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2 Das Malverbot
ОглавлениеIm Jahr dreiundvierzig, um mal so zu beginnen, an einem Freitag im April, morgens oder mittags, bereitete mein Vater Jens Ole Jepsen, der Polizeiposten der Außenstelle Rugbüll, der nördlichste Polizeiposten von Schleswig-Holstein, eine Dienstfahrt nach Bleekenwarf vor, um dem Maler Max Ludwig Nansen, den sie bei uns nur den Maler nannten und nie aufhörten, so zu nennen, ein in Berlin beschlossenes Malverbot zu überbringen. Ohne Eile suchte mein Vater Regenumhang, Fernglas, Koppel, Taschenlampe zusammen, machte sich mit absichtlichen Verzögerungen am Schreibtisch zu schaffen, knöpfte schon zum zweiten Mal den Uniformrock zu und linste – während ich vermummt und regungslos auf ihn wartete – immer wieder in den mißlungenen Frühlingstag hinaus und horchte auf den Wind. Es ging nicht nur Wind: dieser Nordwest belagerte in geräuschvollen Anläufen die Höfe, die Knicks und Baumreihen, erprobte mit Tumulten und Überfällen die Standhaftigkeit und formte sich eine Landschaft, eine schwarze Windlandschaft, krumm, zerzaust und voll unfaßbarer Bedeutung. Unser Wind, will ich meinen, machte die Dächer hellhörig und die Bäume prophetisch, er ließ die alte Mühle wachsen, fegte flach über die Gräben und brachte sie zum Phantasieren, oder er fiel über die Torfkähne her und plünderte die unförmigen Lasten.
Wenn bei uns Wind ging und so weiter, dann mußte man sich schon Ballast in die Taschen stecken – Nägelpakete oder Bleirohre oder Bügeleisen –, wenn man ihm gewachsen sein wollte. Solch ein Wind gehört zu uns, und wir konnten Max Ludwig Nansen nicht widersprechen, der Zinnadern platzen ließ, der wütendes Lila nahm und kaltes Weiß, wenn er den Nordwest sichtbar machen wollte – diesen wohlbekannten, uns zukommenden Nordwest, auf den mein Vater argwöhnisch horchte.
Ein Rauchschleier schwebte in der Küche. Ein nach Torf duftender, zuckender Rauchschleier schwebte im Wohnzimmer. Der Wind saß im Ofen und paffte uns das Haus voll, während mein Vater hin und her ging und offenbar nach Gründen suchte, um seinen Aufbruch zu verzögern, hier etwas ablegte, dort etwas aufnahm, die Gamaschen im Büro anlegte, das Dienstbuch am Eßtisch in der Küche aufschlug und immer noch etwas fand, was seine Pflicht hinausschob, bis er mit ärgerlichem Erstaunen feststellen mußte, daß etwas Neues aus ihm entstanden war, daß er sich gegen seinen Willen in einen vorschriftsmäßigen Landpolizisten verwandelt hatte, dem zur Erfüllung seines Auftrags nichts mehr fehlte als das Dienstfahrrad, das, gegen einen Sägebock gelehnt, im Schuppen stand.
So war es an diesem Tag vermutlich die aus Gewohnheit zustande gekommene äußere Dienstbereitschaft, die ihn schließlich zum Aufbruch zwang, nicht der Eifer, nicht die Berufsfreude und schon gar nicht die ihm zugefallene Aufgabe; er setzte sich wie so oft in Bewegung, anscheinend weil er komplett uniformiert und ausgerüstet war. Er variierte nicht seinen Gruß, bevor er ging, er trat wie immer auf den dämmrigen Flur, lauschte, rief gegen die geschlossenen Türen: Tschüß, nech!, erhielt von keiner Seite eine Antwort, war jedoch nicht verblüfft oder enttäuscht darüber, sondern tat so, als hätte man ihm geantwortet, denn er nickte befriedigt, zog mich nickend zur Haustür, wandte sich noch einmal an der Schwelle um und machte eine unbestimmte Geste des Abschieds, bevor der Wind uns aus dem Türrahmen riß.
Draußen legte er sich sogleich mit der Schulter gegen den Wind, senkte sein Gesicht – ein trockenes, leeres Gesicht, auf dem alles, jedes Lächeln, jeder Ausdruck von Mißtrauen oder Zustimmung sehr langsam entstand und dadurch eine unerhörte, wenn auch mitunter verzögerte Bedeutsamkeit erlangte, so daß es den Anschein hatte, als verstehe er alles zwar gründlich, aber zu spät – und ging vornübergebeugt über den Hof, auf dem der Wind spitze Kreisel drehte und eine Zeitung zerzauste, einen Sieg in Afrika, einen Sieg auf dem Atlantik, einen gewissermaßen entscheidenden Sieg an der Altmetallfront zerzauste und knüllte und gegen den Maschendraht unseres Gartens preßte. Er ging zum offenen Schuppen. Stöhnend hob er mich auf den Gepäckträger. Er packte das Fahrrad mit einer Hand an der Hinterkante des Sattels, mit der anderen an der Lenkstange und drehte es herum. Dann schob er es zum Ziegelweg hinab, hielt unter dem spitzen, auf unser Rotsteinhaus zielenden Schild »Polizeiposten Rugbüll«, brachte das linke Pedal in günstige Ausgangsstellung, saß auf und fuhr mit straff geblähtem Umhang, der zwischen den Beinen mit einer Klammer zusammengefaßt war, Richtung Bleekenwarf.
Das ging gut bis zur Mühle oder sogar fast bis zur Holmsenwarf mit ihren wippenden Hecken, denn so lange segelte er gebläht und kräftig gebauscht vor dem Wind, doch dann, als er sich gegen den Deich wandte, den Deich gebeugt erklomm, glich er sofort dem Mann auf dem Prospekt »Mit dem Fahrrad durch Schleswig-Holstein«, einem verbissenen Wanderer, der durch Versteifung, Krümmung und vom Sattel abgehobenes Gesäß bereitwillig die Mühsal erkennen ließ, mit der man sich hier fortbewegen muß auf der Suche nach heimischer Schönheit. Der Prospekt verriet jedoch nicht nur die Mühsal, er deutete auch das Maß der Geschicklichkeit an, das notwendig ist, um bei fallsüchtigem, seitlichem Nordwest mit dem Fahrrad auf dem Kamm des Deiches zu fahren; außerdem veranschaulichte er die in Windfahrten zweckmäßige Körperhaltung, ließ das Erlebnis des norddeutschen Horizonts ahnen, zeigte die schlohweißen Kraftlinien des Windes und bevorzugte als vertraute Garnierung des Deiches die gleichen blöden und verzottelten Schafe, die auch meinem Vater und mir nachblickten.
Da eine Beschreibung des Prospekts zwangsläufig zu einer Beschreibung meines Vaters werden muß, wie er auf dem Deich nach Bleekenwarf fuhr, möchte ich, zur Vervollständigung des Bildes, noch die Mantel-, Herings- und Lachmöwen erwähnen sowie die seltene Bürgermeistermöwe, die, dekorativ über dem erschöpften Radler verteilt, durch nachlässigen Druck etwas verwischt, wie weiße Staubtücher zum Trocknen in der Luft hingen.
Immer auf dem Kamm des Deiches entlang, auf dem schmalen Zwangskurs, der sich da braun im flachen Gras abzeichnete, die Stöße des Windes parierend, die blauen Augen gesenkt – so fuhr mein Vater mit seinem gefalteten, in der Brusttasche steckenden Auftrag den sanften Bogen des Wulstes aus, ohne Dringlichkeit, nur mühselig, so daß man vermuten konnte, sein Ziel sei das hölzerne, grau getünchte Gasthaus »Wattblick«, in dem er einen Grog trinken und mit Hinnerk Timmsen, dem Wirt, einen Handschlag, vielleicht sogar einige Sätze wechseln werde.
Wir fuhren nicht so weit. Noch vor dem Gasthaus, das mit Hilfe von zwei begehbaren Holzbrücken auf dem Deich ruhte – und mich immer an einen Hund erinnerte, der seine Vorderpfoten auf eine Mauer gelegt hat, um darüber wegsehen zu können –, drehten wir ab, gewannen in beherrschter Schußfahrt den erlaufenen Pfad neben dem Deichfuß und bogen von da in die lange Auffahrt nach Bleekenwarf ein, die von Erlen flankiert, von einem schwingenden Tor aus weißen Planken begrenzt war. Die Spannung wuchs. Die Erwartung nahm zu – wie immer bei uns, wenn sich einer im April, bei diesem barschen Nordwest, durch das unverstellte Blickfeld bewegt mit erklärtem Ziel.
Seufzend ließ uns das Holztor ein, das mein Vater bei langsamer Fahrt mit dem Fahrrad aufstieß, er fuhr an dem unbenutzten, rostroten Stall vorbei, am Teich, am Schuppen, sehr langsam, gerade als wünschte er, vorzeitig entdeckt zu werden, fuhr dicht an den schmalen Fenstern des Wohnhauses vorbei und warf noch einen Blick in das angebaute Atelier, bevor er abstieg, mich wie ein Paket auf den Boden stellte und das Fahrrad zum Eingang führte.
Da bei uns niemand den Eingang eines Anwesens unentdeckt erreicht, brauche ich meinen Vater nicht klopfen oder fordernd in das Halbdunkel des Flurs hineinrufen zu lassen, auch brauche ich nicht den Fall nahender Schritte zu beschreiben oder Überraschung explodieren zu lassen; es genügt vielmehr, daß er die Tür aufstößt, seine Hand durch den Umhang schiebt und sie sogleich warm umspannt und auf und ab geschüttelt fühlt, worauf ihm nur zu sagen bleibt: Tag, Ditte –; denn die Frau des Malers war gewiß schon in dem Augenblick zur Tür gegangen, als wir in knapper Sturzfahrt den Deich verlassen hatten.
In ihrem langen, groben Kleid, das ihr das Aussehen einer strengen holsteinischen Dorfprophetin verlieh, ging sie uns voraus, erwischte in der Flurdunkelheit den Drücker der Wohnzimmertür, öffnete und bat meinen Vater, einzutreten. Mein Vater löste erst einmal die Klammer, die den Umhang zwischen den Oberschenkeln zusammenhielt – er spreizte dabei jedesmal seine Beine, gab in den Knien nach und fummelte so lange herum, bis er den Kopf der Klammer zwischen den Fingern hielt –, befreite sich vom Umhang, indem er nach unten wegtauchte, zog seine Uniformjacke glatt, öffnete ein wenig meine Vermummung und schob mich vor sich her in die Wohnstube.
Sie hatten eine sehr große Wohnstube auf Bleekenwarf, einen nicht allzu hohen, aber breiten und vielfenstrigen Raum, in dem mindestens neunhundert Hochzeitsgäste Platz gehabt hätten, und wenn nicht die, dann aber doch sieben Schulklassen einschließlich ihrer Lehrer, und das trotz der ausschweifenden Möbel, die dort herumstanden mit ihrer hochmütigen Raumverdrängung: schwere Truhen und Tische und Schränke, in die runenhafte Jahreszahlen eingekerbt waren und die einfach durch die gebieterische und dräuende Art ihres Dastehns Dauer beanspruchten. Auch die Stühle waren unverhältnismäßig schwer, gebieterisch; sie verpflichteten, möchte ich mal sagen, zu regungslosem Dasitzen und zu einem sehr sparsamen Mienenspiel. Das dunkle, plumpe Teegeschirr – sie nannten es Wittdüner Porzellan –, das auf einem Bord an der Wand stand, war nicht mehr in Gebrauch und lud zu Zielwürfen ein, aber der Maler und seine Frau waren duldsam und änderten nichts oder nur wenig, nachdem sie Bleekenwarf gekauft hatten von der Tochter des alten Frederiksen, der so skeptisch war, daß er sich, als er Selbstmord beging, vorsichtshalber die Ader öffnete, ehe er sich an einem der ungeheuren Schränke erhängte.
Sie änderten nichts am Mobiliar, wenig in der Küche, in der sich Pfannen, Töpfe, Fäßchen und Kannen streng ausgerichtet anboten; sie beließen an ihrem Platz die greisen Geschirrschränke mit den unbescheidenen Wittdüner Tellern und den maßlosen Terrinen und Schüsseln, sogar die Betten blieben an ihrem Ort, strenge, schmale Pritschen, die kargsten Zugeständnisse an die Nacht.
Aber mein Vater sollte endlich, zumal er schon im Wohnzimmer steht, die Tür hinter sich schließen und Doktor Theodor Busbeck begrüßen, der wie immer allein auf dem Sofa saß, auf dem harten, vielleicht dreißig Meter langen Ungetüm, nicht lesend oder schreibend, sondern wartend, seit Jahren wartend in Ergebenheit, sorgfältig gekleidet und voll geheimnisvoller Bereitschaft, so als könnte die Veränderung oder die Nachricht, die er erwartete, in jedem Augenblick eintreffen. Auf seinem blassen Gesicht war fast nichts zu erkennen, das heißt, jeder Ausdruck, den eine Erfahrung auf ihm zurückgelassen hatte, war von einer planvollen Vorsicht wieder entfernt, abgewaschen worden; aber bereits wir wußten immerhin so viel, daß er als erster die Bilder des Malers ausgestellt hatte und auf Bleekenwarf lebte, seit seine Galerie zwangsgeräumt und geschlossen worden war. Lächelnd ging er meinem Vater entgegen, begrüßte ihn, ließ sich die Windstärke bestätigen, nickte auch lächelnd zu mir herab und zog sich wieder zurück. Nimmst du Tee oder Schnaps, Jens, fragte die Frau des Malers, mir ist nach Schnaps.
Mein Vater winkte ab. Nichts, Ditte, sagte er, heute nichts, und er setzte sich nicht wie sonst auf den Fensterstuhl, trank nicht wie sonst, sprach nicht wie sonst von seinen Schmerzen in der Schulter, die ihn seit einem Sturz vom Fahrrad heimsuchten, und versäumte es auch, die Vorfälle und näheren Begebenheiten auszubreiten, über die der Polizeiposten Rugbüll herrschte und unterrichtet sein mußte, vom folgenschweren Hufschlag über Schwarzschlachtung bis zur ländlichen Brandstiftung. Er hatte nicht einmal einen Gruß von Rugbüll mitgebracht und vergaß auch, nach den fremden Kindern zu fragen, die der Maler aufgenommen hatte. Nichts, Ditte, sagte er, heute nichts.
Er setzte sich nicht. Er streifte mit den Fingerkuppen die Brusttasche. Er blickte durch das Fenster zum Atelier hinüber. Er schwieg und wartete, und Ditte und Doktor Busbeck sahen, daß er auf den Maler wartete, freudlos, unruhig sogar, soweit mein Vater überhaupt Unruhe zeigen konnte, jedenfalls ließ ihn das, was er zu tun hatte, nicht gleichgültig. Sein Blick fand keinen Halt – wie immer, wenn er betroffen, wenn er unsicher und erregt war auf seine friesische Weise: er sah jemanden an und sah ihn nicht an, sein Blick traf und glitt ab, hob sich und wich aus, wodurch er selbst unerreichbar blieb und sich jeder Befragung entzog. So wie er dastand in der sehr großen Wohnstube auf Bleekenwarf, beinahe widerwillig in der schlecht sitzenden Uniform, unsicher und mit einem Blick, der nichts bekennen wollte, ging von ihm ganz gewiß keine Bedrohung aus.
Da fragte die Frau des Malers gegen seinen Rücken: Ist was mit Max? Und als er nickte, nichts als steif vor sich hin nickte, erhob sich Doktor Busbeck, kam näher und nahm Dittes Arm und fragte zaghaft: Eine Entscheidung aus Berlin?
Mein Vater wandte sich überrascht, wenn auch zögernd, um, sah auf den kleinen Mann, der sich für seine Frage zu entschuldigen schien, der sich für alles zu entschuldigen schien, und antwortete nicht, weil er nicht mehr zu antworten brauchte; denn beide, die Frau des Malers und sein ältester Freund, gaben ihm durch ihr Schweigen zu erkennen, daß sie ihn verstanden hatten und auch schon wußten, welch eine Entscheidung es war, die er zu überbringen hatte.
Natürlich hätte Ditte ihn jetzt nach dem genauen Inhalt seines Auftrags fragen können, und mein Vater, denke ich, hätte bereitwillig, auch erleichtert geantwortet, doch sie forderten ihn nicht auf, mehr zu sagen, standen eine Weile nebeneinander, und dann sagte Busbeck für sich: Jetzt auch Max. Mich wundert nur, daß es nicht schon früher passierte, wie bei den andern. Während sie sich in gemeinsamem Entschluß dem Sofa zuwandten, sagte die Frau des Malers: Max arbeitet, er steht am Graben hinterm Garten.
Das war schon abgewandt gesprochen und enthielt für meinen Vater gleichermaßen Hinweis wie Verabschiedung, worauf ihm nichts anderes mehr übrigblieb, als die Stube zu verlassen, nachdem er mit einem Achselzucken angedeutet hatte, wie sehr er seine Mission bedaure und wie wenig er selbst mit der ganzen Sache zu schaffen habe. Er schnappte sich seinen Umhang vom Ständer, stieß mich an, und wir beide gingen hinaus.
Langsam bewegte er sich an der kahlen Front des Hauses entlang, eher bekümmert als selbstsicher, stieß die Gartenpforte auf, stand jetzt im Schutz der Hecken und setzte seine Lippen in Tätigkeit, ließ sie Worte und ganze Sätze vorsorglich probieren, wie so oft, wie immer, wenn ihm eine Begegnung mehr als das Übliche an Sprache abzuverlangen drohte, ging dann zwischen den gelockerten und aufgeräumten Beeten, an dem strohgedeckten Gartenhaus vorbei zum Graben, der Bleekenwarf umschloß, einem schilfgesäumten ruhenden Gewässer, das die Einsamkeit des Anwesens erhöhte.
Da stand der Maler Max Ludwig Nansen.
Er stand auf der geländerlosen Holzbrücke und arbeitete im Windschutz, und weil ich weiß, wie er arbeitete, möchte ich ihn nicht ohne Vorbereitung unterbrechen, indem ich meinen Vater dazu bringe, ihm auf die Schulter zu tippen, ich möchte die Begegnung verzögern, weil es kein beliebiges Zusammentreffen ist und ich zumindest erwähnen will, daß der Maler acht Jahre älter war als mein Vater, kleiner von Wuchs, wendiger, unbeherrschter, vielleicht auch listiger und starrsinniger, obwohl sie beide ihre Jugend in Glüserup verbracht hatten. Glüserup: Herrje.
Er trug einen Hut, einen Filzhut, den er tief in die Stirn zog, so daß die grauen Augen im geringen, aber unmittelbaren Schatten der Krempe lagen. Sein Mantel war alt, am Rücken durchgescheuert, es war der blaue Mantel mit den unerschöpflichen Taschen, in denen er, wie er uns einmal drohend sagte, sogar Kinder verschwinden lassen konnte, wenn sie ihn bei der Arbeit störten. Diesen graublauen Mantel trug er zu jeder Jahreszeit, draußen und drinnen, bei Sonne und bei Regen, womöglich schlief er auch in ihm; jedenfalls gehörte der eine zum andern. Manchmal allerdings, an gewissen Sommerabenden, wenn sich über dem Watt die schwerfälligen Konvois der Wolken versammelten, konnte man auch den Eindruck haben, daß es lediglich der Mantel und nicht der Maler war, der da den Deich entlangwanderte und den Horizont inspizierte.
Was der Mantel nicht verbarg, das war nur ein Stück der zerknitterten Hose, und das waren die Schuhe, altmodische, aber sehr teure Schuhe, die bis zu den Knöcheln reichten und einen schmalen, schwarzen Wildledereinsatz hatten.
Wir waren es gewohnt, ihn so zu treffen, und so fand ihn auch mein Vater vor, der hinter der Hecke stand und, wie ich glaube, zufrieden gewesen wäre, wenn er nicht dort hätte stehen müssen, zumindest aber ohne den Auftrag, ohne das Papier in seiner Brusttasche und nicht zuletzt ohne Erinnerungen. Mein Vater beobachtete den Maler. Er beobachtete ihn nicht gespannt, nicht mit berufsmäßiger Aufmerksamkeit.
Der Maler arbeitete. Er hatte etwas mit der Mühle vor, mit der zerfallenden Mühle, die unbeweglich und flügellos im April stand. Leicht über ihren Drehkranz erhoben, stand sie wie eine plumpe Blume auf einem sehr kurzen Stengel, ein düsteres Gewächs, das seiner letzten Tage harrte. Max Ludwig Nansen machte etwas aus ihr, indem er sie entführte, in einen anderen Tag, eine andere Beziehung, in eine andere Dämmerung entführte, die da auf seinem Blatt herrschte. Und wie immer, während er arbeitete, redete der Maler; er sprach nicht mit sich selbst, er wandte sich an einen Balthasar, der neben ihm stand, an seinen Balthasar, den nur er sah und hörte und mit dem er schwatzte und zankte, dem er manchmal sogar eins mit dem Ellenbogen versetzte, so daß wir, obwohl wir keinen Balthasar sehen konnten, den unsichtbaren Gutachter auf einmal stöhnen hörten, und wenn nicht gleich stöhnen, so doch fluchen. Je länger wir hinter ihm standen, desto mehr begannen wir an Balthasar zu glauben, wir mußten ihn anerkennen, weil er sich mit seinen scharfen Atemzügen und seiner zischenden Enttäuschung bemerkbar machte, und weil der Maler nicht aufhören wollte, ihn anzusprechen und ihn in ein Vertrauen zu ziehen, das er sogleich bedauerte. Auch jetzt, während mein Vater ihn beobachtete, stritt sich der Maler mit Balthasar, der auf den Bildern, in denen er gefangengesetzt war, einen violetten gesträubten Fuchspelz trug und schrägäugig war und einen Bart aus brodelndem Orange hatte, aus dem es glühend heraustropfte. Trotzdem blickte sich der Maler selten nach ihm um, er stand ziemlich fest bei der Arbeit, die Beine leicht gespreizt, beweglich in den Hüften, und zwar ebenso zur Seite wie nach vorn und hinten beweglich, und während der Kopf sich schräg legte, aus den Schultern hob, pendelte oder sich senkte wie zu einem Rammstoß, schien der rechte Arm von einer erstaunlichen Starre befallen: zäh wirkten seine Bewegungen, angestrengt, als ob da ein unberechenbarer, heikler Widerstand wirksam sei; doch obwohl der entscheidende Arm diese seltsame Versteifung zeigte, arbeitete sonst der ganze Körper des Malers mit.
Mit dem Verhalten seines Körpers bestätigte und beglaubigte er einfach das, was er gerade machte, und wenn er sich, etwa bei Windstille, den Wind vornahm, ihn zwischen Blau und Grün entstehen ließ, dann hörte man phantastische Flottillen in der Luft und das Schlagen von Segeln, und der Saum seines Mantels begann sogar zu flattern, und aus seiner Pfeife, falls er eine im Mund hatte, wurde der Rauch flach weggerissen – zumindest kommt es mir heute so vor, wenn ich daran denke.
Mein Vater sah ihm also bei der Arbeit zu, zögernd, bedrückt, er stand so lange da, bis er wohl die Blicke spürte, die uns aus dem Haus trafen, aus der Stube, die wir gerade verlassen hatten, da gingen wir langsam an der Hecke entlang, immer noch verfolgt von den Blicken, zwängten uns seitlich in einen Durchschlupf und standen gleich darauf am äußersten Rand der geländerlosen Holzbrücke.
Mein Vater sah in den Graben hinab und erkannte zwischen treibenden Schilfblättern und schwappender Entengrütze sich selbst, und dort gewahrte ihn auch der Maler, als er einen Schritt zur Seite machte und dabei in das stehende, nur von schwachen Schauern geriffelte Wasser hinabsah. Sie bemerkten und erkannten sich im dunklen Spiegel des Grabens, und wer weiß: vielleicht rief dies Erkennen eine blitzschnelle Erinnerung wach, die sie beide verband und die nicht aufhören würde, sie zu verbinden, eine Erinnerung, die sie in den kleinen schäbigen Hafen von Glüserup verschlug, wo sie im Schutz der Steinmole angelten oder auf dem Fluttor herumturnten oder sich auf dem gebleichten Deck eines Krabbenkutters sonnten. Aber nicht dies wird es wohl gewesen sein, woran sie beide unwillkürlich dachten, als sie einander im Spiegel des Grabens erkannten, vielmehr wird in ihrer Erinnerung nur der trübe Hafen gewesen sein, der Samstag, an dem mein Vater, als er neun war oder zehn, von dem glitschigen Tor stürzte, mit dem die Flut reguliert wurde, und der Maler wird noch einmal nach ihm getaucht und getaucht haben, so wie damals, bis er ihn endlich am Hemd erwischte, ihn hochzerrte und ihm einen Finger brechen mußte, um sich aus der Klammerung zu befreien.
Sie traten aufeinander zu, oben und unten, im Graben und auf der Brücke, gaben sich im Wasser und vor der Staffelei die Hand, begrüßten sich wie immer, indem sie, leicht zur Frage angehoben, den Vornamen des andern nannten: Jens? Max? Dann, während Max Ludwig Nansen sich schon wieder seiner Arbeit zuwandte, langte mein Vater in die Brusttasche, zog das Papier hervor, glättete es in der Schere zweier Finger und zauderte und überlegte im Rücken des Malers, mit welchen Worten er es überreichen sollte. Wahrscheinlich dachte er daran, das gestempelte und unterschriebene Verbot wortlos zu überreichen, allenfalls mit der Bemerkung: Da is was für dich aus Berlin, und gewiß hoffte er darauf, daß ihm unnötige Fragen erspart blieben, wenn er den Maler zunächst einmal selbst lesen ließ. Am liebsten hätte er die ganze Angelegenheit natürlich Okko Brodersen überlassen, dem einarmigen Postboten, aber da dies Verbot polizeilich übergeben werden mußte, war mein Vater, der Posten Rugbüll, dafür zuständig – wie er auch, und das würde er dem Maler noch beibringen müssen, dazu ausersehen war, die Einhaltung des Verbots zu überwachen.
Er hielt also den offenen Brief in der Hand und zauderte. Er blickte zur Mühle, auf das Bild, wieder zur Mühle und wieder zum Bild. Unwillkürlich trat er näher heran, blickte jetzt vom Bild zur Mühle, wieder zum Bild und wieder zur flügellosen Mühle, konnte nicht wiederfinden, was er suchte, und fragte: Was soll’n das abgeben, Max? Der Maler trat zur Seite, deutete auf den Großen Freund der Mühle, sagte: Der Große Freund der Mühle, und machte dem erdgrünen Hügel weiter klumpige Schatten. Da wird auch mein Vater den Großen Freund der Mühle bemerkt haben, der sich still und braun aus dem Horizont erhob, ein milder Greis, bärtig, vielleicht wundertätig, ein Wesen von freundlicher Gedankenlosigkeit, das sich ins Riesenhafte auswuchs. Seine braunen, rot unterfeuerten Finger waren gespannt, gleich würde er sacht gegen einen Flügel der Mühle schnippen, den er offenbar selbst gerade angesetzt hatte, er würde die Flügel der Mühle, die tief unter ihm in sterbendem Grau lag, in Bewegung bringen, schneller, immer schneller, bis sie die Dunkelheit zerschnitten, bis sie, von mir aus gesehen, einen klaren Tag herausmahlten und ein besseres Licht. Es würde den Flügeln der Mühle gelingen, das stand fest, denn die Züge des Greises nahmen bereits eine einfältige Genugtuung vorweg, auch ließen sie erkennen, daß der Alte auf schläfrige Weise erfolgsgewohnt war. Der Mühlenteich meldete zwar violetten Zweifel an, doch dieser Zweifel würde nicht recht behalten; der Große Freund der Mühle entkräftete ihn durch seine entschlossene Zuneigung.
Das is vorbei, sagte mein Vater, die wird sich nich mehr drehn, und der Maler: Morgen geht’s los, Jens, wart nur ab; morgen werden wir Mohn mahlen, daß es qualmt. Er unterbrach seine Arbeit, setzte die Pfeife in Brand, betrachtete mit pendelndem Kopf das Bild. Ohne hinzusehen, reichte er meinem Vater den Tabakbeutel, versicherte sich erst gar nicht, ob mein Vater sich eine Pfeife stopfte, sondern steckte den Beutel sogleich wieder in die unerschöpfliche Manteltasche und sagte: Da fehlt noch ein bißchen Wut, nicht, Jens? Dunkelgrün fehlt noch – Wut; dann kann die Mühle losklappern.
Mein Vater hielt den Brief in der Hand, dicht am Körper hielt er ihn, in instinktiver Verborgenheit, aus der er ihn hervorziehen würde, wenn der Augenblick günstig wäre, denn er selbst traute es sich nicht zu, den Augenblick zu bestimmen. Er sagte: Die kriegt kein Wind mehr in Gang, auch keine Wut, Max, und der Maler: Die wird noch nach uns klappern, wart nur ab, morgen werden die Flügel um sich schlagen.
Vielleicht hätte mein Vater noch länger gezögert, wenn der letzte Satz nicht so zur Behauptung geraten wäre, jedenfalls streckte er auf einmal den Arm aus, und während er ihm den Brief hinhielt, drückte er sich so aus: Da, Max, da is was aus Berlin. Du hast es gleich zu lesen. Achtlos nahm der Maler den Brief aus seiner Hand und ließ ihn in der Manteltasche verschwinden, dann drehte er sich zu meinem Vater um, berührte ihn an der Schulter, stieß ihn noch einmal, und zwar kräftiger, in die Seite und sagte mit zusammengekniffenen Augen: Los, Jens, wir haun ab, solange Balthasar in der Mühle ist. Ich hab einen Genever, bei dem wächst dir an jeder Hand ein sechster Finger. Genever, mein Gott, nicht aus Holland, sondern aus der Schweiz, von einem Schweizer Museumsmenschen. Komm ins Atelier.
Doch mein Vater wollte nicht kommen, er zielte mit seinem Zeigefinger kurz in Richtung Manteltasche, sagte: Der Brief da, und nach einer Pause: Den Brief da hast du gleich zu lesen, Max, is aus Berlin; und weil ihm die mündliche Anweisung nicht auszureichen schien, trat er einen Schritt auf den Maler zu, wodurch sich dem die Brücke verengte und der Weg zum Haus. Also holte der Maler achselzuckend den Brief hervor, las den Absender – so, als wollte er dem Polizeiposten einen Gefallen tun –, nickte mit ruhiger Geringschätzung und sagte: Diese Idioten, diese; dann sah er schnell zu meinem Vater, und der Blick, der ihn traf, erstaunte ihn. Er zog den Brief aus dem Umschlag. Er las ihn stehend auf der Holzbrücke, und nachdem er ihn lange gelesen hatte – langsam, meine ich, und immer langsamer, stopfte er ihn zum zweiten Mal in die Tasche, verkrampfte sich, sah weg, sah über das flache Land unter dem Wind zur Mühle hinüber, schien sich durch einen Blick Rat zu holen: bei dem Labyrinth der Gräben und Kanäle, bei den zerzausten Knicks, bei dem Deich und den selbstbewußten Anwesen – ach was, er sah weg, um nicht meinen Vater ansehen zu müssen.
Ich habe mir das nicht ausgedacht, sagte mein Vater, und der Maler: Ich weiß. – Auch ändern kann ich nichts, sagte mein Vater. Ja, ich weiß, sagte der Maler und, seine Pfeife am Absatz ausklopfend: Ich hab auch alles verstanden, bis auf die Unterschrift: die Unterschrift ist unleserlich. – Die haben viel zu unterschreiben, sagte mein Vater, und der Maler erbittert: Sie glauben es ja nicht, sie glauben es selbst nicht, diese Narren: Malverbot, Berufsverbot, vielleicht noch Eß- und Trinkverbot: so etwas kann einer doch nicht mit leserlichem Namen unterschreiben. Er betrachtete mit geneigtem Kopf, sich vergewissernd, den Großen Freund der Mühle, der es braun und begabt fast geschafft hatte, der die Flügel, wenn nicht heute, so doch morgen in ratternde Bewegung bringen würde, und in diese Betrachtung hinein sagte mein Vater in der Weise, wie er Sprache gebrauchte: Das Verbot hat mit Kenntnisnahme in Kraft gesetzt zu werden, steht das nicht so geschrieben, Max? – Ja, sagte der Maler verwundert, so steht es geschrieben, und mein Vater leise, aber gut genug zu verstehen: Das mein ich doch, ab sofort. Da packte der Maler sein Arbeitszeug zusammen, allein, ohne Hilfe des Polizeipostens Rugbüll, er erwartete wohl auch keine Hilfe.
Sie schlüpften hintereinander durch die Hecke, gingen mit steifen Schritten durch den Garten.
Sie gingen zum Atelier, das an das Wohnhaus angebaut worden war, so, wie der Maler es sich gewünscht hatte, ein Atelier mit Oberlicht, ebenerdig, mit fünfundfünfzig Nischen und Winkeln, die durch alte Schränke und vollgestopfte Regale gebildet wurden und durch zahlreiche harte, provisorische Lagerstätten, auf denen, wie ich manchmal glaubte, all die drolligen oder auch drohenden Geschöpfe des Malers schliefen, die gelben Propheten und Geldwechsler und Apostel, die Kobolde und die grünen, verschlagenen Marktleute. Da schliefen wohl auch die Slowenen und Strandtänzer, und natürlich auch die krummgewehten Feldarbeiter; ich hab die Lagerstätten im Atelier nie gezählt. Auch die Zahl der Bänke und der mit Leinwand bespannten Feldstühle ließ vermuten, daß hier mitunter das ganze phosphoreszierende Volk herumsaß, das er aus seiner Phantasie entlassen hatte, einschließlich der trägen, blonden Sünderinnen. Kisten stellten die Tische vor, Marmeladengläser und gravitätische Krüge die Vasen; es waren so viele Vasen, daß man schon einen Garten verwüsten mußte, um sie zu füllen, und sie waren gefüllt, immer, wenn ich im Atelier war, stand auf jedem Tisch ein Strauß, das flammte nur so und warb für sich.
In einer Ecke beim Ausguß, gegenüber der Tür, stand ein langer Tisch auf Böcken, die keramische Werkstatt, und darüber, auf einem Bord, trockneten Figuren und spitze Köpfe.
Sie kamen also herein, legten das Arbeitszeug ab, und der Maler ging, um aus der Holzkiste den Genever zu holen. Mein Vater setzte sich, stand auf, band den Umhang ab und setzte sich wieder. Er sah zu den schmalen Fenstern des Wohnhauses hinüber. Die Fenster waren leicht nach außen gewölbt und behielten alles für sich. In einer Kiste raschelte Holzwolle, Seidenpapier wurde zerrissen, dann schorrte etwas über den Atelierboden. Der Maler zog eine Flasche heraus, hielt sie hoch gegen das Licht, wischte sie am Mantel ab, hielt sie abermals gegen das Licht und war zufrieden. Er setzte die Flasche ab, angelte geschickt zwei Gläser von einem Bord, dicke, grüne, langstielige Gläser, die er ungeschickt, jedenfalls unsicherer als sonst, füllte, schob eins der Gläser meinem Vater hin und forderte ihn auf zu trinken.
Nicht wahr, Jens, sagte der Maler, nachdem sie getrunken hatten, und mein Vater, bestätigend: Weiß Gott, Max, weiß Gott. Der Maler füllte die Gläser noch einmal und stellte die Flasche hoch auf ein Bord, wo er sie nur mit Mühe wieder erreichen konnte, und dann saßen sie sich schweigend gegenüber, aufmerksam, aber nicht lauernd. Sie hörten, wie der Wind mit Getöse über das Haus ging und nebenan den Kamin untersuchte bis auf den Grund. Draußen auf dem Hof warf er eine Bande von Spatzen in die Luft und mischte sie mit einem Zug von Staren. Die Dachreiter und die Wetterfahne beruhigten sie nicht. Ein unbestimmter Brandgeruch war in der Luft, sie kannten den Geruch, hatten eine Erklärung für ihn: die Holländer brennen Torf, sagten sie beruhigt. Der Maler zeigte stumm auf das Glas, sie tranken, und danach stand mein Vater auf, durchflutet von der Wärme des Genevers, ging hin und her, ging so vom Tisch bis zu einem Eckregal, hob dort den Blick und ließ ihn auf dem Bild »Pierrot prüft eine Maske« ruhen, streifte auch den »Abend der Fohlen« und die »Zitronenfrau« und drehte wieder um und kam zum Tisch zurück – bis er endlich wußte, was er sagen wollte. Mit einer unbestimmten, aber doch umfassenden Bewegung gegen die Bilder sagte er: Und Berlin will das verbieten. Der Maler zuckte die Achseln. Es gibt andere Städte, sagte er, es gibt Kopenhagen und Zürich, es gibt London und New York, und es gibt Paris. – Berlin bleibt Berlin, sagte mein Vater, und dann: Warum, glaubst du, Max? Warum verlangen sie es von dir? Warum sollst du aufhören zu malen? Der Maler zögerte. Vielleicht rede ich zuviel, sagte er. Reden? fragte mein Vater. Die Farbe, sagte der Maler, sie hat immer was zu erzählen: mitunter stellt sie sogar Behauptungen auf. Wer kennt schon die Farbe. – Im Brief steht noch was anderes, sagte mein Vater: da steht was von Gift. – Ich weiß, sagte der Maler mit säuerlichem Lächeln und, nach einer Pause: Gift mögen sie nicht. Aber ein bißchen Gift ist nötig – zur Klarheit. Er bog einen Blumenstengel zu sich herunter, ich glaube, es war eine Tulpe, schnippte mit den Fingern gegen die Blütenblätter wie der Große Freund der Mühle gegen die Flügel, schnippte oder schoß beinahe mit zielsicherem Zeigefinger die Blume nackt und ließ den Stengel wieder hochschnellen. Dann blickte er zur Flasche hinauf, holte sie jedoch nicht vom Bord. Mein Vater sah wohl ein, daß er Max Ludwig Nansen noch etwas schuldete, darum sagte er: Ich hab mir das alles nicht ausgedacht, Max, das kannst du mir glauben. Mit dem Berufsverbot habe ich nix zu tun, ich hab das alles nur zu überbringen.
Ich weiß, sagte der Maler, und dann: Diese Wahnsinnigen, als ob sie nicht wüßten, daß das unmöglich ist: Malverbot. Sie können vielleicht viel tun mit ihren Mitteln, sie können allerhand verhindern, mag sein, aber nicht dies: daß einer aufhört zu malen. Das haben schon andere versucht, lange vor ihnen. Sie brauchen doch nur nachzulesen: gegen unerwünschte Bilder hat es noch nie einen Schutz gegeben, nicht durch Verbannen, auch nicht durch Blendung, und wenn sie die Hände abhacken ließen, hat man eben mit dem Mund gemalt. Diese Narren, als ob sie nicht wüßten, daß es auch unsichtbare Bilder gibt.
Mein Vater umrundete knapp den Tisch, an dem der Maler saß, umkreiste ihn, fragte jedoch nicht weiter, sondern beschränkte sich darauf, festzustellen: Aber das Verbot ist beschlossen und ausgesprochen, Max, das isses. – Ja, sagte der Maler, in Berlin, und er sah meinen Vater gespannt an, offen, wißbegierig, er ließ ihn nicht mehr mit seinen Blicken los, als wollte er ihn zu sagen zwingen, was er, der Maler, längst wußte, und ihm wird nicht entgangen sein, daß es meinem Vater schließlich nicht leichtfiel, zu erklären: Mich, Max – sie haben mich beauftragt, das Malverbot zu überwachen: daß du auch das nur weißt.
Dich? fragte der Maler, und mein Vater: Mich, ja, ich bin am nächsten dran.
Sie sahen einander an, der eine sitzend, der andere stehend, maßen sich schweigend einen Augenblick, forschten wahrscheinlich nach den Kenntnissen, die sie übereinander besaßen, und stellten sich vor, wie sie miteinander verkehren würden in näherer Zukunft und so weiter, zumindest aber fragten sie sich, mit wem sie von nun an zu rechnen hätten, wenn sie sich hier oder dort begegneten. So, wie sie sich forschend musterten, wiederholten sie, meine ich, ein Bild des Malers, das einfach nur »Zwei am Zaun« hieß und auf dem zwei alte Männer, aufblickend in olivgrünem Licht, einander entdeckten, zwei, die sich lange gekannt haben mögen von Garten zu Garten, doch erst in diesem bestimmten Augenblick in erstaunter Abwehr wahrnahmen. Jedenfalls stelle ich mir vor, daß der Maler gern etwas anderes gefragt hätte, als er schließlich fragte: Und wie, Jens? Wie wirst du das Verbot überwachen? Mein Vater überhörte da schon die Vertraulichkeit, die in dieser Frage lag; er sagte: Sollst nur abwarten, Max.
Da stand auch der Maler auf, legte den Kopf ein wenig schräg und musterte meinen Vater gerade so, als ließe sich schon erkennen, wessen er fähig sei; und als mein Vater es für angebracht hielt, seinen Umhang zu nehmen und ihn zwischen den gespreizten Beinen mit einer Klammer zusammenzustecken, sagte der Maler: Wir aus Glüserup, was?, und mein Vater darauf, ohne den Kopf zu heben: Wir können auch nicht aus unserer Haut, wir aus Glüserup. – Dann behalt mich mal im Auge, sagte der Maler. Das soll sich wohl machen lassen, sagte mein Vater und streckte seine Hand aus, reichte sie Max Ludwig Nansen, der in sie einschlug und den Händedruck dauern ließ, während sie beide zur Tür gingen. Vor der Tür, die in den Garten führte, lösten sich ihre Hände. Mein Vater stand sehr dicht an der Tür, fast bedrängt von dem Maler, er konnte den Drücker nicht sehen, er vermutete ihn neben seiner Hüfte, und er griff mehrmals vorbei, bevor er ihn endlich ertastet hatte und ihn sogleich niederdrückte in dem Wunsch, sich aus der Reichweite des Malers herauszudrehen.
Der Wind riß ihn aus dem Türrahmen. Mein Vater hob unwillkürlich die Arme, breitete sie aus, doch bevor der Nordwest ihn anhob, legte er eine Schulter gegen den Wind und ging zu seinem Fahrrad.
Der Maler schloß die Tür gegen den Widerstand des Windes. Er trat an ein Fenster zum Hof. Wahrscheinlich wollte oder mußte er sogar schon sehen, wie mein Vater mit mir davonfuhr unter dem Wind. Mag sein, daß es ihn zum ersten Mal auch nach der Gewißheit verlangte, zu erfahren, ob mein Vater wirklich Bleekenwarf verließ, deshalb beobachtete er unsern mühseligen Aufbruch.
Ich schätze, daß auch Ditte und Doktor Busbeck uns nachblickten, bis wir am automatischen rot-weißen Leuchtfeuer waren, da wird Ditte gefragt haben: Ist es passiert?, und der Maler, ohne sich umzuwenden: Es ist passiert, und Jens soll das Verbot überwachen. – Jens? wird Ditte gefragt haben, und der Maler: Jens Ole Jepsen aus Glüserup: Er ist am nächsten dran.