Читать книгу ME/CFS erkennen und verstehen - Sibylle Reith - Страница 8

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Kapitel 1

ME/CFS:

Ein rätselhaftes Krankheitsbild


1.1 EIN KRANKHEITSBILD MIT VIELEN NAMEN

Seit dem ersten Auftreten von ME/CFS Mitte des vergangenen Jahrhunderts war immer im gleichen Atemzug von der Rätselhaftigkeit dieser Erkrankung die Rede. Sie gehört zu den vielschichtigsten und herausfordernsten Krankheitsbildern unserer Zeit.

Die Verwirrung fängt schon bei der Namensgebung an. Wer sich mit dem Thema beschäftigt, trifft auf mehrere Bezeichnungen, mit denen das Krankheitsbild im Laufe der Zeit und an verschiedenen Orten versehen wurde.

Hier einige der Bezeichnungen, die im engeren oder weiteren Umkreis für das Krankheitsbild, um das es hier geht, verwendet wurden oder werden. Einige sind diskriminierend.

■ Ch ronische Epstein-Barr-Infektion/CEBV

■ Ch ronische Mononucleosis Infektion (Mononukleose = Pfeiffersches Drüsenfieber)

■ Yuppie-Grippe

■ Non-HIV AIDS

■ Ep idemische Neuromyasthenie

■ Idiopathisches Chronisches Müdigkeitsund Muskelschmerz Syndrom (idiopathisch: ohne bekannte Ursache)

■ Postvirales Fatigue Syndrom

■ PIFS: Postinfektiöses Fatigue Syndrome

ME/CFS: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome

In diesem Buch verwende ich die heute weltweit gebräuchlichste Abkürzung ME/CFS als Sammelbegriff für dieses Krankheitsbild. ME und CFS werden meist synonym verwendet, ME vor allem in Europa und in Kanada, CFS eher in den USA und in Australien.

ME steht für Myalgische Enzephalomyelitis, dabei steht das Entzündungsgeschehen im Vordergrund. (Myalgie: „Muskelschmerz“, Enzephalomyelitis: Entzündung von Gehirn und Rückenmark). Dieser Begriff wurde Ende der 1950er Jahre geprägt. Als „Myalgische Enzephalomyelitis“ ist die hier dargestellte Krankheit seit 1969 (!) von der Weltgesundheits-Organisation (WHO) als neurologische Erkrankung klassifiziert (aktuell ICD-10; G 93.3).

CFS ist die Abkürzung für engl. „Chronic Fatigue Syndrome“. Diese englischsprachige Bezeichnung wurde 1988 durch die sogenannte „Holmes-Definition“ geprägt und ersetzte die Bezeichnung „Chronic Epstein-Barr virus syndrome“. 1.1 /1, Holmes et al. Im deutschen Sprachraum wird die Erkrankung „Chronisches Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom“ genannt. ▸ Siehe Kapitel 1.3.1

Der Begriff Syndrom

Krankheitsbilder, die nicht durch Laborwerte eindeutig diagnostiziert werden können, werden üblicherweise so genau wie möglich definiert und damit eingegrenzt. Experten erarbeiten anhand der regelhaften Symptommuster und bekannter Befunde „am Konferenztisch“ eine Charakteristik der Krankheit, die dann als „Syndrom“ bezeichnet werden kann. Syndrom ist keine präzise Krankheitsbezeichnung oder Diagnose, sondern eine Zusammenfassung von Symptomen, ein krankheitstypischer „Zustandsbericht“, auf den sich Experten geeinigt haben - unabhängig von nachweisbaren Laborwerten.

Konsenskriterien

Kein Arzt konnte die zahlreichen und massiven Beschwerden, über die betroffene Patienten berichteten, anhand der erhobenen Befunde erklären. Aus dieser Ratlosigkeit entstanden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte mehrere sogenannte Konsenskriterien, die die rätselhafte Erkrankung charakterisierten und von anderen Erkrankungen abgrenzten. Patienten, die z.B. nach den weitgefassten Oxford-Kriterien diagnostiziert werden, sind nicht zwingend identisch mit Patienten, die nach den Fukuda-Kriterien oder den präziseren Internationalen ME-Konsens-Kriterien 2011 diagnostiziert werden.

Seit den ersten Erwähnungen ist ein wissenschaftlicher Disput zu verfolgen, bei dem sich die Verfechter verschiedenen Ansätze vehement streiten. Es gibt kaum eine Krankheit, die so zum Spielball weltanschaulicher Hypothesen und Debatten, wissenschaftlicher Karrieren, gesundheitspolitischer Aspekte und wirtschaftlicher Interessen wurde wie ME/CFS. Unter „historisch“ bedingten Verharmlosungen und Stigmatisierungen haben ME/CFS-Patienten noch heute zu leiden.

Die deutsche Bezeichnung „Chronisches Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom“ ist unglücklich gewählt und wird oft als diskriminierend empfunden. Zum einen, weil das Symptom Fatigue (Müdigkeit, Erschöpfung) eine Beschwerde ist - und keine Krankheit. Zum anderen ist die Fatigue zwar bei vielen Patienten ein herausragendes Symptom - aber lange nicht das Einzige. Und zum dritten verharmlost der Begriff die Brisanz dieser Erkrankung - wer ist heutzutage nicht mal müde und erschöpft?

ME - Myalgische Enzephalomyelitis vs. Chronic Fatigue Syndrom - Fakten Hintergründe Forschung ist der Titel eines Buches von Katharina Voss. Die Bloggerin und Mutter zweier schwer erkrankter Töchter erläutert in dem Buch und in ihrem Blog den medizinischen Unterschied zwischen der „Myalgischen Enzephalomyelitis/ME“ und dem „Chronic Fatigue Syndrom/CFS“. Sie kritisiert, dass in der Praxis und in Studien unter dem Begriff CFS allzu leicht unterschiedliche Erkrankungen, die mit Erschöpfung einhergehen, subsummiert werden. Das 543 Seiten umfassende Buch widmet sich vielen weiteren ME-relevanten Themen. ▸ Siehe Anhang 2/ Blog und Anhang 3 / Buch

In den USA wird die Erkrankung mittlerweile häufig „CFIDS“ genannt, als Abkürzung für „Chronic Fatigue and Immune Dysfunction Syndrome“ (Deutsch: „Chronisches Erschöpfungs- und Immundysfunktions-Syndrom“). Diese Bezeichnung hat sich im deutschsprachigen Raum nicht durchgesetzt.

Im Februar 2015 hat das U.S.-amerikanische Institute of Medicine/IOM, (jetzt National Academy of Medicine/NAM) nach der Auswertung von 9000 wissenschaftlichen Arbeiten zu ME/CFS einen umfassenden Bericht mit dem Titel: Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness vorgelegt (Deutsch: „Jenseits von Myalgischer Enzephalomyelitis und Chronischem Müdigkeitssyndrom: Neudefinition einer Krankheit“). Die Kommission schlug in diesem Bericht die Bezeichnung „Systemic Excertion Intoleranz Disease“ (SEID)/ Deutsch: Systemische Belastungs-Intoleranz-Erkrankung vor. Bisher hat sich auch diese Bezeichnung nicht durchgesetzt. 1.1 /2, iom

Es scheint derzeit, als stünde(n) die letztgültige(n) „Taufe(n)“ der Namensgebung für ME/CFS, bzw. für dessen Untergruppen noch aus.

Die Suche nach dem Biomarker

Schon diese kurze Übersicht, die sich nur auf die Namensnennung bezieht, lässt erahnen, dass die Krankheit ME/CFS sehr vielschichtig ist. Bis heute gibt es keine schlüssige Erklärung für das Auftreten von ME/CFS und keinen bestimmenden einzelnen Labortestwert, der durchgängig bei allen Betroffenen eindeutig auffällig gewesen wäre.

Wer an z.B. Rheumatoider Arthritis leidet, kann eine eindeutige Diagnose erwarten. Um diese Erkrankung und damit verbundene Gewebeschäden frühzeitig zu erkennen, steht eine ganze Palette von Biomarkern zur Verfügung.

Biomarker sind messbare Laborparameter, die als eindeutige Indikatoren für die Diagnostik verwendet werden können. Pathologische Veränderungen lassen sich objektiv darstellen. Für ME/CFS wurde bisher kein eindeutiger Biomarker gefunden. Seit die Krankheit bekannt geworden ist, suchen Wissenschaftler nach einem Schlüssel, der einerseits die Unterschiedlichkeiten und andererseits die Gemeinsamkeiten erklären könnte.

Gesucht wird ein Laborwert, der die eindeutige Aussage zulässt, ob jemand an ME/CFS erkrankt ist - oder eben nicht. Ein solcher Wert würde möglicherweise auch Auskunft über die Ursache der Erkrankung geben und als Grundlage für eine geeignete Therapie dienen. Und nicht zuletzt würde ein solch „beweisender“ Wert gutachterliche Auseinandersetzungen wesentlich vereinfachen.

Nach jahrzehntelanger Suche gibt es erfreulicherweise in jüngster Zeit zunehmend internationale Studien, die Patienten und Behandlern Grund zur Hoffnung geben.

In Kapitel 4 „Aktuelle internationale Forschung“ wird die Arbeit des 2015 gegründeten Forschungsverbundes EUROMENE vorgestellt. EUROMENE hat einen länderübergreifenden Forschungsbericht zu ME/CFS-relevanten potentiellen Biomarkern erstellt. Im gleichen Kapitel 4 werden einige herausragende Studien vorgestellt, deren Fokus auf das Finden von Biomarkern gerichtet ist.

1.2 DIE INTERNATIONALEN ME-KONSENS-KRITERIEN 2011

ME/CFS wird bislang nur über klinische Symptome diagnostiziert, also über die Beschwerden, die der Patient berichtet. Zu den gebräuchlichsten Konsenskriterien, die die Krankheit ME/CFS definieren, gehörten oder gehören:

■ Die Oxford-Kriterien 1991: Nach dieser Definition werden auch Patienten mit unspezifischen Erschöpfungszuständen, wie sie bei psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen beobachtet werden, eingeschlossen. Nach heutigen Erkenntnissen sind sie zu weit gefasst. Die Ergebnisse von Studien, die die Studienteilnehmer anhand dieser Kriterien auswählten, sind sehr umstritten.

■ 1994 wurden die sogenannten Fukuda Kriterien entwickelt, auf denen viele ältere Studien zu ME/CFS basieren. Auch sie schließen psychosomatische und psychische Erkrankungen nicht eindeutig aus. Psychische Erkrankungen und ME/CFS sind jedoch unterschiedliche Krankheitsbilder, auch wenn gemeinsame Symptome vorliegen.

■ 2003 wurden die sogenannten Kanadischen Konsenskriterien entwickelt. Sie beschreiben die immunologischen, neurokognitiven und weiteren Beeinträchtigungen. Sie bieten damit ein genaues und eng gefasstes Diagnoseschema. Zudem werden bewährte Therapieoptionen vorgestellt.

Das Komitee des US-amerikanischen Institute of Medicine (IOM) schlug 2015 sehr kurzgefasste Kriterien vor. Die Erkrankung, für die von den Autoren der Name „Systemic Excertion Intoleranz Disease“ (SEID) vorgeschlagen wurde, liegt demnach vor, wenn der Patient seit mindestens sechs Monaten unter Fatigue, Post-Exertional Malaise und nicht erholsamem Schlaf leidet, kombiniert mit kognitiven Beeinträchtigungen und/oder einer Zustandsverschlechterung beim aufrechten Stehen. Diese Kriterien werden als zu undetailliert kritisiert.

Die Internationalen ME-Konsenskriterien 2011/ME-ICC 2011

Im Juli 2011 wurde eine überarbeitete, aktualisierte Version der Kanadischen Konsenskriterien 2003 in The Journal of Internal Medicine unter dem Originaltitel Myalgic encephalomyelitis: International Consensus Criteria 2011 (ME-ICC 2011)/Deutsch: Myalgische Enzephalomyelitis: Internationale Konsenskriterien 2011 veröffentlicht. 1.2 / 1, ME-ICC 2011

13 Länder und ein breites Spektrum an Fachgebieten waren bei den Beratungen vertreten. Die Autoren betonen, dass durch diese Expertenrunde ca. 500 Jahre klinische Erfahrung abgebildet wurden - die von ihnen diagnostizierte und behandelte Patientenzahl wird mit insgesamt 50 000 Patienten angegeben. Mehrere Mitglieder des Gremiums haben wissenschaftliche Arbeiten und/oder Bücher publiziert.

Nur für Patienten, die die Kriterien der ME-ICC 2011 erfüllen, soll der Begriff „Myalgische Enzephalomyelitis“ verwendet werden, da dieser die „genaueste und angemessenste Bezeichnung“ sei. Ziel der ME-ICC 2011 ist es, eine relativ homogene ME-Patientengruppe zu bilden, um sie mit anderen Patientenpopulationen vergleichen zu können und um spezifische ME-Krankheitsmechanismen zu erforschen.

Patienten, die bislang nach unterschiedlichen Konsenskriterien eine ME oder CFS-Diagnose bekommen haben, sollen anhand der ME-ICC 2011 neu beurteilt werden Wer diese Kriterien nicht erfüllt, hat nicht ME, sondern fällt in die umfassendere, heterogene Klassifikation „CFS“, die zukünftig durch weitere Klassifizierungen in Subgruppen unterteilt werden kann.

Die Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 gelten aktuell verbindlich als wissenschaftlich-medizinische diagnostische Grundlage für ME. Sie sollen einerseits dazu dienen, diagnostisch eindeutig Patientengruppen für die Forschung bestimmen zu können, andererseits definieren sie Richtlinien für die Behandlung. Damit wurde ein wichtiger Beitrag zu einer, dem derzeitigen Forschungsstand entsprechenden, objektivierenden Klassifizierung geleistet.

Patienten könnten anhand dieser Kriterien eine fachärztliche Diagnostik ihrer Krankheit erwarten. Die Realität sieht aktuell leider noch anders aus.

Zum Weiterlesen:

Der im Jahr 2012 herausgegebene International Consensus Primer for Medical practioners (englischsprachiger Download) basiert auf den ME-ICC 2011. Dieser Konsensleitfaden wurde auf Deutsch übersetzt. ▸ Siehe Anhang 3

Auf den Seiten der Lost-Voices-Stiftung finden Sie einen Vergleich verschiedener Konsenskriterien: www.lost-voices-stiftung.org/ was-ist-me/diagnosekriterien/

Vergleich der Konsenskriterien (Englischsprachig): Case definitions and diagnostic criteria for Myalgic Encephalomyelitis and Chronic fatigue Syndrome: from clinical-consensus to evidence-based case definitions. Gerwyn Morris, Michael Maes 2013 1.2/2, Morris, Maes

1.2.1 ZUR VERWENDUNG DES BEGRIFFS „ME/CFS“ IN DIESEM BUCH

Warum ist in diesem Buch im Folgenden nicht ausschließlich von ME die Rede, wie die ME-ICC 2011 es nahelegen, sondern von ME/CFS? Die Begrifflichkeiten bei diesem Krankheitsbild sind ein Dilemma. Denn kaum haben wir verstanden, dass ME sich unterscheidet von CFS, werden wir mit mehreren Stolpersteinen konfrontiert:

■ Die bisherigen Studien (auch aktuelle) verwenden entweder ME oder (meistens) CFS oder eine Kombination. Es klappt also nicht, ausschließlich den Begriff ME zu verwenden und dann Studien zu CFS oder zu ME/CFS darzustellen. Auch wegweisende Studien wie z.B. die Naviaux-Studie verwenden den Begriff „Chronic Fatigue SyndroME/CFS“. ▸ Siehe Kapitel 4.8

■ Der Begriff ME, ist nicht unumstritten, weil es nur wenige direkte Belege für eine Gehirnentzündung (Enzephalomyelitis) gibt.

■ Viele Patienten wissen derzeit nicht, ob sie ME oder CFS haben.

■ Bei nationalen und internationalen Patienten-Organisationen und in Publikationen werden beide Begriffe verwendet.

Da dieses Buch den Fokus auf die derzeitig höchst unbefriedigende medizinische und soziale Versorgung richtet, scheint es mir derzeit gerechtfertigt, beide Abkürzungen zu verwenden. Es ist zu hoffen, dass für zukünftige Studien die ME-ICC 2011 zugrunde gelegt werden. Dann können Aussagen getroffen werden, die ausschließlich Patienten betreffen, die diese eng gefassten Kriterien erfüllen. Auch für „CFS“ wird es dann sehr wahrscheinlich Subgruppen mit unterschiedlichen Biomarkern geben. Mehrere Studien konnten potentielle Biomarker für ME und für CFS zeigen, die absehbar in naher Zukunft verwendet werden können.

In den folgenden Kapiteln werden viele Studien beschrieben. Da in diesem Buch auf sehr viele Studien Bezug genommen wird, ist nicht durchgehend vermerkt, ob die Probanden als CFS, ME/CFS oder als ME-Patienten bezeichnet wurden. Die Details der Studien können Sie jedoch anhand der Quellenangaben erfahren.

Individualisierte Diagnostik

Erkenntnisse und Erfahrungswerte zu multisystemischen Erkrankungen nehmen ständig zu. Diese Erkenntnisse sind eng mit der rasanten Entwicklung der Zellbiologie und der Molekularbiologie verknüpft, die durch neue Techniken zu einer explosiven Vermehrung von Wissen über Zellaktivitäten geführt hat. Jeder einzelne Patient kann schon heute auf seine individuelle Biosignatur untersucht werden - das wäre vor 10 Jahren noch undenkbar gewesen.

Diese Erkenntnisse revolutionieren derzeit auch schon unser Diagnose-System. Denn wo bisher nach unterschiedlichen Diagnosen mit unterschiedlichen Therapien behandelt wird, wird zukünftig möglicherweise diagnoseübergreifend nach biologisch basierten Merkmalen behandelt. Ein multisystemisch erkrankter Mensch wird dann z.B. folgende Untersuchungen durchlaufen:

■ Immunologische Merkmale/Infektion/ Entzündung

▸ Siehe Kapitel 4.3; Kapitel 4.5

■ Merkmale des Stoffwechsels, Stoffwechselstörungen

▸ Siehe Kapitel 4.8; Kapitel 4.6.1

■ Genetische/epigenetische Merkmale, z.B. genetische Untersuchung der Entgiftungsfunktion und/oder der Stress-Antwort, weitere

▸ Siehe Kapitel 4.3 / Kapitel 4.9.1

■ Darmgesundheit/Mikrobiom

▸ Siehe Kapitel 4.11

■ Diagnostik des Energiestoffwechsels/ Mitochondrien-Gesundheit

▸ Siehe Kapitel 4.8

■ Diagnostik des Nervensystems

▸ Siehe Kapitel 4.10

Die Therapie richtet sich dann nicht nach einer Diagnose (z.B. ME oder CFS oder anderen), sondern nach den tatsächlich vorgefundenen objektivierbaren Merkmalen.

In dem in der Einleitung erwähnten Band 2 MULTISYSTEM-ERKRANKUNGEN erkennen und verstehen werden unterschiedliche Krankheitsbilder beschrieben und verglichen, die mit multisystemischen Fehlregulationen einhergehen. Dabei zeigt sich, dass wir es kaum mehr mit abgrenzbaren, eindeutigen Krankheitsausprägungen zu tun haben, sondern mit komplexen Krankheitsbildern, die miteinander verflochten sind und sich überlappen. Diese Krankheitsbilder sind unscharf, die Diagnosestellung ist oft kompliziert. Es gibt ein unüberschaubares Geflecht von Ursachen, Auslösern und verstärkenden Faktoren.

70-80 % aller Patienten haben heute „nur“ funktionelle Störungen und rund 50 % aller Untersuchungen enden ohne Befund. Das bedeutet, dass sie ohne spezifische Untersuchungen, die über den Standard hinausgehen, nicht als organische Schädigungen erklärbar sind.

Krankenkassen und Versorgungswerke, sowie deren Gutachter werden sich damit anfreunden müssen, dass die Zeiten, in denen alle Krankheiten „etikettiert“ werden konnten, vorbei sind.

Bei multisystemischen Erkrankungen werden wohl Begriffe wie „Formenkreise“ oder „Spektrum-Erkrankungen“ und eine spezifische Diagnostik Einzug halten. Je früher, desto besser.

1.3 FRAGEBOGEN ZU ME/CFS

Für ME/CFS-Patienten bedeuten Alltagstätigkeiten Gipfelbesteigungen. Schon nach scheinbar geringfügigen Anstrengungen brauchen Betroffene Stunden oder Tage zur Regeneration, Schwer- und Schwerstbetroffene oft sogar Wochen. Die meisten Patienten können nicht mehr arbeiten, viele sind pflegebedürftig und/oder bettlägerig. Die Patienten erleben ein krasses Missverhältnis zwischen einer körperlichen oder kognitiven Belastung und der anschließenden globalen Zustandsverschlechterung, die Englisch als „Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion“ bezeichnet wird und sich mit PENE abkürzen lässt. ▸ Siehe Kapitel 5.1: Differenzierung Fatigue, PEM, PENE

Für Nichtbetroffene ist kaum vorstellbar, dass Schwer-Erkrankte sich nach scheinbar mässigen Anstrengungen unverhältnismäßig lange ausruhen müssen und eine generelle Zustandsverschlechterung erfahren (Schmerzen, kognitive Störungen, Schlafstörungen und viele weitere). Dazu kommen weitere chronische unspezifische, oft nicht lokalisierbare Symptome, wie sie auch bei anderen Erkrankungen auftreten.

Die Patientengruppen sind sehr heterogen. Sowohl die Einschränkungen wie auch die Stärke der Erkrankung unterscheiden sich. Manche Patienten leiden vor allem unter Muskel- und Gelenkschmerzen, andere an kognitiven Störungen, wieder andere vor allem unter der Tatsache, dass sie nicht gut schlafen können - um nur drei Beispiele zu nennen. Es gibt noch wesentlich mehr unterschiedliche Beschwerden, die sich zudem gegenseitig nicht ausschließen.

So vielfältig die Symptome und damit die Patienten sind - die überdurchschnittlich leichte Erschöpfbarkeit und die Tatsache, dass selbst ausgiebiges Ausruhen keine ausreichende Regeneration bewirkt, gehört zu den herausragenden Kriterien. Diese Beschwerden treten bei anderen, ähnlichen Erkrankungen so nicht auf.

Der folgende Fragebogen kann Ihnen helfen herauszufinden, ob Sie möglicherweise zur Patientengruppe der an ME/CFS-Erkrankten gehören. Er dient lediglich als erster Erkundungs-Schritt. Bitte beachten Sie, dass ausschließlich das Leitsymptom PENE spezifisch bei ME/CFS auftritt. Alle weiteren Beschwerden, die unter Punkt II abgefragt werden, sind unspezifisch, treten also auch bei vielen anderen Erkrankungen auf. Dieser Fragebogen ist daher nur hinweisend und nicht beweisend. Falls Sie viele (nicht zwingend alle) Fragen ankreuzen, wird eine weitere Abklärung empfohlen.

Dann sollten Sie mit einem Behandler den medizinischen Fragebogen der Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 durchgehen (gilt für Erwachsene) oder einen der Fragebogen für Kinder, auf die in Kapitel 3.2 verwiesen wird. Jedwede Fragebögen sind jedoch immer Teil einer umfassenden Anamnese und weiterführenden Differenzialdiagnostik und nie alleine als Diagnoseinstrument ausreichend. ▸ Siehe Kapitel 5.1

Bei Schmerzen im ganzen Körper sollte auf das Fibromyalgie-Syndrom/FMS untersucht werden. Bei starker Überempfindlichkeit gegen Chemikalien sollte das verwandte Krankheitsbild Multiple Chemikalien-Sensitivität/ MCS abgeklärt werden.

Bin ich ME/CFS-Patient(in)?

Das Leitsymptom „Neuroimmunologischer Entkräftung nach Belastung“ / „Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion / PENE“

□ Für jedwede Tätigkeit, auch für scheinbar minimale, muss ich mich anstrengen.

□ Nach kognitiven oder körperlichen Anstrengungen muss ich mich über das normale Maß lange und ungestört ausruhen.

□ Sobald ich mir zu viel zumute, verschlechtern sich über kurz oder lang (verzögert) alle meine Beschwerden. Zum Beispiel nehmen Schmerzen und/ oder Schlafstörungen oder grippeähnliche Symptome zu und/oder ich kann mich nicht mehr gut konzentrieren und/oder habe z.B. Wortfindungs-Störungen.

□ Besonders anstrengend oder gar unmöglich sind Tätigkeiten, die nur im Stehen erledigt werden können.

□ In meinem „früheren Leben“, als ich noch keine PENE-Symptome kannte, war ich deutlich leistungsfähiger.

Fragen zu den sieben Subsystemen

Siehe ▸ Kapitel 1.4

□ Ich fühle mich oft, auch nach scheinbar nur geringen Anstrengungen, als sei „meine Batterie“ leer. Dann hilft nur Ausruhen, nichts anderes.

□ Ich kann meiner Familie/Freunden/ Kollegen kaum verständlich machen, wie sich diese Erschöpfung anfühlt.

□ Ich schlafe selten oder nie richtig gut.

□ Nach dem Aufwachen fühle ich mich nicht wirklich erholt und tatkräftig.

□ Es gelingt mir selten, mich tiefgreifend zu erholen und zu regenerieren. Mein Tag/Nacht Rhythmus ist verschoben.

□ Ich habe häufig Schmerzen: Kopfschmerzen, Migräne oder Schmerzen in den Muskeln, Gelenken oder jedwede andere. Die Schmerzen können wandern, ich bin schmerzempfindlicher als andere. Die Schmerzen können großflächig sein oder lokal begrenzt oder ausstrahlend.

□ Manchmal/oft habe ich Zuckungen.

□ Manchmal/oft kann ich Bewegungsabläufe nicht koordinieren, dann stolpere ich oder ich verschlucke mich.

□ Ich fühle mich manchmal/oft undefinierbar krank und schwach.

□ Selbst das Atmen kann anstrengend sein.

□ Manchmal habe ich grippeähnliche Symptome, auch Halsschmerzen und empfindliche Lymphknoten.

□ Ich habe oft virale Infekte und brauche lange, um mich davon wieder zu erholen.

□ Meine Verdauung ist nicht in Ordnung.

□ Ich bereite meine Mahlzeiten meist selbst zu, denn manche/viele Nahrungsmittel kann ich nicht vertragen.

□ Ich vertrage keinen Alkohol.

□ Ich reagiere überempfindlich gegen Medikamente und/oder Chemikalien.

□ Extreme Temperaturen kann ich kaum ausgleichen, ich achte z.B. sehr darauf, nie zu warm oder zu leicht angezogen zu sein. Ich vertrage schlecht, wenn es sehr heiß oder sehr kalt ist.

□ Ich habe häufig kalte Hände und/ oder Füße.

□ Manchmal/oft fühle ich mich, als hätte ich keinen Zugriff auf meine Gehirnfunktionen. („Brain fog“). Ich kann dann kaum spontan Informationen oder Begriffe abrufen, die ich eigentlich weiß. Oder es fällt mir nicht mehr ein, was ich gerade sagen wollte.

□ Ich kann dann nicht klar denken, mich kaum konzentrieren, dann spreche und denke ich verlangsamt. Das kann bis zu Zuständen von Verwirrung und Desorientierung führen.

□ Zwei Aufgaben gleichzeitig zu erledigen überfordert mich.

□ Alle möglichen Wahrnehmungen können mich überreizen, z.B. Musik, Lärm, Gerüche, Licht, Erschütterungen oder Berührungen. Visuelle Reize wie schnelle Bildschnitte im Fernsehen oder der Aufenthalt in Menschenmengen überfordern mich.

□ Manchmal/oft nehme ich eine Herzunruhe, ein -stolpern oder Herzklopfen wahr.

□ Manchmal/oft fühle ich mich benommen und/oder schwindelig.

□ Ich kann nicht lange aufrecht stehen bleiben.

□ Ich muss dringend und/oder häufig Wasser lassen, oft auch nachts.

□ Ich bin häufig anlasslos hypernervös und innerlich unruhig.

□ In stressigen Zeiten verstärken sich diese Beschwerden zusätzlich.

1.4 FRAGEN ZUM KRANKHEITSBILD ME/CFS

Wie beginnt die Erkrankung?

Oft gerät die körperliche Unversehrtheit durch Infektionen aus dem Tritt: Zahlreiche Patienten berichten von einer akuten Infektion (z.B. Pfeiffersches Drüsenfieber), von der sie sich nicht mehr erholen können.

Innerhalb weniger Tage, manchmal sogar innerhalb von wenigen Stunden, entstehen grippeähnliche Symptome, oft begleitet von Hals- oder Kopfschmerzen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Konzentrations-, Gedächtnis- und Schlafstörungen. Anders als bei einer Grippe bleiben die Beschwerden jedoch über Wochen anhaltend bestehen. Aus gesunden Personen werden „im Handumdrehen“ behandlungsbedürftige ME/CFS-Patienten.

Manche Patienten berichten von einem akuten Beginn nach Unfällen oder nach mehrfachen, in kurzen Abständen erfolgten Impfungen, nach Operationen, nach Fremdkörper-Implantationen (z.B. Zahn-, Hüft-Implantate) oder nach einem anderen schwerwiegenden Ereignis. Häufig wird berichtet, dass die Zeitphase um den Ausbruch besonders stressreich und mit körperlicher und/ oder psychischer Überlastung verbunden war. Offen bleibt die Frage, ob diese Ereignisse Ursache oder Auslöser sind. In deutlich weniger Fällen (Schätzungen gehen von 25 % aus) tritt ME/CFS auch schleichend auf. Die Mehrheit der Patienten sind Einzelfälle. Allerdings gab es mehrere ungeklärte Massenausbrüche: z.B. in Island (1948), in London (1956), in Neuseeland (1984), und in den USA (1984/85).

Wechselwirkungen und Verflechtungen

In gewisser Weise kann man die Symptome bei ME/CFS mit der Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten beim Lottospielen vergleichen. Jeder ME/CFS-Patient weist ein ganz individuelles Mosaik an Beschwerden auf, die auf den jeweiligen Auslösern und auf der individuellen Konstitution des Einzelnen beruhen. Manche Wissenschaftler gehen mittlerweile von einem multifaktoriellen Geschehen aus, d.h. dass nicht eine einzige Ursache den Ausbruch der Erkrankung bewirkt, sondern dass mehrere Faktoren (als Ursache, Auslöser oder Verstärker) durch Wechselwirkungen und Verflechtungen zusammenwirken. Mehrere Körpersysteme sind betroffen, was in der Folge wiederum zu den unterschiedlichsten individuellen Beschwerden bei den Patienten führt. Der Unterschied zum Lottospielen ist jedoch deutlich: Während es beim Lotto Gewinner gibt, ist ME/CFS durch den massiven Verlust an Lebensqualität gekennzeichnet.

Die vielfältigen Störungen manifestieren sich organübergreifend. Das vegetative und das Zentral-Nervensystem sind chaotisiert, immunologische Prozesse sind gestört, die zuverlässige Bereitstellung von Energie für den Stoffwechsel ist nicht gewährleistet. Sinneswahrnehmungen werden verstärkt empfunden. Der Organismus ist in seiner Totalität betroffen, das biochemische Räderwerk verläuft unkoordiniert. Die Fähigkeit zur Selbstregulierung ist durch diese labilen und irregulären Abläufe eingeschränkt. Es kommt zu Fehlfunktionen auf mehreren Ebenen, verbunden mit der Unfähigkeit, auf wahrnehmbare und verborgene Reize angemessen zu reagieren. Elementare Lebensprozesse verlaufen pathologisch.

ME/CFS ist eine organische Erkrankung, bei der nicht ein einzelnes erkranktes Organ als Schwachstelle in Erscheinung tritt.

Die üblichen hausärztlichen Untersuchungen bleiben bei ME/CFS ohne Befund. Auch die üblichen fachärztlichen Befunde sind zu unspezifisch. Ärzte sind mit dieser undurchschaubaren Situation, bei der die Symptome nicht zu den Laborwerten passen wollen, genauso überfordert wie die Patienten. Weder die Hausärzte noch die Fachärzte (er) kennen das Krankheitsbild. Da keine organischen Störungen vorzuliegen scheinen, werden ME/CFS-Patienten Fehldiagnosen wie Depression, Neurasthenie, Posttraumatische Belastungsstörung, Hypochondrische Störung (F45.2), Somatisierungsstörung (F45.0) sowie weitere psychische oder Verhaltensstörungen attestiert.

Es gibt keine ME/CFS-Fachdisziplin

Stellen Sie sich vor, Sie hätten Krebs und es gäbe keine Onkologen, keine Anlaufstellen und keine spezialisierten Zentren und Krankenhäuser.

Zahlreiche Patienten beschreiben in Blogs und/oder Foren ▸ Siehe Anhang 2 die Variationen der Hilflosigkeit: Vom achselzuckenden Nicht-Ernstnehmen über jahrelange Ärzte-Odysseen bis hin zu gravierenden Fehldiagnosen. Mehr zu der katastrophalen Versorgungs-Situation finden Sie in Kapitel 3.

Wenn aber der Arzt nicht helfen kann – wer dann?

Welche Symptome treten auf?

ME/CFS ist eine Ganzkörper-Erkrankung. Sieben Sub-Systeme im Organismus weisen funktionelle und/oder strukturelle Schädigungen auf:

■ Der mitochondriale Energiestoffwechsel

■ Die Immunfunktionen

■ Die neuroendokrine Stress-Antwort, vermittelt über den Sympathikus und über die Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-Achse

■ Das Zentralnervensystem/ZNS (Gehirn und Rückenmark)

■ Das autonome Nervensystem: Das vegetative Nervensystem steuert unsere Vitalfunktionen, z.B. die Körpertemperatur, die Pulsrate, die Atemfrequenz u.a.

■ Die Magen-Darm-Funktion/Verdauung

■ Das Mikrobiom

Je nachdem, welche Subsysteme in welchem Ausmaß bei jedem Einzelnen betroffen sind, gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Beschwerden. Meist ist das Auftreten der Symptome schwankend (oftmals innerhalb von Stunden) und somit unvorhersehbar. Das macht Tagesplanungen und die Teilnahme am Arbeitsleben sehr schwierig bis unmöglich. Je nach Ausmaß der Fehlsteuerung kann es von leichten Befindlichkeitsstörungen bis hin zum Versagen der Anpassung auf mehreren Ebenen kommen. Die Bandbreite möglicher Symptome reicht von unspezifischem Unwohlsein über Benommenheits- oder Verwirrungszustände bis hin zu ext remer Kraftlosig- und Bettlägerigkeit und/oder Pflegebedürftigkeit. Die Symptome können sich bei einzelnen Patienten im Laufe der Zeit verändern.

Leitsymptom PENE

Die Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion/PENE (Deutsch: „Neuroimmune Entkräftung nach Belastung“) ist das Leitsymptom des ME/CFS. ▸ Siehe Kapitel 5.1.2: Fatigue, PEM oder pene? Es verweist auf die globale Zustandsverschlechterung nach kognitiver, körperlicher oder psychischer Überanstrengung. Alle Symptome können sich dann verschlimmern. Die weiteren ME/CFS-Symptome sind unspezifisch, d.h. sie treten auch bei anderen Erkrankungen auf.

Häufige Symptome (Auswahl):

Immunologische Ausprägungen

■ Wiederkehrende grippeähnliche Symptome mit Fieber, Halsschmerzen und empfindlichen oder schmerzhaften Lymphknoten im Hals- oder Achselbereich.

■ Allgemeines Krankheitsgefühl.

■ Überempfindlichkeiten gegen Nahrungsmittel, Medikamente und/oder Chemikalien.

■ Impfungen werden oft schlecht vertragen.

Schlafstörungen: Der Schlaf ist nicht erholsam. Häufig wird von Einschlafstörungen und Durchschlafstörungen (Insomnien) berichtet und/oder von Tagesschläfrigkeit (Hypersomnie). Die chronischen Schlafstörungen können die Leistungsfähigkeit zusätzlich stark einschränken.

Schmerzen/Sensibilitätsstörungen: Patienten berichten häufig über Schmerzen. Diese treten in den Muskeln und/oder in den Gelenken auf. Oft „überall“ und wandernd („Fibromyalgie-Schmerz“). Muskelschwäche führt zu motorischen Störungen. Auch Kopfschmerzen treten häufig auf, sowie Taubheitsgefühl oder Kribbeln in der Haut.

Neurologische/Kognitive/Zerebrale Ausprägungen

■ Gedächtnisstörungen, verminderte Konzentration.

■ Schwierigkeiten bei der Informationsverarbeitung, Wortfindungs-Schwierigkeiten.

■ Erniedrigte Reizschwelle: Überlastung durch kognitive, sensorische sowie emotionale Reize, z.B. Lichtempfindlichkeit und Überempfindlichkeit gegenüber Lärm.

■ Wahrnehmungs- und sensorische Störungen.

■ Verwirrtheit, Desorientiertheit (Brain fog).

■ Bewegungskoordinationsstörungen (Ataxien).

■ Muskelschwäche, -krämpfe und Muskelzuckungen, Lähmungen.

Autonome Ausprägungen

■ Orthostatische Intoleranz (Orthostase: aufrechte Körperlage): Beim Aufstehen kommt es zu einem erhöhten Puls und zu Benommenheit und/oder Schwindel. Die Beschwerden lassen nach, wenn sich die Patienten hinlegen. Die Orthostatische Intoleranz kann durch das Posturale Tachykardie Syndrom (POTS) bedingt sein oder durch eine neural vermittelte Hypotonie.

■ Herzklopfen mit oder ohne Herzrhythmusstörungen, Kurzatmigkeit nach Belastung, Blässe.

■ 90 % aller ME/CFS-Patienten klagen über Darmprobleme/Reizdarmsyndrom, Übelkeit.

■ Blasen-Dysfunktionen: häufiges Wasserlassen.

Neuroendokrine Ausprägungen (Nerven, Hormonsystem)

■ Verminderte Stressresistenz

■ Teilleistungs-Störungen beim Hören und Sehen

■ Überempfindlichkeit auf vielfältige Sinnesreize („Multi-Sensory Sensitivity“/MUSES)

■ Schilddrüsen-Dysfunktionen

■ Temperaturextreme können schlecht ausgeglichen werden. Kalte Hände und Füße, Hitzewallungen. Intoleranz gegenüber Hitze- und Kälteextremen.

■ Störungen der Sexualität und der Fortpflanzung, u.a. Menstruationsstörungen.

Wie ist der Verlauf?

Die Beschwerden können über Jahre oder Jahrzehnte anhalten. Manche Patienten erleben eine langsame Verbesserung. Wenige erholen sich vollständig, manche erleiden eine kontinuierliche Verschlechterung. Rückfalle oder zyklische Verläufe können auftreten. Eine Prognose ist nicht möglich. Über Folge-Erkrankungen oder bleibende Organschädigungen gibt es keine gesicherten Studien.

Manche Betroffene sind arbeitsfähig. Das bedeutet in der Praxis, dass die Erwerbsarbeit mit den verbliebenen Kräften halbwegs geleistet werden kann - für weitere Tätigkeiten reicht die Kraft kaum mehr aus. Andere arbeiten halbtags oder reduzieren auf wenige Stunden. Nicht wenige schaffen selbst dieses reduzierte Arbeitspensum nicht - sie sind an das Haus oder an das Bett gebunden. Es gibt Schwer- und Schwerstbetroffene ME/CFS-Patienten, die mit der Sonde ernährt werden müssen und pflegebedürftig sind.

Es gibt keine belastbare Statistik, es wird jedoch geschätzt, dass ein Viertel aller ME/CFS-Patienten das Haus nicht mehr verlassen können, viele davon sind bettlägerig. Mehr als die Hälfte aller Betroffenen ist vermutlich arbeitsunfähig. Forschung ist nötig, um hier verlässliche Werte zu erhalten.

Wer ist betroffen?

Die Krankheit tritt in allen ethnischen Gruppen und in allen sozioökonomischen Schichten auf. Frauen sind zwei- bis viermal (je nach Quelle) so häufig betroffen wie Männer. Die Erkrankungs-Wahrscheinlichkeit steigt im mittleren Lebensalter an. Individuelle oder familiäre/genetische Immundefekte oder Autoimmun-Erkrankungen erhöhen das Risiko, an ME/CFS zu erkranken.

Besonders bitter ist, dass auch Kinder und Jugendliche erkranken. Diese Gruppe kann nicht oder kaum auf die Erfahrung einer normalen Leistungsfähigkeit zurückgreifen. Oft wird die Krankheit nicht erkannt und die Kinder leiden doppelt. ▸ Siehe Kapitel 3.2

Einige Prominente haben ihre ME/CFS-Diagnose öffentlich gemacht, dazu gehört z.B. Olaf Bodden, ehemaliger Bundesliga-Star. Der Fußballer stand vor der Berufung in die Nationalmannschaft. 1996 erkrankte er am Pfeifferschen Drüsenfieber und musste zunächst mehrere Monate pausieren. Danach spielte er wieder, hatte einen Rückfall und im Dezember 1997 musste er schließlich seine aktive Karriere beenden und erhielt die Diagnose ME/CFS. Seit 2014 sitzt er im Rollstuhl. Heute kann er seine Wohnung kaum mehr verlassen, weil ihm die Kraft fehlt. Da die Diagnose ME/CFS karriereschädigend ist, vermeiden (Spitzen-) Sportler meist tunlichst, sie öffentlich zu machen. Gerade sie sind jedoch oft betroffen, so der Experte Doz. Dr. sc. med. Bodo Kuklinski in seinen Büchern. ▸ Siehe Anhang 3

Keith Jarrett, der amerikanische Jazz-Pianist, erhielt Ende der 1990er Jahre die Diagnose ME/CFS. Eineinhalb Jahre konnte er gar nicht mehr Klavier spielen, danach ging es sehr langsam, mit Rückschlägen, wieder aufwärts. Blake Edwards war ein US-amerikanischer Filmregisseur und -produzent, Schauspieler, Drehbuchautor und Oscar-Preisträger. Die Pink-Panther-Reihe und den Klassiker Frühstück bei Tiffany mit Audrey Hepburn und vieles mehr haben wir ihm zu verdanken. Er litt 15 Jahre bis zu seinem Tod an ME/CFS und an Depressionen. In dem 2000 erschienen Dokumentarfilm I Remember Me von Kim A. Snyder, die auch selbst erkrankt war, kam er als Betroffener zu Wort.

Was unterscheidet ME/CFS vom Burnout-Syndrom?

Im Unterschied zum Burnout-Syndrom handelt es sich bei ME/CFS nicht um einen Erschöpfungszustand, der sich durch Überlastung erklären lässt. Auch wenn die Symptome auf den ersten Blick denen eines schweren Burnout-Syndroms sehr ähnlich sind, handelt es sich doch um verschiedene Krankheiten.

Ist ME/CFS eine Art von Depression?

Nein, auch hier gibt es ähnliche Symptome und Überschneidungen, aber es handelt sich um unterschiedliche Krankheitsbilder. Depression ist kein Krankheitsmerkmal des ME/CFS. ME/CFS-Patienten haben, anders als depressive Patienten, in der Regel das starke Bedürfnis, aktiv zu sein, sind aber körperlich nicht in der Lage dazu. Sie zeigen Interesse und sind motiviert.

Dr. Frank H. Duffy ist Neurologe in Boston, Massachusetts. Er veröffentlichte mit Kollegen 2011 eine Studie, an der 70 diagnostizierte CFS-Patienten (Anmerkung: In dieser Studie wird der Begriff „CFS“ verwendet),

24 Patienten mit Depressionen und 148 Patienten mit allgemeinen Fatigue-Symptomen teilnahmen. Nach wissenschaftlicher, spezifischer Auswertung der EEGs aller drei Gruppen wurden 10 Faktoren gefunden, mit denen man die CFS-Patienten klar von Patienten mit Major Depression und von gesunden Probanden unterscheiden konnte. Die Studie konnte zeigen, dass die Physiologie des Gehirns von CFS-Patienten sich sowohl von gesunden wie auch von depressiven Patienten unterscheidet. 1.4/1, Duffy

Unbestritten kann ME/CFS, wie jede andere Lebenskrise oder schwere Erkrankung auch, sekundär, also als Folge der erschwerten Lebensumstände und der verminderten Lebensqualität zu psychischen Belastungen, insbesondere zu Depressionen führen. Eine reaktive Angststörung oder Depression kann auftreten, wenn die Krankheit die Arbeitsfähigkeit und damit die Existenz bedroht und/oder familiäre und weitere soziale Beziehungen belastet. Und unbestritten wird es eine Anzahl von Patienten geben, die primär an einer Depression erkrankt waren und zusätzlich, als weitere Erkrankung, ein ME/CFS entwickelten.

Wie verbreitet ist ME/CFS?

1999 wurde eine Studie veröffentlicht, die ergab, dass 422 CFS Fälle pro 100.000 Personen, also etwa 0,4 % der US-amerikanischen Bevölkerung, an CFS erkrankt waren, davon etwa 70 % Frauen. 1.4/2, Jason Überträgt man diese Rate auf Deutschland, ergibt sich eine Zahl von 320 000 Betroffenen. Diese Zahl wird seit Erscheinen der Studie vor mittlerweile 19 Jahren (Stand 2018) als Referenzwert von Jahr zu Jahr weitergegeben. Sie ist in vielen Dokumentationen zu finden. Spätere Studien ergaben signifikant differierende Prävalenzschätzungen von 0,3 % bis knapp über 3 %. In diesen Studien wurden für dieses an sich schon sehr heterogene Krankheitsbild unterschiedliche Klassifizierungen mit uneinheitlichen Fallkriterien zugrunde gelegt. Es ist somit nicht sichergestellt, dass alle untersuchten Patienten tatsächlich ME/CFS-Patienten im Sinne der aktuellen Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 waren.

Unter der Überschrift: Bundesregierung: Forschung zu Chronischem Erschöpfungssyndrom muss weiterentwickelt werden gab die Bundesregierung auf der offiziellen Seite des Bundestags mit Datum 06.03.2013 bekannt, dass im Jahr 2011 bei 790 Krankenhauspatienten in Deutschland die Diagnose „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ gestellt wurde. Dies lasse sich aus entsprechenden Diagnosedaten der Krankenhäuser entnehmen, schrieb die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“ zum Thema CFS. 1.4/3, Bundestag

Bei diesen 790 CFS-Neu-Diagnosen für 2011 sind aufgrund fehlender Statistiken weder weitere Facharztpraxen berücksichtigt, die 2011 diese Diagnose qualifiziert neu erstellt haben, noch die ME/CFS-Patienten, die unter anderen Diagnosen fehlgelistet wurden, noch die ME/CFS-Patienten, die überhaupt nicht diagnostiziert wurden. Andererseits ist auch bei den Krankenhausdiagnosen nicht sichergestellt, dass die untersuchten Patienten tatsächlich ME/CFS-Patienten im Sinne der heute gültigen Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 waren.

Seit Januar 2008 ist das Robert Koch-Institut (RKI) bundesweit dafür zuständig, ein Gesundheits-Monitoring durchzuführen, das den aktuellen Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten sowie relevante gesundheitliche Einflussfaktoren unter die Lupe nimmt.

Die Daten werden wie bei einem Baukastensystem aus verschiedenen Komponenten (Kinder- und Jugendgesundheitssurvey/KiGGS; Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland /DEGS und Gesundheit in Deutschland aktuell/GEDA) erstellt und durch weitere Datenerhebungs-Projekte wie z.B. Krebs-/Diabetes-Registerdaten, Regionale Gesundheitsregister, Versorgungsdaten (z.B. Versichertendaten), Amtliche Statistik (Mortalitäts-, Renten-, Pflegestatistik) und Kohortenstudien ergänzt. Für HIV werden zusätzlich Meldebögen des RKI angeboten. Die epidemiologischen Daten zu Krebs, Diabetes, HIV und zu weiteren Erkrankungen werden jährlich auf der Basis dieser ausgebauten medizinischen Daten-Infrastruktur erstellt. Diese bieten eine umfassende Daten- und Informationsgrundlage für die Berichterstattung, die Gesundheitspolitik und für die Gesundheitswissenschaften.

Für ME/CFS gibt es eine solche medizinische Datenerhebung nicht einmal ansatzweise. ME/CFS fällt durch die Maschen all dieser Datenerhebungs-Projekte.

Laut der veralteten, aber auch laut der aktualisierten Leitlinie Müdigkeit sollte die Diagnose ME/CFS möglichst keine Erwähnung finden. ▸ Siehe Quellverweis 2.2/ 15 Häufig wurde und wird ME/CFS als psychische Erkrankung fehldiagnostiziert oder als chronische Erkrankung der Atemwege, des Kreislaufsystems, des Muskel-Skelettsystems oder z.B. als Fibromyalgie.

In dem mehrfach erwähnten Bericht des US-amerikanischen Institute of Medicine/IOM von 2015 ▸ Siehe Kapitel 1.1 ist zu lesen, dass Patienten oft erst nach Jahren die Diagnose ME/CFS erhalten und dass geschätzte 84 % bis 91 % aller ME/CFS-Patienten noch nicht diagnostiziert seien. 1.4 / 4, IOM

Diese hohe Dunkelziffer ist erstaunlich. Sie wird jedoch durch eine US-amerikanische Studie annähernd bestätigt. In dieser Untersuchung wurden 100 000 Krankenschwestern über 20 Jahre (zwischen 1989 und 2009) beobachtet. 240 Krankenschwestern entwickelten (nach den CDC 1994/ Fukuda-Kriterien) im Laufe dieser Zeit eine ME/CFS-Erkrankung. Diese Diagnose erhielten jedoch nur 15 % der Betroffenen. Also wurden auch hier 85 % der Betroffenen nicht als ME/CFS-Patientinnen diagnostiziert. 1.4/5, tandfonline

Ist ME/CFS übertragbar?

Das Kanadische Gesundheitsministerium, die Neuseeländischen Blutbanken und das Australische Rote Kreuz veranlassten 2010 vorübergehend ein Blutspendenverbot für ME/CFS-Patienten. Im Juni 2010 empfahl auch die amerikanische American Association of Blood Banks/AABB von ME/CFS-Patienten keine Blutspenden anzunehmen. Grund war eine 2009 im Wissenschaftsmagazin Science erschienene Studie, die das Whittemore Petersen Institut (WPI) in Kooperation mit dem National Cancer Institute und der Cleveland Clinic (USA) erstellt hatte. Die Studie wies auf mögliche Zusammenhänge zwischen dem Retrovirus XMRV und ME/CFS hin. Doch dieser Verdacht konnte in Folgeuntersuchungen nicht bestätigt werden. Die Studie wurde mittlerweile zurückgezogen. Derzeit gibt es, aufgrund fehlender Studien, weder einen zwingenden Beweis für eine Übertragung der Krankheit ME/CFS durch Bluttransfusionen oder Organtransplantationen noch für das Gegenteil. Es gab wiederholt ME/CFS-Epidemien in Krankenhäusern oder anderen begrenzten Orten (z.B. Mitte der 1980er Jahre am Lake Tahoe/ USA). Diese Zusammenhänge sind ungeklärt.

1.5 KLASSIFIZIERUNG NACH PATHOLOGISCHEN VERÄNDERUNGEN

Den individuell sehr unterschiedlichen Beschwerden liegen zahlreiche pathologische Veränderungen zugrunde. Die Liste möglicher Fehlsteuerungen bei ME/CFS ist sehr umfangreich. In den Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 werden sie folgendermaßen zusammengefasst:

„Die Myalgische Enzephalomyelitis ist eine erworbene neurologische Erkrankung mit vielschichtigen, umfassenden Fehlfunktionen. Die herausragenden Merkmale sind eine pathologische Dysregulation des Nerven- und des Immunsystems sowie der endokrinen Systeme, verbunden mit gestörtem zellulären Energiestoffwechsel und gestörtem Ionentransport.“ 1.5/1, ME-ICC 2011

Der renommierte Harvard-Professor und ME/CFS-Experte Anthony Komaroff beschreibt folgende Fehlsteuerungen:

„Es gibt objektive biologische Vorgänge, die bei Menschen mit CFS anomal verlaufen… Sie betreffen mit Sicherheit das Gehirn, das zentrale Nervensystem, das autonome Nervensystem, das im Gehirn entspringt und sich dann über die Nerven im gesamten Körper verbreitet, um die vitalen Funktionen des Körpers zu steuern, die Körpertemperatur, die Pulsrate, die Atemfrequenz usw., das Immunsystem, es betrifft den Energiestoffwechsel und die Mitochondrien, welches die kleinen Organellen in jeder Zelle sind, die die Energie für sie produzieren. Es gibt genetische Studien, die die genetischen Unterschiede belegen, […] und dann gibt es schließlich den Zusammenhang zwischen Infektionserregern und dieser Krankheit.“ 1.5/2, Komaroff

Das Merkmal aller multisystemischen Erkrankungen und auch des ME/CFS ist der Verlust der Homöostase. Jeder Reiz, sei er innerkörperlich (z.B. eine Entzündung) oder von außen (Hektik, Mobbing, Umweltgifte, Viren oder Bakterien etc.) wird über viele Kanäle wahrgenommen und verlangt nach einer Reaktion. Ist der Duft angenehm oder weist er darauf hin, dass das Essen nicht mehr in Ordnung ist? Sind die eingedrungenen Bakterien nützlich oder stellen sie eine Bedrohung dar? Der lebende Organismus wird ständig gefordert und ist permanent damit beschäftigt, auf allen Ebenen gesund, d.h. im Gleichgewicht zu bleiben. Dieser dynamisch-labile Zustand der permanenten Anpassung wird Homöostase genannt.

In Kapitel 4 werden unterschiedliche Fehlfunktionen erläutert und der jeweilige aktuelle Stand der Forschung dazu vorgestellt. Ausführliche Darstellungen der Fehlsteuerungen finden Sie z.B. auch in der Ärztebroschüre des Fatigatio e.V. ▸ Siehe Anhang 1 und in weiteren Schriften oder Internetseiten, die auf den Serviceseiten aufgelistet sind.

Ursache, Auslöser oder Verstärker?

Wer an einer Bienengiftallergie leidet hat keinerlei Beschwerden, solange ihm keine Biene zu nahe kommt. Ein Stich hingegen kann lebensbedrohliche Auswirkungen haben. Ursache (Bienengiftallergie) und Auslöser (Stich einer Biene) sind klar erkennbar und spezifisch. Ganz anders verhält es sich bei ME/CFS. Die Ursache(n) des ME/CFS ist/sind noch nicht geklärt. Aber ME/CFS-Patienten sind so verletzlich, dass zahllose Auslöser (Trigger) zu Rückfällen oder Verschlechterungen führen können oder als Verstärker das Krankheitsgeschehen negativ beeinflussen. Ursache, Auslöser und Verstärker interagieren und können kaum klar zugeordnet werden. Zu den Einflussfaktoren gehören potentiell alle Faktoren, die uns körperlich, seelisch oder mental stressen: z.B. virale, bakterielle und parasitäre Infektionen, psychische Belastungen/Traumatisierungen, toxische Belastung mit diversen Umweltgiften und Chemikalien (Insektizide, Pestizide, Lösemittel, toxische Schwermetalle) und viele andere.

MÖGLICHE KLASSIFIZIERUNGEN

Es wird immer deutlicher, dass das Krankheitsbild ME/CFS in Untergruppen gegliedert werden wird. Schon 1994 wurde in den Fukuda-Kriterien angeraten, über die Verwendung von Biomarkern Untergruppen zu identifizieren. Wir sind Zeitzeugen der Klassifizierung dieser Erkrankung. Je weiter die Forschung fortschreitet, desto deutlicher werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten innerhalb von Patientengruppen - und desto präziser werden die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Im Moment ist unklar, wie ME/CFS, bzw. die Untergruppen dieser Erkrankung in Zukunft klassifiziert werden. Es gibt verschiedene Optionen:

■ Als „Sammeldiagnose“ mit verschiedenen Untergruppen, die sich durch Biomarker unterscheiden;

■ Möglich ist auch, dass die verschiedenen Untergruppen jeweils als eigenständige Erkrankungen anerkannt werden.

■ Einiges spricht auch für ein Kontinuum mit verschiedenen Schwerpunkten, aber fließendem Übergang zwischen den Multisystem-Erkrankungen ME/CFS, MCS (Multiple-Chemikalien Sensitivität) und dem Fibromyalgie-Syndrom FMS. Liegt hier eine gemeinsame Grund-Erkrankung vor - mit unterschiedlichen Symptom-Schwerpunkten?

■ Vielleicht wird man in absehbarer Zeit von „Multisystemischen Spektrum-Erkrankungen“ sprechen wie das heute schon bei „Autismus-Spektrum-Störungen“ der Fall ist. Auch bei Autismus gibt es unterschiedliche Symptome, Ausprägungen und Schweregrade.

■ Eine weitere Möglichkeit ist, dass Klassifizierungen nach biochemischen Signaturen und nicht nach Diagnosen unterschieden werden. So können z.B. genetisch bedingte Störungen der Entgiftung bei unterschiedlichen Krankheitsbildern auftreten - bei ME/CFS, aber auch bei ganz anderen Erkrankungen.

1.6 LEBEN MIT ME/CFS

„Gesundheit ist eben überhaupt nicht ein Sich-Fühlen, sondern ist Da-Sein, In-der-Welt sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig oder erfüllt sein.“

Hans Georg Gadamer

Der Verlust der Gesundheit geht mit weiteren Verlusten einher. ME/CFS-Patienten verschwinden aus der Gesellschaft. Die Lost-Voices Stiftung und die Aktion „Millions missing“ drücken dieses Verschwinden in Ihrer Namensgebung aus.

Die oft massiven Beschwerden sind seelisch und körperlich extrem belastend und führen zu einer existentiellen Beeinträchtigung der Lebensqualität. ME/CFS kann für Schwerstbetroffene lebensbedrohlich sein. Die Patienten werden nicht nur durch die Krankheit selbst belastet, sondern auch durch die sozialen, psychischen und materiellen Folgen. Eben stand man noch im Leben, nun braucht man Hilfe und wird sogar zum Bittsteller. Die finanzielle Grundsicherung ist nicht gewährleistet. Das Leben ist von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Die fehlende Belastbarkeit ist nicht verstehbar und nicht vermittelbar, ohnmächtig steht der Patient dem gegenüber, was ihm geschieht. Die Unversehrtheit ist geraubt. Täglich entsteht Frust über die unerklärlichen Kraftlöcher. Für Betroffene und deren Angehörige ist es eine Mammutaufgabe, mit dieser Situation zurechtzukommen.

Der Energielevel des Körpers gibt vor, ob individuelles Potential ausgelebt oder nicht ausgelebt werden kann - die Seele muss sich arrangieren. ME/CFS-Patienten erleben ständig, dass das, was sie leisten können, nicht identisch ist mit dem, wozu sie „eigentlich“ in der Lage wären.

ME/CFS-Patienten leiden meist nicht unter fehlendem Antrieb - sie leiden darunter, dass sie sich ständig schonen müssen. „Eigentlich“ ist man ganz gesellig, „eigentlich“ reist man gerne, „eigentlich“ war die Arbeit Lebensinhalt. Für das soziale Umfeld wird man von der Person zum Patienten. Betroffene können ihrer Umgebung kaum erklären, dass sie „eigentlich“ ganz anders sind, als es sich darstellt.

Soziale Aspekte

Wer Krebs hat, löst, wenn er davon spricht, im Zuhörer gleich eine Assoziationskette von Begriffen aus: Tumor, Chemotherapie, Operation … Aber ME/CFS? Gesunde können die Beschwerden, mit denen ME/CFS-Patienten leben, weder in der Dauer noch in der Ausprägung nachvollziehen. ME/CFS ist „unsichtbar“: Betroffenen ist ihre Erkrankung oft nicht anzusehen. ME/CFS lässt sich kaum mit drei Worten erklären. So ist gegenseitiges Unverständnis fast zwangsläufig: einerseits will der Betroffene nicht in eine ausschweifende Rechtfertigungssituation geraten - andererseits ist der Gesprächspartner überfordert.

ME/CFS-Patienten haben nicht nur mit medizinischen Fragestellungen zu tun, was bei einer so schweren Krankheit schon genug wäre, sie kämpfen an mehreren „Fronten“, z.B.:

■ Sie müssen mit der Krankheit selbst zurechtkommen, die so diffus und kompliziert ist, dass sie selbst kaum verstehen können, was ihnen geschieht.

■ Patienten können nicht mit ihren Angehörigen zu einer Beratungsstelle gehen. Sie müssen ihr Umfeld selbst aufklären - werden aber selbst auch nicht aufgeklärt.

■ Patienten erleben häufig stigmatisierende Situationen.

■ Die finanzielle Sicherheit geht verloren: mit den geringen Kraftreserven müssen noch Versorgungsansprüche erfochten werden.

Stabile soziale Kontakte zeichnen sich durch Verlässlichkeit aus. Wenn Menschen sich verabreden, wird als Ausnahme hingenommen, dass man kurzfristig absagt. ME/CFS-Patienten können aber kaum voraussagen, ob sie zu jener Zeit an genau diesem Tag über die nötige Energie verfügen. Verabredungen erhöhen den Stresspegel enorm: Muss man sich zum Geburtstag der Freunde schleppen oder hat man vielleicht Glück? Wird sich an diesem Tag der Kopf wie Watte anfühlen, so dass man nur mühsam dem Durcheinander der Stimmen folgen kann - oder wird es ein guter Tag sein, scheinbar wie früher? Dann riskiert man allerdings, dass Menschen, die dem Betroffenen nicht so nahestehen sich fragen: was erzählt er/sie denn, er/sie sei krank???

Die Folgen der Energie-Achterbahn sind sozial extrem unverträglich. Nichts ist planbar.

Das kann zu Beziehungsbrüchen führen, bis hin zur sozialen Isolation. Wer von der Familie oder Freunden aufgefangen wird, hat Glück. Wie viele Betroffene völlig auf sich alleine gestellt sind, ist nicht bekannt.

Das Gleichgewicht von Anspannung und Entspannung, von Wachen und Schlafen ist nachhaltig gestört. Die erschöpften Patienten sehnen sich nach Erholung - aber kaum legen sie sich todmüde ins Bett, will der Schlaf nicht kommen. Im Gegenteil, eine innere Unruhe macht sich breit. Die Nächte sind nicht erholsam, am Tage fühlt man sich wie gerädert und weit entfernt von geistiger Frische: Was stand in der Zeitung, die ich eben gelesen habe? Im Gespräch mit der Nachbarin will einem der Name ihres Sohnes partout nicht einfallen. Im Büro gelingt es kaum, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Großereignisse wie Familienfeiern oder der eigene runde Geburtstag werden zu Stress-Ereignissen, Verpflichtungen wie Elternabende zu Gipfelbesteigungen. ME/CFS-Patienten verschwinden stillschweigend aus dem gesellschaftlichen Leben. Viele Betroffene haben extrem wenig Kraft: Sie reicht nicht zum konzentrierten Lesen, nicht für Besuche, bei Schwerkranken nicht für den Gang zur Toilette, geschweige denn zum Verlassen des Hauses. ME/CFS-Betroffene erleben verfrüht, was es bedeutet abzubauen. Was gegen das Ende des Lebens hin als physiologischer Prozess des Alterns eintritt wird vorverlegt: Ein Nachlassen der Vitalität, der Kraft, der Ausdauer, der Leistungs- und Reaktionsfähigkeit.

ME/CFS erkennen und verstehen

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