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4 Der Geburtstag

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Immer höher, schneller und steiler. Immer kraftvoller die Schwünge. Immer näher der breiten, zerzausten Krone des alten Apfelbaums, den noch Frederiksen gesetzt hatte, als er jung war. Das sauste nur so, wenn die Schaukel an zitternd straffen Seilen zurückfiel aus grüner Dämmerung, die Ringe knarrten, ein scharfer Luftzug entstand, und über Juttas gestreckten, ausbalancierten Körper flog das Muster der Geästschatten. Hoch stieg sie auf, hielt sich eine Sekunde still in der Luft, stürzte, und in diesen Sturz mischte ich mich ein, indem ich das vorbeifliegende Schaukelbrett oder Juttas Hüfte oder ihren kleinen Hintern blitzschnell erwischte und vorwärts, aufwärts stieß in die Krone des Apfelbaums; wie von einem Katapult schnellte sie hinauf mit flatterndem Kleid, mit gespreizten Beinen, und der sausende Luftzug modellierte an ihr herum, zerrte ihr Haar nach hinten oder ließ das knochige, spottlustige Gesicht noch schärfer werden. Sie war darauf aus, sich mit der Schaukel zu überschlagen, und ich war darauf aus, ihr den nötigen Schwung zu liefern, aber wir schafften es nicht, selbst als sie sich breitbeinig auf das Schaukelbrett stellte, schafften wir es nicht, weil der Ast zu krumm war oder der Schwung nicht groß genug: damals in des Malers Garten, an Doktor Busbecks sechzigstem Geburtstag. Und als Jutta merkte, daß ich es nicht schaffen würde, ließ sie sich wieder auf das Schaukelbrett hinab und schwang lächelnd und ehrgeizlos hin und her und hörte nicht auf, mich anzusehen auf eine von niemandem geschulte Art, bis sie mich auf einmal in der Grätsche ihrer mageren braunen Beine fing und festhielt: da wußte ich einfach nicht, was ich noch hätte wahrnehmen können außer ihrer Nähe. Jedenfalls begriff ich ihre Nähe, und sie begriff, daß ich begriff, das möchte ich behaupten, und ich befahl mir, ganz ruhig zu sein und abzuwarten, was da noch geschehen könnte, aber es geschah nichts weiter: Jutta küßte mich nur trocken und nachlässig, öffnete die Klammer ihrer Beine, rutschte von der Schaukel und lief zum Haus hinüber, wo Ditte sich aus einem der vierhundert Fenster hinauslehnte und auf flacher Hand einige Stücke blaßgelben Streuselkuchen hielt, so wie man etwas den Vögeln hinhält.

Ich schnappte meinen Stock und lief hinterher. Ich sprang über die Blumenbeete und Stauden und versuchte, den Weg abzukürzen, doch all unsere Eile lohnte sich nicht, denn noch bevor Jutta oder ich am Fenster waren, sah ich Jobst aus dem strohgedeckten Gartenhaus hervorbrechen oder rollen, ein gewalttätiger Kugelblitz, ein feistes, aber flinkes Ungeheuer mit sehr kurzen Fingern und aufgeworfenen Lippen, das achtlos durch großen Mohn und Zinnien stampfte, durch all die miteinander rivalisierenden Farben, und natürlich war er als erster am Fenster, riß die Kuchenstücke von Dittes Hand, schob sich zwei in die Tasche und schlang das dritte herunter mit genußvoll geschlossenen Augen. Ihm war anzusehen, daß er nichts herausrücken würde von dem erbeuteten Kuchen – nie hat der mal etwas gelockert, was in seinen Besitz geraten war –, darum versuchte Ditte erst gar nicht, ihn mit mahnenden Worten zu überzeugen, sondern winkte uns in die Wohnstube hinein.

Ich hätte Jutta gern eingeholt in der Düsternis des Flurs, aber sie war mir voraus, sie antwortete nicht auf meinen Anruf, öffnete schon die Tür, als ich noch nach ihr tastete zwischen einem Spalier von Kübeln, Besen und Truhen. Sie ließ die Tür offen. Sie wandte sich nicht einmal um. Die Stille machte mich mißtrauisch, und ich ging leise bis zur Türschwelle und glaubte die Wohnstube leer und verlassen und dachte: Wo steigt denn nur der Geburtstag, wenn nicht hier, doch dann, als ich zögernd eintrat und mich umwandte, erschrak ich, wie jeder erschrocken wäre, der die Wohnstube betreten hätte mit meinen Erwartungen: an dem schmalen, unbegrenzten Geburtstagstisch saß feierlich altersgraues Meergetier und trank schweigend Kaffee und würgte schweigend, ganz versenkt in eigensinnige Kontemplation, trockenen Sandkuchen und Nußtorten und blaßgelben Streuselkuchen herunter. Stelzbeinige Hummer, Krabben und Taschenkrebse hockten auf den hochmütigen, geschnitzten Sesseln von Bleekenwarf; hier und da verursachten harte, gepanzerte Glieder ein trockenes Knacken, eine Tasse klapperte, wenn knochige Hummerscheren sie absetzten, und einige streiften mich mit einem Blick aus gleichgültigen Stielaugen, unerschütterlich, mit der monumentalen Gleichgültigkeit gewisser Gottheiten, das möchte ich meinen. Dabei glich diese schweigende Versammlung von Meergetier durchaus Leuten, die ich kannte: zwei sahen aus wie die alten Holmsens von Holmsenwarf, ich glaubte Pastor Treplin zu entdecken und Lehrer Plönnies, und dann machte ich meinen Vater aus und sogar Hilke und Addi, und neben der zartesten Meerforelle, die so sehr Doktor Busbeck glich, saß mit abweisendem Gesicht und strengem Haarknoten als Zackenbarsch meine Mutter. Einer allerdings flatterte, quakte und bewegte sich lustig wie ein Laternenfisch, und das war der Maler.

Es war auch der Maler, der plötzlich rief: Laß man die Kinder am lütten Tisch ätn, aber da war Ditte schon neben mir und zog mich zu dem kleinen Tisch und drückte mich sanft nieder auf einen altmodischen Stuhl, der mich sogleich zwang, still zu sitzen und den Körper steif aufrecht zu halten, weil ich sonst auf der leicht abgeschrägten Sitzfläche ins Rutschen gekommen wäre. Ditte nahm mir den mit Reißnägeln besetzten Stock aus der Hand und legte ihn aufs Fensterbrett. Sie forderte Jutta auf, mir Milch einzuschenken, und drehte den runden Kuchenteller ein wenig, etwa um das Maß einer Viertelstunde. Dann langt man zu, sagte sie freundlich und klopfte mir den Nacken, bevor sie zurückkehrte zu der phantastischen Versammlung und sich dort auch gleich verwandeln ließ, als flache Seezunge Platz nahm.

Ich vergaß den Kuchen, ich vergaß auch die Milch. Unablässig beobachtete ich Jutta, die mir gegenübersaß und an deren Aufmerksamkeit mir auf einmal so viel gelegen war, daß ich ihr stumm befahl, mich anzusehen, und als dies mißlang, sie unter dem Tisch anstieß einmal und noch einmal, bis sie ihre Füße zurückzog – nicht vorwurfsvoll, sondern mit einem Gesicht, das erstarrt war vor Abwesenheit. Ich wußte nicht, was sie überlegte, träumte, erwog, ich sah nur in ihre dunklen, abwesenden Augen, in denen die Flammen der schrägstehenden Sonne glänzten; ich verfolgte, wie ihre starken Schneidezähne sich in den Kuchen senkten, abbissen, während ihr Blick an mir vorbeilief quer durch die Wohnstube, in der auch jetzt die Stille vieler Jahre lag und die Einsamkeit vergangener Winter.

Juttas rot-weiß kariertes Kleid, die dünnen Arme, das strähnige Haar, die blassen Lippen, die jedes Wort in jedem Augenblick widerrufen konnten: wie leicht die Erinnerung daran gelingt und wie wenig zu tun ist, um sie noch einmal an den kleinen Tisch zu bitten, mir gegenüber, und wie prompt ich mein Erstaunen darüber wiederholen kann, daß sie die Schaukel und meine Anstrengungen an der Schaukel so schnell vergessen hatte. Aber so war Jutta: in einer Sekunde noch anwesend, beteiligt oder mitverschworen, zog sie sich in der nächsten zurück. So war sie eben, aber ich hatte doch nicht damit gerechnet, daß sie plötzlich aufstehen und, den Streuselkuchen locker zwischen den Zähnen, quer durch die Stube zum Geburtstagstisch gehen, dort mit Addi Skowronnek kurz flüstern würde – so in einer Art, daß er allenfalls Überraschung, aber keinen Protest äußern konnte –, worauf sie sich geduckt zurückzog gegen die Tür hin und verschwand, ohne mir zuzuwinken.

Da verzichtete ich darauf, ihr zu folgen. Ich legte meinen Kuchen auf ihren Teller, ich goß meine Milch in ihr Glas. Ich setzte mich auf ihren Stuhl und sah nicht einmal durch das Fenster, wo ich sie im Garten, vor der Hecke, auf der geländerlosen Holzbrücke ohne Mühe hätte wiederfinden können. Die essende Versammlung vor Augen, begann auch ich zu essen, und weil auf dem kleinen Tisch noch ein dritter Teller und ein drittes Glas standen, aß ich vorsorglich den ganzen Kuchen, trank die ganze Milch – nein, das ist unwahrscheinlich: den Rest der Milch goß ich in den tiefen Kuchenteller und weckte die Katze, die auf dem dritten, auf Jobsts Stuhl hochrückig mit eingeschlagenen Pfoten schlief, und lenkte ihren schrägen, glimmenden Blick auf die Geburtstagsmilch, die sie mit eingerollter Zunge, zunächst prüfend, dann hastig zu schlecken begann. Hinterher reinigte die Katze den Teller, so daß ich ihn wieder auf den Tisch stellen konnte, streckte sich tief, flach, leckte sich die Schenkel und kam mit vorsichtigen, langsamen Schritten auf meinen Schoß, drehte sich mehrmals um eine angenommene Achse und brach wie berechnet zusammen. Sie schlug eine gekrümmte Vorderpfote in meine Hand und schnurrte.

Ich sah auf die schweigende Gesellschaft, die immer noch würgte und schluckte und blubberte und sich bedeutungsvoll räusperte an dem unendlichen Tisch, der sich in ferner Trübnis hinzog, womöglich bis in die Trübnis des Watts und der Priele, und jetzt erkannte ich auch meinen Großvater, Per Arne Scheßel, den gierigen Esser und Heimatkundler, sowie den Deichgrafen Bultjohann und Andersen, einen zweiundneunzigjährigen Kapitän aus Glüserup, der mindestens in fünfundfünfzig Kulturfilmen als Kapitän herhalten mußte, weil sein ebenmäßig silbriger Bartkranz so gesucht war und die wäßrige Leere seines Blicks ohne weiteres als Fernweh ausgegeben werden konnte. Wenn ich alle aufzählen wollte, die an diesem Tisch saßen, wäre der Winter vorbei und die Elbe eisfrei, darum möchte ich nur noch Hilde Isenbüttel erwähnen und den ehemaligen Vogelwart Kohlschmidt; sie machte ich aus unter den beschuppten, bogenlippigen Gästen, und ich übersah auch nicht, daß eine phosphoreszierende Garnele mit kräftigen Waden mir unaufhörlich Zeichen machte, die nichts anderes besagen sollten als: Wenn du Torte willst, komm her.

Ich wollte keine Torte. Ich wartete darauf, daß der Geburtstag begann, aber die Gesellschaft sah nicht so aus, als würde sie je aufhören zu essen, denn da seufzte, stöhnte, kapitulierte keiner vor dem unaufhörlich kreisenden Angebot der Kuchentürme und Torten, und am wenigsten mein heimatkundlicher Großvater, der wie ein weiser, mit Seepocken besetzter Hummer dahockte und langsam, aber beständig ganze Kuchenplatten in sich hineinbrockte, wodurch er den Kulturfilm-Kapitän offensichtlich herausforderte, es ihm gleichzutun. Wenn gegessen wurde bei uns, dann wurde gegessen, und zwar schon deshalb, weil, wie mein Großvater sagte, beim Essen die Zeit gleichmäßig vergeht, und daran schien ihnen allen gelegen, sogar der uniformierte Schellfisch, den man mit meinem Vater verwechseln konnte, löffelte nur deshalb holzschuhgroße Stücke von Nuß- und Honigtorten, um das unmerkliche Verstreichen der Zeit möglich zu machen.

Auch die Frauen waren darauf aus, den Widerstand der Zeit zu überspielen: während sie sich schläfrig über ein Stück hermachten, faßten sie schon das nächste ins Auge, und wenn sie zu würgen anfingen oder die Kinnbacken erlahmten, ließen sie dampfende Ströme von Kaffee fließen.

Aufschlußreich sind die Einzelheiten, die sich an einer Glüseruper Kaffeetafel bemerken lassen: sieht man von der trägen Gier ab, die zu dem verblüffenden Eingeständnis bereit ist, daß man einen Gastgeber schädigen muß, so sind vor allem rühmenswert die neun vorgeschriebenen Gebäcksorten, die in festgelegter Folge herumgereicht werden müssen, die Näpfe voller Würfelzucker, den man in den Kaffee tunkt, bevor man ihn zerkaut, ferner die Schüsseln geschlagener Sahne, die man sich auf den Kaffee kleckst, nachdem man zuvor klaren Schnaps dazugegossen hat.

Doch ich will diese Einzelheiten, aus denen durchaus eine Geschichte entstehen kann, nicht weiter ausspielen, möchte mir auch versagen, das Schweigen zu deuten, das am Tisch herrschte, vielmehr möchte ich, mit zugegebener Ungeduld, den Maler veranlassen, sich von seinem hohen geschnitzten Sessel zu erheben, zur Stirnseite des Tisches zu gehen, geradewegs zu Doktor Busbeck, der ja immerhin seinen sechzigsten Geburtstag hatte.

Ich meine, Busbeck erschien noch zarter, verlegener, als der Maler auf ihn zuging, wie eine Muschel nach einer Berührung schmolz er in sich zusammen, wurde grau, unscheinbar, warf noch einmal den Kopf zur Seite und blickte hinter sich, als vermutete er dort noch einen Busbeck, der weniger Schwierigkeiten hatte, mit der Aufmerksamkeit fertig zu werden, der er auf einmal ausgesetzt war. Der Maler beugte sich leicht über ihn in verdienter Vertraulichkeit, tätschelte ihm den Rücken und sprach ihm so Mut zu und sagte: Lieber Teo, liebe Freunde, und der liebe Teo duckte sich unter dieser Anrede, während die lieben Freunde schmunzelnd die Blicke hoben und den kleinen Mann noch verlegener machten, wenn das überhaupt möglich war.

Ich bin kein Freund von großen Worten, sagte der Maler und hatte ausnahmsweise recht damit und hielt sich auch an diese Feststellung, denn er beschränkte sich darauf, Busbeck an einen dreißig Jahre zurückliegenden Abend in Köln zu erinnern: wenn ich ihn recht verstanden habe, muß Ditte damals krank gewesen sein, sie lag zwar nicht in einem eiskalten, aber doch schäbigen Zimmer einer schäbigen Pension, vielleicht war auch eine Wäscheleine durchs Zimmer gespannt und die elektrische Birne von der Wirtin eigenhändig rausgedreht. Daß man die Miete schuldig war seit Monaten, vervollständigt nur die Vorstellung. Jedenfalls lag Ditte im Bett, ihr Atem ging allem Anschein nach mühselig, und der Maler, der sich erfolglos als Lehrer an einer Kunstgewerbeschule beworben hatte, wusch gerade das geliehene Geschirr ab, als ein Doktor Busbeck die unbeleuchteten Holztreppen zu ihnen hinauffand und mit erstaunlicher Scheu fragte, ob er etwas sehen dürfe. Das wollte man ihm nicht abschlagen. Man setzte ihn in eine Ecke am Fenster – so verstand ich’s – und gab ihm Gelegenheit, einige Mappen durchzusehen, und da er so wenig spürbar war in seiner Anwesenheit, ebenso leicht zu übersehen wie zu überhören, hatte man ihn – so verstand ich’s – beinahe schon vergessen und war auf alles andere gefaßt als darauf, daß der Besucher auf einmal an den wachstuchbespannten Tisch treten würde mit zehn Blättern in der Hand. Wortlos zählte er vierhundert Goldmark auf den Tisch und fragte dann lediglich, ob er wiederkommen dürfte. Da diese Frage als Bitte geäußert war, mochte sich ihr der Maler – wie er sagte – nicht widersetzen.

So etwas kann also durchaus auch geschehen, und der Maler erinnerte sich und Busbeck heiter an diesen Märztag in Köln, er wußte sogar das Datum, und unter häufiger Benutzung des Partizips dankte er seinem Freund für mitunter nachsichtig praktizierte Freundschaft durch dreißig Jahre. Und nun bist du bei uns in Bleekenwarf, Teo. Wir vergessen nicht, was du für uns. In Köln, aber auch in Luzern und Amsterdam. Denkend an die gemeinsamen Kämpfe gegen den großen Schalberg. Deshalb möchten wir dir heute an deinem sechzigsten. Mich in diesem Kreis umblickend, kann ich nur allgemeines Einverständnis. Ja, Teo.

Die Katze fuhr auf und sprang erschrocken von meinem Schoß, als sie sich an dem unabsehbaren Geburtstagstisch erhoben und auf Doktor Busbecks Wohl tranken, indem sie den weißen Klaren zittrig zum Mund führten und ihn hinunterkippten auf eine Weise, als müßten sie zunächst einen Widerwillen überwinden. Geräuschvoll setzten sie die Gläser auf dem Tisch ab und zerrten die Stühle ruckend, umständlich wieder zu sich heran, während er, Doktor Busbeck, stehen blieb, zart und beweglich in seiner Verlegenheit und sich zu entschuldigen schien dafür, daß die Gesellschaft sich seinetwegen hatte erheben müssen. Er trat hinter den Stuhl. Er sah auf seine Hände hinab, die über die geschnitzte Lehne strichen. Dann sagte er, was er wohl schon oft gedacht hatte, stattete dem Maler und Ditte, aber auch allen anderen, seinen Dank ab und bedauerte, daß er ihnen zur Last falle schon so lange Zeit. Er ließ ahnen, daß dies nur ein vorläufiges Leben für ihn sein könne und daß die Würde der Vergangenheit ihm nicht mehr bedeute als die Würde der Gegenwart. Ich meine, er wagte es auch, von seiner Hoffnung zu sprechen und davon, daß er eines Tages an seinen Platz zurückkehren dürfte, an dem er nützlich sein könnte. Nicht ein einziges Mal, während er sprach, warf er einen Blick auf die Versammlung, nur Ditte sah er ab und zu an mit schrägem Hals und seitwärts gelegtem Kopf, und die Frau des Malers hielt ständig ein Lächeln für ihn bereit. Und wieder dankte er. Und wieder fühlte er sich geborgen, einbezogen, ausgezeichnet, ja, ausgezeichnet durch die Freundschaft eines Mannes, der draußen – er sagte einfach: draußen und bedachte vielleicht gar nicht die mitgesagte Bedeutung – als einer der größten Dramatiker des Lichts galt und so weiter. Und zum Schluß verbeugte er sich tatsächlich vor Ditte und der ganzen phantastischen Versammlung, griff hastig nach seinem Glas und kippte den Klaren, den ihm der Maler hingeschoben hatte. Danach war ihm Erleichterung anzumerken. Er nickte heiter über den Tisch diesem zu und jenem. Er schob die gesteiften Manschetten mehrmals geduldig unter den Jackenärmel. Er bat darum, ihm das Glas von neuem zu füllen mit weißem Klaren. Er wischte sich über die Stirn und war zufrieden.

Doktor Busbeck konnte auch zufrieden sein, da er doch sah, wieviel er uns anging, und als Max Ludwig Nansen sagte: Nu woll’n wir uns mal den Geschenktisch bekieken, hob Doktor Busbeck das blasse, ungezeichnete Gesicht und saß nur noch da, bis zwei ihn kurzerhand emporzogen aus seinem Stuhl und ihn vorangehen ließen zum Atelier, wo der Maler oder Ditte oder wahrscheinlich alle beide einen Geschenktisch aufgestellt und geschmückt hatten. Ich glitt sofort von meinem Stuhl, als die Gesellschaft sich erhob, war als erster in der Flurdämmerung und dann auch an der Tür zum Atelier, doch ein ärgerliches Zeichen meines Vaters hielt mich davon ab, auch als erster am Geschenktisch zu sein, aber als vierter war ich doch da. Was lag auf dem Tisch? Was hatten die zwischen Rugbüll und Glüserup für einen, der nicht zu ihnen gehörte, der aber durch Geschehnisse, die sie fast begriffen, in ihre Mitte verschlagen war, erübrigen wollen? Ich weiß noch die Schlipsnadel. Ich weiß noch die Flasche Korn und den Obstkuchen und den Kaffeewärmer und die Socken und ein Buch – Verfasser: Per Arne Scheßel im Selbstverlag – und ein Karton Talglichter. Ich weiß noch den Beutel Tabak. Den Schal weiß ich noch und ohne Zweifel die Flasche Kosakenkaffee, weil die von uns stammte. Ich weiß vor allem aber das Bild: »Segel lösen sich in Licht auf.«

Das Bild stand an der Rückseite des Tisches gegen die Wand gelehnt, neben ihm hatten die Flaschen Posten bezogen, vor ihm krümmten sich dienstbar die Socken, der Kaffeewärmer plusterte sich auf, der Obstkuchen warb um Vertrauen, und der Schal schlängelte sich um die Talglichter, als wollte er sie sanft ersticken: alle Geschenke waren auf sich bedacht, doch sie konnten nicht verhindern, daß das Bild sie in ihrer schlichten Dienstbarkeit herabsetzte.

Ich trat in Doktor Busbecks Blick und sah, wie er in das Licht des Bildes geriet, wie er auf das Bild zuging, zaghaft, mit ausgestreckter Hand, meinetwegen auch ungläubig, und ich sah auch, wie er das Bild leicht mit den Fingerspitzen berührte und gleich wieder zurücktrat und die Augen zusammenkniff und plötzlich kurz die Schultern hob, als ob er erschauerte. Da vereinigten sich Himmel und Meer. Da überredete ein weiches Zitronengelb ein lichtes Blau zur Selbstaufgabe. Schwebende Segel ließen Ferne vermuten, ließen eine abgeschlossene Geschichte vermuten und büßten ihr Weiß ein, um die erträumte Vereinigung ganz gelingen zu lassen. Die Segel lösten sich auf und erreichten durch ihre Auflösung, daß nichts mehr übrigblieb als Licht, und das Licht kam mir vor wie ein einziges Loblied. Wieder ging Doktor Busbeck mit ausgestreckter Hand gegen das Bild vor, und da sagte der Maler: Wie du siehst, Teo, ich hab noch ein bißchen dran zu tun. – Das ist fertig, sagte Busbeck, und der Maler darauf: Das Weiß, das will noch zuviel seggen. Und Teo Busbeck sagte auch: Das ist zuviel, Max, das kann ich nicht annehmen; doch der Maler zwinkerte ihm nur zu und sagte: Das sollst du auch erst, wenn’s fertig ist.

Sie standen jetzt alle um den Geschenktisch herum, schätzten, verglichen, begutachteten, rechneten den Wert in Mark und Pfennig aus, ließen schnelle taxierende Blicke wandern, um womöglich herauszufinden, wer was mitgebracht hatte: darüber hätte man dann sprechen können auf dem Heimweg. Sie nahmen die Geschenke zur Hand, ließen bewunderndes Interesse laut werden, reichten die Geschenke herum mit Hinweisen und ließen nichts unberührt, ungeprüft. Niemand wagte, ein Geschenk flüchtig oder gering zu behandeln. Sie hoben die Flaschen schnalzend hoch, stießen eine Faust in den Kaffeewärmer, steckten sich spaßeshalber die Schlipsnadel an, und Per Arne Scheßel versuchte, seine verdammten heimatkundlichen Erläuterungen anhand seines Buches zu geben, das er aufgeschlagen herumreichte. Das staunte und gab sich bewundernd und lobbereit. Das nickte, pfiff durch die Zähne. Das ertastete und erkundete, und Andersen, der Kulturfilm-Kapitän, zielte mit seinem braunen, knotigen Stock auf das Bild und sagte: Dat schallt woll in ’n Ärmelkanal sien? In ’n Ärmelkanal, do hebt wi immer son Wetter haft. – In Glüserup ist das, sagte Bultjohann, in meinem Bezirk, und der Maler klopfte beiden auf die Schulter und gab beiden wortlos recht.

Sie legten die Geschenke zurück und drängten sich jetzt um das Bild und redeten, und ich ließ sie reden, denn barfuß auf der geländerlosen Holzbrücke vor der Hecke im Staudengarten lief Jutta und trug etwas, und ich sah noch durch die Scheibe, wie sie mit der schwarzen Last ins Gartenhaus flitzte: da zwängte ich mich durch den Kreis der bedenklich nickenden Bildbetrachter, holte meinen Stock aus dem Wohnzimmer, und als ich aus dem Fenster in den Garten sprang, kam Addi mir nach. Auch er sprang aus dem Fenster und lief quer über die Beete zum Gartenhaus, vielleicht hatte auch er Jutta gesehen, vielleicht hatte er sogar ein Zeichen von ihr bekommen, jedenfalls stürzte er an mir vorbei und knuffte mich in die Seite, als er mich überholte.

Auf dem gewellten schwarzen Erdboden im Gartenhaus lag Addis Akkordeon. Jutta stand spreizbeinig dahinter, gefaßt auf eine Auseinandersetzung, in spöttischer Erwartung, doch Addi sagte nichts, protestierte nicht, sondern starrte sie nur fassungslos an und schüttelte den Kopf. Spiel, sagte sie. Addi rührte sich nicht. Spiel doch, sagte sie, heute ist Geburtstag. Addi zuckte die Achseln. Dann spiel leise, sagte Jutta, und ich sagte: Leise, ja, nur für uns, und Addi schüttelte den Kopf. Früher hatte ich auch ein Akkordeon, sagte Jutta, ich hatte sogar zwei; und ich konnte auch spielen. – Dann spiel du, sagte ich, doch sie zeigte auf Addi und sagte: Er soll spielen, es ist sein Kasten. – Deine Mutter, sagte Addi zu mir, sie will es nicht. – Aber die andern wollen es, sagte ich, und dann wandten wir uns gleichzeitig zum Eingang, von woher ein Schatten fiel, wo Jobst stand, feist und grinsend, als ob er uns ertappt hätte. Er sah auf den Kasten, auf uns, wieder auf den Kasten, kam herein mit seinem stampfenden Schritt, befreite das Akkordeon aus dem Etui und löste die Lederriemen, und warum soll ich noch weiter verzögern, hinausschieben, was dann doch festgestellt werden muß: Addi fuhr beidhändig in die Lederschlingen, nickte uns auffordernd zu, und wir stellten uns in einer Reihe hinter ihm auf, und mit Alo-Ahe marschierten wir aus dem strohgedeckten Gartenhaus, jeder die Hände auf den Hüften seines Vordermanns.

Jutta hielt sich an Addis Hüfte fest, ich hielt mich an Juttas schmaler, knochiger Hüfte fest, und der warme Druck an meiner Hüfte, das waren die fleischigen Finger von Jobst. Entlang dem Gartenweg zum Atelier marschierten wir, wiegend, tänzelnd, gebeugt vor allem, und der Wind wehte, Addi spielte, und Hawaii sang seine allerschönsten Lieder in Bleekenwarf.

Drinnen klopften sie an die Scheiben und winkten uns zu, und unser etwas kurz geratener musikalischer Lindwurm schaukelte am Atelier, dann an den vierhundert Fenstern der Wohnstube vorbei, auf und ab zogen wir über die schwarzen Gartenwege, werbend, auffordernd, und ich weiß noch, daß Hilke die erste war, die sich unserem wiegenden Zug anschloß, und nach Hilke kamen Pastor Treplin und Holmsen und der Vogelwart Kohlschmidt und Ditte, und Ditte war es, die im Vorübergehen meinen Vater am Gelenk packte und seine Hand auf ihre Hüfte zog, und auf einmal hatte unser Zug einen eigenen Sog, eine unwiderstehliche Kraft, die sich aneignete und einverleibte, was am Weg stand, eine fröhlich schaukelnde Gewalt, die keinen mehr unbeteiligt ließ, der uns zu nahe geriet, so daß unsere Reihe wuchs und wuchs und schon mehrere Buchten warf. Auch der Maler war jetzt im Zug und der Deichgraf Bultjohann und Hilde Isenbüttel; nur meine Mutter fehlte, und ich wußte, daß sie nichts bewegen würde, sich uns anzuschließen: selbst der strenge Schatten ihrer Erscheinung in der Tiefe des Ateliers drückte noch hochmütige Weigerung aus: Gudrun Jepsen, geborene Scheßel. Dabei hätte sie sich doch ein Beispiel nehmen können an Kapitän Andersen, der mit seinen zweiundneunzig Jahren zumindest den Versuch machte, unsern wiegenden Lindwurm durch die Lüneburger Heide, durch den wunderschönen Sand zu begleiten: der photogene Greis drängte sich zwischen Addi und Jutta, beugte sich knackend nach vorn, und mir war, als ob ich es rascheln hörte, als ob da trockene Mohnkapseln aufbrachen und Mohn aus seinen Hosenbeinen rieselte, und der Alte schaukelte tatsächlich einige Meter mit, bis er, sozusagen, seinen herbstlichen Mohn verstreut hatte und atemlos zur Seite ausscherte. Addi führte uns, und Jutta hielt ihn an den Hüften fest und lenkte ihn, und nachdem wir durch den Garten gezogen waren, zwängten wir uns durch die Hecke und trappelten über die Holzbrücke, über die Wiese, den Deich hinauf und beinahe auf dem Grund der Nordsee bis nach England, wenn Addi sich nicht anders entschlossen hätte. Er machte eine gewaltsame Wendung, und als wir den Deich wieder hinabdrängten, wiederholte unser langer, wogender Körper ziemlich getreu die Bewegungen, die der Balg seines Akkordeons beschrieb unter Druck und Zug. Wir schoben uns wieder in Richtung Bleekenwarf, an dem Spalier der Erlen vorbei, die sich im Graben spiegelten und mit ihrem Spiegelbild nicht zufrieden sein konnten, da der Wind den Spiegel krüllte und beunruhigte, so daß die Stämme hin und her wedelten wie in einem unterseeischen Sturm. Um die Kette wenigstens nicht bei mir reißen zu lassen, hatte ich Jutta mit beiden Händen umfaßt, Jutta hatte auch Addi umfaßt, und ebenso umfaßten sich auch einige andere.

Und ich weiß noch, als wir ans schwingende Tor kamen, stand Okko Brodersen da, der einarmige Postbote. Sein Fahrrad lehnte am Außenpfosten. Er hatte ein Papier in der Hand und hielt es hoch – zum Zeichen, daß er berechtigt sei, sich hier aufzuhalten. Mitmachen, rief Jutta, und ich wiederholte: Mitmachen, und wir bedrängten ihn ganz schön und verleibten ihn uns ein mitsamt der Post, die er gebracht hatte. Am rostroten Stall vorbei, am Teich, am Schuppen, und als wir um das Atelier bogen, blickte ich zurück und sah, daß der Gänsemarsch sich aufgelöst hatte oder dabei war, sich aufzulösen, erschöpft und begeistert, immerhin auch begeistert – was meine Mutter doch erkannt haben muß. Doch selbst in seiner Auflösung folgte der Zug noch Addi, der spielend in den Garten einbog und dort Berliner Luft Luft Luft herstellte oder zumindest ahnen ließ, worauf einige begannen, Tische und Stühle herauszutragen nach vorsorglicher Beobachtung des Himmels über der Nordsee. Die glänzenden Ritzen zwischen den dunklen Wolken ermutigten uns, desgleichen die blauen Tümpel und das flockige Weiß schnell ziehender Wolken über uns. Wir verlegten den Geburtstag in den Garten.

So, und nun möchte ich keinen daran hindern, sich den kurzen Transport der Möbel vorzustellen, das Anheben, Abnehmen, das verkantete Bugsieren durch offene Fenster, überhaupt den gutgelaunten Tumult eines Umzugs ins Freie, den Addi mit »La Paloma« und »Rolling home« begleitete, denn ich muß meinen Stock suchen, ich muß meinen mit Reißzwecken besetzten Stock wiederfinden, den ich irgendwo hingelegt hatte, als sich der Zug bildete. Aber wo? Im Wohnzimmer? Im Atelier? Ich ging die Wege ab. Ich inspizierte die Stauden. Auf dem Hof suchte ich und am Schuppen. Mein Stock lag auf keinem Fensterbrett. Er schwamm nicht im Teich. Habt ihr meinen Stock gesehen? fragte ich die beiden Männer am Teich. Mein Vater und Max Ludwig Nansen schwiegen. Sie antworteten nicht, schüttelten nicht einmal den Kopf, sondern schwiegen nur erregt, und ich suchte weiter, bis ich auf einmal einen Verdacht hatte und zurückschlenderte zum Teich, auf dem ein altes weißes Entenpaar vier jungen Enten Formationsschwimmen beibrachte. Im Schutz der gefällten, übereinanderliegenden Pappelstämme bewegte ich mich auf die alten Freunde aus Glüserup zu, schlüpfte durch einen Spalt in einen Hohlraum unter den Stämmen und sah durch einen fast ebenmäßigen Lichtschlitz den Maler und meinen Vater abgeschnitten in der Hüfte vor mir stehen, so nah, daß ich die Beutelung ihrer Taschen erkennen und sogar vermuten konnte, was sie in den Taschen trugen. Glatt und kühl war der Boden meines Verstecks, und der Wind fiel scharf durch die Ritzen zwischen den Stämmen ein. Indem ich mich hob oder in die Hocke ging, konnte ich die Männer verkleinern oder wachsen lassen, doch ihre Gesichter bekam ich nicht zu sehen, ihre Gesichter blieben außerhalb meiner Perspektive.

Zuerst merkte ich, daß der Maler da einen Brief in den Händen hielt, einen rot durchkreuzten Eilbrief, den er offensichtlich bereits gelesen hatte und den er nun meinem Vater zurückreichte, herrisch und außer sich, mit einer kurzen, heftigen Bewegung, und da wußte ich schon, daß mein Vater, vor der Wahl – entweder den Inhalt des Briefes mündlich zu wiederholen oder den Brief selbst sprechen zu lassen – sich wie immer für das entschieden hatte, was ihn am wenigsten beanspruchte. Er hatte den Maler einfach lesen lassen und nahm den Brief nun ruhig an sich mit seinen rötlich behaarten Händen und faltete ihn sorgsam, während der Maler sagte: Ihr seid verrückt, Jens, ihr könnt euch das nicht anmaßen.

Mir entging nicht, daß er von einer Mehrzahl sprach, der er meinen Vater jetzt schon ohne weiteres zuzählte. Ihr habt kein Recht dazu, sagte der Maler, und mein Vater darauf: Ich hab das nicht geschrieben, Max, ich maß mir auch nix an, und er konnte seine Hände nicht daran hindern, eine Bewegung unbestimmter Hilflosigkeit zu machen. Nein, sagte der Maler, du maßt dir das nicht an, du sorgst nur dafür, daß sie sich ihre Anmaßung leisten können.

Was soll ich denn machen? fragte mein Vater kühl, und der Maler: Die Bilder von zwei Jahren – weißt du, was das heißt? Ihr habt mir Berufsverbot gegeben. Genügt euch das nicht? Was werdet ihr euch noch ausdenken? Ihr könnt doch nicht Bilder beschlagnahmen, die niemand zu Gesicht bekommen hat. Die nur Ditte kennt und allenfalls Teo. – Du hast den Brief gelesen, sagte mein Vater. Ja, sagte der Maler, ich hab ihn gelesen. – Dann weißt du auch, sagte mein Vater, daß verfügt worden ist, alle Bilder aus den letzten beiden Jahren einzuziehen: ich hab sie morgen verpackt auf der Dienststelle in Husum abzuliefern.

Sie schwiegen, ich blickte durch den Lichtschlitz zur Seite und sah zwei schmale Hosenbeine rund wie Ofenrohre aus der Haustür treten und hörte eine Stimme rufen: Wir vermissen euch, wann kommt ihr? Worauf der Maler und mein Vater zurückriefen: Gleich, wir kommen gleich. Das beruhigte die Ofenrohre, denn sie schritten steif wieder ins Haus hinein, und nach einer Weile hörte ich meinen Vater sagen: Vielleicht, Max, werden die Bilder zurückgeschickt eines Tages? Die Kammer prüft sie nur und schickt sie dir zurück? Es klang sogar glaubwürdig, wenn mein Vater, der Polizeiposten Rugbüll, so etwa fragte oder als Möglichkeit erwähnte, und niemand mochte ihm ein anderes Wissen zutrauen neben dem, das er mit seinen Worten bekanntgab. Der Maler schien so verblüfft, daß er Zeit brauchte zu einer Antwort. Jens, sagte er dann in einem Ton von Bitterkeit und Nachsicht, mein Gott, Jens, wann wirst du merken, daß sie Angst haben und daß es die Angst ist, die ihnen rät, sowas zu tun: Berufsverbote auszusprechen, Bilder zu beschlagnahmen. Zurückschicken? Vielleicht in einer Urne. Die Streichhölzer, Jens, sind in den Dienst der Kunstkritik getreten – der Kunstbetrachtung, wie sie sagen.

Mein Vater stand dem Maler ohne Verlegenheit gegenüber, es gelang ihm sogar, in seiner Haltung ungeduldiges Begehren auszudrücken, das erkannte ich ohne Schwierigkeit, und ich war nicht überrascht, als er sagte: Is in Berlin verfügt worden, das genügt. Du selbst hast den Brief gelesen, Max. Ich muß dich auffordern, zugegen zu sein bei der Sichtung der Bilder. – Willst du die Bilder verhaften? fragte der Maler, und mein Vater darauf trocken und unnachsichtig: Wir werden feststellen, welche Bilder eingezogen werden müssen. Ich schreib mir alles auf, damit sie morgen abgeholt werden können.

Ich muß mir die Augen wischen, sagte der Maler. Wisch sie nur, sagte mein Vater, dabei wird sich nichts verändern. – Ihr wißt nicht mehr, was ihr tut, sagte der Maler, und da rutschte meinem Vater der Satz raus: Ich tu nur meine Pflicht, Max. Da sah ich auf die Hände des Malers, kräftige, erfahrene Hände, die er sachte hob vor dem Leib und schnell in die Luft greifen ließ, und ich verfolgte auch, wie er die Finger zuerst spreizte und dann zur Faust schloß, als sei dies eine Entscheidung. Die Hände meines Vaters dagegen hingen schlaff und bereit an der Hosennaht, zwei gehorsame Wesen, möchte ich mal sagen, jedenfalls machten sie sich nicht besonders bemerkbar. Gehen wir, Max? fragte er. Der Maler rührte sich nicht. Nur daß die sehn, ich hab meine Pflicht getan, sagte mein Vater, und der Maler plötzlich: Es wird euch nicht helfen. Es hat noch keinem geholfen. Holt euch, was euch Angst macht. Beschlagnahmt, zerschneidet, verbrennt: was einmal gewonnen ist, wird dableiben.

So kannst du nicht zu mir sprechen, sagte mein Vater. Zu dir? sagte der Maler, zu dir kann ich noch ganz anders sprechen: wenn ich dich nicht rausgeholt hätte damals, wärst du heute bei den Fischen.

Einmal muß man quitt sein, sagte mein Vater, und der Maler darauf: Hör zu, Jens, es gibt Dinge, die kann man nicht aufgeben. Ich habe damals nicht aufgegeben, als ich nach dir tauchte, und ich kann ebensowenig diesmal aufgeben. Damit du klar siehst: ich werde weiter malen. Ich werde unsichtbare Bilder machen. Es wird so viel Licht in ihnen sein, daß ihr nichts erkennen werdet. Unsichtbare Bilder.

Mein Vater hob die Hand, sichelte langsam in Höhe des Koppels und sagte warnend: Du weißt, Max, wozu ich verpflichtet bin. – Ja, sagte der Maler, ja, ich weiß, und damit du es genau weißt: es kotzt mich an, wenn ihr von Pflicht redet. Wenn ihr von Pflicht redet, müssen sich andere auf was gefaßt machen. Mein Vater trat einen Schritt gegen den Maler vor, zwängte beide Daumen unters Koppel und straffte sich tatsächlich und sagte: ich frag nicht nach den Möwenbildern – damit sind wir quitt. Aber ab heute, Max, paß auf! Mehr habe ich dir nicht zu raten: paß auf. – Ich bin darauf eingestellt, sagte der Maler, und mein Vater, nach einer Weile: Gehn wir, Max? – Wie du willst, sagte der Maler, gehn wir; doch bevor er ging, sagte er noch mit zögernder Stimme: Aber laß hier keinen was merken, Jens, vor allem ihn nicht: Teo. Der Polizeiposten Rugbüll schwieg, und ich nahm an, er sei einverstanden.

An meinem Lichtschlitz vorbei gingen sie nacheinander über den leeren, windigen Hof, ich hätte sie berühren, hätte sie erschrecken oder streifen können, doch ich tat es nicht, sondern ging tief in die Hocke und ließ die Männer aufwachsen in der Fortbewegung, und nachdem sie im Haus verschwunden waren, untersuchte ich erst einmal das neue Versteck, maß und prüfte und fand heraus, daß genügend Platz auch für zwei vorhanden wäre, etwa für Jutta und mich. Dann schlüpfte ich durch den Spalt hinaus, stand allein am Teich und bereitete den Enten ein rasches Skagerrak, indem ich vor, hinter und zwischen ihnen dekorative Fontänen aufspringen ließ. Ich gebrauchte unterschiedliche Kaliber dabei; das schwappte, wellte, kippte, warf sich schlank empor, so daß die Enten gezwungen waren, ihre Formation immer wieder zu ändern, um den Geschossen auszuweichen, und bevor ich in den Garten zurücklief, gab ich ihnen noch ein Gefühl für Sperrfeuer, wobei eine der jungen Enten die Beherrschung verlor, aus dem Verband ausscherte und sich, mit klatschendem Flügelschlag über das Wasser laufend, in das Planquadrat verirrte, wo meine Geschosse niedergingen: wäre sie bei den Alten geblieben, hätte sie keinen Treffer eingefangen.

Jedenfalls beeilte ich mich, in den Garten zu kommen, wo Addi immer noch spielte, das Lied von einem Mädchen spielte, das um jeden Preis, trotz bedenklichem Wellengetose, an die Seite ihres fernen Matrosen wollte, weil sie angeblich mit ihm zusammengehörte wie der Wind und das Meer und so weiter. Und zu dieser Melodie wurde auf dem großen Rasenplatz getanzt – nein, nicht getanzt: Hilde Isenbüttel vor allem, der Lehrer Plönnies, aber auch die alten Holmsens, stampften, trampelten, klotzten herum und schoben sich zäh und nachdenklich umeinander, um sich Appetit zu verschaffen für das bevorstehende Abendbrot. Ich merkte mir nicht genau, wer sich da alles Bewegung verschaffte, mich interessierte auch nicht, wer da auf Stühlen und Bänken saß unter wandernden Schatten – regungsloses, doch aufmerksames Meeresgetier –, denn ich hatte auf den ersten Blick die beiden Männer in der Tiefe des Ateliers entdeckt, schräg hintereinanderstehend, mit angehobenen Schultern der eine, mit gesenktem Gesicht der andere. Ich linste durch die Scheiben. Sie waren allein im Atelier. Sie standen vor Doktor Busbecks Geschenktisch. Ich legte meine Hände neben meinem Gesicht auf die Scheibe, und jetzt, da die Blendung aufhörte, sah ich, daß sie vor dem Bild standen, auf dem Segel sich in Licht auflösten, und ich merkte, daß ein zäher Prozeß um das Bild geführt wurde: fordernd stieß der Zeigefinger meines Vaters auf das Bild herab, worauf der Maler sich mit seinem Körper davorstellte, da wurde beansprucht und verweigert, begehrt und zurückgewiesen – alles lautlos, in erregtem Aquariumschweigen; ich sah, wie sie sich stritten und zu überzeugen versuchten, und auf einmal nahm sich der Maler eine Farbtube, drückte einen kurzen Wurm raus, bückte sich vor dem Bild und veränderte oder vervollständigte etwas, indem er die Fingerkuppe, dann die Seite des Fingers und schließlich, wie so oft, den Handballen gebrauchte, während mein Vater steif und drohend hinter ihm stand wie ein Seezeichen in gefährlicher Strömung. Der Maler richtete sich auf, wischte sich die Finger ab. Ich erkannte einen Ausdruck von vorsichtiger Geringschätzung auf seinem Gesicht. Er blinzelte meinen Vater an, und der bedachte sich, nickte, schien keinen Einwand zu finden, jedenfalls nicht so rasch. Das nutzte der Maler aus, indem er meinen Vater abdrängte in uneinsehbare Winkel. Ich wußte, wie dieser Prozeß ausgegangen war. Ich wandte mich um, suchte Doktor Busbeck und sah ihn Arm in Arm mit Ditte unter dem Geästschatten des alten Apfelbaums: die Schatten strichen ihn durch.

Ich überlegte, ob ich durch eines der offenen Fenster in die Wohnstube klettern und von dort aus versuchen sollte, in das Atelier zu schlüpfen, als Addi plötzlich mitten im Lied abbrach und hinfiel wie einmal schon, und wie einmal schon mit den Beinen stieß und zuckte, sich aufbäumte und mit den Zähnen knirschte. Ich flitzte sofort zu ihm, aber vor mir war Hilke schon da, und wie in den Dünen kniete Hilke neben ihm und befreite ihn zuerst von der Last des ausgezogenen gekrümmten Instruments, das seine Brust umschloß gleich einer Schwimmweste.

Geht weg, sagte sie, geht weg, aber die andern kamen von allen Seiten heran, drängten näher, bildeten einen Kreis aus Betroffenheit, aus Staunen und wohl auch Furcht, denn sie sagten nichts, stießen sich nicht einmal an, sondern wechselten nur Blicke über Addi hinweg, dessen Gesicht sich verfärbt hatte, dessen Lippen fest aufeinandergepreßt waren. Alle standen sie da mit vorgeschobener Schulter: die Holmsens, die eben noch getanzt hatten, Pastor Treplin und der Vogelwart Kohlschmidt und der Deichgraf Bultjohann. Mein Großvater stand schweigend da, desgleichen Plönnies und Kapitän Andersen. Und hoch aufgerichtet, weniger betroffen als in herrischer Gleichgültigkeit, stand meine Mutter etwas außerhalb des Rings und beobachtete nicht Addi, sondern Hilke.

Nur einer zwängte sich durch den Kreis mit leisen, dringenden Worten, und das war Doktor Busbeck. Er wartete nicht. Er brauchte sich nicht zu erkundigen. Er bat um Durchlaß, kniete sich gegenüber von Hilke hin, zog sein Taschentuch und trocknete das schweißbedeckte Gesicht, wobei Addi selbst schon wieder die Augen öffnete und freundlich, vor allem verständnislos um sich sah.

Hei mutt wat to äten hebben, rief der Kulturfilm-Kapitän. Niemand stimmte ihm zu. Jetzt geht es, sagte Hilke, jetzt ist es vorbei, während Addi sich mühsam aufstützte, sich mit Doktor Busbecks Hilfe erhob und verwirrt den Kreis musterte, der ihn umgab. Da konnte Hilke doch gar nichts Besseres einfallen, als seinen Arm zu nehmen und lächelnd mit ihm zunächst zur Schaukel hinunterzugehen, dann auf dem äußeren geschwungenen Weg weiter zum Gartenhaus, so daß der Versammlung einfach nichts anderes übrigblieb, als sich zu zerstreuen, obwohl einige, und besonders Per Arne Scheßel, nicht aufhörten, unter schweren Lidern auf die Stelle zu blicken, wo Addi gelegen hatte. Und dann sah ich, wie Addi meinen Stock am Gartenhaus aufhob, ihn Hilke zeigte und zu Hilke offensichtlich sagte: Das ist doch Siggis Stock, worauf ich hochsprang mit emporgeworfenen Armen und: Hier, hier! rief, und nachdem Addi mich entdeckt hatte, warf er den Stock durch den Garten unter die Schaukel, wo ich ihn mir holte.

Ich wollte ihm zuwinken, doch ich tat es nicht, als ich sah, daß meine Mutter ihnen den Weg abschnitt und versuchte, sie am entlegenen alten Brunnen zu stellen, dort bei der Laube aus Flieder. Unter der Schaukel setzte ich mich hin, entfaltete mein blaues Taschentuch und befestigte es mit den Reißnägeln am Stock, und mit flatternder, blauer Fahne marschierte ich zurück, mitten in den Geburtstag hinein, immer wieder an Bänken, Tischen und Stühlen vorbei, wo man zuhauf saß, rauchte und flüsterte, nachdenklich zischte. Ich ließ meine Fahne flattern, ich warf sie hoch in die Luft, obwohl doch niemand in Rugbüll war, der es hätte erkennen und daraus seine Schlüsse ziehen können.

Bis hierher, einstweilen nur bis hierher, denn ich kann nicht verschweigen, daß es in dem Augenblick, in dem ich meine blaue Fahne hoch in Luft warf, an meine Zellentür klopfte, sehr scheu, sehr verhalten klopfte, aber immer noch deutlich genug, so daß ich aus meiner Erinnerung regelrecht herausgeklopft wurde, mein Heft schloß und mich ärgerlich zur Tür drehte. Hinter dem Guckloch bewegte sich etwas, Braun löste Weiß ab. Ein glühender Knopf begann da zu rotieren. Blitzend sprangen einige Lichtpfeile zu mir herein. Ich stand wider Willen auf, als die Tür unerträglich langsam geöffnet wurde, wie in einem Kriminalfilm tat sie sich auf, gleichmäßig, eindringlich knarrend, jedenfalls mit einer Verzögerung, die auf keinen guten Besuch schließen läßt – da hätten nur noch wehende Gardinen gefehlt und ein Buch, das sich selbst aufblättert –, und weil ich dem Geburtstag in Bleekenwarf nicht zu lange fernbleiben wollte, sagte ich höflich: Komm rein, es zieht.

Er trat schnell ein, steppte zur Seite und überließ es Karl Joswig, den ich hinter ihm auf dem Korridor entdeckte, die Tür von außen zu schließen. Er war offensichtlich verlegen, seine Mundwinkel zuckten; er kam mir, wenn ich heute daran denke, wie ein junger Tierpfleger vor, der sich zum ersten Mal in den Käfig gewagt hat. Unsicher, doch sympathisch lächelte der junge Psychologe, tänzelte auf der Stelle hin und her. Die knappe Verbeugung, zu der er ansetzte, konnte ihm nicht gelingen, da er zu nah an der Tür stand. Er war drei, vielleicht fünf Jahre älter als ich, feingliedrig, sehr blaß. Seine Kleidung gefiel mir: sie war sportlich und etwas nachlässig. Ich konnte mir nicht erklären, warum er die linke Hand krampfhaft geschlossen hielt – vielleicht hielt er dort, sozusagen, ein Stück Zucker für mich bereit, vielleicht aber auch eine Waffe. Da ich ihn nicht gerufen hatte, begnügte ich mich damit, ihn schweigend zu mustern, wobei ich ihn mit einem Blick maß, in dem ärgerliches Erstaunen lag; mein Blick forderte ihn auf, sich kurz zu fassen.

Herr Jepsen? fragte er liebenswürdig, worauf ich nach kurzem Zögern ziemlich zugeknöpft antwortete: Allerdings. Diese Antwort schien ihn keineswegs zu entmutigen, er drückte sich mit dem Gesäß von der Tür ab, bot mir eine kraftlose Hand an und sagte: Mackenroth, Wolfgang Mackenroth; es freut mich, Ihnen zu begegnen. Er lächelte mir freundlich zu, zog seinen Mantel aus, legte ihn auf den Tisch, und mit einer Vertraulichkeit, die durch nichts gerechtfertigt war, legte er eine Hand auf meinen Ellenbogen, sah mich zuversichtlich an und fragte mich mit einer Geste, ob er meinen Stuhl haben könne. Ich schüttelte bedauernd den Kopf. Er konnte den Stuhl nicht haben. Falls Sie es nicht wissen, sagte ich, hier wird gearbeitet: ich befinde mich mitten in einer Strafarbeit.

Das war ihm bekannt. Der junge Psychologe wußte, was mir zugestoßen war, sparte nicht mit Anerkennung für mein Unternehmen, entschuldigte sich sogar für die Störung und berief sich auf eine Sondererlaubnis, die Direktor Himpel ihm ausnahmsweise gegeben hatte. Bitte, sagte er, bitte Herr Jepsen, Sie müssen mir helfen, es hängt einiges von Ihnen ab. Ich zog die Schultern hoch, ich murmelte höflich: Schmier ab, Junge, mir hilft auch keiner, und um ihm zu zeigen, daß ich keine Zeit für ihn hatte, setzte ich mich auf den einzigen Stuhl in meiner Zelle und spielte mit dem Taschenspiegel. Mein Taschenspiegel borgte sich Licht bei der elektrischen Birne, ließ den Lichtstrahl über Ofen, Ausguß, Fenster wandern, unterhielt sich kurz mit dem Guckloch, hinter dem Joswigs Auge Wache hielt, dekorierte die Decke mit ein paar flüchtigen Lichtgirlanden und schnitt lautlos die Zellentür in schmale Streifen. Da der junge Psychologe immer noch nicht ging, putzte ich mir zuletzt mit dem Lichtstrahl die Schuhe und tat alles, was man tut, wenn man sich allein fühlt. Ich übersah meinen Besuch, ich schlug mein Heft wieder auf und versuchte, mich lesend dem Garten von Bleekenwarf zu nähern. Wolfgang Mackenroth blieb. Er blieb und betrachtete mich aufmerksam und freundlich wie ein gerade erworbenes Eigentum, möchte ich mal sagen, einen noch ungewohnten Besitz, den man erst entdecken muß, und weil ich gegen meinen Willen spürte, daß dieser Wissenschaftler mir einfach durch sein kumpelhaftes Verhalten auf unerwünschte Weise sympathisch zu werden begann, fragte ich ihn, ob er sich nicht in der Tür geirrt habe. Sie, sagte er, Sie, Herr Jepsen, und ich, wir sollten uns verbünden, und dann fing er an, mich mit seinen Absichten bekannt zu machen. Der junge Psychologe war gezwungen, eine Diplomarbeit zu schreiben. Das Unternehmen, das er seine freiwillige Strafarbeit nannte, sollte ihn wissenschaftlich weiterbringen. Geschickt für uns beide Zigaretten drehend, seinen Hals massierend, schlug er mir vor, Objekt seiner Diplomarbeit zu werden. Ich sollte eingehen in seine Diplomarbeit, wie er sagte, sollte sorgfältig verarbeitet werden. Ein wissenschaftliches Begräbnis erster Klasse sollte ich also erhalten. Mein kompletter Fall, so schlug er mit sympathischer Selbstironie vor, sollte von ihm aufbereitet werden, mit allen Höhen und Tiefen und so weiter. Einen Titel hatte er schon in der Tasche: Kunst und Kriminalität, so sollte die Arbeit heißen, dargestellt am Fall des Siggi J. Damit aber diese Diplomarbeit nicht nur gelinge, sondern in der wissenschaftlichen Welt geziemende – er sagte: geziemende Beachtung finde, sei meine Hilfe unerläßlich. Dafür bot er mir zwinkernd eine witzige Entschädigung an: ein sehr seltenes Angstgefühl, das, wie er meinte, die wahre Triebfeder meiner einmaligen Aktionen gewesen sei, wollte er die Jepsen-Phobie nennen – was mir die Möglichkeit bot, eines Tages das Wörterbuch der Psychologie zu erreichen.

Nachdem so der junge Wissenschaftler, mit der Sondererlaubnis von Direktor Himpel, all seine Pläne freimütig vor mir ausgebreitet hatte, blieb er neben dem Tisch stehen, legte mir eine Hand auf die Schulter, beugte sein Gesicht zu mir herab und inszenierte ein Lächeln, wie man es vielleicht unter Komplizen tauscht, aber doch wohl kaum zwischen einem Psychologen und einem jugendlichen Gefangenen. Das Lächeln verwirrte mich, und ich brachte es nicht fertig, ihn schweigend abblitzen zu lassen, zumal er flüsternd weitersprach und flüsternd erläuterte, wie er sich die Tendenz seiner Diplomarbeit vorstellte: verteidigen wollte er mich, freisprechen und bestätigen; meine Bilderdiebstähle wollte er rechtfertigen, und die Gründung meiner privaten Galerie in der alten Mühle wollte er als positive Leistung anerkennen; überhaupt versprach er, in mir den Grenzfall herauszuarbeiten und für mich eine Rechtsprechung zu fordern, die es noch nicht gab. Der leise, rechtschaffene Fanatismus, mit dem er mir alles entwickelte, machte ihn glaubwürdig. Ich muß zugeben, daß unter den zwölfhundert dressurbesessenen Psychologen, die unsere Insel mitunter in eine wissenschaftliche Manege verwandelten, Wolfgang Mackenroth der einzige war, dem ich bereit war, wenn auch mit Vorsicht, mein Vertrauen zu schenken.

Was mich nur ein bißchen an ihm störte, war, daß er zuviel von mir wußte. Er hatte meine Akte ganz gelesen, er war unterrichtet. Zuerst spielte ich mit dem Gedanken, ihm bei seiner Strafarbeit zu helfen und mir dabei seine Hilfe für meine Strafarbeit zu sichern, vor allem, wenn er sich bereitfinden würde, für den Nachschub von Zigaretten zu sorgen, doch als ich heraushörte, daß er mit Direktor Himpel beinahe befreundet war, ließ ich diesen Gedanken wieder fallen. Ich musterte ihn ausgiebig: das kleine blasse Gesicht, den schlanken Hals, seine zarten Hände; ich hörte kritisch auf seine Stimme, und obwohl er bei mir, je länger sein Besuch dauerte, nicht verlor, sondern noch gewann, sagte ich ihm, daß mir sein Angebot zu überraschend gekommen sei: Ich bedauerte. Ich erbat Bedenkzeit.

Aber besuchen, sagte er, besuchen darf ich Sie doch von Zeit zu Zeit? Das erlaubte ich ihm, und um ihn loszuwerden, nickte ich auch zu seinem Vorschlag, mir hin und wieder, in unregelmäßigen Abständen, ausgewählte, vor allem wohl kritische Abschnitte aus seiner Diplomarbeit hereinzureichen – er sagte: hereinzureichen. Er bedankte sich. Hastig, als fürchte er, ich könnte mein Einverständnis widerrufen, zog er seinen Mantel an, sagte: Ich werde Sie nicht enttäuschen, Herr Jepsen, gab mir freundschaftlich die Hand, ging zur Tür und klopfte von innen, worauf Karl Joswig, ohne sichtbar zu werden, die Tür öffnete und den jungen Psychologen herausließ. Ich horchte auf seine Schritte, er ging weg, er hatte es eilig.

Seitdem sitze ich an dem kerbenbedeckten Tisch und versuche, zur Geburtstagsfeier zurückzukehren, mich hinabzutasten an der Kette der Erinnerung, hier zu wohnen und dort zu sein, dort in Bleekenwarf, im Garten des Malers, unter feierlichem Meeresgetier, das auf das Abendbrot wartet. Ich könnte das Abendbrot auftragen lassen, ich könnte zunächst auch, vielleicht zu Ehren von Doktor Busbeck, einen großen Sonnenuntergang entwerfen, in dem Rot und Gelb sich pathetisch unterhalten, und schließlich ließe sich wohl auch in etwa achttausend Meter Höhe der Luftkampf beschreiben, der uns damals für einige Minuten beschäftigte, doch das alles kann nichts daran ändern, daß ich der erste war, der die Geburtstagsfeier verließ. Ich verließ sie nicht freiwillig.

Wo war es? Wo schnappte sie mich? An der Schaukel, in der Laube, auf der Holzbrücke? Die blaue Fahne hatte ich jedenfalls in der Hand, und ich war auf der Suche nach etwas, der Wind hatte nachgelassen. Auf einmal stand meine Mutter vor mir, streng, sehr erregt, sie wollte etwas sagen und konnte es nicht, nur ein kurzes Stöhnen gelang ihr, und dann bleckte sie das gelbliche Gebiß, wie so oft, wenn sie außer sich war, wenn sie verletzt und enttäuscht war. Sie griff nach meiner Hand. Sie preßte meine Hand gegen ihre Hüfte. Ruckartig wandte sie sich um, warf den Kopf in den Nacken – gerade so weit, wie es der feste, mit Netz und Haarnadeln gesicherte und an eine glänzende Geschwulst erinnernde Haarknoten erlaubte, und riß mich mit aus dem Garten, aus dem Geburtstag. Mit ihrem erschreckenden Gang, der fast etwas Panisches hatte, lief die flache, hochgewachsene Frau mir voraus und zerrte mich über den Rasen, am Atelier vorbei über den Hof, immer noch ohne ein Wort und auch achtlos an dem Kulturfilm-Kapitän Andersen vorbei, der uns nichts anderes zugerufen hatte als: Bald gibt es was zu essen, und mit mir im Schlepp stieß sie das schwingende Holztor auf und stürzte über die lange, mit Erlen flankierte Auffahrt zum Deich, den wir gebückt erklommen und, ohne zurückzublicken auf Bleekenwarf, wieder verließen, indem wir zur Seeseite hinunterstolperten.

Aus mittlerer Entfernung, denke ich mir, mußte Gudrun Jepsen etwa den Eindruck einer Mutter gemacht haben, die in überzeugender Verzweiflung mit ihrem Sohn in die Nordsee gehen will. Schon überlegte ich, was ich tun sollte, wie groß vor allem meine Verpflichtung war, Mutter watend durch die Brandung zu begleiten und mit ihr gehorsam vor der Wrackboje zu versinken, als sie wieder die Richtung änderte und unter dem Deich weiterging, unsichtbar jetzt für alle, die uns von Bleekenwarf nachgeblickt hätten. Sie ließ meine Hand los. Sie befahl mir, voranzugehen, und ich fragte sie, ohne mich umzudrehen, warum wir den Geburtstag so plötzlich verlassen hatten. Ich bekam keine Antwort. Da fragte ich sie, ob Vater auch den Geburtstag verlassen hatte oder gleich verlassen würde, und sie schnaubte leicht und schwieg. Sie schwieg, bis wir am rotbemützten automatischen Feuer waren, da sagte sie: Schnell, komm schnell, ich muß ein Beruhigungspulver nehmen, ich muß mich hinlegen, und danach überholte sie mich und achtete nicht mehr darauf, ob ich ihr noch folgen konnte.

Aber ich hielt mich dicht hinter ihr, sprang neben ihr die Treppe hinauf und trat mit ihr zusammen in die Küche, wo sie gleich hinauflangte zu dem blanken, peinlich ausgerichteten Spalier der Reis-, Grieß-, Mehl-, Sago-, Graupenbehälter, die mit allem gefüllt waren, nur nicht mit dem, was die goldumrandete Aufschrift versprach; sie stülpte einen Behälter um, fischte sich aus einem Hügel von Röhrchen, Schachteln und Blechkästen eine kleine Spitztüte, deren Inhalt sie in ein Wasserglas schüttete und sitzend mit geschlossenen Augen trank. Ich stand neben ihr in angstvollem Gehorsam, zu dem sie mich gebracht hatte, und betrachtete sie interessiert und vorwurfsvoll: das spitze Kinn, die rotblonden Wimpern, die Nasenlöcher, die gekrümmten Lippen, und ich wagte nicht, sie zu berühren. Meine Mutter stemmte die Arme auf den Rand der Sitzfläche. Sie streckte ihren Körper. Für einen Augenblick hielt sie den Atem an. Ich fragte sie, ob das Pulver ihr schon helfe, und gleich darauf, ob ich zurückdürfe zum Geburtstag nach Bleekenwarf, und weil sie mir keine Antwort geben wollte, fragte ich, warum wir so schnell laufen mußten unter dem Deich. Jetzt sah sie mich aus schmalen Augen an, stand auf und befahl mir, ihr zu folgen.

Wir gingen nach oben, an meinem Zimmer vorbei, stiegen auf den Boden und öffneten die Tür zur Bodenkammer, in der Addi wohnte. Da stand sein Pappkoffer. Auf dem Fensterbrett blinkte sein Rasierzeug. Ein Pullover lag da. Unter dem Schemel warteten neue Segeltuchschuhe auf schönes Wetter. Eine Schirmmütze, ein Schal, ein Stapel Taschentücher lagen auf der Kommode, und auf dem Kopfkissen des Bettes lag ein Buch »Wir nahmen Narvik«. Pack alles zusammen, sagte meine Mutter, und, weil ich mich nicht rührte: Pack alles in den Koffer. Nochmals mußte sie mich auffordern, Addis Sachen in seinen Pappkoffer zu legen, und als ich es dann tat unter ihren kontrollierenden Blicken, sagte sie leise: Wir dürfen nichts vergessen, er soll alles mitnehmen, alles. Sie reichte mir einen billigen, gewiß unbenutzten Fotoapparat zu und sagte: Steck den zwischen die Socken. Einen Schlips legte sie selbst zusammen und steckte ihn unter die Oberhemden. Wir falteten, knifften, preßten, stauten, bis nichts mehr in der Kammer an Addi erinnerte außer seinem Koffer; und als Gudrun Jepsen den Koffer aufnahm und hinaustrug, konnte niemand den Widerwillen übersehen, der ihre Hand versteifen ließ. Was dachte ich mir dabei? Ich dachte zuerst, daß sie Addi mit einem besseren Zimmer belohnen wollte, hoffte auch schon, ihn als Zimmergenossen zu bekommen; doch wir stiegen hinab bis zum Flur, und dort, neben dem Büro meines Vaters, ließ sie den Koffer aus Kniehöhe fallen, drückte ihn gegen die Wand und klopfte sich die Hände ab. Reist er ab? fragte ich, und sie, schon wieder beruhigt: Er hat hier nichts verloren, darum reist er ab; ich habe mit ihm gesprochen. – Warum, fragte ich, warum muß er abreisen? – Das verstehst du nicht, sagte meine Mutter und blickte durch das Fenster über das flache Land nach Bleekenwarf hinüber, und auf einmal, ohne sich zu bewegen oder die Stimme zu heben: Wir brauchen keinen Kranken in der Familie. – Reist Hilke auch ab? fragte ich da, worauf meine Mutter sagte: Das wird sich zeigen; bald werden wir wissen, welche Bande – sie sagte tatsächlich Bande – stärker sind.

Ich sah nur in ihr strenges rötliches Gesicht und wußte schon, daß der Geburtstag beendet war, daß sie mir zumindest nicht erlauben würde, noch einmal nach Bleekenwarf zu gehen; darum nickte ich, als sie mich ins Bett schickte mit einer Mettwurststulle. Ich verdunkelte mein Fenster. Ich zog mich aus und baute auf dem Stuhl neben dem Bett mein Päckchen, wie sie es mir beigebracht hatten: glattgestrichen die Hosen, den Pullover zu einem viereckigen Neutrum gefaltet, darauf, mit den Kanten abschließend, das zusammengelegte Hemd, in peinlicher Übereinstimmung, das Unterhemd – in der umgekehrten Reihenfolge würde ich die Sachen am nächsten Morgen anziehen. Ich lauschte, im Haus war alles still.

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