Es folgte ein italienischer Wortschwall – viel zu schnell, als dass ich mit meinem VHS-Italienisch etwas hätte verstehen können.

Nun stürzten sich auch ihre Mutter und Schwester auf Lucas, wobei sie wild durcheinanderredeten. Ich verstand immer noch kein Wort, aber mir fiel ein, dass Marietta und Mafalda Miercoledi Lucas schon gekannt hatten, als sie beide noch Windeln trugen. Bei seinen privaten Fotos hatte ich einmal eine ganze Sammlung gefunden, die ihn beim Spielen mit den Miercoledi-Töchtern zeigte, außerdem hatte er mir erzählt, dass er oft für sie gezeichnet und Geschichten vorgelesen hatte. Ihre Eltern hätten doch meist keine Zeit für sie gehabt.

Lucas schaffte es nun, die reichlich hysterischen Grazien in den Salon der Suite zu manövrieren und die Tür zu schließen. Ich war einfach hinterhergedackelt, lehnte an einem Seitentisch und fühlte mich deplatziert, denn ich hatte immer noch keine Ahnung, worum es bei dem ganzen Aufstand ging. Also ließ ich die Augen schweifen und schielte durch die offene Zimmertür gegenüber. Im Raum dahinter sah es aus wie auf einem Bombenabwurf-Übungsplatz: Vor einem ungemachten Bett schien sich ein Koffer erbrochen zu haben und hatte seinen Inhalt – Blusen, Shirts und Röcke, Hosen und High Heels, vieles davon im Leo-Design, was mich vermuten ließ, dass Giulia die Räuberhöhle bewohnte – auf dem Boden verstreut.

Der Schreibtisch seitlich diente offenkundig als Schminktisch und die Kollektion an Tiegeln und Töpfen darauf erinnerte mich an den Arbeitsplatz einer Maskenbildnerin, nachdem sie einen Schauspieler zum blauhäutigen Alien umgebaut hat.

Lucas schien jetzt mit den Damen zu streiten. Er deutete auf das Telefon und sprach von »Dottore«. Giulia heulte jedes Mal schrill auf, wenn er das Wort erwähnte; Mafalda fummelte an ihrem Handy und ihre Schwester – zu meinem Erstaunen bereits voll bekleidet in einem verwegenen roten Seidenshirt, schwarzer Lederhose und himmelhohen, knallroten High Heels – deutete zur verschlossenen Tür schräg hinter mir.

Lucas gab ihr nach, wobei er sich an mich erinnerte. Als er zur Tür ging, schaute er mich bedauernd an, deutete ein Schulterzucken an und öffnete. Ich wertete seinen Blick als Aufforderung, ihn zu begleiten, und wieselte hinterher.

Ich bereute meine Neugierde sofort, denn die Tür führte ins Schlafzimmer von Mario Miercoledi – und der Anblick, der uns da erwartete, ließ mich bedauern, dass hysterisches Kreischen in meinem Instinktprogramm nicht vorgesehen ist. Es soll ja angeblich bei der Verarbeitung von Traumata helfen – und das wäre bei mir sehr nötig gewesen.

Vor dem Bett im Zimmer lag nämlich Miercoledi – und eines war klar: Er würde uns nicht mehr nerven. Und was den »Dottore« anging, den Lucas für ihn bestellen wollte – ich war ziemlich sicher, dass der einzige Arzt, den Miercoledi noch brauchen würde, ein Pathologe war.

Miercoledi lag zusammengekrümmt in einer Lache von Erbrochenem, seine Pyjamahose war verschmutzt – anscheinend hatte er neben den Magenproblemen auch noch Diarrhö gehabt –, ungefähr zwei Meter von seinem zerwühlten Bett entfernt. Offenkundig hatte er versucht, ins Bad zu kommen, und war auf dem Weg zusammengebrochen. Dabei hatte er die Hände in den Teppich gekrallt, den Kopf zur Seite gedreht und zeigte uns sein kalkweißes Gesicht mit weit aufgerissenen Augen. Doch am schlimmsten fand ich, dass sein Mund gegen den schwarzgefärbten Bart in einem fast obszönen Rot abstach.

Und da war der Geruch und mein Magen hob sich. Ich flüchtete durch den Salon auf den Balkon, stützte mich mit beiden Händen auf das Geländer, schnappte nach Luft und sah auf den See hinaus, der im Morgenlicht so unschuldig aussah. In meinem Kopf purzelten die Gedanken durcheinander.

Miercoledi war tot. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Und dem Zustand des Erbrochenen nach lag er schon eine ganze Weile als Leiche in seinem Zimmer. So wie sein Bett aussah, hatte ihn nicht einfach der Schlag getroffen. Vielmehr sah es aus, als ob er eine Weile gelitten hätte. Und er war nicht der Typ gewesen, der aus zarter Rücksicht auf den Schönheitsschlaf seiner Damen stumm gelitten hätte! Er hatte sicher um Hilfe gerufen, aber niemand hatte ihn gehört.

Warum? Seine Frau hatte das Zimmer gegenüber bewohnt, seine Töchter – nun, die waren entschuldigt, denn ihre Zimmer waren von dem ihres Vaters sowohl durch den Schlafraum der Mutter wie auch den großen Salon abgeteilt.

Aber woran war Miercoledi wohl gestorben? Was verursachte Erbrechen, Durchfall und brachte einen dann in kurzer Zeit um?

Lucas hatte die Damen wieder in den Salon gelotst und die Tür zu Miercoledis Zimmer geschlossen. Nun ging er zum Telefon. Seine Stimme klang sehr beherrscht und fast kühl, aber ich sah, dass er mit der freien Hand am Telefonkabel herumspielte. »Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Signore Miercoledi ist tot – wir brauchen einen Arzt und …« Er überlegte einen Moment, dann schüttelte er unwillig den Kopf. »Der Arzt tut es erst einmal. Danach sehen wir weiter.« Er hörte zu, dabei runzelte er die Stirn. »Guter Mann, ich habe bestimmt Besseres zu tun, als die Presse zu informieren. Ich bin nämlich nicht nur der Regisseur auf der Seebühne, sondern auch ein langjähriger …«, er zögerte einen Augenblick, dann setzte er mit einem »Freund des Hauses« fort. Und ja, er kümmere sich jetzt um die Miercoledi-Damen, wäre dann aber um derentwillen dankbar, wenn der Arzt nicht zu lange auf sich warten lassen würde. »Und jetzt wäre es kein Schaden, wenn Sie uns eine große Kanne Kaffee heraufschicken lassen würden.«

Er legte auf, gönnte mir ein ganz kleines Lächeln und schaute zu Giulia und Mafalda Miercoledi, die auf dem Sofa saßen und sich aneinander schmiegten wie zwei verängstigte Kinder. Marietta Miercoledi hatte sich ihnen gegenüber in einem Sessel niedergelassen, den Blick zum Fenster gewandt. Dabei hatte ich aber den Eindruck, dass sie nicht einmal bemerkt hätte, wenn draußen auf dem See ein Raumschiff gelandet wäre.

Ich setzte mich auf den Klavierhocker, der vor dem Flügel stand und schlang die Arme um meinen Körper. Mir war kalt in meinem Bademantel und ich überlegte, ob ich nicht hinüber in unsere Suite gehen und mich richtig anziehen sollte. Doch dabei wäre ich mir vorgekommen, als wenn ich Lucas im Stich lassen würde. Ich hatte ihm doch versprochen, in guten und schlechten Tagen an seiner Seite zu sein – und heute war eindeutig einer von den schlechten Tagen.

Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er stand immer noch an dem kleinen Sekretär, auf dem das Telefon untergebracht war. Die tiefe, vertikale Falte über seiner rechten Augenbraue sagte mir, dass er intensiv nachdachte.

Mein Blick wanderte wieder über das Sofa zu dem Sessel, auf dem Marietta saß. Sie schien der Tod ihres Vaters am schlimmsten getroffen zu haben. Sie ließ sich die langen, kupferroten Locken wie einen Vorhang über das Gesicht fallen, dennoch konnte ich ihr Profil mit der etwas krummen Nase, die sie vom Vater geerbt hatte, erkennen. Bei ihm hatte die Nase männlich-markant ausgesehen, Marietta allerdings ließ sie streng aussehen. Dazu war sie fast so bleich wie ihr toter Vater, allerdings waren ihre vollen Lippen nicht rot, sondern fast farblos, obwohl sie daran herumnagte.

Niemand sprach, nur ab und zu schluchzte Giulia, worauf Mafalda ihr über den Rücken streichelte. Ich fragte mich, was den Frauen wohl durch den Kopf ging, als es endlich an der Tür klopfte. Lucas reagierte am schnellsten, eilte zur Tür, öffnete und ließ einen Kellner eintreten, der einen Servierwagen mit einer großen Thermoskanne, einigen Tassen, zwei Milchkännchen, eine Zuckerdose und einem Becher, in dem aufrecht einige Löffel standen, hereinschob. Außerdem brachte er einen Teller mit Keksen mit und baute alles auf dem runden Esstisch, der im vorderen Teil des Salons stand, auf.

Lucas signierte die Rechnung, fand ein paar Münzen in seiner Hosentasche, reichte sie dem Jungen und fragte: »Wer mag Kaffee?«

»Ich bitte!« Mafalda stand auf, ging zum Tisch und sagte: »Mutter sollte auch einen trinken.«

Lucas schenkte zwei Tassen für sie voll und schaute mich fragend an. Ich nickte, worauf er reichlich Milch und Zucker in eine Tasse gab, mit Kaffee auffüllte und mir die Mischung mit einem Keks auf der Untertasse reichte.

Mafalda hatte einen Schluck getrunken und es war, als ob damit die Schleusen ihrer Beredsamkeit geöffnet worden wären. »Ich verstehe das nicht. Ich meine, gestern Abend war er schon ein wenig angeschlagen, aber dennoch – wer rechnet denn mit so was?« Sie war aufgeregt und mir fiel auf, dass ihr italienischer Akzent stärker war, als ich ihn je von ihr gehört hatte. »Ihr habt ihn doch gestern Abend auch gesehen, Victoria und Lucas! Da hat er doch nicht ausgesehen, als ob er in der Nacht …« Sie schien das Wort »sterben« nicht aussprechen zu können, sondern schluckte und sprach weiter, wobei sie immer schneller und schriller wurde. »Er hat auf der Promenade am Jachthafen unten sogar noch Autogramme gegeben und diese Blondine mit den dicken Dingern angebaggert!«

»Ich glaube nicht, dass das jetzt ein passendes Thema ist!«, mahnte Lucas.

»Warum? Fangen wir jetzt schon an, so zu tun, als ob Vater ein Engel gewesen wäre? Er hat alles angegraben, was bei drei nicht auf dem Baum war!« Sie war aufgestanden und ging nervös im Raum auf und ab. »Schau mich nicht so an, Onkel Lucas! Du weißt so gut wie ich, dass er hinter jedem Rock her war und …«

Giulia schluchzte lauter, Lucas trat einen Schritt auf Mafalda zu und griff nach ihrem Arm. »Schluss jetzt, Mafalda!«, sagte er laut.

»Aber er ist tot!« Sie klang fast fröhlich. »Er ist tot!«, wiederholte sie. »Heißt das nicht, dass wir jetzt aufhören können, heile Familie zu spielen? Etta, du kannst …«

»Halt den Mund, Mafalda!« Marietta brüllte und auf ihrer Wange erschienen hektische rote Flecken.

Ihre Schwester schluckte und begann zu weinen, leise, kleine Schluchzer wie ein Kind.

Ich hatte im Geist die ganze Zeit das Szenario in der letzten Nacht durchgespielt. Miercoledi und die Seinen waren noch im Straßencafé gesessen, als wir gegangen waren, aber ich erinnerte mich, ihre Stimmen auf dem Flur gehört zu haben, als ich im Bad die Zähne geputzt hatte. Da waren sie heimgekommen und da war es Miercoledi offenkundig noch gut gegangen.

Wann nach dem Heimkommen war er schlafen gegangen? Und was war dann passiert? War ihm übel geworden? Aber warum hatte er nicht gleich um Hilfe gerufen? Es war doch nicht so schlimm gewesen, dass er das nicht mehr geschafft hätte, denn schließlich war er aufgestanden … oder war er aufgestanden, um Hilfe zu holen und auf dem Weg zur Tür zusammengebrochen? Aber warum hatte er nicht gerufen? Oder hatte er gerufen und niemand hatte ihn gehört?

Ich versuchte, mir den Grundriss der Suite vorzustellen. Wie die unsere hatte sie einen Vorraum, von dem aus es in eine kleine Küche ging, dann kam man durch eine Doppeltür in den großen Salon. In dem war links und rechts je eine Tür. Die linke führte in Miercoledis Schlafzimmer, die rechte in das seiner Frau. Die dazu gehörigen Badezimmer waren jeweils durch die Schlafzimmer erreichbar. Die Töchter wohnten nebenan beziehungsweise gegenüber. Insofern war erklärbar, dass sie nichts gehört hatten. Zwischen Miercoledis Schlafraum und Mariettas Zimmer gegenüber lagen immerhin ein Bad, die Küche, der Vorraum und der Flur. Und Mafalda wohnte im Zimmer hinter ihrer Mutter, also mindestens genauso weit weg. Aber Giulia – sie hatte nur den Salon zwischen ihrem und dem Zimmer ihres Mannes! Und das Hotel war ein Altbau und, wie wir in den letzten Tagen zu spüren bekommen hatten, doch eher hellhörig. Wir hatten jedenfalls mitbekommen, wenn Familie Miercoledi sich im Salon angebrüllt hatte.

Andererseits war Miercoledi angeschlagen gewesen und hatte darum wahrscheinlich nicht so laut geschrien wie am Vortag beim Familienstreit.

Es klopfte zum zweiten Mal – der Hotelmanager, trotz Sonntagmorgen und Sommer schon im dreiteiligen dunkelblauen Anzug mit gestreiftem Hemd und Krawatte, segelte in Begleitung eines verschlafen wirkenden, unrasierten Mannes in einer abgewetzten Cordhose und einem verwaschenen Polohemd, der einen großen schwarz-orangen Rucksack in der Hand trug, in die Suite. Der Manager drückte Lucas die Hand und deutete eine Verbeugung an, dann küsste er Giulia die Hand, murmelte etwas von Bedauern und Beileid, auch in Richtung der Töchter, und stellte seinen Begleiter als Doktor Hartmann vor.

Der grunzte in die Runde, dann schob er sich zum Tisch. »’tschuldigung«, brummte er. »Ich habe Wochenenddienst und war die halbe Nacht unterwegs. Kann ich erst mal einen Kaffee haben?« Weil sich sonst niemand rührte, stand ich auf und schenkte ihm einen Kaffee ein, was er mit einem munteren »Ich bin ein Süßer, ich nehme Milch und dreimal Zucker!« kommentierte.

Während der Arzt in aller Gemütsruhe seinen Kaffee trank, unterhielt sich Lucas leise mit dem Hotelmanager. Ich spitzte die Ohren und schnappte auf, dass der Hotelmanager davon sprach, den Bestatter anzurufen – ihm ging es natürlich darum, die Leiche so schnell und diskret wie möglich aus dem Haus schaffen zu lassen. Lucas bremste ihn – er solle doch bitte erst einmal abwarten, was der Arzt sage.

Der hatte mittlerweile seinen Kaffee getrunken und stand mit einem Seufzen auf. »Tja – wo liegt der Mann?«

Lucas deutete auf die Tür. »Brauchen Sie jemanden dazu?«

»Falls ich jemanden brauche, kann ich ja rufen!« Der Arzt schleppte seinen Rucksack zur Tür und verschwand dahinter.

Wir warteten schweigend, wobei der Hotelmanager nervös auf und ab ging, während Lucas zu mir getreten war und mir die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Eine ganze Weile lauschten wir auf die leisen Schritte des Arztes, hörten etwas klappern, dann das Geräusch eines Reißverschlusses. Mafalda begann zu weinen, Lucas machte einen Schritt nach vorne und streichelte über ihr Haar. »Ja, Mafi, das ist schlimm …«, sagte er leise.

Endlich kam der Arzt aus dem Zimmer, schloss die Tür hinter sich, zog die Gummihandschuhe aus, sah sich um und ließ sie dann in einen Papierkorb fallen. Er ging zum Tisch und griff nach der Thermoskanne. »Ich krieg noch einen Kaffee, ja?« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er sich eine frische Tasse, schenkte ein und gab Milch und Zucker dazu.

Lucas hatte sich wieder aufgerichtet. In seiner Stimme klirrte Eis, als er fragte: »Haben Sie uns nicht etwas zu sagen?«

Der Arzt trank einen Schluck Kaffee, öffnete dann seinen Rucksack und begann, darin zu wühlen. Schließlich legte er eine zerknautschte Mappe vor sich, hob den Kopf und schaute Lucas an: »Was soll ich sagen? Der Mann ist tot – und das wahrscheinlich schon seit vier, fünf Stunden. Auf jeden Fall kann ich ihm nicht mehr helfen.« Er zog ein Formular und einen Kugelschreiber aus der Mappe, dann wandte er sich an Giulia. »Ich nehme an, Sie sind die Witwe?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Herzliches Beileid. Aber Sie wussten, dass Ihr Mann Probleme mit dem Herzen hatte?«

Lucas schaltete sich ein. »Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie ihn daraufhin untersucht?«

Der Arzt war damit beschäftigt, das Formular auszufüllen. Ohne den Blick zu heben, sagte er: »Auf dem Nachttisch lagen Herzmedikamente – ziemlich harter Stoff.« Er kritzelte etwas auf sein Formular, dann fragte er in die Runde: »Kann ich mal seinen Pass haben?«

Einen Augenblick herrschte Verwirrung. Giulia schluchzte noch einmal auf, Mafalda ging zögernd in Richtung der Tür zum Zimmer ihres Vaters, Marietta unterdessen trat an den Sekretär und zog die Schublade auf. Sie sagte etwas Italienisches zu ihrer Schwester, dann nahm sie den Pass aus der Schublade und reichte ihn dem Arzt. Dann blieb sie neben Lucas stehen und sagte: »Lucas, unser Vater hatte vor drei oder vier Jahren einen Herzinfarkt. Er wollte aber nicht, dass jemand davon erfährt. Du weißt doch: Krank zu werden ist ganz mies für die Karriere.«

Und für die Eitelkeit, setzte ich im Geiste dazu. Miercoledi hatte doch immer versucht, sich ungeachtet seines Alters als Sportler und wahrer Supermann zu präsentieren. Ich erinnerte mich an die Fotos, die er in den sozialen Medien veröffentlicht hatte: Miercoledi ganz in Weiß mit Schweißband um die Stirn auf dem Tennisplatz; Miercoledi in Badehose und Schutzweste auf dem Jetski; Miercoledi mit Töchtern beim Skifahren; Miercoledi im Dress des AC Florenz bei einem Fußball-Charity-Match.

Je länger der Arzt am Formular schrieb, desto neugieriger wurde ich. Schließlich konnte ich nicht mehr widerstehen. Ich ging zum Tisch, schenkte mir auch einen Kaffee ein und schielte über die Schulter des Doktors auf das Papier. Es erinnerte mich mit seinen grau-weiß unterlegten Kästen an eine Steuererklärung, nur dass in dem obersten Kästchen »Totenschein« stand. Darunter kamen die persönlichen Angaben für Miercoledi, Guido Mario Michelangelo. Mein Blick fiel auf »Geburtsdatum«. Wie Lucas gesagt hatte: Miercoledi hatte in den letzten Jahren bezüglich seines Geburtsdatums geschummelt. Er hatte vor ein paar Tagen angekündigt, dass er in Kürze eine große Party zu seinem 75. Geburtstag schmeißen werde. Doch nun hatte der Arzt das Geburtsdatum aus dem Pass eingetragen: 24. August 1935. Also war Miercoledi 83 gewesen.

Bei »Identifikation« hatte der Doktor zwei Kästchen angekreuzt: »Nach Pass« und »Nach Angaben von Angehörigen/Dritten«. Darunter kam unter »Todesort« Name und Anschrift unseres Hotels und unter »Totenzeitpunkt« stand »circa vier Uhr«.

Zwei Zeilen tiefer wurde nach der »Todesart« gefragt. Da hatte der Arzt »Natürlicher Tod« angekreuzt.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich beim Lesen die Luft angehalten hatte. Es fiel mir erst auf, als ich mich bei einem erleichterten Ausatmen erwischte. Ich stellte die halbvolle Tasse ab – der Kaffee war inzwischen lauwarm und schmeckte abgestanden – und ging zu Lucas, der sich in einem Sessel niedergelassen hatte. Ich klemmte mich auf die Lehne und legte meinen Arm um seine Schulter, wofür ich ein kleines Lächeln bekam.

Seine Nähe beruhigte mich und plötzlich überlegte ich mir, warum ich ob des natürlichen Todes so erleichtert gewesen war. Es war doch wohl außer Zweifel gestanden, dass bei Miercoledi niemand nachgeholfen hatte! Verrückte Idee – wahrscheinlich meinem Schock beim Anblick der Leiche entsprungen.

Ich lehnte mich ein wenig mehr an Lucas. Er lächelte mir kurz zu, aber seine Augen blieben ernst und er wandte seine Aufmerksamkeit sofort wieder dem Arzt zu, der gerade sein Formular stempelte.

Lucas räusperte sich. »Wie geht es jetzt weiter?«

Der Arzt zuckte mit den Schultern und räumte Mappe, Stift und Stempel wieder in seine Tasche. »Das ist nicht mehr mein Problem. Von mir bekommen Sie jetzt den Totenschein und die Rechnung. Dann bin ich weg.«

Dem Hotelmanager, der die ganze Zeit schweigend an der Wand gelehnt hatte, war es offenkundig peinlich, dass der von ihm eingeführte Arzt so unfreundlich war. Er schaute ihn strafend an. »Ich denke, hier muss der Bestatter übernehmen. Wenn es Ihnen recht ist, begleite ich den Herrn Doktor Hartmann nach unten, regle die Sache mit der Rechnung und rufe den Bestatter an.«

Ich konnte mich nicht einmischen, aber Lucas hatte damit kein Problem. »Brauchen wir nicht noch die Polizei?«, erkundigte er sich.

Der Arzt, der gerade seinen Rucksack schloss, schüttelte den Kopf. Ohne Lucas anzuschauen, antwortete er: »Polizei brauchen Sie nicht. Ich habe ›Natürlicher Tod‹ angekreuzt, außerdem hatte er keine ansteckende Krankheit Also besteht keine Seuchengefahr. Unter diesen Umständen interessieren sich weder die Polizei noch das Gesundheitsamt für den Mann, also können Sie ihn normal bestatten lassen.« Er warf sich seinen Rucksack über die Schulter. »Tja, das war’s für mich. Schönen Sonntag kann ich hier wohl nicht wünschen. Also alles Gute!«

*

Nachdem der Arzt verschwunden war, erwachte Marietta aus ihrer Erstarrung und wurde aktiv, indem sie erst einmal Antonio Merlato, den langjährigen Agenten ihres Vaters, anrief und nach Lindau beorderte. Lucas und ich schauten uns unterdessen an, er nickte kurz und wir standen im gleichen Moment auf. Er rieb sich über die unrasierte Wange. »Ihr entschuldigt uns? Ich muss mich rasieren, Victoria will sich sicher anziehen. Aber wenn ihr uns braucht, meldet ihr euch, ja? Wir sind nur einen Anruf entfernt!«

Ich war erleichtert, als wir in unserer Suite angekommen waren. Obwohl wir beide Mario Miercoledi nicht sehr gemocht hatten – diesen Tod hätten wir ihm nicht gewünscht und so waren wir sehr erschüttert. Dementsprechend waren wir dann eine ganze Weile schweigend am Fenster gestanden, bevor ich mich ins Bad verzog. Als ich endlich geduscht und angekleidet war, orderte ich erst einmal Frühstück – noch mehr Kaffee und Spiegeleier mit Speck für Lucas, Tee und Obstsalat für mich.

Ich saß schon am Tisch, als Lucas frisch rasiert aus dem Bad kam. Er hatte das blaue T-Shirt, in dem er geschlafen hatte, gegen ein graues Polohemd getauscht, statt den Jeans trug er nun eine anthrazitfarbene Bundfaltenhose.

»Sein Tod geht dir ziemlich an die Nieren«, sprach ich ihn an.

Er nickte, ließ sich neben mir nieder und schenkte sich Kaffee ein. »Ich habe Giulia und die Mädchen gut 25 Jahre lang gekannt und er hat mich sogar ›Freund‹ genannt.« Er verstummte, rührte einen Würfel Zucker in seinen Kaffee und sagte langsam: »Die Mädchen tun mir leid. Es ist seltsam …« Er trank einen Schluck. »Ich habe Mafalda und Marietta immer gewünscht, dass sie sich von ihm freimachen und endlich ein eigenständiges Leben führen können.«

Ich wusste, dass er jetzt an seine eigene, sehr selbständige Tochter dachte, die Agrarbiologie studiert hatte und nun als Dozentin in Weihenstephan ist. Lucas hing sehr an ihr, telefonierte einmal in der Woche mit ihr, freute sich über jede Mail, vermisste sie und war sehr stolz darauf, dass sie ihr Leben so gut im Griff hatte.

Die Miercoledi-Töchter hatten nie eine Chance dazu bekommen. Beide Eltern hatten sie festgehalten und immer wieder den Familienzusammenhalt beschworen. Und in der Branche redete man darüber, dass Miercoledi ihnen gerne auch Männer ausgesucht hätte – wobei mir erzählt worden war, Lucas und Cayetano seien da Kandidaten gewesen. Ansonsten hatte der eifersüchtige Patriarch seine Töchter wie weiland Rigoletto beschützt – und der wollte den Herzog, der sich seinem Blondchen genähert hatte, bekanntlich umbringen lassen.

Lucas setzte sich, nahm die Silberhaube von seinem Rührei und begann zu essen. Nach einem Moment schluckte er. »Jetzt sind Marietta und Mafalda frei – aber ich hätte ihnen gerne den Schock erspart, ihren Vater in so einem Zustand sehen zu müssen.« Er fasste nach meiner Hand. »Dir und Giulia natürlich auch.«

»Für mich war es nicht so schlimm. Mir stand er ja nicht nahe.« Ich hatte mir Tee eingeschenkt, rührte zwei Kandisbrocken ein und lauschte auf das Knistern, mit dem sie sich im heißen Wasser auflösten. »Ich überlege mir nur, woran Miercoledi gestorben ist. Der Arzt vermutet, dass es das Herz war, aber wie passt das zu seinen Magen-Darm-Beschwerden?«

»Hinterwandinfarkt«, sagte Lucas. »Mein Vater ist an einem Hinterwandinfarkt gestorben. Die ersten Symptome sahen aus, als ob er sich einen Magen-Darm-Virus eingehandelt hätte.« Er war damals noch mit Ruth, seiner ersten Liebe, verheiratet gewesen. Sie war Ärztin und er hatte einiges bei ihr mitbekommen. »Ruth hat mir damals erklärt, das sei normal. Bei einem so schweren Infarkt schaffe es das Herz nicht mehr, alle Organe mit Blut zu versorgen, also schalte es erst mal die ab, die nicht unbedingt zum Überlegen gebraucht werden. Dazu gehört das Verdauungssystem.«

»Ruth wird darüber Bescheid gewusst haben«, sagte ich. Mich fröstelte beim Gedanken, wie einsam und elend Miercoledi gestorben sein musste. Andererseits: Er war 83 Jahre alt gewesen, er hatte Probleme mit dem Herzen gehabt, war aber dennoch wie ein Junger ständig um die ganze Welt gejettet und hatte überall den starken Mann gegeben. Ich kannte Leute, die ihn dafür bewunderten und seine Jugendlichkeit priesen.

Ich allerdings hatte mich schon länger gefragt, was ihn antrieb. Geld konnte es eigentlich nicht mehr sein. Er war als durchaus merkantil bekannt, man wusste, dass er in seinen besten Zeiten sehr hohe Gagen verlangt hatte, die er professionell hatte anlegen lassen, aber in den letzten Jahren hatte er in Insiderrunden immer damit angegeben, dass er eine ganze Schafherde im Trockenen habe.

Was war es dann gewesen? Das, was Lucas manchmal den »Bühnenüberflug« nannte? Es sei eine Form von Euphorie, die ihn überkomme, wenn in einer Rolle, die ihm besonders am Herzen liege – Don Giovanni, Posa, Beckmesser – die Vorstellung gut laufe und er das Gefühl habe, seine Rolle und seine Stimme voll im Griff zu haben. Dann mache es richtig Spaß und dann überkomme ihn manchmal die Euphorie. »Man fühlt sich da, als ob man nur die Arme ausbreiten müsste, um einen Rundflug unter der Decke machen zu können!«, hatte Lucas diesen Zustand einmal beschrieben.

War es das auch bei Miercoledi gewesen? Ich hatte Schwierigkeiten, mir das vorzustellen, denn in den letzten Jahren hatte Miercoledi doch immer wieder mit seiner Stimme gekämpft. Andererseits hatte er das wohl nicht so empfunden – er hatte nach einer Arie immer noch die Arme hochgerissen wie ein siegender Boxer im Endkampf und hatte es genossen, wenn sein Publikum ihn feierte.

War es das vielleicht gewesen? Beifall schien für Miercoledi so etwas wie das Lebenselixier gewesen zu sein. Ich musste nicht lange im Gedächtnis kramen, um das Bild vor Augen zu haben, wie Miercoledi und Lucas ihre »Vorhänge« – so nennt man es im Theater, wenn die Darsteller am Ende des Stückes an die Rampe treten und sich bejubeln lassen – bewältigt hatten. Lucas sah trotz seiner langen Bühnenerfahrung immer noch ein wenig verlegen aus, vergaß aber nie, sich beim Orchester zu bedanken und auch den Leuten auf den oberen Galerien ein Lächeln zu schicken. Er verschwand dann aber schnell wieder.

Miercoledi dagegen hatte im Applaus gebadet und mich immer an den alten Tenorwitz erinnert: Was macht ein Tenor bei Regen? – Er verbeugt sich nach allen Seiten, weil er das Prasseln an den Scheiben für Beifall hält. Miercoledi hatte sich nicht nur verbeugt, sondern außerdem Blümchen eingesammelt, Küsschen verteilt, Handibussis ins Publikum geworfen, mit der Hand auf dem Herzen den Gerührten gegeben – das volle Programm. Und, was Lucas stets amüsiert hatte: Beim Inspizienten stand dann Miercoledis Assistent, der nicht nur mitzählen musste, wie viele Vorhänge sein Maestro an diesem Abend hatte, sondern der es dann auch mit Datum und Ort hinten im Klavierauszug für die jeweilige Oper einzutragen hatte.

Miercoledi genoss es aber auch, auf der Straße erkannt zu werden! Vor vier oder fünf Tagen war ich dazugekommen, als er in Bregenz vor der Seebühne stand und zwei ältere Damen, die ihn verzückt anstrahlten, mit Autogrammen beglückte. Er hatte nämlich immer einige Fotos von sich in der Brusttasche seines Sakkos gehabt, weil er die Fans, die ihn unterwegs erkannten, »nicht enttäuschen wollte«. Gleichzeitig klagte er manchmal darüber, wie »lästig« es doch sei, dauernd erkannt und angesprochen zu werden. Er könne nicht mal in Ruhe ein Eis essen!

Ich riss mich aus meinen Gedanken und schaute Lucas an, der in Gedanken versunken sein inzwischen kaltes Rührei umstapelte. »Du, es ist vielleicht pietätlos, danach zu fragen«, fing ich an, »aber wie geht es jetzt mit unserer Produktion weiter? Müssen wir absagen?«

Lucas runzelte die Stirn und die Ärgerfalte erschien über seiner Augenbraue. »Das glaube ich nicht. Wir sind hier ja nicht beim Miercoledi-Festival. Allerdings werden wir Posa ersetzen müssen.«

»Hmm.« Ich kratzte mich hinter dem linken Ohr. »Andrew Payne? Er ist ein toller Posa.«

»Dein Lieblings-Posa?« Lucas grinste – solange sein durchaus attraktiver englischer Kollege nicht in der Nähe war, amüsierte er sich gerne darüber, dass ich den ausgesprochen mochte und auch recht ansehnlich fand.

»Du bist mein Lieblings-Posa!«, verteidigte ich mich. »Aber du willst ihn ja nicht mehr singen!«

»Hase, liebster!« Er verdrehte die Augen. »Ich bin zu alt für Posa.«

»Spaßvogel!« Ich schüttelte den Kopf. »Miercoledi fühlte sich mit 83 nicht zu alt – bei dem war Posa eben Carlos’ väterlicher Freund! Aber bei dir muss man nur die grauen Schläfen überfärben und ein bisschen schminken, dann gehst du auf der Bühne locker für 30 durch!«

»Wenn du meinst …« Lucas klang ziemlich skeptisch. »Aber auf jeden Fall wäre ich nicht wild darauf, den Posa zu singen und die Produktion zu inszenieren.«

»Das hast du mir schon vor Wochen erklärt, mein Goldstück!«, gab ich zurück. »Und deswegen habe ich eben Andrew Payne vorgeschlagen. Er ist für mich der zweitbeste Posa.«

»Leider nicht bei uns!«, bedauerte Lucas. »Der jodelt in Bayreuth den Abendstern7 an.«

»Iiiih!« Ich bin kein Wagner-Fan, was Lucas sehr wohl weiß. »Nach Bayreuth kriegt man mich erst wieder, wenn du dort den Beckmesser8 singst.« Ich fischte ein Stück Pfirsich und eine Viertel Walnuss aus meinem Obstsalat und kaute darauf herum. »Jacques Exbrailo«, fiel mir ein. Der junge Australier war ein Schüler von Lucas und ich fand, dass er ähnlich klang.

»Ist nicht zu haben!«, antwortete Lucas. »Er singt in Glyndebourne ›Billy Budd‹ – und wenn er damit fertig ist, macht er Familienurlaub mit Weib und Kindern. Den Urlaub brauchen er und seine Stimme dann auch – ›Billy Budd‹ ist verdammt anstrengend.«

Ich stieg von Tee auf frisch gepressten Orangensaft um. »Dann fällt mir noch Alexej Kudrjawzew ein. Das würde Mischa freuen – der mag den sehr.«

»Und noch mehr würde es unseren Intendanten freuen, denn mit dem schönen Alexej kriegt er die Bude mindestens so voll wie mit Miercoledi.« Lucas grinste.

»Klar – wenn du dann noch eine Szene einbaust, in der er das Hemd auszieht und seine Muskeln und das Tattoo zeigt? Die muss dann in den Trailer zur Vorankündigung,«

»Oh ja!«, stöhnte Lucas. »Dann bräuchten wir schon für die Proben verstärkte Security. Doch so sehr das dem Intendanten gefallen würde – Alexej ist auch nicht zu haben. Der singt in Salzburg den Scarpia.« Er trank einen Schluck Mineralwasser, dann stand er auf. »Aber du hast mich daran erinnert, dass ich jetzt unseren Herrn Intendanten in seinem Sonntagsfrieden stören muss. Dann können wir gemeinsam überlegen, wie wir Miercoledi ersetzen.«

*

Während Lucas mit Martin Haller-Rojas, dem Intendanten der Bregenzer Opernfestspiele, telefoniert hatte, war ich in unser Schlafzimmer ausgewichen und hatte meine Freundin Riikka angerufen.

Das Gespräch mit ihr schockte mich. Meine warmherzige, sonst so liebenswerte finnische Freundin erwies sich nämlich als ausgesprochen kaltschnäuzig. Meine Mitteilung von Miercoledis Tod kommentierte sie mit »Du erwartest hoffentlich nicht, dass ich in Tränen ausbreche, oder?«

Ich schluckte und sagte: »Bestimmt nicht. Er ist dir ja mindestens so schlimm wie mir auf die Nerven gegangen.«

Riikka zögerte einen Augenblick und ich hörte, wie sie eine Tür schloss. Dann sagte sie: »Ich fürchte, mir ist er noch mehr auf den Geist gegangen – ich musste ja öfter mit ihm arbeiten und ich wusste schon lange, dass er ein ausgesprochener Kotzbrocken ist …« Sie korrigierte sich sofort zu einem »war« und meinte, daran müsse sie sich erst einmal gewöhnen. Das würde aber schnell gehen, denn: »Ich bin froh, dass er weg ist.«

Das Thema schien sie mehr zu berühren, als ich es für möglich gehalten hätte, denn jetzt redete sie sich richtig in Rage. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand in der Szene Miercoledis Ableben bedauern wird – außer vielleicht ein paar Kriecher, die er mitgezogen hat, weil er es genoss, wenn ihm jemand Zucker in die Kehrseite blies. Nein, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass groß um ihn getrauert wird. Wahrscheinlich ist sogar seine Frau erleichtert, dass er endlich das Zeitliche gesegnet hat. Die hat er betrogen und gedemütigt und angelogen und behandelt, als wenn sie dennoch froh sein müsste, dass er sich zu ihr herunterlässt! Warte nur, bis sie über den ersten Schock hinweg ist! Dann wird sie feststellen, dass sie ohne ihn besser dran ist. Und mit dem Vermögen, das sie hoffentlich geerbt hat, kann sie als lustige Witwe gut noch ein paar schöne Jahre haben.«

»Na ja.« Ich kam auch mal wieder zu Wort. »Vorhin wirkte sie sehr erschüttert.« Wahrscheinlich war es mal wieder mein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis, das mich – bei aller Zuneigung zu Riikka – so sehr über ihren Ausbruch stolpern ließ. Wenn es nach mir ginge, müssten immer alle Menschen in meiner Umgebung bussi-bussi und lieb miteinander sein. »Die eine oder andere gute Eigenschaft wird er wohl gehabt haben – auch wenn wir beide wenig davon gemerkt haben.«

Ich hörte, wie Riikka tief ausatmete. Sie schien sich wieder etwas beruhigt zu haben, als sie antwortete: »Er war eindeutig gut darin, die guten Eigenschaften zu verstecken. Ich habe bei ihm jedenfalls nur eine entdeckt: Er konnte jungen Kollegen als abschreckendes Beispiel dafür dienen, wie mies sich Ruhm und Reichtum auf den Charakter auswirken können. Aber mal abgesehen davon: Hast du eine Ahnung, wie es mit unserer Produktion weitergeht? Was sagt Lucas?«

»Er telefoniert gerade mit Haller-Rojas«, erwiderte ich. »Er geht davon aus, dass die Produktion weitergeht und man einen anderen Bariton engagieren wird.«

»Gute Idee! Dann wird’s besser«, fand Riikka ungerührt. »Weißt du, ich habe eh nie verstanden, warum Haller-Rojas überhaupt Miercoledi engagiert hat. Als Bariton war der doch ein Witz – und nicht mal ein guter!«

»Stimmt«, gab ich zu. »Lucas war auch nicht eben glücklich über die Besetzung.«

»Die letzten Proben waren die Pest!«, schimpfte Riikka. »Sei froh, dass du bei der Orchester-Sitzprobe nicht dabei warst! Ich dachte, Mischa platzt vor Zorn! Und als du am Freitagmorgen mit dem Chor rumgemurkst hast, waren Ileana, Lucas, Miercoledi und ich mit Christopher im kleinen Studio. Es war die komplette Pest! Bei ihm kann man inzwischen wirklich sagen: Wenn er das in der Höhe hätte, was ihm in der Tiefe fehlt, wär’s eine gute Mittellage. Und wenn ihm dann mal einer gesagt hätte, dass es nicht reicht, die Töne ungefähr zu treffen …«

»Ja, Lucas hat auch schon geklagt …«, gestand ich ein.

»Wenn Lucas ihm vorgeführt hat, wie er es wollte, klang er besser als Miercoledi! Also, ich sag’s dir: Wenn der Regisseur in der Rolle besser klingt und aussieht als der Darsteller, ist im Besetzungsbüro ein Fehler passiert!« Riikka war eindeutig auf 180.

»Du hast recht.« Ich versuchte, meine Freundin ein wenig zu beruhigen. »Aber ich habe gar nicht gewusst, dass du ihn so sehr gefressen hast.«

»Tja …« Riikka schien einen Augenblick zu überlegen, dann sagte: »Bis ich zu dem ›De mortuis nil nisi bene‹9 komme, kann es noch eine Weile dauern.«

Meine Neugierde war erweckt. »Hast du mal mit ihm Stress gehabt oder warum bist du so sauer auf ihn?«, fragte ich und grub gleichzeitig im Gedächtnis. Wann war Riikka vor Bregenz schon einmal mit Miercoledi zusammengekommen? Mir fiel nur eine »Carmen« in Wien ein, bei der Riikka die Titelrolle und Miercoledi den Don Jose – damals vor acht oder neun Jahren war er noch als Tenor unterwegs gewesen – gesungen hatte.

Und dann kam es auch schon: »Ich hatte zweimal das Vergnügen mit ihm. Das erste Mal war eine ›Carmen‹ in Wien – mein Debüt dort. Und das zweite Mal war ein Jahr danach – die Neunte10 in München. Beide Male war er stimmlich nicht eben in Form.« Sie atmete tief durch. »Menschlich auch nicht.« Wieder eine kleine Pause, dann ein bitteres Auflachen: »Darüber schweigt der Sängerin Höflichkeit wohl besser. Aber jetzt ist er tot – und ich werde ihn sicher nicht betrauern.«

7 Das heißt, dass er den Wolfram von Eschenbach in Richard Wagners »Tannhäuser« singt. Dessen Staats- und Prachtarie beginnt mit den Worten »O du mein holder Abendstern«.

8 Sixtus Beckmesser ist der penible Stadtschreiber in Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg«.

9 lateinisch »Über die Toten nichts als Gutes«

10 Es gibt nicht wenige Komponisten, die neun (und mehr) Sinfonien geschrieben haben. Doch wenn Sänger von »der Neunten« reden, meinen sie die von Beethoven. Da sind sie ja am Schluss beteiligt.

Mord bei den Festspielen

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