Читать книгу Veränderungskompetenz fördern - Sibylle Tobler - Страница 8

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1 Ein Blick in die Praxis: Wie begegnen Menschen Veränderung?

»Wenn der Wind der Veränderung weht,

bauen die einen Mauern,

die anderen Windmühlen.«

Chinesisches Sprichwort

Einige Beispiele aus meinem Praxisalltag veranschaulichen Vielfalt und Unterschiedlichkeit individueller Situationen und Strategien im Umgang mit Veränderung ( Kasten 2).

Kasten 2

Wie Menschen Veränderung begegnen – Beispiele

• Frau Ast, Akademikerin, hat innerhalb relativ kurzer Zeit mehrmals die Arbeitsstelle verloren. Sie ist talentiert und frustriert. Sie ist überzeugt, wiederholt Opfer von Mobbing zu sein.

• Eine junge Tamilin erhält bei der Stellensuche Absage um Absage. Sie geht realistisch und gut vor. Sie bleibt dran und sie bleibt fröhlich. Auf meine Frage, wie sie es schaffe, so fröhlich zu bleiben, antwortet sie: »Ich hoffe einfach, etwas wird kommen.«

• Herr Peter, Parkinsonpatient, musste aufgrund der Krankheit seine Karriere aufgeben. Er begann auf sein Hobby Naturphotographie zu fokussieren und dieses zu professionalisieren. Er ist heute viel unterwegs. Er sagt: »Für mich gehen immer wieder Türen auf.«

• Herr Rieder, ebenfalls Parkinsonpatient, sagt: »Mit Parkinson bin ich ein Krüppel. Das Leben macht keinen Sinn mehr.«

• Frau Müller, Pflegedienstleitende in einer Klinik, klagt: »Wir haben jedes Jahr Arztrochade. Jedes Mal muss alles wieder auf den Kopf gestellt werden. Ich habe die Nase voll.«

• Frau Geiser, in deren Firma viel reorganisiert wird, fragt: »Wie kann ich reale Probleme ansprechen – ohne dass das als Kritik aufgefasst wird?«

Solche Praxissituationen sowie theoretische Reflexion haben mich im Hinblick auf die Arbeit mit Menschen in Veränderungssituationen zu drei Prämissen veranlasst ( Kasten 3).

Kasten 3

Was führt im Umgang mit Veränderung vorwärts? Prämissen

1. Jeder Mensch begegnet Veränderung anders. Dies erfordert eine offene und differenzierte Wahrnehmung.

2. Nicht Umstände sind entscheidend, sondern wie Umständen begegnet wird. Haltung und Verhalten sind einzubeziehen.

3. Was im Umgang mit Veränderung vorwärtsführt, ist universal. Entscheidend sind drei Dimensionen (Veränderungskreis).

Prämisse 1: Jeder Mensch begegnet Veränderung anders. Dies erfordert eine offene und differenzierte Wahrnehmung

Obige Beispiele veranschaulichen die Vielfalt individueller Situationen, Haltungen und Verhaltensweisen. Während die eine stellenlose Person hängen bleibt bei der Überzeugung, Opfer von Mobbing zu sein, holt die andere aus einer optimistischen Grundhaltung Energie zum Dranbleiben. Während die eine Person bei der Konfrontation mit der Diagnose Parkinson auf neue Möglichkeiten fokussiert, kommt die andere nicht darüber hinweg. Während sich die eine Person über dauernde Veränderung am Arbeitsplatz ärgert, sucht eine andere Person Wege, reale Probleme zu benennen.

Die Beispiele erinnern: Eine vergleichbare Ausgangslage kann völlig unterschiedlich wahrgenommen werden. Und: Veränderung ist kein für jeden Menschen gleicher Stressor. Die Beispiele der jungen Tamilin sowie Herrn Peters, des Parkinsonpatienten, machen deutlich, dass es Menschen gibt, die auch eingreifenden Veränderungen mit Zuversicht und Initiative begegnen. Im Hinblick auf die Arbeit mit Menschen in Veränderungssituationen heißt dies, vorsichtig zu sein mit Vorannahmen und unbeabsichtigter Pathologisierung.

Veränderungskompetenz kann nur gefördert werden, wenn möglichst präzise bei dem angesetzt wird, was in einer individuellen Situation mitspielt. Das erfordert eine offene und differenzierte Wahrnehmung: Wie begegnet dieser Mensch dieser spezifischen Situation? Und was bewirkt dies? Dies ist weniger selbstverständlich als es scheint. Einerseits wird in verschiedenen Forschungsansätzen mit Verlaufskurven und Phasenmodellen potentiell suggeriert, dass Veränderungsprozesse ähnlich erfahren und durchlaufen werden. Andererseits lassen einseitige Problem- bzw. Lösungsorientierung in Forschung und Praxis schnell einmal vergessen, erst zu explorieren, wie diese Person dieser spezifischen Situation begegnet. Entweder wird von vornherein darauf fokussiert, was Menschen in Veränderungssituationen belastet. So gerät leicht aus dem Blick, was sie befähigt, Schwieriges zu meistern.1 Oder es wird mit bester Absicht sofort auf Lösungen und Ressourcen fokussiert. Dabei geraten reale Probleme und Schwierigkeiten schnell einmal aus dem Blick und Menschen in Stress, die es nicht schaffen, die erwünschte Lösungsperspektive einzunehmen.2 Schließlich kommt ein weiterer Faktor hinzu, der es oft erschwert, vor jeder Intervention erst ein genaues Bild zu bekommen, wie eine Person einer Situation begegnet: Kontextuelle Zielvorgaben, beschränkte zeitliche bzw. finanzielle Ressourcen, festgelegte Prozeduren und inhaltlich-fachbezogene Schwerpunkte.

Prämisse 2: Nicht Umstände sind entscheidend, sondern wie Umständen begegnet wird. Haltung und Verhalten sind einzubeziehen

Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass Umstände sekundär sind. Es gibt Menschen, die in extrem schwierigen Umständen Regie übernehmen, mutig Schritte wagen, über sich selbst hinauswachsen und ganz Erstaunliches bewirken. Ich denke etwa an Menschen, die nach einer Krankheitsdiagnose vehement Prioritäten neu setzen, sich für Lebensqualität einsetzen, ihr Leben gestalten. Oder an Menschen, die mit sehr schlechten beruflichen Voraussetzungen den »Dreh« und eine gute neue Arbeitsstelle finden. Zugleich gibt es Menschen, die trotz überschaubaren bzw. förderlichen Umständen ins Schleudern geraten. Ich denke etwa an Menschen, die nach einer Kündigung trotz lückenlosem Lebenslauf, solider Ausbildung, relevanter Praxis und guten arbeitsmarktlichen Chancen nicht über Geschehenes hinwegkommen und in Negativspiralen geraten.

Es liegt in der Natur von Veränderungssituationen, dass auf Umstände fokussiert wird. Das ist auch wichtig, schließlich muss man wissen, was los ist. Nur: Es sind nicht die Umstände, die bestimmen, wie wir einer Situation begegnen. Es sind unser Aufmerksamkeitsfokus, unsere Haltung, der Rückgriff auf bestimmte Überzeugungen und Verhaltensweisen. Daher ist es essenziell, Haltung und Verhalten einzubeziehen. Wenn Frau Ast darauf fokussiert bleibt, Opfer von Mobbing zu sein, wird sie ihren Blick kaum auf Ressourcen richten können, die ihr helfen, eine neue Stelle zu finden. Das mag einleuchten – und doch wird diesem Faktor häufig zu wenig Rechnung getragen.

Prämisse 3: Was im Umgang mit Veränderung vorwärtsführt, ist universal. Entscheidend sind drei Dimensionen.

Wenn Vielfalt und Unterschieden sowie Haltung und Verhalten Rechnung getragen wird, ist eine wichtige Basis gelegt, um Veränderungskompetenz fördern zu können. Doch es bleibt die Frage: Und was genau führt vorwärts? Worauf kommt es im Kern an?

Aufgrund von Praxisbeobachtungen und theoretischer Reflexion bin ich zum Schluss gekommen, dass das, was im Umgang mit Veränderung im Kern vorwärtsführt, universal ist. Egal, ob es sich um berufliche, private oder gesundheitliche Veränderung handelt, ob Veränderung erwünscht oder erzwungen ist, immer sind drei Dimensionen essenziell: Bereitschaft, genau hinzuschauen (Dimension bewusster und förderlicher Wahrnehmung), Entschlossenheit und Mut, vorwärts zu gehen (Dimension selbstverantwortlichen Handelns) und Vertrauen, »anzukommen« (Dimension positiver Erwartungshaltung). In jeder Veränderungssituation ist es entscheidend, Klarheit zu gewinnen, (neue) Perspektiven zu entwickeln, für die man sich einsetzen will und kann sowie das Vertrauen aufzubauen, positive Resultate erzielen zu können. Die Kunst und Arbeit liegen darin, das, was universal ist, in die individuelle Situation zu übertragen: Was heißt dies hier? Wo ist hier anzusetzen?

Auf dieser Basis entwickelte ich den Veränderungskreis, der zugleich konzeptioneller Rahmen dieses Buches ist.

1 Dies war etwa in der Psychologischen Arbeitslosigkeitsforschung, mit der ich mich im Rahmen meiner Dissertation beschäftigte, lange der Fall. Bei einer unüberschaubaren Flut von Erkenntnissen, was Menschen in der Arbeitslosigkeit alles belastet, gab es kaum Untersuchungen zur essenziellen Frage, was hilfreich ist. Ähnliches gilt für Beratungs- und Therapieansätze.

2 In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts oft noch belächelt, sind lösungs- und ressourcenorientierte Ansätze in Forschung, Beratung und Therapie inzwischen en vogue. Leider sind sie teilweise oberflächlich rezipiert bzw. werden auf »methodische Trickkisten« reduziert; es wird versucht, mit einfachen »Patentrezepten« Menschen rasch zu positiven Einstellungen und erfolgreichem Handeln zu bewegen. Demgegenüber basiert ein Ansatz wie der Steve de Shazers – dessen Arbeit mich bis heute inspiriert –, einem der wichtigen Begründer und Vertreter Lösungsorientierter Ansätze in Psychotherapie und Beratung, auf fundierter Auseinandersetzung mit Wirkfaktoren erfolgreicher Beratungsprozesse sowie auf einem zutiefst und echt positiven Menschenbild, in dem reale Schwierigkeiten nicht ausgeblendet werden.

Veränderungskompetenz fördern

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