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Die Axe-Burg und die Grals-Steine
ОглавлениеDie Axe-Burg war eine stattliche, aber auch dunkle Burg im Südwesten von Paderborn – und mit ihren drei Türmen einzigartig in Europa. Ein großer, runder Turm im Norden und zwei kleinere Türme im Süden umschlossen einen dreieckigen Innenhof. Über dem Eingangstor, das nur durch eine schmale Brücke zu erreichen war, war ein Wappen angebracht mit den Buchstaben AB, was so viel hieß wie „Axe-Burg“. Axe war der Familienname von Markus.
Markus wurde in dieser Burg geboren und lernte von seinem Vater, dass die Herrschaft der Welt unter seinen Füßen lag.
Jolinde hingegen wurde im Nordosten von Paderborn – nicht weit der Grals-Steine – im Hause einer Glaubensgemeinschaft geboren. Sie lernte von ihrer Mutter, dass die Herrschaft der Welt im Himmel lag. Denn die Glaubensgemeinschaft, der die Familie Schmidt angehörte, besuchte die Grals-Steine regelmäßig und glaubte an ihre göttlichen Offenbarungen. Die Grals-Steine waren eine senkrecht sich erhebende Steinformation im Teutoburger Wald, die mit ihren über vierzig Meter hohen Steinen das Bild einer Felsenburg boten und schon von Urzeiten her als Heiligtum genutzt wurden.
Aus diesen zwei Welten kommend, begegneten sich die Kinder zum ersten Mal bei ihrer Einschulung in der Grundschule von Paderborn.
Der Lehrer Stockmann war liebenswert und im Gegensatz zu seinem Namen durchaus sensibel und pädagogisch beweglich. Ihm fielen die beiden Kinder in ihrer Gegensätzlichkeit auf und so setzte er sie nebeneinander in die erste Bank.
„Wie heißt du?“ fragte Jolinde neugierig und schaute Markus groß an – so, wie kleine Mädchen das tun. „Ich heiße Markus und wohne in einer richtigen Burg“, antwortete er – so, wie kleine Jungen, die in einer Burg wohnen, das tun. „Ich wohne in keiner Burg“, sagte Jolinde und schaute etwas verlegen zu Boden. „Dann darfst Du mich mal besuchen.“
Markus war stolz und froh, jemandem, der scheinbar keine Ahnung von einer Burg hatte, die Burg zeigen zu können.
Dann fragte er sie, wo sie wohne. Aber das war nicht so einfach zu beantworten, denn in der Gemeinschaft, in der sie wohnte, war sie mal bei dem einen und mal bei dem anderen Ehepaar untergebracht. Ein einzelnes Familienleben gab es dort nicht. Alles gehörte allen und das einzig Wichtige war der Dienst an den Göttern. Deshalb sagte sie zu Markus: „Ich wohne in der Gemeinschaft.“ Das machte den kleinen Markus ratlos, weil er sich unter einer „Gemeinschaft“ nichts vorstellen konnte.
Aber im Laufe der Zeit lernten sie sich immer besser kennen und waren bald in den Unterrichtspausen unzertrennlich. Das merkten auch die Eltern, die sich an den Elternabenden trafen. Und endlich kam es tatsächlich dazu, dass Markus Jolinde in seine Burg einladen durfte.
Jolinde war es sehr unheimlich, als sie sich der Axe-Burg näherten. Sie schmiegte sich an ihre Mutter und hatte dunkle Ahnungen von Hexen und Trollen, die dort lebten.
Aber Herr Axe zerstreute ihre dunklen Gedanken, als er den beiden Besucherinnen mit seinem Sohn Markus am Burgtor entgegen kam.
Herr Axe war ein nicht sehr großer aber muskulöser Mann mit fast schwarz gelocktem Haar. Sein Sohn Markus hatte sein Haar, aber hellere Augen, die wahrscheinlich von der Mutter stammten. Herr Axe war gebildet, höflich und zuvorkommend – ein Burgherr eben.
„Herzlich willkommen, Frau Schmidt!“, begrüßte er die Mutter. „Schön, dass Sie uns besuchen.“ Dann wandte er sich an Jolinde, legte seine Hand auf ihren Kopf und sagte: „Und herzlich willkommen, Jolinde. Markus hat sich schon auf Dich gefreut.“ Und zu beiden gewandt: „Bitte kommt doch herein.“
Frau Schmidt entschuldigte ihren Mann, der aus terminlichen Gründen nicht hatte mitkommen können, und sie folgten ihm in den Innenhof der Burg. Dort schauten sie sich interessiert um und Herr Axe sagte: „Hier können die Kinder nachher spielen. Aber zuvor erwartet uns meine Frau zum Kaffee.“
Jolinde war wie erschlagen von dem dunklen Burghof und fragte sich, indem ihr Blick an den hohen Mauern mit den kleinen Fenstern entlang glitt, warum es Menschen gibt, die sich so schrecklich einmauerten. Ihr kamen die Mauern furchtbar hoch vor und die Fenster mit den Fensterkreuzen so klein, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass es hinter ihnen helle Räume geben könnte.
Aber als sie dann mit den anderen zusammen den großen Rittersaal betrat, war sie von dessen Größe und Vornehmheit doch sehr beeindruckt.
Der ganze Raum war in ein warmes Licht getaucht und gab den purpurrot bezogenen Stühlen und Sesseln eine angenehme Vornehmheit. Ritterschwerte und Schilde, aber auch Bilder und Wappen hingen an den Wänden und zeigten die Vergangenheit und Zugehörigkeit der Burg. Und der gemauerte Kamin an der kurzen Wand des Saales lud zum Erzählen ein.
Auf dem großen, edel gedeckten Tisch in der Mitte des Saales standen neben den Tellern und Tassen, auf denen das Wappen der Burg prangte, Kaffee und Kuchen bereit.
„Boa“, entfuhr es Jolinde und ihre Augen wurden ganz andächtig beim Anblick solcher Fülle.
Da kam aber auch schon Frau Axe auf sie zu und begrüßte sie aufs Herzlichste. „Willkommen in der Axe-Burg“, sagte sie und gab beiden die Hand. Dann lud sie sie zu Tisch und schenkte ihnen Kaffee und Kakao ein.
Frau Axe war blond und hatte schulterlanges Haar. Sie war sehr hübsch und doch sah man, dass sie auch viel Schweres durchgemacht haben musste. Frau Schmidt schätzte sie auf etwa 35 Jahre.
Sie ließen es sich schmecken und Herr Axe kam ins Erzählen.
Er machte eine ausladende Geste und sagte: „Die Burg hier bestand schon im Mittelalter und wurde wegen ihrer Grausamkeit bei den Menschen gefürchtet. Viele Menschen haben unter ihr gelitten. Deshalb wurde sie später von zornigen Bauern zerstört, doch benutzte man sie nach ihrer Wiedererrichtung erneut für Hexenprozesse und auch als Gefangenenlager für Deserteure. Später dann ...“ „Genug, genug“, fiel ihm Frau Schmidt ins Wort. „Das ist ja schrecklich, das will ich gar nicht hören. Haben Sie nichts Schönes zu erzählen?“
Herr Axe überlegte, was er Schönes sagen könnte, da übernahm Frau Axe schnell das Gespräch und bat Frau Schmidt um Entschuldigung für ihren Mann. „Er liebt es, die Besucher mit Horrorgeschichten zu erschrecken“, sagte sie und fügte gleich hinzu: „Es gibt natürlich auch schöne Sachen hier in der Burg. Vor allem seitdem wir sie übernommen haben und sie unseren Namen trägt. Vielleicht darf ich Sie gleich einmal herumführen?“
„Ja, gerne“, gab sich Frau Schmidt bereitwillig, erhob sich und folgte ihr in den nächsten Raum.
Auch die Kinder waren aufgesprungen und hatten begonnen, den Saal zu erkunden. Markus hatte einen Ball ergriffen, den er vorher schon bereitgelegt hatte, und lief mit Jolinde in den Burghof, um zu spielen.
Dort stellte er sich in ein schnell hergerichtetes Tor und Jolinde musste versuchen, den Ball an ihm vorbei zu schießen. Das machte viel Spaß und nach einiger Zeit wollte auch Jolinde einmal ins Tor. Doch sie konnte den Ball nicht halten, und er rollte an ihr vorbei direkt auf eine Treppe zu, die in einen dunklen Keller führte.
„Nicht da runter!“ rief Markus entsetzt, als Jolinde dem Ball hinterher lief. Aber Jolinde war schon verschwunden und Markus eilte ihr nach bis an die Treppe, die nach unten führte. Dort blieb er stehen. Er hatte Angst hinunterzugehen. Zu viele schreckliche Geschichten hatte er schon von diesem Keller gehört. Deshalb rief er nur verzweifelt nach unten: „Jolinde, Jolinde, komm zurück!“
Aber es blieb still. Sie war nicht mehr zu sehen. Er rief und rief, blieb aber selbst an der Treppe stehen. Da herunter mochte er nicht gehen.
Zum Glück kam sein Vater in diesem Moment durch den Hof auf ihn zu. Er wollte die Kinder bei ihrem Spiel besuchen und gleichzeitig die zwei Frauen bei ihrem Rundgang durch die Burg von seiner Gegenwart entlasten. – So hatte er es ihnen scherzhaft gesagt.
Als Markus ihm jetzt aber aufgeregt erzählte, dass Jolinde da unten im „Hexenkeller“ den Ball suche, wurde er blass, lief die Treppe herunter und machte das Licht an.
Da stand Jolinde, den Ball in den Händen, geistesabwesend, leichenblass und wie gebannt auf eine Wand blickend, in der eine Reihe Eisenringe eingelassen waren. Das war der Ort, an dem im Mittelalter die mutmaßlichen Hexen angekettet auf ihren Prozess gewartet hatten. – Damals in völliger Dunkelheit und ohne Nahrung und Wasser. Und in welchem später auch die jüdischen Frauen gefoltert wurden.
Herr Axe wusste das und ging selber nicht gerne dahin. Aber jetzt wurde es ihm besonders unheimlich. Das Gesicht dieses Kindes im Anblick der Ringe würde er nie mehr vergessen. Was nahm sie wahr? Was sah sie da? Hörte sie das Wehklagen der gequälten Frauen? Spürte sie, was hier geschehen war?
Der Raum war fensterlos, kalt und muffig und ohne Licht nicht eine Minute zu ertragen. Hatte der Keller Jolinde in seiner Gewalt?
Schnell griff er sie am Arm und führte sie aus dem Keller heraus. Aber das Spiel war vorbei. Jolinde blieb wie abwesend und wollte auch nicht über das Erlebte sprechen.
Erst am Abend, als sie schon wieder zu Hause war, löste sich die Spannung und sie weinte bitterlich in ihre Kissen hinein. Und dann sagte sie zu ihrer Mutter, die sie an diesem Abend bei sich behielt: „Da waren so viele Schreie und ein Kind saß da, das sah so traurig aus. Aber als es mir seinen Namen sagen wollte, hat mich der Papa von Markus weggeholt.“
Als die Mutter daraufhin, zu Tode erschrocken, mehr erfahren wollte, blieb Jolinde aber still und wollte nicht weiter darüber sprechen.
„Nie mehr gehen wir in diese Burg“, sagte die Mutter endlich und betete mit ihr für die Erlösung der Menschheit und für einen guten Schlaf. Dann verließ sie das Zimmer und sagte noch mehrere Male vor sich hin: „Nie mehr gehen wir in diese Burg. Nie mehr.“
Am nächsten Tag in der Schule versuchte Jolinde von Markus zu erfahren, ob er dieses Kind auch schon einmal gesehen habe. Aber er schüttelte nur den Kopf und schaute sie an, als zweifele er an ihrem Verstand. Also schwieg Jolinde und versuchte das Erlebte zu vergessen.
Etwas später lud die Mutter Jolindes die Familie Axe zu sich ein. Und diesmal fühlte sich die Familie Axe unwohl. Aber sie waren höflich und gut erzogen und ließen sich nicht anmerken, dass ihnen das mystische Umfeld der Familien, die sich in der Glaubensgemeinschaft zusammengefunden hatten, äußerst unangenehm war.
Da waren Gebetsräume in den verschiedensten Farben, kleine Altäre, die überall herumstanden, bunte Tücher an den Wänden und geheimnisvoll beleuchtete Edelsteine, die die Blicke auf sich zogen.
In diesem Umfeld war die Familie Schmidt zu Hause. Und man sah es ihnen an. Auch Frau Schmidt war stets etwas mystisch gekleidet und trug zu ihrem kurzen, braunen Haar violette Tücher und wallende Röcke. Herrn Schmidts Füße steckten in Sandalen und seine Kleidung bestand aus einer weiten Freizeithose und einem bauschigen, bunten Hemd. Im Gegensatz zu seiner Frau trug er langes Haar.
Im Gemeinschaftsraum, der für alle Familien zugänglich war, war der Tisch für die Besucher gedeckt. Hier ließ sich die Familie nieder und fand eine große Auswahl an Selbstgebackenem. Dazu gab es biologischen Kaffee und Tee. Alles schmeckte ausgezeichnet – das musste zugegeben werden, aber die Gespräche waren eher kompromittierend. So fragte Herr Schmidt die Familie Axe, wie sie es mit dem Glauben hielte.
Darauf entgegnete Herr Axe kurz: „Wir sind freie Menschen, aber unser Sohn nimmt am katholischen Religionsunterricht teil.“ „Oh wie schön“, sagte Frau Schmitt. „Dann lernt er ja immerhin Gott kennen.“
Herr und Frau Axe schauten sich an und versuchten schnell das Thema zu wechseln. Aber so schnell ging das nicht. Was hätte die Familie Schmidt auch sonst für ein Gesprächsthema gehabt. „Dann beten Sie abends mit Markus?“ Auf diese Frage waren sie nicht vorbereitet: „Öh – ja, manchmal …“ war die Antwort. Frau Schmidt schaute erstaunt: „Also wir beten mit Jolinde jeden Abend. Ich glaube, ohne Gebet könnte das Kind auch gar nicht einschlafen. Aber vor allem wäre sie dann nicht geschützt.“
Die Axes schwiegen und Jolinde fragte Markus: „Wollen wir etwas spielen? Ich habe ein Sternenspiel, da muss man abwechselnd die Charaktereigenschaften und die Sternbilder einander zuordnen. Und wer es zuerst geschafft hat, hat gewonnen. Komm ich zeige es Dir.“
Die beiden Kinder verließen den Raum und Frau Schmidt sagte zu den Axes: „Sie haben uns Ihre Burg gezeigt, nun wollen wir Ihnen unsere Burg zeigen.“ „Sie haben auch eine Burg?“ Oh ja, aber sie gehört nicht uns alleine. Es ist eine Geistesburg.“ Mit diesen Worten erhob sie sich und die anderen folgten ihr.
„Können wir die Kinder hier alleine lassen?“ fragte Herr Axe. „Aber ja“, antwortete Herr Schmidt. „Es ist immer jemand da, der nach ihnen schaut.“
So verließen die vier Erwachsenen das große Gemeinschaftshaus und gingen durch den nahegelegenen Wald zu dem alten Einweihungszentrum der Grals-Steine.
„Sehen Sie, in diesem Zentrum des Geistes – oder wie ich sage, in dieser Geistesburg – sprachen die Menschen einst mit den Göttern“, sagte Frau Schmidt, während sie durch den nahegelegenen Wald in Richtung der Steine gingen.
„Götter?“ Wiederholte Frau Axe ungläubig. „In unserer Religion gibt es nur einen Gott.“ „Sie meinen eine Dreiheit“, korrigierte sie Herr Schmidt. Und versuchte sich dann in einer etwas umständlichen Erklärung, für die er von seiner Frau ein zustimmendes Lächeln bekam. „Es ist so“, sagte er. „Die Götter von damals, die benennen wir heute mit den Namen unserer Naturgewalten. Wir sagen Donner und Blitz, die Menschen damals sagten Thor. Wir sagen Wind und Wetter und die Menschen damals sagten Odin. Wir sagen heute Feuer und Rauch und damals nannte man es Loki. So war das Leben hinter den Naturgesetzmäßigkeiten beherrscht von den Göttern. Nun kann man sich natürlich streiten, welcher Name besser ist: der Name Odin oder der Name Wind.“
Und Frau Schmidt ergänzte: „Die Menschen damals sahen noch die göttliche Individualität des Windes und konnten sie mit dem Namen Odin benennen. Wir sehen nur mehr ihren Leichnam und nennen ihn Luft oder Wind.“
„Das ist die Erklärung“, übernahm wieder Herr Schmidt das Wort. „So hatten die damaligen Eingeweihten an den Grals-Steinen verschiedene Orte und Einrichtungen, um mit ihren Göttern in Erde, Wasser und Luft in Verbindung zu treten. Von ihnen erfuhren sie die Geheimnisse des Lebens, die sie dann zu den anderen Menschen brachten und so die Kultur Europas förderten.“
Er hielt inne und sie gingen eine Zeit lang schweigend nebeneinander her, bis sie die hoch aufragenden Steine erreichten. Es war eine fast fünfzig Meter hohe Wand aus verschiedenen Steinen, die mit Höhlen und Zeichnungen bestückt waren.
Am Fuße der Steine stellten sie sich vor ein Felsengrab, in welchem die Priester der damaligen Zeit in einem dreieinhalb Tage währenden Einweihungsschlaf die Geheimnisse der Sternenwelten erkundeten.
Dieses Grab befand sich in einem riesigen Felsbrocken, der wie eigenständig zu Füßen der hohen Steine lag und in den ein Bett aus Stein geschlagen war. In dieses Steinbett konnte man sich legen und hatte gerade genug Platz für Kopf und Körper.
„Was ist denn das?“ fragte Frau Axe. „Das ist das Gegenstück zu Ihrem Hexenkeller“, antwortete Frau Schmidt. „Das Gegenstück zu was?“ Frau Axe wusste nicht, ob das jetzt ernst gemeint war oder vielleicht doch ein Scherz sein sollte.
„Ja, ja“, bekräftigte Frau Schmidt. „In Ihrem Hexenkeller wurden die Menschen gemartert und hier marterten sie sich selbst.“
Das verstanden auch die beiden Männer nicht und schauten Frau Schmidt fragend an.
„Na ja“, fuhr sie fort. „Um in die himmlische Welt zu kommen, muss man vieles entbehren. Aber das ist ein Wohlgefühl für die Seele. Durch diese gewollten und opfervollen Entbehrungen löst sich die Seele im positiven Sinne vom Körper. – Entbehrt man aber ungewollt, ohne die Absicht einer Einweihung im Geiste, ist das eine unerträgliche Qual. Hier in diesem Grab war die Seele des Einzuweihenden durch seine gewollten Entbehrungen so stark geworden, dass sie sich in einem inneren Wohlgefühl vom Körper löste und sich mit ihren Göttern verband. Die Frucht daraus war die Geburt eines neuen, übersinnlichen Menschen. – Im Hexenkeller aber entstand aus den ungewollten Qualen ein Gegengeist, ein untersinnliches Gespenst, ein Phantom.“
Sie machte eine Pause, um das Gesagte wirken zu lassen, und betonte dann noch einmal: „Im Hexenkeller, da konnte sich kein Geist befreien. Da wurde ein Stück des Geistes durch die unerträglichen und ungewollten Qualen an die Erde gefesselt. Und daraus entstand dann ein untersinnlicher und verzauberter Geist.“
Alle waren sprachlos und nicht in der Lage zu antworten. Aber Frau Schmidt hatte das Gefühl, in diesem Moment über sich hinausgewachsen zu sein.
Sicherheitshalber übernahm Herr Schmidt jetzt die weitere Führung. Nicht, weil er seine Frau kompromittieren wollte, sondern weil er Sorge hatte, die Besucher durch zu viel Geistigkeit zu verschrecken.
Er zeigte ihnen die übrigen Steine mit ihren Höhlen, den Zeichnungen, dem alten Taufbecken und mit dem Sonnenloch im oberen Heiligtum des mittleren Steines.
Die Axes gaben sich interessiert, sagten aber nach einer Weile: „Wir wollen jetzt doch lieber umkehren. Es ist schon spät und Markus muss noch etwas für die Schule tun.“
Also verließen sie das Heiligtum der Steine und kehrten zum Gemeinschaftshaus zurück.
Als sie zum Gemeinschaftshaus kamen und die Kinder riefen, waren diese verschwunden. Aber Frau Schmidt hatte sofort eine Idee. Sie sagte: „Die werden in der Baumbude sein.“
Und dort waren sie auch. Die Baumbude befand sich in einer hohen alten Eiche im Garten der Gemeinschaft. Hoch oben in den Ästen hatten die Väter den Kindern diese Bude kunstvoll erbaut und sie war zu Jolindes Lieblingsplatz geworden.
Herr Axe war beeindruckt, als er die Bude sah und kletterte – er war ja auch gerade erst einmal vierzig Jahre alt – geschwind den Baum hinauf und überraschte die Kinder bei dem Versuch mit ausgelegten Nüssen ein Eichhörnchen zu locken.
„Jetzt hast Du es verscheucht!“ Beklagte sich Markus. Herrn Axe tat es leid und er entschuldigte sich bei den Kindern. Gleichzeitig staunte er über die Geräumigkeit des kleinen Baumhauses und über seine geschmackvolle Gestaltung. So etwas hatte er sich als Kind auch gewünscht: in luftiger Höhe und fern von dem Zwang des Alltags seinen Gedanken nachhängen zu können.
„In so einer Bude fühlt man sich wie ein König, oder?“ sagte er zu den Kindern. „Da kann man seine Seele so richtig baumeln lassen.“ – Dabei war er über den Ausdruck des Baumelns auf dem Baum selbst begeistert und lächelte verschmitzt.
Aber die Kinder nickten nur und waren weniger begeistert, denn sie wussten, dass sie sich nun trennen mussten.
Markus war glücklich, so hoch oben auf einem Baum sein zu können, und sein dunkles, lockiges Haar war mit Ästen und Blättern bestückt. Und Jolinde war stolz, so einen schönen Ort zu haben und gab dem Baum mit ihrem bunten Kleidchen ein blütenhaftes Aussehen.
„Aber jetzt müssen wir gehen“, sagte Herr Axe streng, als er merkte, dass die Kinder sich nicht trennen mochten. „Es ist schon spät geworden.“
Sie verließen das Baumhaus und kurz danach verließ die Familie Axe auch die Familie Schmidt und fuhr zurück in ihre Burg. Doch Markus dachte noch lange an den Besuch zurück.
Am nächsten Tag trafen sich die Kinder, aus dem Nordosten von der Gemeinschaft her kommend und aus dem Südwesten von der Burg her kommend, wiederum in der Mitte beider Orte, also in der Schule von Paderborn. Dort hatten sie ihren eigenen freien Raum, in dem sie lebten und spielten – unabhängig von der Burg und unabhängig von der Gemeinschaft. Dort gingen sie gemeinsam von Schuljahr zu Schuljahr und waren stets füreinander da beim Lernen, beim Spielen und beim Bewältigen von Kummer und Not.
Bis zu dem Tage, als der Lehrer Stockmann eine Klassenfahrt zur Axe-Burg plante. Da waren die Kinder schon in der sechsten Klasse.
Jolinde wollte nicht mit, durfte aber auch die Klassengemeinschaft nicht stören. Markus hingegen freute sich über seine Berühmtheit, denn es ging ja zu seiner Burg.
Aber Herr Stockmann hatte gesehen, wie erschrocken Jolinde bei der Ankündigung der Fahrt war, und fragte sie deshalb nach dem Grund. Doch Jolinde schüttelte nur den Kopf und der Lehrer nahm sich vor, besonders auf sie zu achten.
Dann ging es los über Borchen und Tudorf zur Axe-Burg. Als der Bus auf dem Parkplatz hielt und die Kinder es kaum erwarten konnten auszusteigen, sagte Herr Stockmann zu ihnen: „Liebe Kinder, wir werden jetzt eine Führung durch die Burg und durch das Museum der NS-Vergangenheit dieser Burg bekommen. Denn zur Zeit der Nationalsozialisten fungierte die Burg auch als Arbeitslager für KZ-Häftlinge, von denen viele hier ums Leben kamen. Also bleibt bitte schön zusammen und hört der Führung aufmerksam zu. Später werden wir einen Aufsatz darüber schreiben.“
Nach diesen Worten öffnete er die Tür des Busses und überließ die Klasse dem Burgführer, der sich vor dem Bus schon eingefunden hatte. Voll Erwartung und Freude stürmten die Kinder ihm nach.
Jolinde aber blieb im Bus sitzen. Da kam Herr Stockmann auf sie zu und fragte besorgt. „Jolinde, geht es Dir nicht gut? Willst Du nicht mit den anderen gehen?“ „Mir ist schlecht“, sagte Jolinde. „Dir ist schlecht? Hast Du Bauchweh?“ „Mir ist nur schlecht.“ „Du hast Angst, nicht wahr?“ „Ja!“ „Und vor was hast Du Angst?“ Der Lehrer war sehr besorgt, aber Jolinde zuckte nur mit den Schultern. Da nahm er sie bei der Hand und sagte: „Komm, dann gehen wir gemeinsam und suchen die anderen.“
Da konnte sich Jolinde nicht mehr wehren und folgte ihm. Aber anstatt die vorausgeeilte Klasse gleich zu suchen, steuerte er zuerst auf den großen runden Turm im Norden der Burg zu und bat Jolinde im Burghof vor dem Turm einen Moment auf ihn zu warten. Dann verschwand er im Turm.
Jolinde wurde es unheimlich, zumal sie ständig die Treppe vor Augen hatte, die in den Hexenkeller führte. Es war schon ein paar Jahre her, und doch erinnerte sie sich, als sei es erst gestern gewesen. Und bei dieser Erinnerung wurde es ihr so kalt, dass sie unwillkürlich zitterte.
Endlich hielt sie es nicht mehr aus und ging dem Lehrer nach.
Da sah sie ihn mit ein paar anderen Männern zusammen wild gestikulierend in der Mitte des Turmes in einem runden, mit Säulen umgrenzten Raum stehen. Aber sie konnte nicht verstehen, was sie sprachen.
Als der Lehrer sie sah, kam er auf sie zu, fasste sie etwas unsanft am Arm und zog sie aus dem Turm heraus vor die Tür. „Was hast Du gehört?“ fragte er aufgeregt. „Nichts“, antwortete Jolinde. Der Lehrer sah sie forschend an, nahm sie dann wieder bei der Hand und ging mit ihr auf die Suche nach der Gruppe. Endlich fanden sie sie, wie sie im großen Saal die Ahnenbilder betrachteten.
Als Jolinde die Gruppe sah, zuckte sie zusammen. In der Gruppe ihrer Mitschüler befand sich jemand, der nicht zu der Klasse gehörte und der sie unverwandt anschaute. Es war das Kind aus dem Hexenkeller. „Was ist mit Dir?“ fragte der Lehrer. „Warum bist Du so blass.“
Jolinde deutete auf das fremde Kind, das sie so unendlich traurig ansah, und vermochte keinen Ton zu sagen. Aber der Lehrer schien nichts zu sehen und übergab sie dem Burgführer mit der Bitte, besonders auf sie zu achten, da sie sehr schreckhaft sei und er noch etwas Wichtiges zu erledigen habe.
Dann war er verschwunden und Jolinde schaute nach hinten, um zu sehen, ob das fremde Kind sie verfolge. Aber auch das Kind war verschwunden.
Die Gruppe ging weiter und kam in den Raum des großen Turmes, in welchem Jolinde den Lehrer überrascht hatte. Der Führer bat um Aufmerksamkeit und erzählte, dass zur Zeit des Dritten Reiches dieser Raum mit den im Kreis stehenden Säulen als Treffpunkt der Totenkopf-Ring-Träger, also der SS-Führer gedient habe. Und dass sie in diesem Raum schwören mussten, töten zu wollen. Die Totenkopfringe seien auch hier – also immer, wenn einer von ihnen verstarb – gesammelt worden und später auf mysteriöse Art verschwunden.
Die Jungs der Klasse fanden das spannend und wollten wissen, ob man die Ringe nicht gemeinsam suchen gehen könne. „Ach was“, lachte der Führer, „die sind doch bestimmt nicht mehr hier. Wer weiß, wer die heute hat, oder wo sie vergraben sind. Aber es gibt viele Menschen, die sie haben möchten und etwas sehr Besonderes mit ihnen verbinden.“
Dann drängte er weiter, denn die Zeit wurde knapp. Und sie wollten ja noch in das Museum der NS-Vergangenheit.
Dort verbrachten sie geraume Zeit, aber Jolinde konnte sich später an nichts mehr erinnern. Sie war wie betäubt von den vielen Grausamkeiten, die sie dort zu hören bekam.
Auf der Heimfahrt saß sie neben Markus. „Markus“, sagte sie, „wie kannst Du nur dort wohnen. Mir macht die Burg Angst.“ „Vielleicht solltest Du einmal ein paar Tage bei mir wohnen, dann würdest Du sehen, wie schön das ist“, sagte Markus mitfühlend. „Nein, nein“, entsetzte sich Jolinde, „das werde ich nie tun.“ „Aber was hast Du denn gegen die Burg?“ „Da gibt es jemanden, den Ihr nicht seht.“
Als Jolinde das sagte, spürte sie die Augen von Herrn Stockmann auf sich ruhen, und schwieg. Aber Markus fragte weiter: „Was heißt denn das: jemanden, den wir nicht sehen?“
Da kam Herr Stockmann dazu und bat Jolinde zu sich nach vorne. Dort sagte er zu ihr: „Jolinde, es ist möglich, dass Du Dinge siehst, die andere nicht sehen. Aber bei kleinen Mädchen ist das manchmal so. Da spielt ihnen ihre Fantasie einen Streich. Das wird sich später wieder legen. Gib nicht zu viel Acht auf solche Erlebnisse. Das Gehirn des Menschen ist sehr kompliziert und wir verstehen nicht immer, was unsere Augen sehen. Aber vor allem sprich nicht mit den anderen darüber, denn sie können es nicht verstehen und lachen Dich nur aus. Versprichst Du mir das?“
Jolinde nickte und der Lehrer sagte abschließend, indem er seine Hand auf ihren Kopf legte: „Und wenn Du wieder so etwas erlebst, dann kommst Du gleich zu mir. Versprichst Du mir auch das?“ Wieder nickte Jolinde und sagte leise „Ja“.
Aber zu Hause erzählte sie das Erlebte ihrer Mutter. Und diese handelte sofort. Sie nahm sie mit sich zu den Grals-Steinen und bestieg mit ihr den Felsen, in dessen oberem Bereich sich die Sonnenkapelle befand.
Die kleine, in den Stein gehauene Kapelle im oberen Teil des mittleren Felsen besaß in einer Nische einen Steinaltar, über dem ein fast 50 cm großes, kreisrundes Loch am Morgen der Sommersonnenwende das Rund der Sonne in sich trug. Und auf diesem Altar musste einmal die Irminsul – ein altes germanisches Heiligtum – gestanden haben.
Die Irminsul war eine senkrechte Säule mit zwei ausladenden Armen links und rechts, die wie Pflanzenblätter geformt, das Rund der Sonne trugen. Das war das Zeichen für die Verbindung des Sonnengottes mit den Lebenskräften der Erde. Und diese Sonnenkräfte sollten die Tochter jetzt schützen.
Frau Schmidt kniete mit ihr vor dem Altar nieder und betete:
„Ihr Götter, die kein Mensch erschauen kann, beschützt mir meiner Tochter Seele. Dass ihr kein Schaden werde, wenn sich ihr dunkle Mächte nahen.“
Dann verharrten sie lange Zeit in ruhiger Andacht und gaben ihre Sorgen und Ängste an die Götterwelten ab.
Danach erhoben sie sich wieder und stiegen, teils erleichtert, teils gestärkt vom Felsen herab.
Aber am Fuß der Felsen erlebte Jolinde eine böse Überraschung. Dort stand plötzlich der Lehrer Stockmann vor ihr. Er trat gerade aus der Felsenhöhle heraus, die sich im mittleren Bereich des zweiten Felsens befand und in dessen Felsenboden ein Taufbecken eingehauen war.
Er war sehr erstaunt, die beiden hier zu sehen, und Jolinde war beschämt. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihre Mutter eingeweiht hatte.
Sie hatte ihm ja versprochen, das in der Axe-Burg Erlebte niemandem zu sagen. Wusste er jetzt, dass sie es verraten hatte?
Aber Herr Stockmann ging nicht auf die Axe-Burg ein. Auch nicht auf das von Jolinde dort Erlebte. Er fragte die Mutter nur nach ihrem Befinden und sprach über das schöne Wetter und darüber, dass er den Kindern am nächsten Tag in der Schule etwas über die Steine erzählen wolle.
Dann gingen sie ihrer Wege und Jolinde war froh, dass er sie nicht weiter ausgefragt hatte.
Am nächsten Morgen in der Schule und in der zweiten Unterrichtsstunde schaute der Lehrer Jolinde lange an und sagte dann: „Liebe Kinder, nachdem Ihr gestern die Axe-Burg kennengelernt habt, möchte ich Euch heute etwas über die Grals-Steine sagen.
Die Felsen der Grals-Steine ragen bis zu 50 Metern in die Höhe und sind ein Teil der mittleren Gebirgskette des Teutoburger Waldes. Sie bestehen aus einer Reihe von dreizehn fast frei stehenden Sandsteinen und bilden in ihrer Ausrichtung, die von Nordwest nach Südost verläuft, so etwas wie eine Felsenburg. Sie sind ein altes germanisches Heiligtum, das von Karl dem Großen im achten Jahrhundert zerstört wurde. Für viele Menschen sind sie ein Kraftort und haben wohl in vorchristlicher Zeit schon als Ort der Erleuchtung gedient. Viele Menschen behaupten auch, dass sie ein Beobachtungszentrum für Sternenbewegungen waren. Liebe Kinder, was mir aber besonders am Herzen liegt Euch zu erzählen, ist die Tatsache, dass im Jahre 772 Karl der Große dort die Irminsul zerstörte. Weiß von Euch jemand, was die Irminsul ist? Jolinde!?“
Jolinde erhob sich schüchtern und versuchte wiederzugeben, was sie von der Gemeinschaft gelernt hatte. Sie sagte: „Die Irminsul ist eine das All tragende Säule. Sie war ein hoher Stamm mit oben zwei gebogenen Armen links und rechts so, dass das All in ihnen ruhen konnte.“
Dann setzte sie sich wieder.
„Richtig“ sagte der Lehrer. „Und bei den Grals-Steinen in der oberen Kapelle stand sie auf einem Steinaltar und umfasste mit ihren zwei hornartig geschwungenen Blättern links und rechts das Sonnenloch im Felsen, durch das am Morgen der Sommersonnenwende die Sonne schien. In diesem Moment ruhte für den Betrachter die Sonne in- und auf der Irminsul. Das war das Zeichen dafür, dass sich der Geist der Sonne mit dem Leben der Menschen verband. Später diente sie nur noch dem Nikodemus als Stuhl, um den Leib des Christus vom Kreuze zu nehmen. Das sehen wir auf dem Kreuzabnahmerelief, das um 1150 von Zisterziensermönchen in den Felsen der Grals-Steine geschlagen wurde. Aber es ist nicht sicher, dass die Irminsul wirklich zerstört wurde. Vielleicht existiert sie noch und wer sie fände, besäße mit ihr eine große Macht.“
Die Kinder hatten interessiert zugehört, denn Herr Stockmann hatte seine Erzählung mit großer Leidenschaft vorgetragen. Seine Augen leuchteten und die Kinder spürten, dass er längst noch nicht alles gesagt hatte, was ihn bewegte, sondern den Kindern etwas ganz Wichtiges vorenthielt.
Deshalb sprach Markus nach dem Unterricht Jolinde an und fragte: „Woher wusstest Du das mit der Irminsul?“ „Das sagen die anderen so“, erwiderte Jolinde. „Glaubst Du, dass wir die Irminsul finden können?“
Markus fragte das, indem er Jolinde geheimnisvoll anschaute und aufpasste, dass niemand sie hörte. Jolinde war überrascht. Doch dann entstand auch in ihr ein Abenteuer- und Schatzsuche-Drang und sie flüsterte zurück: „Wenn wir sie finden würden, könnten wir mit ihr Wunder vollbringen.“ Jetzt war es an Markus, erstaunt zu sein. „Wunder vollbringen? Wie meinst Du das?“
„Na klar“, sagte Jolinde. „Wer die Irminsul hat, kann mit ihr Wunder vollbringen.“ „Was für Wunder?“ „Menschen heilen, Schätze finden und ich glaube sogar das Wetter ändern.“
Markus war außer sich vor Abenteuerlust. Er fasste Jolinde am Arm, zog sie noch etwas weiter zur Seite und flüsterte: „Ich werde meine Eltern fragen, ob ich Dich mal besuchen darf, und dann gehen wir suchen. Ja?“ „Ja“, antwortete Jolinde ebenso leise und geheimnisvoll.
Und es dauerte nicht lange, da kam Markus Jolinde besuchen.