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Auf der Suche nach der Irminsul

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Die Eltern nach dem Verbleib der Irminsul zu fragen, wagten sie nicht, das hätte sie verdächtig gemacht. Also spielten sie erst ein wenig im Garten, machten ihre Hausaufgaben, kletterten in die Baumbude und schlichen sich dann heimlich – als die Luft rein war – durch das nahegelegene Wäldchen zu den Grals-Steinen.

Sie wagten sich das, weil die Steine nicht weit von der Gemeinschaft entfernt waren und weil es dort immer Menschen gab, die herumwanderten, um die Felsen zu besichtigen und zu bestaunen.

„Wo fangen wir an zu suchen?“ fragte Markus. Jolinde blieb stehen und schaute zu den Steinen. Dann sagte sie: „Da sieht man überall Gesichter. Vielleicht bewachen die den Schatz und wir müssen dort suchen, wo sie hinschauen.“

„Die schauen aber in den Wald“, sagte Markus nach einer Weile der Prüfung. „Dann müssen wir eben im Wald suchen.“ Jolinde war sich ihrer Sache ganz sicher. „Welches Gesicht nehmen wir ?“ „Am besten das da ganz links oben mit der Mütze“, sagte Markus.

Dieses Gesicht konnte man an der oberen Kante des linken größeren Felsens erkennen, wie es in den Wald nach Südosten schaute, und wurde von manchen Menschen der Hüter oder auch der Rufer genannt.

Die Kinder folgten seinem Blick und stießen auf einen Felsen, der nicht ganz so hoch war wie die anderen. Er versteckte sich mit seinem unteren Teil im Wald und wurde von den Besuchern der Grals-Steine gerne als Aussichtsfelsen genommen. Man musste, wenn man von unten, also vom Fuß der Felsen kam, etwas den Hügel heraufklettern, um den Fuß des Aussichtsfelsens zu erreichen. Und das war nicht ungefährlich.

Aber die Abenteuerlust trieb die Kinder an. So waren sie außer Atem, als sie den Fuß des Felsens erreichten.

Sie fingen auch sofort an zu suchen und schauten, ob sie einen Hinweis auf ein Versteck fänden. Sie kratzten mal hier und wühlten mit den bloßen Händen mal dort, aber einen Erfolg versprach das nicht.

„Wir müssen weiter nach oben steigen“, sagte Markus und ging den Hang hoch, aus dem der Felsen nach vorne hin herausragte. Jolinde folgte ihm – immer wachsam auf Hinweise nach einem Versteck der Irminsul.

Als Markus den oberen Rand des Hanges erreicht hatte, von dem aus man den Aussichtsfelsen ersteigen konnte, sah er sich plötzlich einer jungen mädchenhaften Frau gegenüber.

„Wo kommst Du denn da aus der Tiefe herauf?“ fragte sie ihn mit einer weichen Stimme. Markus zögerte mit der Antwort, sagte dann aber – weil ihm die Frau ein großes Vertrauen einflößte: „Wir sind auf der Schatzsuche.“

„Aha!“ entfuhr es der engelhaften Erscheinung. Sie hatte lichtblondes Haar und sah irgendwie aus, als sei sie soeben einem Märchen entsprungen. Deshalb ergänzte Jolinde vertrauensvoll, als sie die beiden erreicht hatte: „Wir suchen die Irminsul.“ „So, so“, sagte die junge blonde Frau, und fragte dann sehr direkt: „Wo sind denn eure Eltern?“

„Zuhause“, antwortete Jolinde. „Und wo ist dieses Zuhause?“ „In der Gemeinschaft.“ „Dann bist Du die Jolinde, nicht wahr?“

Jolinde war sprachlos, dass die junge Frau sie kannte, denn sie selbst kannte die Frau nicht. Sie nickte bestätigend und die blonde Frau fuhr fort: „Die Irminsul werdet Ihr hier nicht finden. Das ist ein langer Weg und Ihr werdet dafür auch erst noch etwas älter werden müssen.“

„Wissen Sie denn, wo sie ist?“ „Ja, mein Kind, das weiß ich.“ Der blonde Engel schaute Jolinde gütig und gleichzeitig irgendwie etwas traurig an und fügte hinzu: „Sie ist dort, wo auch das Kind wohnt, das Du gesehen hast.“

Jolinde zuckte zusammen. „In der Burg?“ „Nein, Jolinde, im Garten des Gewesenen.“ Das verstand Jolinde nicht und schaute zu Markus, um zu sehen, ob er das verstanden hatte.

Markus aber machte nur ein dummes Gesicht und Jolinde wandte ihren Kopf wieder der Dame zu. Doch diese war verschwunden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.

„Das war unheimlich“, sagte Jolinde und Markus nickte bestätigend. Aber jetzt hatten sie auch genug und sie kehrten auf dem schnellsten Wege und ohne ein Wort zu sprechen in die Gemeinschaft zurück.

Als die Kinder bei der Gemeinschaft eintrafen, herrschte große Aufregung. Sie waren länger ausgeblieben, als sie geplant hatten und man hatte sie vermisst. Seit einer geraumen Zeit hatte man schon begonnen, nach ihnen zu suchen. Einige der Mitglieder der Gemeinschaft waren ausgeschwärmt und hatten sich sogar bei den Grals-Steinen umgeschaut, aber niemand hatte die Kinder gesehen.

Der Mutter Jolindes hatte es fast das Herz gebrochen, denn sie hatte, so stellte man bei dieser Gelegenheit fest, ein schwaches und leicht angreifbares Herz, das selbst jetzt, wo die Kinder wieder da waren, nicht zur Ruhe kommen wollte.

Der herbeigerufene Arzt schlug ihr vor, sich im Krankenhaus genauer untersuchen zu lassen. Und während sie im Krankenwagen abtransportiert wurde, mussten die Kinder den Erwachsenen Rede und Antwort stehen.

Aber sie erzählten nichts von der Erscheinung der jungen Frau, sondern nur von ihrer vergeblichen Suche nach der Irminsul.

Das gefiel den Erwachsenen – wenn da nicht der Ungehorsam des ungefragten Verschwindens gewesen wäre. Dafür wurden sie gerügt. Aber man sagte ihnen auch, dass die Suche nach der Irminsul wohl lobenswert, aber vergeblich sei, da es als bewiesen gelte, dass sie zerstört wurde.

Doch auch jetzt sagten die Kinder nichts davon, dass ihnen die Frau bei den Steinen den Aufenthaltsort der Irminsul genannt hatte: den Garten des Gewesenen.

Und Jolinde bewegte die Frage, warum die Dame so viel von ihr gewusst hatte, und warum sie das für die anderen doch unsichtbare Kind auch kannte.

Sie war sehr beunruhigt und konnte es doch niemandem sagen. Und wie würde das sein, wenn sie den Garten des Gewesenen fände und dort das fremde Kind träfe?

Aber die Gegenwart war jetzt wichtiger und sie bat ihren Vater, mit zur Mutter ins Krankenhaus fahren zu dürfen. Der Vater willigte ein und so fuhren sie gemeinsam ins Krankenhaus nach Paderborn.

Allerdings fuhren sie erst noch bei der Axe-Burg vorbei, um Markus bei seinen Eltern abzusetzen. Sie erzählten den Eltern von Markus aber nicht, was geschehen war, sondern brachten ihn zurück, als sei es ein ganz normaler Nachmittag gewesen. Dann fuhren sie weiter ins Krankenhaus.

Als sie sich dem Krankenhaus näherten, erwachte in Jolinde ein Gefühl der Verzweiflung, wie sie es vorher noch nicht gekannt hatte. Es war so, als träte die ganze Welt um sie herum in einen lautlosen Zustand der dunklen Erwartung, wie kurz vor einer Sonnenfinsternis, einem Erdbeben oder einer ähnlichen Katastrophe.

Jolinde zitterte und der Vater fragte irritiert nach ihrem Befinden. Er machte sich Vorwürfe, sie mitgenommen zu haben, konnte jetzt aber nichts mehr ändern. So sagte er nur: „Du musst jetzt ganz tapfer sein, Jolinde. Mutter geht es bestimmt bald schon wieder besser.“ Jolinde nickte stumm und schluckte.

Als sie im Krankenhaus eintrafen, bat der Arzt den Vater zu einem Gespräch, in welchem er ihm eröffnete, dass seine Frau ein so schlechtes Herz habe, dass er ohne eine Transplantation nicht garantieren könne, dass sie noch lange lebe. Er habe sie auch schon gefragt und ihr eine Transplantation vorgeschlagen, gegen die sie sich aber entschieden ausgesprochen habe.

Nun bat er ihn, seine Frau zu einer lebensrettenden Operation zu überreden. Der Vater war erschrocken und versuchte seine Frau umzustimmen. Da die Tochter aber zugegen war, konnte er das nur mit vorsichtigen Worten. Doch sie ließ sich nicht umstimmen. Sie wollte nach Hause, und zwar gleich. Ungeachtet ihres Zustandes.

Jolinde saß an ihrem Bett und betrachtete sie. Sie war blass und hatte ganz blaue Lippen, aber sie lächelte und sagte zu ihr: „Jolinde, mein Kind, mach Dir keine Sorgen. Ich habe immer schon ein schwaches Herz gehabt, und wenn es jetzt mal ein bisschen noch schwächer ist, ist das bestimmt keine Tragik. Ich fühle mich auch schon wieder so gut, dass ich mit Euch nach Hause kommen kann. Die hier im Krankenhaus haben ja gar keine Ahnung, wie gut es mir geht.“

Sie hatte tatsächlich vor, mitzukommen und hörte nicht einmal mehr auf ihren Mann. „Was soll ich denn noch hier“, sagte sie, „mehr können die auch nicht mehr für mich tun.“ Und egal, was man ihr entgegenhielt, sie war nicht umzustimmen.

Der Arzt ließ sich das unterschreiben und entließ sie mit großem Bedauern und einem warnenden Blick. Frau Schmidt aber hatte eine Entscheidung getroffen. Sie wollte die Götter um Rat fragen und sich die Heilung bei ihnen holen – bei den Grals-Steinen.

Auf dem Heimweg schaute Jolinde die Mutter immer wieder von der Seite her an. Sie hatte ein sehr ungutes Gefühl und fühlte sich schuldig an ihrem Zustand. Aber die Mutter lächelte ihr zu und drückte sie fest an sich.

In der folgenden Nacht geschah etwas Schreckliches. Jolinde, die aus Sorge um ihre Mutter nicht einschlafen konnte, und in dem ständigen Wunsch lebte, sie hätte die Irminsul gefunden, um ihr helfen zu können hörte plötzlich, wie sich diese heimlich aus dem Hause schlich.

Hatte sie Schmerzen, konnte sie nicht schlafen wegen ihres Herzens?

Jolinde erhob sich leise und folgte ihr nach. Sie wollte sehen, ob sie sich vielleicht im Garten etwas frische Luft verschaffte. Aber stattdessen ging sie in den Wald in Richtung der Grals-Steine. Dabei war es schon dunkel. Jolinde begann, am ganzen Körper zu zittern. Sollte sie ihr folgen? Mitten in der Nacht? Sollte sie ihren Vater rufen? Dazu war es zu spät.

Sie überwand sich und folgte ihr nach. Im Wald war es besonders schlimm, denn sie fürchtete, ihre Mutter aus den Augen zu verlieren oder sich durch ein Geräusch zu verraten. So wild hatte ihr kleines Herz noch nie gepocht. Dann erreichten sie die Grals-Steine und das Felsengrab an ihrem Fuße.

Sie sah, wie sich die Mutter vor das Grab kniete, betete und sich dann hineinlegen wollte. Da zerriss es Jolinde vor Entsetzen. Sie schrie laut auf und rannte auf die Mutter zu. Auch die Mutter schrie vor Schreck und sprang aus dem Grab wieder heraus. Da flog ihr ihre Tochter schluchzend in die Arme. „Mama“, rief sie, „Mama, nein!“

Frau Schmidt sank in die Knie, hielt ihre Tochter fest in den Armen und weinte. „Jolinde“, schluchzte sie. „Jolinde, ich wollte doch nur mit den Göttern sprechen, und sie bitten mich zu heilen.“ „Ich dachte Du wolltest sterben“, jammerte Jolinde und bebte am ganzen Körper.

Eine Zeit lang schwiegen beide. Doch plötzlich zuckten sie zusammen. Sie hörten Schritte. Wer kam da mitten in der Nacht zu den Steinen?

Allerdings war es nicht mehr ganz dunkel, denn der Mond hatte den Himmel in Besitz genommen. Es war Vollmond und in seinem Licht konnten sie jetzt die sich nähernde Person erkennen.

Es war die junge, blonde Dame, die Jolinde schon kannte. Frau Schmidt erschrak furchtbar, aber Jolinde beruhigte sie. Sie sagte leise: „Ich kenne die Frau, wir haben sie heute Nachmittag getroffen.“

Aber die Mutter krampfte sich zusammen, hielt ihre Tochter ganz fest und rief fast verzweifelt: „Was wollen Sie von uns?“ „Ich will Ihnen helfen“, sagte die Blonde ganz ruhig und blieb kurz vor ihnen stehen.

„Die Heilung, die sie suchen, finden Sie hier nicht“, sagte sie in einem warmen Ton. „Wie wollen Sie das wissen?" Frau Schmitt begann sich zu entspannen, zumal die fremde Person fast noch ein Kind war und so freundlich sprach.

„Ich weiß das aus einem ganz einfachen Grunde“, antwortete die junge Frau. „Bitte kommen Sie doch einfach einmal mit mir mit.“

Sie ging ihnen voran die Treppen hinauf, die zu dem einen der größeren Felsen führte, und stellte sich mit ihnen vor das Kreuzabnahmerelief, das jetzt vom Mond beleuchtet unheimlich lebendig schien.

„Schauen Sie einmal auf Mond und Sonne im oberen Teil dieses Bildes“, sagte sie. „Sehen Sie, dass die beiden weinen?“ Ja, das sahen sie. „Und wissen Sie auch warum?“ Nein, das wussten sie nicht. Das heißt, Frau Schmidt wusste es doch, aber sie sagte nichts. „Weil ihnen ihr Gott verloren gegangen ist“, fuhr die Fremde fort.

„Weil ihnen ihr Gott verloren gegangen ist“, echote Frau Schmidt. Sie hatte sich auch schon mit diesen Bildern beschäftigt und wusste, dass sich Sonne und Mond weinend das Tuch vors Gesicht hielten, weil es in dem Moment der Kreuzigung tatsächlich eine Monden- und Sonnenfinsternis gegeben hatte. Im Tuch des Mondes sah man ja sogar noch den Knoten, der darauf hindeutete, dass er eben in diesem Moment an seinem Knoten stand.

Aber die blonde Dame fuhr unbeirrt fort: „Sie weinen, weil ihnen ihr Gott verloren gegangen ist.

Auf Golgata hat sich unser Heiland mit der Erde verbunden und ist dem Himmel entschwunden. Deswegen weinen Sonne und Mond.“

„Ja und?“ entfuhr es Frau Schmidt. „Und schauen Sie einmal weiter nach unten unter das Kreuz“, fuhr die junge Frau fort. „Woraus erwächst es?“ „Das kann ich nicht sehen“, wehrte sich Frau Schmidt. „Ja, das ist undeutlich, das gebe ich zu. Aber man erkennt doch noch, dass es aus dem Paradiesesstamm erwächst. Denn sie sehen dort Adam und Eva am Baum der Erkenntnis, von der Schlange umwunden. Aus der Schuld der Menschen erwächst das Kreuzesholz, dem sich der Gott in unendlicher Güte verbindet.“

Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: „Seitdem ist unser Gott nicht mehr irgendwo dort oben im Himmel, sondern wir haben ihn in uns – in unserem eigenen sündhaften Sein. Warum also wollen Sie sich von den Steinen heilen lassen. Weder die Steine heilen Sie noch der Kosmos heilt Sie. Heilen Sie sich aus sich heraus, aus dem Gott, der sich mit Ihrer Erdenschuld verbunden hat. Der sich mit Ihnen verbunden hat. Erleben Sie sein Opfer in Ihrem Herzen. Und erleben Sie dort auch seine Auferstehung. Die Irminsul, die Sie auf dem Relief sehen, finden Sie im Garten des Gewesenen. Aber die neue Irminsul, die finden Sie nicht mehr im Garten des Gewesenen, die finden Sie nur in Ihrem eigenen Herzen.“

Die letzten Worte waren nur noch leise zu hören, denn die junge Frau hatte begonnen, sich zu entfernen und war endlich ganz verschwunden.

Fassungslos stand die Mutter da und versuchte das Gesagte zu begreifen.

„Komm, lass uns gehen“, sagte sie dann plötzlich sehr entschlossen, nahm Jolinde bei der Hand und lief mit ihr so schnell sie konnte durch den Wald nach Hause zurück. Dort angekommen bat sie das Kind niemandem etwas von ihrem nächtlichen Ausflug zu erzählen und es als ein tiefes Geheimnis für sich zu behalten. Aber sie, Mutter und Tochter, sie würden später noch einmal darüber sprechen.

Dann gingen sie zu Bett und Jolinde fiel in einen kurzen erschöpften Schlaf. Im Aufwachen hatte sie einen Traum. Sie sah das Kind aus dem Hexenkeller weinend auf dem Schoß der blonden Frau sitzen, während diese versuchte es zu trösten.

Zutiefst bewegt erwachte sie und fand ihre Mutter am Frühstückstisch. Sie sah aus, als habe sie nicht geschlafen. „Jolinde“, sagte sie. „Was Du letzte Nacht erlebt hast, ist für ein kleines Mädchen viel und Du warst sehr tapfer. Aber mach Dir jetzt keine Sorgen mehr um mich. Ich spüre, dass es mir schon wieder besser geht. Die neue Irminsul, von der die junge Frau sprach, liegt in mir, in der Kraft meines eigenen Geistes, dort werde ich sie finden. Also mach Dir bitte keine Sorgen um mich. Ich werde ganz bestimmt wieder gesund.“

Dann schwieg sie, weil die anderen der Gemeinschaft zum Frühstück kamen. Und auch Jolinde schwieg.

IRMINSUL

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