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Dumm gelaufen - Bequeme Wege sind nicht immer die Besten!

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„Ach Blödsinn!“

Dachte ich,

„Warum soll ich diese umständlichen Vorbereitungen auf mich nehmen? Rollator platzieren für den Wischeimer und den Rollstuhl so positionieren, dass ich den Bodenwischer im Sitzen in jede Ecke manövrieren kann. Unnötiger Aufwand!“

Es war Ende Februar, ich wollte meine Wohnung zum dritten Mal, nach meiner Wirbelsäulenversteifung und zwei Operationen, wischen. Die beiden vorigen Male waren mit Hilfe der genannten Gerätschaften gar nicht schwierig gewesen. Mental hatte ich lange genug Zeit gehabt, mich auf diese Situation vorzubereiten.

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So begann es:

Anfang November des vorigen Jahres hatte ich es geschafft, in die Spezialklinik für Orthopädie zu gehen, nach furchtbaren Jahren, in denen meine Bewegungsfähigkeit immer mehr geschwunden war. Drei Jahre wusste ich definitiv, dass ich eine instabile Lendenwirbelsäule und eine Stenose hatte. Mein damaliger Hausarzt weigerte sich penetrant, die Stenose gelten zu lassen, „Nein, es ist keine!“ Wie ein störrisches Kind. Er schien meine Wirbelsäule gar nicht ernst zu nehmen. Ich schloss das aus seinem Verhalten, denn er verschrieb mir zwei Medikamente, die mich nur meinen Schmerzen überließen. Er gab mir das Gefühl, ich sei zu schwach, würde mit etwas mehr Willensstärke nicht so sehr leiden. Ich musste damit arbeiten und wusste nicht, wie ich es neununddreißig Stunden die Woche ertragen könnte. Um allem gerecht zu werden, kaufte ich mir frei erhältliche Schmerztabletten.

Dieser Zustand zog sich Jahre dahin und weil ich fünfzig Tabletten die Woche schluckte, wurde mein Leben teuer und ein Privatleben fand gar nicht mehr statt. Schlafen, Arbeiten, Arbeit, Schlafen! So sah mein Leben aus. Verschiedene Apotheker warnten mich vor regelmäßiger und hoch dosierter Einnahme. Ich wechselte zwischen allen Apotheken am Ort, wie eine Süchtige und brachte mir auch aus anderen Städten meinen Bedarf mit, weil ich mich für meine Unzulänglichkeit schämte. Ich wollte nicht als Abhängige ins Gerede kommen. Es war ein Teufelskreis, dem ich nicht mehr entkam. Mein Arzt half mir nicht, mein Leben lebenswert zu gestalten und ich selber hatte nicht die Mittel und außerdem die Kontrolle verloren. Wenn die Tabletten zur Nacht zu wenig Wirkung zeigten, goss ich zwei Whisky hinterher, obwohl es mich ekelte. Es verhalf mir schlafen zu können, aber vorsichtshalber erhöhte ich diese Dosis nie.

Ich überlegte, ob ich mich meinem Arzt anvertrauen und Hilfe erwarten könnte. Was hätte er mit mir gemacht? Hätte er mich zur Entgiftung geschickt? Vielleicht gleich in die Geschlossene auf Entzug? Er zeigte so ein ekliges Grinsen, als er mir ins Gesicht schmetterte:

„Ihr Rücken ist nun endgültig und chronisch, da kann man nichts mehr machen!“

Gegen meinen Willen hatte ich heulen müssen, bitterlich, weil das Wort endgültig mir ins Gesicht schlug, wie ein Kinnhaken. Ich glaubte ihm, sah, dass ich vor meinem Ende, den Scherben meines Lebens stand. Egal was ich täte, ich käme nicht weiter, wie ein Hamster im Laufrad. Es machte mich ganz irre, so etwas denken zu müssen.

„So geht es aber nicht weiter!“

schrie ich ihn verzweifelt an,

„ich kann nicht mehr! –--------- Dann will ich jetzt die OP, zu der mir der Orthopäde in Hannover geraten hat.“

Er wirkte schockiert, aber warum er so merkwürdig reagierte, konnte ich nicht nachvollziehen, denn er hatte mir doch von dieser Möglichkeit erzählt. Zehn Jahre vorher war das gar nicht machbar gewesen und das war mein letzter Wissensstand. Wir hatten einige Male über diese Möglichkeit gesprochen.

„Sind Sie plötzlich nicht mehr dafür?......“

Ich las in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch.

„Ich muss das wissen!“

Mühsam rappelte er sich auf, es schien, als hätte er begriffen, dass mit mir kein Spaß mehr zu haben war. Keine Halbheiten mehr, ich wollte jetzt Taten sehen.

„Achtzig Prozent der operierten Fälle haben auch hinterher Schmerzen. Ich würde mir das noch einmal gründlich überlegen! Ist ja kein kleiner Eingriff!“

Er hatte das wohlüberlegt gesagt, immerhin ein Kommentar. Das hieß für mich, er befürwortet meinen Schritt nicht, war sogar dagegen. Im Prinzip war es erst einmal nicht so falsch von ihm, seine Bedenken zu äußern. Das verstand ich. Er sollte auch nicht alles rosarot beschreiben. Risiken gab es immer und bei allem. Was sollte ich tun? Ich fühlte mich schlicht allein gelassen mit meinem Problem.

Es hatte mich vor kurzem indirekt meinen Arbeitsplatz gekostet. Mein Arzt hatte mich, der Schmerzen wegen, dauerkrank geschrieben. Er hatte einen präzisen Lebensplan für mich entworfen, der achtzehn Monate Krankschreibung und ein Jahr Arbeitslosigkeit vorsah. Danach hätte ich meinen dreiundsechzigsten Geburtstag und eine volle Rente in Aussicht. Für mich, mit meinen kaputten Körper, schien das die einzige Lösung zu sein. Für meine Firma war das offensichtlich untragbar. Auch wenn ich Sie eingeweiht hätte, was mit mir passierte, sie hätten nicht stillhalten wollen und vielleicht auch nicht können. Nur schade, dass ich nach zwanzig Arbeitsjahren kein Vertrauen haben konnte, das tat weh. So kurz vor der Rente suchte niemand mehr nach einer Zwischenlösung für mich. Die Arbeit war da und musste getan werden. Was waren da zwanzig Jahre voller Einsatz? Ein ganz gewöhnliches Frauenschicksal.

Ich hatte erlebt, wie die Arbeit von kranken Kollegen auf uns andere verteilt wurde, auch über Monate. Es war nicht einfach gewesen, aber doch machbar. Ich musste in solchen Situationen immer einspringen. Dieser Kollege kannte nicht einmal Dankbarkeit oder Wiedergutmachungs-Gedanken. Niemand von uns wäre auf die Idee gekommen, den Kranken abzuschreiben und nach Ersatz zu fragen. Ich hatte alles gegeben, wollte mich nicht an neue Kollegen gewöhnen müssen. Was man hat, gleichgültig wie gut oder schlecht, man weiß nicht, was man kriegt. In der Firma, mit dem Vorgesetzten war gar nichts einfach. Er hatte sich Frauen-quälen auf seine Fahne geschrieben. Mein schöner Traum vom Arbeitsleben wurde von ihm gewaltsam beendet. Manchmal glaubte ich, dass ich es nicht aushalten könnte, vielleicht wegen gequälter Psyche alles fallen lassen müsste. Wegen meiner körperlichen Behinderung, ausgerechnet, war mir vom Arbeitsamt Kündigungsschutz gewehrt worden. Wie das Leben so spielte.

Das gefiel ihm sicher nicht, er wollte nur mit Männern arbeiten, warum? Ich fühlte mich minimal sicher vor seinen obskuren Machenschaften und ging meinen Weg, ohne nach rechts oder links zu sehen. Zwanzig Jahre hatte ich geschuftet, als ginge es um meine eigene Firma. Dann wurde ich krank, schrammte immer am Rollstuhl oder noch Schlimmerem vorbei, und die Chefetage ließ mich fallen, wie eine heiße Kartoffel. Ich gehörte nicht mehr zu ihnen, störte in dem leistungs-geprägten Team. Weder meine Kollegen, noch meine Mandanten vermissten mich offensichtlich. Es kümmerte sich zumindest niemand um meinen Verbleib. Das stieß mir schon bitter auf. Dreißig Kollegen hatte ich und nur drei Kolleginnen pflegten mit mir Kontakt. Das traurige Ergebnis eines erfüllten Arbeitslebens. Eine Bilanz über meine betreuten Mandanten musste ich gar nicht erst erstellen, denn selbst die Landwirtin, die ich als Freundin gesehen hatte, meldete sich nicht mehr bei mir. Wahrscheinlich war ich ihr zu anstrengend. Jeder ist ersetzbar, hieß es immer, wenn ich etwas wollte.

Zu meinem Leid hatte mich noch der medizinische Dienst einbestellt. Ich hatte schon viel Schlechtes über deren miesen Methoden gehört. Sie schickten erbarmungslos jeden Krüppel wieder in die Arbeit. Die Untersuchende, erfolglose Chirurgin, die ich auf fünfzig schätzte, rechnete mir vor, wie mein Leben bis zur Rente zu verlaufen hatte. Dabei war ihr schon klar, dass ich die achtzehn Monate krank sein müsste, die unser System erlaubte. Sie bezog es ohne Abstriche in ihre Rechnung mit ein. Die Rente mit dreiundsechzig erklärte sie zum Ausgangspunkt, An dem Punkt waren mein Arzt und ich selber auch schon angekommen. Ich war 1949 geboren und zu 50 % schwerbehindert. Dafür gab es eine begünstigte, auslaufende Regelung. Ohne sie wäre mein Leben nicht mehr lebbar gewesen. In der Phantasie der Ärztin kam der Arbeitslosenstatus nicht vor. Sie erklärte, es fehle ein Jahr bis zu meinem Dreiundsechzigsten, also sei ich noch ein Jahr gesund genug zum Arbeiten.

Die Krankenkasse hielt sich begeistert daran fest und stellte ihre Krankengeldzahlung schlagartig ein, trotz Wiedereingliederungsversuch. Das folgende halbe Jahr in der Firma war die schlimmste Zeit meines Lebens. Schon am Morgen wusste ich, dass ich keine zwei Stunden aufrecht bleiben, geschweige denn Präzisionsarbeit leisten könnte. Immerhin musste ich auf eine Buchführung mit abschließender Bilanz, Steuererklärungen erstellen. Ich kämpfte im wahrsten Sinne des Wortes um mein Leben, jeden langen Tag und die Tage wurden immer länger.

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Mein Sohn holte mich nach Hannover, dort hatte ich in der Spezialklinik einen Untersuchungstermin. Eine Ärztin und ein Arzt versicherten mir, dass die Versteifung bei mir problemlos durchführbar sei. Dort operierten sie täglich Fälle wie mich, mit Erfolg. Vor zehn Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. Ein wunderbarer Fortschritt und ich würde davon profitieren. Das machte mich unendlich glücklich. Im Vorweg der OP musste ich meine Entzündung am großen Zeh operieren lassen, denn nicht einmal ein Pickelchen durfte auf meiner Haut wachsen. Das hätte die schlimmsten Infektionen hervorrufen können.

Zuerst musste ich die Krankenkasse kündigen, der ich ein Arbeitsleben lang die Treue gehalten hatte. Sie verweigerte sich, meine vorhandene Rückenerkrankung, dank der Aussagen des MDK, anzuerkennen. Während eines schmerzhaften Bandscheibenvorfalls am Arbeitsplatz hatte ich ein Gespräch, mit einem Krankenkassen - Angestellten:

„Mir geht es schlecht, Bandscheibenvorfall, darf ich mich krank schreiben lassen?“ „Natürlich, warum fragen Sie überhaupt?“

„Es gibt Menschen bei Ihnen, die behaupten, ich sei gesund. Sehen Sie bitte in Ihrem PC nach!“

„Sie haben Recht, Sie bekämen kein Krankengeld von uns, tut mir leid!“

Diese Krankenkasse würde es fertig bringen, dass ich meine fällige OP selber finanzieren müsste. Meine Wahl fiel auf eine weniger bekannte, aber sehr eifrige und zufriedenstellende Betriebskrankenkasse. Dann endlich konnte unser ansässiger Chirurg mit der Zeh-Operation loslegen. Ein Teil meines Nagels, mit Wurzel, musste entfernt, quasi ausgegraben werden. Weil ich ein Feigling war, musste man mich in einen kurzen Vollrausch legen. Dann dauerte die Heilung endlos. Dauernd eiterte die Wunde wieder. Die Rückenoperation wurde schnell um einen Monat verschoben, nur zu meiner Sicherheit! Als kostspielige Nebenerscheinung der Wartezeit, schlich sich die Arbeitslosigkeit ein.

Genau einen Monat meines Lebens war ich arbeitslos gemeldet und bekam leider vom Arbeitsamt sechs Wochen Lohnfortzahlung. Wenn es wenigstens das Krankengeld gewesen wäre, schließlich war ich die ganze Zeit krank. Jeden weiteren Monat verlor ich locker dreihundert Euro, die mein Krankengeld höher gewesen wäre. Als Grundlage der Berechnung diente das Arbeitslosengeld. Da hatte ich sogar noch Glück. Was, wenn ich nur 68 % davon erhalten hätte? Das verlorene Geld tat wirklich weh, weil es so ungerecht war. Ich konnte an siebenhundert Euro Verlust monatlich, durch Krankheit, nicht einfach vorbei sehen, es tat richtig weh. Das wenige Geld, das mir zur Verfügung stand, wäre für mich ein triftiger Grund gewesen, mich selber zum Arbeiten zu zwingen, aber ich konnte wirklich nicht.


Dann endlich war es aber so weit, mein Sohn Den holte mich am Sonntag, früh genug ab, so dass er auf der Autobahn nicht rasen musste. Das war meiner Phobie geschuldet. Stressfrei kamen wir in Hannover an und überlegten, welchen „letzten“ Wunsch Den für mich realisieren könnte.

„Eis, ein großes Schokoladeneis könnte mir gefallen, das bekomme ich bestimmt lange nicht mehr.“

Er überlegte, es war schließlich November,

„Möchtest du unsere Katzenkinder kennenlernen? Eis haben wir in der Truhe, wenn dir das reicht.“

Natürlich wollte ich, gemütliches Eis schlecken, Gespräch mit meiner Schwiegertochter und junge Katzen, das klang sehr idyllisch. Den´s Frau war sehr liebenswürdig und die Katzenmädchen tobten um mich herum, so dass ich am liebsten geblieben wäre. Es war unmöglich, ich hatte einen wichtigen Termin.

Auf Station sechs war kein Betrieb, das stieß mir merkwürdig auf, weil ich das von Krankenhäusern anders in Erinnerung hatte. Meine Zeiten in diesen Häusern hatte ich, nach OP´s, überwiegend nicht im Bett verbracht. Den erkundigte sich bei einer Schwester hinter Glas, nach meinem Zimmer. Mit einem innerlichen Ruck betraten wir das Zimmer in der fremden Umgebung. Zwei Frauen meines Alters sahen uns gespannt entgegen. Noch wollte ich hier nicht Wurzeln schlagen, ich musste zuerst die Station mit ihren Möglichkeiten erkunden. Die Frauen verstanden das offenbar. Ich sollte hier zwei Wochen meines Lebens verbringen, eine lange Zeit. Vielleicht durfte ich in zwei Tagen auf die Toilette gehen und wusste dann nicht, wo ich sie finden konnte, denn im Krankenzimmer gab es keine.

Wir schlenderten den Flur auf - und abwärts, fanden die Toiletten für behinderte und normale Patienten. Die Duschen waren ebenso aufgeteilt. Alles was gehen konnte war normal und wer Hilfsmittel benötigte, war behindert, ganz einfach. Wir suchten nach einem Aufenthaltsraum und fanden ein eiskaltes Zimmer mit Tisch, Stühlen und Fernseher vor, der aber den Test nicht bestand, er flimmerte tot vor sich hin. Ein kleines Regal mit fünf nichtssagenden Büchern gab es auch. Das einzig Schöne an dem Zimmer war eindeutig der Zugang zum Balkon. Eine wunderschöne Aussicht auf einen namenlosen See, das war schon etwas. Aber wir hatten immer noch November und da gingen auch Gesunde nicht auf diesen Balkon. Gleichgültig, wie idyllisch es hier aussah, ich war nicht bereit, über Gebühr hinaus hier zu bleiben. Wie ich in diesem Raum Gesellschaft pflegen könnte, wusste ich noch nicht, aber ich war wild entschlossen, nach der OP wieder am Leben teilzunehmen.

Wir gingen Koffer auspacken, das Wesentliche tat mein Sohn. Er kümmerte sich liebevoll um alle meine Belange, sprach mir noch einmal Mut zu, zerstreute meine Ängste und versprach, sich um mich zu kümmern. Dann mussten wir uns trennen. Ich fühlte mich wie ein ausgesetztes Waisenkind, allein und wehrlos, musste mich wirklich durchringen, an meine Bettnachbarinnen das Wort zu richten. Sie hatten mir Zeit gegeben, bedrängten mich nicht. Das wusste ich zu schätzen. Die Jüngere von beiden ging umher. Das war mir die Frage wert, ob sie schon operiert sei.

„Ich gehe Morgen nach Hause“,

sagte sie glücklich. Auf meine Frage, welche Operation sie hinter sich hatte, antwortete sie: „Wirbelsäulenversteifung.“

„Das wird bei mir auch gemacht, wie viele Schrauben haben Sie?“

Sie hätte acht und die Dame in der Mitte hätte zehn antwortete sie aufgeschlossen. Sie selber hätte kein Problem, aber unsere gemeinsame Bettnachbarin konnte kaum gehen und wenn, dann nur mit Hilfsmitteln.

„Das tut mir Leid für Sie, ich werde auch zehn Schrauben bekommen. Ich beneide Sie, weil sie es schon hinter sich haben.“

Wieder stieg beklemmend Angst in mir auf.

„Es ist nicht so schlimm, wie man von außen meint. Die ersten fünf Tage sind hart, für mich waren sie es jedenfalls, aber dann wurde es jeden Tag ein bisschen besser. Auch die Schmerzen werden erträglicher.“

Wir tauschten noch einige Erfahrungswerte unseres langen Leidensweges aus und einigten uns dann auf ein Fernsehprogramm. In Wahrheit musste ich mich fügen, weil ich neu war und ausweichen in den kalten Aufenthaltsraum machte ja keinen Sinn. Eine Schwester kam und verabreichte mir Tabletten zum Schlafen und für den nächsten Morgen, im Volksmund: Scheißegal-Tabletten, genannt. Sicher nahm ich das Zeug ein, aber daran hatte ich später keine Erinnerung mehr.

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Ohne jedes Zeitgefühl oder andere Gefühle lag ich und fühlte mich unangenehm gestört. Jemand rüttelte an meiner Schulter und sagte sehr barsch:

„Wachen Sie auf, Sie dürfen nicht mehr schlafen!“

Meine Lider waren Tonnen schwer, weigerten sich vehement gegen jegliche Bewegung. Mit größter Anstrengung bekam ich ein Lid einen ganz kleinen Spalt auf. Nebel war um mich, rot-orange, irgendwie blutig, komisch, wo war ich nur gelandet?

„Ja,“

brachte ich mühsam heraus und strengte mich noch mehr an. Die Lider senkten sich völlig überanstrengt und ich tauchte wieder ab in Alpträume, an die mich später nur ein ganz übler Geschmack im Mund erinnerte. Irgendwo in meinem roten Nirgendwo hörte ich diese schreckliche Stimme wieder:

„Wachen Sie doch endlich auf, Ihr Sohn ist hier!“

Und wieder war da diese wahnsinnige Anstrengung mit den Augenlidern, aber für meinen Sohn wollte ich die Arbeit auf mich nehmen. Ganz kurz konnte ich ihn sehen. Ich fühlte seine Hände und vielleicht sprach er auch mit mir, aber ich schlief erschöpft wieder ein.

Als ich aufwachte, ohne roten Nebel, konnte ich mein Zimmer identifizieren, aber die Gesichter fehlten. Das Bett am Fenster sah unbenutzt aus und direkt neben mir strahlte mich ein liebes Gesicht an.

„Wie schön, dass Sie endlich wieder da sind,“

sagte sie mit warmer Stimme.

„Wie lange habe ich geschlafen?“

fragte ich interessiert, aber noch sehr matt.

„Zwei volle Tage,“

antwortete mir die Schwester, die eben zur Tür herein kam.

„Wir hatten schon Angst, dass sie nicht mehr aufwachen wollten.“

Ich verstand akustisch, begriff aber den Sinn der Worte nicht.

„Worum mag es hier gehen? Egal, was geht es mich an?“

Dachte ich mir und nahm die Dinge, wie sie kamen. Meine nette Nachbarin war am Knie operiert worden, ich beneidete sie darum nicht. Dauernd wurde sie von jemanden bedrängt, sie solle das schmerzende Knie bewegen. Sie tat mir leid. Die Tage danach erinnere ich so, dass die Schwestern sehr nett zu mir waren und meine Leidensgefährtin mir heimelige Wärme vermittelte. Jeden Abend schaute Den nach mir. Darauf wartete ich den ganzen Tag lang. An meinem ersten Wochenende in der Klinik, besuchte mich Sohn Nr. eins mit Frau und meinen Enkelinnen. Sie hatte in Hannover einkaufen wollen, bekam ich aus den Gesprächen mit. Trotzdem freute ich mich riesig, aber es strengte mich auch sehr an, denn ich wollte um Himmelswillen nicht leidend gesehen werden.

Die nächste Zeit war für mich nicht so langweilig, wie man meinen könnte. Meine liebe Mitpatientin bekam täglich kurze Besuche ihrer Freundin aus Hannover, praktisch. An den Wochenenden wurde die Bude richtig voll. Ihre Tochter kam mit Familie. Ihre nicht mehr so jungen Geschwister überwanden die weitesten Wege für sie. Ihre Patentochter kam und natürlich ihr Freund. Beide waren verwitwet und weil sie sich und ihre Partner gut gekannt hatten, entwickelte sich in der gemeinsamen Trauer ein neues gemeinsames Gefühl. Es war eine lange, zu Herzen gehende Geschichte und ich war mittendrin. Ihre vielen Besucher betrachtete ich auch ein wenig als meine. Sie fragten mich alle, was mit mir sei, wie es mir ginge und ich beantwortete gerne jede Frage. Das machte mein Leid ein klein wenig erträglicher und ich hatte ja sonst nichts zu tun.

Schon nach wenigen Tagen war eine Physiotherapeutin bei mir gewesen, um mit mir das Aufstehen zu üben. Zwei Frauen stützten mich vorsichtshalber. Noch ängstlich versuchte ich mir die Hilfe zu Nutze zu machen. Es ging. Meine Frau Heinze feuerte mich an und ich stand, wahrhaftig. Ein Wunder! Dann versagte plötzlich überraschend mein linkes Bein, es hielt mich einfach nicht. Ich sackte in mich zusammen, wie ein Mehlsack. Die zwei Frauen fingen mich ab, verhüteten das Schlimmste. Sie legten mich zurück ins Bett und fragten aufgeregt, was denn passiert sei.

„Mein Bein, es hört nicht auf mich, tut was es will!“

antwortete ich ihnen und dachte:

„Scheiße, verdammt! Jetzt war alles um sonst! Wie kann ich ohne mein linkes Bein gehen?“

Die Therapeutinnen trösteten mich, sie konnten sich das nicht erklären. Ein Arzt müsste Antworten finden. Ich hatte das so hinzunehmen, ich war ja nur die Patientin und medizinischer Laie.

Vor der OP trug ich die Sorge in mir, wie ich wohl liegen könnte. Das hätte ich mir sparen können, denn ich lag problemlos auf dem malträtierten Rücken. Wahrscheinlich der Drogen wegen, die ich dreimal täglich zur Einnahme bekam. Ein Arzt hatte gemeint, dass ein Nerv im Bein, nett gesagt, beleidigt sei. Das würde sich mit der Zeit normalisieren.

„Üben, üben, üben!“

verlangte er. Wir waren sehr folgsam, übten jeden Tag aufs Neue. Irgendwann, noch in der ersten Woche, konnte ich an einem hohen Gehwagen im Zimmer umher gehen. Mit einer Schwester ging ich sogar über den Flur, zur Toilette. Im Zimmer selber hatten wir immerhin eine Nasszelle. Als ich in der Lage war, diese zu benutzen, war das wirklich ein glücklicher Moment für mich. Bis zu dem Morgen, als mein linkes Bein einfach wieder stehen blieb, während ich ging. Die Folge war, mein Körper fiel hilflosen in sich zusammen und klatschte auf dem Boden auf. Zum Glück hatte ich Fallen gelernt, denn sonst wäre vielleicht die OP schon in dem Moment hinfällig gewesen. Ich fiel aber richtig, auf die Seite, Judo eben. Die Schwestern, wahrscheinlich von der besorgten Frau Heinze alarmiert, rannten und bemühten sich, mich in die Aufrechte und dann ins Bett zu bugsieren. Ich hatte mir kaum wehgetan, aber der Schreck saß mir in den Gliedern. Das machte mich nicht wirklich mutiger. Mehr als ich, hatte sich aber meine liebe Mitpatientin erschreckt.

Am nächsten Vormittag stand plötzlich mein OP-Arzt vor meinem Bett. Sehr ernst stellte er sich vor. Für mich war sein Name Schall und Rauch, hatte ich vorher nie gehört und hörte ihn merkwürdiger Weise hinterher auch nicht mehr. Seine Erscheinung erinnerte mich an die Zeit der Popper, gepflegtes, längeres Haar zum Kaschmirpullover. Übriggeblieben? Er schien mir vom Golfen zu kommen, oder auf dem Weg dorthin. Wie gut für mich, dass er bei mir einen Abstecher machte, um seine Pflicht zu erfüllen. Wir befanden uns gar nicht auf Augenhöhe. Aus seinem Mund kam, dass er mir meine OP, die er durchgeführt hätte, erklären wollte.

„Sie haben viel Blut verloren“,

begann er,

„wahrscheinlich waren Sie deshalb hinterher so müde. Wir haben zehn Schrauben gesetzt, ihre komplette Lendenwirbelsäule ist jetzt versteift. Schon dabei hatten wir nicht mit so viel Blut gerechnet.“

„Hatte ich eine Stenose?“

piepste ich eingeschüchtert.

„Ja, als ich dort den ersten Schnitt machte, nichtsahnend, spritzte mir das Blut nur so entgegen, so dass ich nichts mehr sehen konnte. So eine dicke Vene hatte niemand dort erwartet. Mein Team stoppte den Blutfluss, damit ich mich säubern konnte.“

„Da habe ich wohl Glück gehabt“,

sagte ich unbeteiligt. Das musste ich mir erst einmal auf der Zunge zergehen lassen.

„Haben Sie noch Fragen an mich?“

„Ja, wird mein Bein so eigensinnig bleiben?“

„Auf keinen Fall, nach sechs bis zwölf Monaten hat sich der Nerv erholt und Sie können ohne Probleme gehen.“

„Ihr Wort in Gottes Gehörgang!“

rutschte mir heraus.

„Danke!“

Mit den besten Genesungswünschen verabschiedete er sich von mir. Frau Heinze und ich sahen uns an und wussten nicht, ob wir lachen oder weinen sollten.

„Wie schlimm ist das denn? Ich stelle mir vor, ich liege da offen und verblute so langsam, wenn dieser Arzt nicht schnell genug ist.“

„Zumal er sich erst säuern musste!“

Meine liebenswerte Bettnachbarin konnte wider Erwarten ironisch sein.

Er hatte mir mein Leben erhalten, das war gut so. Wir zwei Bettlägerigen wollten nur noch in die Zukunft sehen und die positiv. Negative Gedanken wollten wir nicht mehr zulassen. Spätestens jetzt begriff ich, dass ich hier nicht wegen einer Lappalie herum dödelte. Das Gefühl von Endlichkeit wurde übermächtig. Jeder Tag war nun bedeutsam, kostbar sogar, denn mir blieben vielleicht zehn, fünfzehn, oder wenn es ganz gut lief noch zwanzig Jahre. Im Rückblick nahmen sich auch meine sechzig Jahre kurz wie ein kalter Husten aus. Alles ging viel zu schnell.

Meine Vergangenheit hatte aus Arbeit, Sorgen, Schmerzen und viel Angst bestanden. Wie oft wünschte ich mir in der Vergangenheit, dass Gott gnädig sein und mich von diesem Leben erlösen sollte. Dann gab es aber meine Kinder und danach meine Enkel, die gaben mir die Motivation, durchzuhalten. Diese OP würde mein Leben wieder lebenswert machen, davon war ich fest überzeugt. Ich freute mich, am Leben zu sein, weil ich neugierig war, was aus meinen Enkeln werden konnte. Jetzt endlich war da eine Neugier und eine Lust auf das Leben und ich hatte nur noch so wenig Zeit. Krankheit sah nicht mehr vor, damit wollte ich meine kostbare Zeit nicht mehr vergeuden.

Der zweiter Sturz, in der zweiten Woche, zog dann spektakuläre Kreise. Es fing für meinen Geschmack viel zu früh damit an, dass meine Therapeutin mich an einen Rollator stellte. Man merke auf, es war nur noch eine notwendig. Hörte sich an wie Fortschritt, aber ich empfand das Gerät zu tief unter meinem Schwerpunkt. Mir kam es so vor, als ob ich mich bücken müsste, was ich aber nicht konnte. Das war zu anstrengend für meinen Rücken. Wenn ich mich voll auf das Gehen konzentrierte, schien mein linkes Bein auch mitmachen zu wollen. Aber alles kam anders. Eine Aushilfsputzfrau kam ins Zimmer, als wir eben auf den Flur gehen wollten.

„Das geht aber gar nicht, so lange ich hier mit Patienten zu tun habe! Machen Sie doch bitte im nächsten Zimmer sauber, bis ich hier fertig bin!“

Die Therapeutin war um einen freundlichen Ton bemüht.

„Ich habe meinen Plan, und danach arbeite ich. Mein Plan sagt, dieses Zimmer ist jetzt dran!“

Die junge Türkin war stur und arbeitete weiter. Frau Heinze und ich fanden das Gezicke des Personals untereinander peinlich. Ein vielsagender Blick reichte uns, wir wussten, dass wir das Gleiche dachten. Auf dem Flur ging es der netten Physio nicht mehr um mich. Sie war beschäftigt mit einer Beschwerde, bezeichnete dieses „Bodenpersonal“ als einfach frech.

„Sie können doch alles bezeugen? Sie haben das doch hautnah mitbekommen? Mir wird man vielleicht nicht glauben. Sie sagen doch, wie es war, oder?“

„Natürlich sage ich, wie es war! Wenn mich überhaupt jemand fragt natürlich.“

Wir beide gingen, während sie sich nur aufregte und ich mit der Situation etwas überfordert war. Meine Konzentration lag nicht mehr auf dem GEHEN, sondern darauf, dass ich hier unter Umständen als Zeugin fungieren sollte.

Plumps! Ich hörte mich fallen. Auf dem Flur war um diese Zeit Hochbetrieb. Alle und Jeder hatte hier zu tun und wieselte über den Flur. Betten, die auf arme Opfer warteten, standen an den Wänden und ich lag hilflos auf dem Boden. Linksseitig fühlte ich keine Kraft. Ich lag, wie ein Käfer auf dem Rücken und klagte bitterlich. Schmerzen fühlte ich deutlich, aber wo, konnte ich nicht lokalisieren. Die Therapeutin war völlig fertig, versuchte aber, mich schwere Frau auf die Beine zu stellen. Eine Beteiligung meinerseits fiel aus, so konnte es nicht klappen. Sie musste die vorbei laufenden Schwestern erst um Hilfe bitten, die hätten mich eiskalt so liegen lassen, eilten geschäftig vorbei. Das war der Schock fürs Leben, sechs Frauen waren nötig, um mich erst auf eine Decke und dann ins Bett zu hieven. Ich musste mir abschminken, eine zarte Person zu sein und das tat wirklich weh.

Vielleicht können auch schlimme Erfahrungen zur Gewohnheit werden? Ich verkraftete den Sturz gut und sogar schnell. Er machte mir fast nichts aus, etwa so:

„Na gut, dann ist es wie es ist, ab jetzt falle ich eben.“

Das Nachspiel ließ nicht auf sich warten, denn zu viele Menschen hatten meinen Sturz wahrgenommen. Eine Schwester kam früh am Morgen ins Zimmer, um mich im Bett zum Röntgen ins Erdgeschoss zu fahren. Ich war längst fahrbereit, denn nach dem Wecken wusch ich mich und zog mich umgehend an, obwohl ich mich nur im Bett aufhalten konnte. Der Transport machte mir Spaß, ich fasste es als Abwechslung auf. Eine Weile musste ich in der großen, unpersönlichen Halle, mit anderen Menschen gemeinsam warten, aber ich hatte es bequemer. Sie betrachteten mich verstohlen, das sah und spürte ich. Vielleicht hätte man an unsere Betten Tafeln schrauben sollen, mit der Aufschrift: verschraubter Rücken! Alle hätten sie es gerne gewusst, das sah ich und fühlte es. Ich konnte ihre Gedanken lesen. „Liegt sie im Sterben? Ist sie gelähmt? Was fesselt sie ans Bett?“ Da niemand den Mut aufbrachte, mich offen zu fragen, erfuhren sie es nicht. Stattdessen setzte ich das leidendste Gesicht auf, zu dem ich fähig war und mit Erfolg. Sie sahen verschämt weg.


Ein Arzt und eine Helferin kamen und zogen mein Bett in den Raum mit den Apparaten. Wie ich vom Bett auf den Spezialtisch gelangen sollte, war mir noch schleierhaft. Diese Leute hatten wirklich Routine, es wurde ein Rollbrett hergenommen und mit nur wenig Aufwand meinerseits lag ich, wohin ich sollte. Das Ergebnis würde meinen Ärzten mitgeteilt. Ich blieb ahnungslos. Zwei Schwestern kamen auf Abruf und brachten mich zurück in mein Zimmer. Manchmal fragte ich mich in diesen Tagen, wie ich ohne meine Frau Heinze sechzig Jahre lang ausgekommen war. Sie hielt meine schwankenden Gefühle und Phantasien aus. Regte ich mich auf, milderte sie die Situation auf ein erträgliches Maß herunter. Wenn ich glaubte, ich könnte nicht mehr ertragen, sprach sie mir so lange Mut zu, bis ich den Glauben an mich und das Leben wiederfand. Besser hätte ich es nicht treffen können.

Unser Stationsarzt, der ambitionierte Dr. Penny, erklärte mir, dass ich ins MRT müsste. Mein Gesicht zeigte wohl Schreck, denn er beruhigte mich umgehend. Ein Krankenwagenteam würde mich liegend quer durch Hannover fahren, hin und zurück. Begeistert war ich nicht. Inzwischen hatte man unser drittes Bett belegt, für mich eine schlimme Neuerung. Frau Heinze kannte die Patientin, sie waren beide am gleichen Tag an ihren Knien operiert worden. Sie sei ein bisschen schräg, aber arm dran gewesen, wusste meine Bettnachbarin. In deren Zimmer hatte eine Mitpatientin sie gemobbt. Das tat mir leid und ich würde nett sein, versprach ich, aber ich hatte keine dritte Person gewollt. Frau S. war eine extrovertierte Fünfzigerin, die mir nicht wirklich weiblich vorkam. Ich konnte das beurteilen, weil ich auch kein typisches Weibchen war. Frau Heinze hatte nach einem Geh-Training erzählt, wie gut diese Frau schon gegangen war. Sie hatte nicht mithalten können.

Nun kam die Wahrheit ans Licht. Frau S. war nur eine gute, disziplinierte Schauspielerin gewesen. Sie gestand uns, bei solchen Gelegenheiten die Zähne zusammen gebissen zu haben, aber im Bett allein heulte sie ihren Schmerzen in die Kissen. Bei uns gab sie die biedere Hausfrau, die im Bett Strümpfe strickte. Insgeheim hatte ich bei ihrer Tonart an eine Transsexuelle denken müssen. Einen eindeutigen Beweis dafür gab es nicht, aber dagegen auch nicht. Eine Sache blieb aber für mich störend, sie sprach fast ausschließlich mit Frau Heinze, meiner Frau Heinze. Meine Eifersucht verflog, als diese mir, während Frau S. zum WC unterwegs war, versicherte, dass sie zu niemandem neben mir, so echte vertrauliche Gefühle äußern könne.

Wenn ich mich richtig erinnere, bestand das erste Transportteam aus einem jungen Fahrer, sowie einem jungen Mädchen, das bei mir saß und sich mit mir unterhielt. Sie tat dieses, innerhalb eines freiwilligen, sozialen Jahres, nach ihrem Abitur. Wahrscheinlich um zu testen, ob mit Kranken umzugehen ihr Berufswunsch werden könnte. Ich bewunderte sie, weil sie es sich nicht leicht machte. Wir redeten und redeten, kamen zu ihrer Malleidenschaft, leider für abstrakt. Als ich erklären wollte, warum ich kein Fan von Abstrakt war, landeten wir in der Praxis und die Schicht der jungen Leute endete mit meiner Ablieferung. Fürsorglich und vorsichtig wurde ich auf eine harte Wartebank gelegt und nahm Abschied von dem freundlichen Team.

Innerhalb der Praxis schien eine Feier stattzufinden. Vermutlich ging sie nun zu Ende, denn es wurden Blumen durch meinen Raum getragen. Eine Frauenstimme fragte: „Hatten Sie sich schon ein Stück Torte genommen?“

Die zweite Stimme antwortete:

„Habe ich, es war ganz besonders lecker. Haben Sie sie selber gebacken?“

Eine Putzdame wischte nass den Boden meines Raumes. Sie war etwa an die sechzig, schätzte ich, (warum bitte beurteilte ich Menschen automatisch?) wirkte sehr gepflegt und war gut angezogen, zu gut für die Tätigkeit. Wäre nicht die Schürze gewesen, hätte ich angenommen, die Sekretärin ginge gleich zu ihrer Verabredung. Vielleicht ließ der Arzt hier seine Mutter putzen, so blieb das Geld in der Familie. Möglicher Weise putzte die Mutter gerne und gut. Diese Möglichkeit hatte ich so vor vielen Jahren über einen Psychologen und seine Frau gehört. Allerdings hatte die Ehefrau die Aura einer Putzfrau und ganz besonders krass, wenn sie neben ihrem Mann stand. Seit dem war nichts menschliches mir mehr fremd. Die Putzdame verabschiedete sich, indem sie in die verschiedenen Türen ihren Dank aussprach und einen schönen Abend wünschte. Damit war das Rätsel, wer das Geburtstagskind war, für mich gelöst.

Die Wartezeit war öde, ich lag schmerzgeplagt auf einer vollkommen ungeeigneten Unterlage. Warum durfte man so etwas mit schwerstbehinderten Frauen machen? Endlich kamen Menschen zu mir. Sie diskutierten über mich hinweg, wie sie mich am besten für alle, in diese Röhre hinein bekämen. Der Arzt spritzte mir Kontrastmittel in die Armvene, nachdem ich die Frage nach Allergien verneinen konnte. Dann bekam ich Kopfhörer auf die Ohren, aus denen zum Glück Rock-Musik ertönte, aber leider viel zu leise. Somit ließ ich mich von den schrecklich hämmernden Geräuschen der Maschine ablenken. Zu meiner Überraschung war der Vorgang abrupt beendet. Wie gehabt, so auch hier, mein Arzt würde informiert. Dieser Besuch hatte so lange gedauert, dass mein Abendbrottee ungenießbar geworden war. Meine beiden Mitpatientinnen hatte sich große Sorgen um mich gemacht, freuten sich sehr über meinen unversehrten Anblick.

Es erwischte mich dann kalt, als Dr. Penny mir bei der Visite am nächsten Morgen erklärte;

„Aus ärztlicher Sicht ist eine zweite OP unumgänglich. Durch starke Nachblutungen hat sich ein großer Bluterguss gebildet. Der drückt vermutlich auf den Nerv, der das linke Bein verärgert. Wir schaben das aus und gut ist. Sind Sie einverstanden?“

Mir pieselte unkontrolliert ein wenig Wasser aus den Augen.

„Muss ich wirklich?“

„Wenn nicht, können wir nicht garantieren, dass sich der Nerv erholen kann.“

„Dann bleibt mir doch keine Wahl, oder?“

„Nein, nicht wirklich!“

Er machte es sich nicht leicht, das sah ich ihm an. Meine Gefühle zeigte ich aber nicht. Mit meinem Einverständnis entfernte ich mich wieder zehn Tage länger von meinen Enkeln, nach OP versteht sich. Inzwischen war ich neun lange Tage in dem Haus. Meine Vorfreude auf zu Hause konnte ich wieder einstampfen. In wenigen Tagen würde meine Frau Heinze zur ReHa gefahren, was sollte dann aus mir werden? Mein erstgeborener Sohn konnte nicht mit seiner Familie kommen, weil sein Diabetes so hoch war, dass sein Arzt ihm den Tod in Aussicht gestellt hatte. Ich würde nach OP wieder bei Null anfangen. Eine stille Verzweiflung breitete sich in mir aus.

„Ok, wann wird die OP sein?“

„Morgen!“

„Ich will nicht wieder in diesen schrecklichen Aufwachraum! Und kann mir dann vielleicht auch jemand die 2. OP erklären?“

„Natürlich, ich werde dafür sorgen, ok?“

„Ja.“

Wer fing mich umgehend wieder auf? Meine gute Frau Heinze. Als Den zu seiner allabendlichen Stippvisite kam, wusste ich nicht wirklich, wie ich ihm die Neuigkeit beibringen sollte, denn auch sein Leben würde noch weitere zehn Tage belastet bleiben. Ich fühlte mich schuldig nachgeblutet zu haben, so als hätte ich meinem Körper befohlen: „Du wirst jetzt gefälligst nachbluten, damit du hier noch eine schöne lange Zeit bleiben kannst!“ Ich bat fast um sein Verzeihen, dass ich operiert werden musste. Er war geschockt, hätte gern bessere Nachrichten gehört, aber er tröstete mich liebevoll und versprach auch am Tag der OP wieder nach mir zu sehen. Mit seinen Worten im Ohr konnte ich die Nacht zum zehnten Tag ganz ordentlich schlafen.

An mein Erwachen erinnerte ich mich später nur verschwommen. Meine Augen nahmen bunte Möbel, Tücher und viele andere Utensilien wahr. Hatte man mich in einem Kramladen abgestellt, weil ich den Aufwachraum hasste? Niemand rüttelte mich hier, maulte mich an. Das gefiel mir. Als ich versuchte einen Schmerz zu orten, hörte ich Stimmen.

„Sie haben mich vergessen“,

dachte ich angst frei.

„Hallo!“

rief ich halbherzig und noch einmal:

„Hallo, ist da wer?“

Eine Schwester erschien von irgendwoher. Ihr Gesicht hellte sich freudig auf und ganz leger sagte sie:

„Da sind wir ja wieder, das hat ja prima geklappt.“

Mit einer zweiten Schwester fuhren sie mich in mein Zimmer zurück, wo ich von zwei strahlenden Mitpatientinnen empfangen wurde.


Die tägliche Physio wurde intensiver und zeigte mehr Erfolge. Sitzen konnte ich allerdings immer noch nicht. Wenn ich zur Nacht das letzte mal zur Toilette fuhr, stand Frau Heinze so lange „Schmiere“, bis ich wieder vollständig im Bett lag. Dann kam der zehnte Tag für beide Knie. Beide würden an diesem Tag in verschiedene ReHa-Zentren gefahren. Ein rührender kurzer Abschied von Frau S., ohne Adressenaustausch und falsche Versprechungen. Ein langer, qualvoller Abschied von einem, mir so vertraut gewordenem, Menschen. Frau Heinze wollte meine Adresse und gab mir ihre auch. Es durfte nicht sein, dass eine Frau, die meiner wunden Seele so guttat, endgültig aus meinem Leben verschwand. Wir wollten uns nicht trennen, nachdem wir uns so spät erst gefunden hatten, aber der Krankentransportfahrer kam und dann war alles blitzschnell vorbei. Ich unterbrach mein Weinen nur in der kurzen Zeit mit Den.

Der nächste Vormittag begann nicht erfreulich für mich. Schwester Mia, eine meiner zwei Lieblingsschwestern, brachte mir die Botschaft, ich würde in ein anderes Zimmer verlegt. War ich ein Niemand, den man hin-und her verlegen konnte, wie man mochte? Wieder weinte ich meine Kissen nass. Die Bekanntschaft mit Ruth Sowieso machte mich keineswegs fröhlicher. Sie war eine aparte, schlanke Mitsechzigerin auf Distanz. An meinem ersten Tag in diesem Zimmer bekam sie Besuch von einer alt wirkenden, verbitterten und gehässigen Frau. Sie hatten Gesprächsthemen, bei denen sich in mir alles zusammen zog. Die Besucherin redete so verächtlich und lieblos auf Ruth ein, dass ich mich körperlich unwohl fühlte. Wieder war Weinen angesagt. Jeder, der schon einmal drei Tage zwanghaft geweint hatte, würde mir Recht geben, man wollte das nicht. Man verabscheute es, aber es ließ sich nicht abstellen. Endlich ging diese schlimme Frau, nicht ohne ihr Wiederkommen an zudrohen. Ich fröstelte und fremdelte. Meine ersten Worte an Ruth waren dementsprechend:

„Ich hoffe, dass Ihre, was auch immer, ihre Drohung nicht ernst meinte.“

„Ich kann aber leider nichts dagegen tun“,

antwortete die arme Ruth,

„sie ist auch nicht meine Lieblingscousine, aber ändern kann ich sie nicht.“

Wir näherten uns an, durch ein Gespräch über ihre Besucherin, aber wirklich heimisch fühlte ich mich mit ihr nicht. Sie gehörte mehr zu der mondänen Rentnergattung. Einer meiner früheren Vorgesetzten hatte es einmal auf den Punkt gebracht:

„Diese Art von Rentnerinnen ist Pensionärswitwe und sitzt in Kaffees herum, um die Zeit totzuschlagen.“

Ruth hatte aber keine Pension, stellte ich fest, aber zwei Renten und eine davon war wirklich die ihres verstorbenen Mannes. Ihre leicht versnobte Art konnte sie kaum als Verkäuferin, als die sie sich outete, an den Tag gelegt haben.

Ich erfuhr auch, dass ihre Kinder, beiderlei Geschlechts, besser bezahlten Berufen nachgingen. Beide verstanden sich so gut, dass sie sich gemeinsam einen Bauernhof gekauft hatten. Jeder hatte seinen eigenen Wohnbereich und beide hielten Pferde. Hund und Katzen gab es natürlich auch. Es hörte sich für mich perfekt an. Wenn beide für ihren Job durch die Welt düsten, musste Mama die Tiere versorgen. Sie raste dann mit Öffi´s in die Gegend um Celle und hielt Hof. Vielleicht machte sie der Status ihrer Kinder etwas überheblich, oder ihr Verhalten sollte mir signalisieren:

„Nicht zu nahe bitte!“

Zwar tat ich mich schwer mit ihrer Art, aber ich wurde allmählich innerlich ruhiger. Das Weinen versiegte.

Dann kam Emelie ins Zimmer, eine kleine dünne Russin von sechzig Jahren. Sie gewann umgehend unsere Herzen und appellierte mit ihrer zierlichen Erscheinung an unsere Beschützerinstinkte. Ruth veränderte ihren Umgangston. Bei tätlicher Hilfe konnte man mit mir nicht rechnen, aber Ruth war mobiler. In wenigen Tagen würde sie zur ReHa gefahren. Emelie wollte genau wissen, mit wem sie ein Zimmer teilte. Namen, Alter und die Kinderzahl, alles interessierte sie brennend. Das war offensichtlich die richtige Vorgehensweise, denn es funktionierte. Ruth packte richtig aus, als sei ihr das ein inneres Bedürfnis und sie klang gar nicht mehr überheblich. Bei der Neuen hätte sie damit auch keine Chance gehabt, denn die war mitnichten auf uns angewiesen. Das zierliche Persönchen hatte sechs erwachsene Kinder, wovon fünf in Hannover und eins in Celle lebten. Alle hatten Familien und deren Nachwuchs war zum Teil auch schon im jugendlichen Alter. Unser Leben änderte sich schlagartig. Schon vor ihrer OP bekam Emelie reichlich Besuch. Drei bis fünf Leute in schwarzen Lederjacken warteten schon im Flur auf Einlass. Vor denen hätte ich mich auf der Straße geängstigt, weil mir bei deren Anblick schlagartig die Russenmafia im Gehirn herumtanzte.

Sie brachten Essen mit, damit ihre kleine Mama nicht verhungern konnte, leider verpackt in Plastiktüten, russische Spezialitäten und Obst. Die Tüten machten das Essen für mich etwas ekelig. Das war ganz besonders schade, denn Emelie war sehr freigiebig. Von allem bot sie uns an, in sie würde nicht so viel hineinpassen, erklärte sie. Ruth probierte alles mit Begeisterung und ich, mit meinen merkwürdigen Animositäten beim Essen, musste leider ablehnen. Warum hatten diese Leute keine Tupperdosen? Außerdem mochte ich nichts nehmen, weil ich nichts zu geben hatte. Den achtete auf mein Gewicht, brachte mir keine Süßigkeiten. Außer Den kam niemand, um mir Leckereien mitzubringen. Mein Sohn hatte genug damit zu tun, mich täglich zu besuchen und meine Wäsche zu waschen. Ich lag ja nur herum, tat nichts außer mir drei Mahlzeiten täglich schmecken zu lassen und litt an Adipositas. So stand es schon eine Weile in meinen Befunden. Warum sie das immer wieder erwähnen mussten, verstand ich nicht, dieser Begriff verletzte mich. Liebend gerne wäre ich eine Hungerharke gewesen, aber wie sollte das gehen, wenn ich mich nicht bewegen konnte, aber viele Tabletten aß? Ich musste stark bleiben was zusätzliches Essen betraf und ablehnen. Emelie nahm mir das nicht übel.


Als sie operiert zu uns zurück kam, war aus Ruth und mir wortlos ein Helfer-Team geworden. Was wir konnten, wollten wir für Emelie tun. Die lag wie ein kleines Häufchen Elend in ihrem Bett, neben mir, und verschlief ihren ersten Tag im neuen, hoffentlich schmerzfreien, Leben einfach. Sie konnte kein Essen zu sich nehmen und ihre besorgten Kinder nahm sie gar nicht wahr. In der Nacht wimmerte sie so nachhaltig, dass ich wach wurde. So beruhigend wie möglich redete ich auf sie ein. Das half nicht.

„Emelie, was ist mit dir? Hast du Schmerzen?“

Ich hätte nicht flüstern müssen, denn Ruth war jetzt ebenfalls wach und sehr besorgt.

„Mein Rücken, ich kann nicht mehr darauf liegen“,

wimmerte sie wie ein hilfloses Tier.

„Nachtschwester! Wir haben einen Notstand, “

entschied ich,

„Wir klingeln!“

Ruth fand das in Ordnung, denn irgend etwas musste geschehen. Also tat ich, was man wirklich nur im äußersten Fall tat, ich klingelte. Es dauerte eine Weile, bis die Nachtschwester kam. Nachdem wir das Problem vorgetragen hatten, verweigerte sie ihre Hilfe, dass müsste noch bis Morgen warten. Sie könne Emelie jetzt nicht den Rücken abseifen. Weg war sie und ließ uns geschockt zurück.

„Und nun?“

stellte ich hilflos in den Raum.

„Gut,“

sagte Ruth entschlossen,

„dann werde ich ihr den Rücken abwaschen, Moment!“

Sie krabbelte aus ihrem Bett und humpelte in die Nasszelle.

„Wo sind deine Läppchen, Emelie?“

„Meine sind rosa“,

antwortete die Leidende. Schnell kam Ruth mit feuchtem Lappen und Handtuch ans Bett der Leidenden. Besser als eine examinierte Krankenschwester tat sie das Notwendige und räumte genauso fix alles zurück an seinen Platz.

„Geht es dir jetzt besser, Emelie?“

fragte sie interessiert, aber die Patientin war schon zufrieden eingeschlafen. Dann wurde endlich auch für uns Nacht.

Jeden Abend gegen neunzehn Uhr, rief die kleine Russin ihre Familie an, selbst ihren geschiedenen Mann, von dem sie sich wegen seiner Trunksucht scheiden lassen hatte. Allerdings wohnte er trotzdem bei ihr, was ich nicht verstehen konnte. Fast unter der Decke sprach sie mit ihren Lieben, so dass ich manchmal dachte, sie spräche noch mit mir. Ich glaubte später, dass sie ihre Besucher koordinierte, denn die Kinder kamen nie alle gleichzeitig. Sie hatte aus meiner Sicht noch eine ungewöhnliche Marotte an sich, sie ließ sich zwei Brötchen zum Frühstück bringen. Mir kam das viel vor, aber dann stellte ich fest, dass sie nur eins aß und das zweite unbelegt hortete. Als sie sich einmal von mir beobachtet fühlte, erklärte sie mir, dass sie nichts ohne Brot essen könnte. Dann kam der Tag, an dem Emelie auf die Toilette gehen sollte, aber in Begleitung. Das klappte recht gut, aber Ruth und ich machten uns doch echte Sorgen, denn sicher auf den Beinen wirkte die Kleine nicht. Spät abends klingelte sie, für den letzten Toilettengang. Vergebens. Auch nach wiederholtem Klingeln erschien keine Schwester. Ich schäumte,

„mach einfach ins Bett, dann wird sie das nächste Mal auf die Klingel hören“

Ruth hatte den besseren, aber wie mir schien, gefährlicheren Plan.

„Ich gehe mit!“

„Du kannst sie nicht fangen, wenn sie wegrutscht, dann liegt ihr beide auf der Nase und die neuen Gelenke sind futsch. Dir ist klar, dass die Schwester Heute nicht zur Verfügung steht?“

gab ich zu bedenken. Aber Ruth´s Urinstinkte waren geweckt. Sie ging todesmutig neben Emi am Gehwagen. Ich blieb zitternd im Bett liegen, bis die beiden unversehrt wieder das Zimmer betraten. Welch eine Aufregung. Aber meine Achtung für Ruth hatte immens zugenommen.

Dann fiel ich, zum dritten Mal, unerwartet und unvorhersehbar. Wieder fand ich mich auf meiner linken Körperseite am Boden liegend. Beide Frauen waren geschockt, wollten sofort klingeln, aber ich beruhigte sie. Wenn die Schwestern das mit bekämen, war meine Aussicht auf Entlassung wieder in weiter Ferne gerückt, befürchtete ich.

„Ruth, kannst du mir einen Stuhl herschieben? Die Dinger sind so schwer, vielleicht schaffe ich es, daran aufzustehen, ohne dass das Teil wegrutscht.“

Die Angesprochene tat es, obwohl das auch für sie nicht einfach war. Sie blieb auch neben mir stehen, um mir Hilfestellung geben zu können. Mit kleinen Bewegungsabläufen schaffte ich das Aufstehen und war glücklich. Und jetzt wollte ich Ruth behalten, aber auch sie musste gehen. Sie war natürlich froh, es so weit geschafft zu haben, aber wir „Hinterbliebenen“ nicht. Mehr noch als ich, trauerte Emelie, da hatten sich auch zwei Seelenverwandte gefunden. Sie tauschten Handynummern aus, denn sie würden sich noch im ReHa - Ort treffen. Ein Handy besaß ich nicht. Ganz gegen meine bisherige Überzeugung, fehlte mir in meiner jetzigen Lage so ein Gerät, um am normalen Leben teilhaben zu können. Ruth hatte mir ihre Adresse nicht angeboten und ich wollte ihr meine nicht aufdrängen. Vermutlich begegneten wir uns nie wieder.

Wir blieben nicht lange zu zweit. Von dem Moment an, als die Neue sich vorstellte, befasste ich mich intensiv mit meiner Genesung. Nur das konnte noch meine Rettung sein. Ich musste weg von dieser Frau, bevor ein Unglück geschah. Emelie dachte ähnlich, aber sie war im Vorteil, denn sie kannte ihren Entlassungstermin. Entsprachen ihre Fortschritte den vorgegebenen Normen, würde sie nach zwölf Tagen zur ReHa gebracht. Vorher war nichts möglich. Die Neue war zweiundzwanzig Jahre alt, verhielt sich aber wie eine Siebzig jährige. Sie hatte ihren eigenen Rollstuhl mitgebracht, auf den sie im Zimmer überhaupt nicht angewiesen war. Verheiratet war sie angeblich auch, aber den Mann bekamen wir nicht zu Gesicht. Sie wurde von niemanden besucht und erwartete auch niemanden. Aus dem ehemaligen Osten wäre sie und zu krank zum Arbeiten. Irgendwo dort, hätte man ihr vier Schrauben in die Wirbelsäule gearbeitet, aber die mussten schon wieder entfernt werden. Davon war sie inkontinent geworden, musste von den Schwestern gewickelt werden. Ihr Gang war in keinster Weise eingeschränkt, aber ab Tür zum Flur bewegte sie sich nur im Rollstuhl vorwärts.

Sie ging uns mit ihrer Geschichte tierisch auf die Nerven und wenn sie den Mund zum Sprechen öffnete, brach bei uns die gute Laune ein. Ich sprach mit Dr. Penny wegen meiner Entlassung. Er ermutigte mich, war wahrscheinlich glücklich, mich loszuwerden. Einen Tag konnten Emelie und ich genießen. Die Nervensäge, deren Namen ich erfolgreich verdrängte, wurde in ein anderes Krankenhaus gefahren, zwecks genauer Untersuchung mit Geräten, die unser Haus nicht besaß. Wir konnten auch verstehen, wenn sie abgeschoben werden sollte, uns wäre das sehr recht gewesen.

Es war soweit, am nächsten Nachmittag würde ich liegend nach Hause transportiert. Ich hatte keine Zeit gehabt, abzuwägen ob und wer mich versorgen würde. Meine Glückshormone sprudelten über, was sollten da unnötige Grübeleien? Irgendwie musste ich Den verständigen, meine Koffer mussten gepackt werden. Die Neue war zurückgekommen, man wollte sie nicht dort behalten. Sie drängte mir förmlich ihr Handy auf und ich gab ihr dreißig Cent und bedankte mich, ehrlich gemeint. Danach kam in jedem zweiten ihrer vielen Sätze vor, wie toll doch die Hannoveraner wären, die würden jedem und immer helfen. Meine Schwiegertochter kam zur Feier des Tages mit. Ganz geschwind packten mir die Zwei meinen kleinen Koffer und die große Reisetasche. Wir freuten uns gemeinsam, aber vermutlich über Unterschiedliches. Die Zwei atmeten verständlicher Weise auf, weil der Besuchsstress enden und ihre Wäsche nicht mehr so umfangreich sein würde. Ich freute mich, dem Theater hier zu entkommen, auf meine eigenen vier Wände und besonders auf meine Enkel. Als die zwei lieben Menschen gegangen waren, befasste ich mich mit der traurigen Emelie. Sie ließ mich wissen, dass sie schreckliche Angst vor den Tagen, allein mit dieser unmöglichen Person, hätte. Sie zweifelte stark, ob sie das ertragen könnte. Zum Trost gab ich ihr meine Telefonnummer, aber auch die konnte ihr die Furcht nicht nehmen.

Dann endlich, nach dem Mittagessen war es so weit. Eine Krankenwagenbesatzung kam, fragte sich zu mir durch und dann lief alles so ab, wie ich es schon gewohnt war. Mit vereinten Kräften wurde ich auf der Trage befestigt und nahm laut und warm Abschied. Emelie unterdrückte ihr Weinen. Ich bot ihr an, sie dürfe mich jeder Zeit anrufen, wann immer sie wollte. Ein letztes Winken hinüber zu den Schwestern und schon lag ich im hinteren Teil des Wagens. Die Scheiben waren nicht ganz zugeklebt, so konnte ich, zu meiner Freude, einen kleinen Ausschnitt von der Stadt und dann von der Landschaft sehen. Es war der erste Dezember, ohne Schnee, und ich wollte, dass dieser Tag als guter Tag in meiner Erinnerung bleiben sollte. Die Männer unterhielten sich angeregt mit mir. So fühlte sich die Fahrt sehr kurz an. In meiner Stadt stieg in mir die Befürchtung auf, dass der Fahrer mein außerhalb liegendes Haus nicht finden würde. Liegend und mit dem Kopf in Fahrtrichtung fiel es mir erstaunlich schwer, den komplizierten Weg zu erklären. Die Männer waren pfiffig genug, mein Haus zu finden. Beide Männer stiegen aus. Einer ging zu meiner Haustür und klingelte bei meinem Sohn in der oberen Wohnung.

Fünf neugierige Kinder kamen aus der Tür gepurzelt. Sie waren verdutzt, denn sie konnten mich nicht erwarten, außer Den hätte mich angekündigt. Die Kinder strahlten, als sie mich erkannten. Endlich kam auch mein Sohn mit seiner Frau. Die Rettungskräfte hatten die Trage so gekippt, dass ich stehen konnte, mehr nicht. Nachdem ich, der schrecklichen Diagnose wegen, viel Angst um meinen Sohn gehabt hatte, staunte ich, wie normal er da im Rahmen unserer Haustür stand. Ja, da stand er und blieb auch dort stehen, genau wie seine Frau. Keine Regung, eingefrorene Gesichtszüge schlugen mir entgegen. Die wollten mich nicht, sie fürchteten, dass ich sie bitten könnte, mir behilflich zu sein. Bevor mich Entsetzen ergriff, besann ich mich auf meine eigene Freude, und wischte die Empfindlichkeit weg. Hier wartete aber kein Hilfsmittel auf mich, weder Rollstuhl noch Rollator. Ohne sie war ich ein Haufen denkender Masse. Die Männer blieben cool. Scherzend fassten sie mich unter die Arme und trugen mich meiner Familie entgegen. Ich bat meine Enkel um meine Stöcke, die ich schon lange vor der OP gebraucht hatte. Der Glaube an meine Fähigkeiten war nicht groß genug, um den Weg ins Wohnzimmer zu bewältigen. Die nette Krankenwagenbesatzung musste mich bis zu meinem Sessel tragen. Nach meiner Unterschrift und vielen guten Wünschen hin und her, blieben meine Familie und ich allein.

„Was ist los mit euch?“

fragte ich unverblümt.

„Freut ihr euch nicht über meine Heimkehr?“

Ich wollte etwas Gutes aus ihrem Munde hören.

„Das ist es nicht, Mutter, wie bitte sollen wir dich pflegen? Ich brauche selber Hilfe. K. ist mit mir und den Kindern an ihrer äußersten Grenze angekommen, mehr geht gar nicht. Wie also stellst du dir dein Leben, in deiner Verfassung, vor?“

„Also, ich bin erst einmal froh, dass ich wieder hier sein kann. Ich hatte auch nie die Absicht, euch zu überfordern. Es sieht nur im ersten Moment so aus, als ob ich nichts auf die Reihe kriegen könnte. Das täuscht aber, ich kann sehr viel alleine tun. Wenn du David meine Gästematratzen auf mein rechtes Bett stapelst, hat es die richtige Höhe, dann kann ich alleine schlafen gehen.“

David nickte, warf aber ein:

„Was ist mit der Toilette und dem Bad?“

„Was soll sein, lass uns bitte einen Probegang dahin machen.“

Alle folgten mir, wollte mit eigenen Augen sehen, was mir in Zeitlupe möglich war. Schon beim Aufstehen brauchte ich Hilfe, der Sessel war zu tief. Schritt für Schritt bewegte ich mich unsicher auf meinem kurzen Weg voran. David hatte schon eine reale Einschätzung, ohne Hilfe würde ich mich von der tiefen Toilette nicht erheben können. Schande, was für ein schwerer Beginn. Auf einmal fühlte ich mich ganz hilflos. Vielleicht sollte ich mich in mein Bett legen und dort ausharren, bis mein Körper nach Bewegung schrie. Essen war mir inzwischen gleichgültig geworden. Im Liegen schmeckte es nicht wirklich.

„Du musst dich kümmern!“

drängte mein Sohn.

„so kann es nicht bleiben!“

„Ok, ich tue was“,

sagte ich beruhigend, aber ich fühlte mich restlos erschlagen. Ganz mühsam arbeitete ich mich zurück ins Wohnzimmer und stimmte eine Fahrt zum Arzt und zum Einkaufen mit meinem Sohn ab. Dann rief ich meinen Arzt an, von dem ich hören musste, dass er inzwischen das Weite gesucht hatte. Von seinem Praxisteam gab es keine Erklärung, nur die Tatsache, er habe seinen Platz in der Gemeinschaftspraxis einer ahnungslosen, jungen Anfängerin übergeben. Ich wollte, verdammt noch mal, meinen Arzt.

„Warum lässt er mich jetzt im Stich?“

fragte ich seine Helferin. Eine Antwort bekam ich nicht. Nur weil ich eben aus dem Krankenhaus gekommen war, durfte ich tatsächlich am nächsten Vormittag erscheinen. Die Ärztin musste mich krankschreiben, mir meine Medikamente verschreiben, die Toilettenerhöhung verordnen und eine helfende Hand brauchte ich ebenfalls. All das sollte am nächsten Morgen passieren. Das nächste Gespräch führte ich mit einer Firma, die mit meiner Krankenkasse einen Vertrag hatte. Sie würden mir schon am kommenden Mittag Rollator und Rollstuhl liefern, die Verordnung dafür hatte mir das Krankenhaus mitgegeben. Das dritte Telefonat führte ich mit dem Sanitärmeister meines Vertrauens. Er sollte mir einen Duschsitz einbauen, damit wenigstens meine Körperpflege gewährleistet sein würde. Armstützen an den Toiletten plante ich auch. Er wollte auch schon am nächsten Tag vorbeikommen um alles auszumessen. In vier Tagen würde er seine Einbauten machen können. Ich träumte inzwischen schon vom Duschen.

Meine Schwiegertochter schickte mir ein Abendbrot herunter, dass ich gerne annahm, denn nach all den aufregenden und anstrengenden Verhandlungen war ich hungrig geworden und sehr, sehr müde. Zum ersten Mal spritzte ich mir ein Trombosemittel in die Bauchfalte, als mein Telefon laut gab. Automatisch sah ich zur Uhr, als Orientierungshilfe. Es war neunzehn Uhr, konnte das wahr sein? Tatsächlich rief mich Emelie an. Wahrscheinlich lag sie bis zur Nasenspitze unter der Bettdecke, um niemanden zu stören. Ich freute mich ehrlich, denn die neuen Gewohnheiten fehlten mir in meinen vier Wänden. Es kam mir natürlich vor, dass sie nicht frei sprechen konnte, also stellte ich meine Fragen so an sie, dass sie nur noch mit Ja oder Nein antworten musste.

„Wie geht es dir mit der schrecklichen Frau?“

„Schlecht!“

„Ist sie im Zimmer?“

„Ja!“

„Geht es dir sonst gut?“

„Ja!“

Klar war, sie fieberte der ReHa entgegen, weil dort Ruth schon auf sie wartete.

In meinem Bett schlief ich wie im Himmel und Frühstück lieferten meine Kinder. Ankleiden war kein Thema für mich, wir konnten aufbrechen, zur neuen Hausärztin. Es war eine Tortour, schon wie ich mich in mein Auto quetschen musste. Mein Rücken war nicht so biegsam, wie man es mir in Aussicht gestellt hatte, zumindest noch nicht. Bis ich in der richtigen Etage ankam vibrierte mein Körper, als hätte er eine Weltreise hinter sich. Die MTA´s behandelten mich nicht die Spur rücksichtsvoller als vor der OP. Der Unterschied bestand nur darin, dass ich sofort in ein Behandlungszimmer geführt wurde. Meine Schwiegertochter war bei mir, mein Sohn suchte einen Parkplatz. Die junge Neue kam, sah mich im Schweiße meines Angesichtes und lief ihrerseits hochrot im Gesicht an.

„Was hat sie nur?“

dachte ich irritiert. Von ihr kam nichts, außer Verlegenheit. Ich ergriff die Initiative, schilderte kurz was passiert war, warum es geschehen konnte und auf welchem Stand ich mich zur Zeit befand. Danach erklärte ich ihr meine Wunschliste und ließ sie zu Atem kommen.

„Wäre für sie nicht eine ReHa angebracht?“

fragte sie unsicher. Die Sozialfrau im Anna hatte mir das auch nahegelegt, aber ich hatte abgelehnt, weil mir erst in einem halben Jahr eine ReHa zustand, die mich fit machen sollte. Die war mir wichtiger.

„Sie könnten nicht viel mit mir anfangen, ich darf doch den Rücken noch nicht belasten und ins Wasser darf ich erst recht nicht. Was also soll ich dort?“

„Aber Sie wären versorgt, wie ich das sehe, können sie gar nichts, stimmt´s?“

„Ja leider, aber ich will es versuchen!“

Es war für alles gesorgt und meine Bedürfnisse wurden erfüllt. Wir holten die Hilfsmittel, einschließlich Essen und Trinken. Für volle drei Tage, ein Wochenende, beorderte David seine siebenköpfige Familie, für drei Mahlzeiten pro Tag, nach unten in meine Essecke. Mein Geschirr wurde knapp und den Geschirrspüler ein - und ausräumen konnte ich nicht. Ganz oft musste ich mein Bett aufsuchen, weil ich erschöpft war von Schmerzen, oder ich war einfach nur müde. Mein Schlafpensum nahm eher zu, obwohl ich wirklich am Freitag noch Rollstuhl und Rollator geliefert bekam. Mein Körper war offensichtlich angeschlagener als ich vermutet hatte, sozusagen, in den Grundfesten erschüttert. Er streikte, sobald er sich anstrengen sollte. Mein Sanitärmeister kam wie versprochen mit einem Katalog voller Hilfsmittel. Wir besprachen meine Ideen und stellten fest, dass diese Dinge Apothekerpreise hatten, die ich weder bezahlen konnte, noch wollte.

„Ach, kein Problem, die Krankenkassen zahlen dazu.“

Der gute Mann war ein Sonnenschein.

Das war mir zu vage, ich ruderte zurück und bestellte nur den Duschsitz und den Handlauf für meine Sicherheit. Nachdem mir meine Schwiegertochter eine Maschine Wäsche schrankfertig ausgehändigt hatte, bat ich sie, von gemeinsamen Mahlzeiten abzusehen. Die Erklärung mit dem Essgeschirr fand sie plausibel.

„Das hat wirklich nichts mit deinem Essen zu tun“,

das stellte ich klar.

„Wie wirst du dir Essen kochen?“

„Ich werde experimentieren und bevor ich verhungere, bitte ich euch um einen Teller Suppe, ok?“

Das Kochen sah ich als mein kleinstes Problem, denn weniger essen würde meinem behinderten Körper nur gut tun. Ich wollte nicht mehr dann essen, wenn alle Deutschen es taten, sondern nur noch, wenn ich hungrig war. Wäsche wurde eine Notwendigkeit und ich fügte mich, ließ meine Waschmaschine arbeiten. Das bekam ich hin. Mangels Trockner musste das nasse Zeug aber aufgehängt werden, im Bad, über meiner vereinsamten Wanne. Mühsam transportierte ich sie mit meinem Rollator.

Mein Haus kam mir sehr groß vor, denn ich musste den Weg zweimal gehen. Das Aufhängen verursachte mir starke Schmerzen. Gerne wäre ich endlich an die frische Luft gegangen, aber es lag Schnee, der nicht geräumt wurde. Das hätte mich zu Fall bringen können, ein viel zu hohes Risiko. Mir kam eine glänzende Idee, konnte nicht die Krankenkasse mein Leben erleichtern? Wenn jemand eine Haushaltshilfe benötigte, dann ich. Ich hatte mir vom Diakonischen Werk eine Bodenpflegerin gegönnt. Die hatte mich für eine Stunde 20,- Euro gekostet. Im Preis war die Anfahrt und eine interessante Unterhaltung inbegriffen. Der Boden selber hatte dreißig Minuten in Anspruch genommen. Auf diese Weise würde ich verarmen. Meiner Schwiegertochter hätte ich die Arbeit auch mit Entlohnung nicht zumuten können, denn sie war ja schon ohne mich überlastet.

Mein Ansprechpartner zeigte sich höchst erstaunt über meinen Anruf. Am Vormittag hatte sich schon meine Schwiegertochter über Möglichkeiten aufklären lassen. Ohne meinen entsprechenden Auftrag, versteht sich. Zuschüsse oder eine Haushaltshilfe würde ich nicht bekommen. Er wies mir auch nicht den Weg zum Erfolg, wenn mein Arzt mir die Notwendigkeit bescheinigen würde. Ich hatte davon keine Ahnung, denn diese Notlage passierte mir zum ersten und hoffentlich letzten Mal. Auch meine neue Krankenkasse versuchte so, Geld an mir zu sparen. Eine Pflegestufe wehrte er auch gleich ab, denn ich konnte selbstständig Körperpflege betreiben und mich anziehen, das waren die Hauptkriterien. Mir wurde in diesem Gespräch allmählich verständlich, das verzweifelte Menschen, die nur gegen Mauern stießen, notfalls zur Lüge griffen. Für mich verwarf ich das aber, dafür hatte ich immer noch zu viel Trotz in mir. Unser Gespräch endete damit, dass ich aufgab.

Der Ärger über meine Schwiegertochter brodelte in mir, oder schlug nur das ganze Drama über mir zusammen, wie eine riesige Welle? Noch musste ich die Frau um Hilfe bitten, die wortlos jede Hilfe meinerseits selbstverständlich angenommen hatte, mein Bad für den Umbau umzuräumen. Nur mühsam disziplinierte ich mich und bat sie, über unsere Hausanlage, zu mir zu kommen. K. kam freundlich nichtssagend, wie immer, und setzte sich zu mir. Mit dem Badumbau begann ich und sie sagte mir ihre Hilfe zu. Dann ergoss ich meinen Ärger über das Telefonat auf sie, ich sei nicht geistig behindert, sondern nur körperlich. Sie dürfe so etwas doch nicht hinter meinem Rücken tun. Mir dränge sich der Eindruck auf, als wolle sie für jeden Handschlag bezahlt werden und so weiter.

Weil mir nur ein befremdeter und bedrückter Gesichtsausdruck entgegen schlug, kein Wort, erinnerte sie mich stark an meinen Exmann. Er hatte ebenso geschaut, wenn ich seine Konto-Plünderei aufdeckte. Das reizte mich bis aufs Blut, so dass ich wohl sehr böse Dinge sagte, wie:

„Wenn ich von meiner Familie keine Hilfe erfahre und erwarten kann, dann will ich sie hier nicht mehr sehen. Nur meine Enkel dürfen natürlich zu mir kommen.“

Daran erinnerte ich mich etwas später tatsächlich nicht mehr, es sah mir aber ähnlich. Mir bleib bis in die Gegenwart verborgen, ob das Vergessen an meinen vielen Tabletten, oder nur daran lag, dass ich mich vor Wut in Ekstase geredet hatte. Möglich, dass ich so drastisch und kräftig um mich schlug, weil ich Angst hatte, in die unterste Schublade entsorgt zu werden. Es war vermutlich von allem etwas.

Nach meiner „Bergpredigt“ wurde Sydney, mein ältester Enkel, zum Räumen im Bad geschickt.

„Komisch!“

dachte ich bei mir,

„was ist denn los? Ob K. keine Zeit hat?“

Niemand von oben kam mich mehr besuchen, bis David kurz vorbeischaute, um mir mitzuteilen, dass seine Frau keine zwei Haushalte versorgen könne.

„Das habe ich nie verlangt!“

stammelte ich, als hätte er mir eine Backpfeife verpasst. Er ging und ich blieb zurück, mit der deutlichen Ahnung, dass mein Leben nicht einfacher werden würde. Meine Hausärztin hatte sich inzwischen informiert, ob ich von irgendeiner Institution, die ich mein Leben lang treu bezahlt hatte, eine Hilfe erwarten konnte. Sie rief mich an und fragte noch einmal eindringlich, ob ich nicht doch in die örtliche ReHa wollte. Dort müsste ich mich nicht um mein Versorgtsein kümmern. Da ich mich eben von meiner Familie abgewählt fühlte, wegen Funktionsunfähigkeit, war ich schon offener für diese Variante. Auf die Idee, dass ich meine Schwiegertochter verletzt haben könnte, kam ich gar nicht. Bisher waren mir nur ihre Nehmer-Qualität positiv aufgefallen. Aber was sollte ich im halben Jahr mit Hilfe, wenn ich sie gerade jetzt nötig hatte? Die Ärztin bot mir an, mit der Sozialfrau meines Krankenhauses zu reden.

Ich kochte nicht mehr, denn längeres Stehen am Herd war mir unmöglich. Meine sporadischen warmen Mahlzeiten bestanden aus Geflügel und Fisch, nicht täglich. In der Hauptsache nahm ich Obst und Gemüse zu mir. Meine Enkel durften mich dann doch besuchen, es wurde schließlich Weihnachten. Sie halfen mir saugen, fegen und den Müll beseitigen. Über diese quasi Nebentätigkeiten und ihre Bewältigung hatte ich mir bis dato keinen Kopf gemacht. Ich war meinen Enkeln sehr dankbar, aber plötzlich erkannten sie den Wert ihrer Arbeiten. Selber schuld! Als ein Kind mich fragte, ob ich auch für die Arbeit bezahlen würde, wollte ich den Ehrgeiz nicht bremsen. Arbeit verdient Entlohnung und wie sollte man lernen, dass sie eine Lebensnotwendigkeit war? Arbeit musste sich lohnen, da war ich mir sicher. Ich ging auf den Deal ein und bezahlte für entsprechende Anstrengung kleines Geld. Das passte aber den Eltern nicht, was ich meinem Sohn gegenüber aber verständlich argumentieren konnte.

Meine Koffer standen gepackt, als der Anruf kam, ich könnte am 15. Dezember in die ReHa einziehen. Ganze zwei Wochen hatte ich zu Hause verbracht, hätte mir das jemand vorher erzählt, ich würde ihm nicht geglaubt haben. Mir war die Zeit sehr lang geworden, sie hatte mir in jeder Hinsicht viel abverlangt. Die ReHa schien eine Erlösung zu sein und sie war nahe genug bei meiner Familie.


Der Befund

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