Читать книгу Stadtgespräch - Siegfried Lenz - Страница 4

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Was dachte der Kommandant? Was sagte er, als der General mit dem verdrossenen Schildkrötengesicht, der an nichts mehr glaubte als an seine eigenen Enttäuschungen, schließlich vor der Kommandantur aus dem Kettenfahrzeug stieg, blicklos an den salutierenden Posten vorbeiging, um ihn endlich zu begrüßen? Wie verlief die Begrüßung? Erhielt der Kommandant eine Zurechtweisung wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen, und trug er, Freiherr von der Laube, dem General vor, für welche Maßnahme er sich angesichts des Überfalls bereits entschieden hatte? Legte vielleicht der General dem Kommandanten die Maßnahme nahe, und sagte der Kommandant darauf: ›Danke gehorsamst, morgen, in aller Frühe‹?

Jedenfalls wurde die Maßnahme während ihrer Begegnung geplant, beschlossen, die Maßnahme gewann an Bestimmtheit, wurde gesichert, weitergegeben über die Kette der Adjutanten, Wachhabenden, Ausführenden, lag schon über der Stadt und war anwesend in ihr wie der Tod in der Patrone, während die Stadt selbst weder etwas ahnte noch etwas wußte. Alles war vorbereitet, und in der Stille und weichenden Trübnis des Morgens kamen sie.

Das Geräusch von Lastwagenmotoren und Motorrädern kündigte sie an, ein, wie es schien, gedrosseltes Geräusch, das sich langsam näherte und dann gleichbleibend, ohne anzuschwellen oder sich zu verlieren, die Stadt erfüllte, und jeder, der davon erwachte und den Kopf hob, wußte sogleich, daß es keine durchfahrende Kolonne war, keiner ihrer Konvois, die nachts oder morgens die Stadt durchquerten. Jeder, der davon erwachte, begnügte sich auch nicht damit, dazuliegen und zu lauschen, sondern tappte an ein Fenster, an eine Tür oder Luke, achtete auf seine Stellung, vergewisserte sich, bevor er die Gardine erfahren zur Seite zog, sich vorbeugte oder hinaufreckte … Sie waren nicht einmal sehr zahlreich, auf ihren Gesichtern lag keine Spannung und keine Genugtuung, es waren harte, beherrschte Gesichter, die in dem dunklen Viereck der hochgeschlagenen Verdeckplanen erschienen; ich sah sie kommen. Ich sah sie auf den Ladeflächen ihrer Lastwagen sitzen, steif, achtlos, mit ihrer unbarmherzigen Korrektheit; ich stand auf dem schäbigen, durchgesessenen Ledersofa der Holmsens, hielt mich am Rand der Bodenluke fest und beobachtete ihre Anfahrt. Auf kürzeste Entfernung, die Knie berührten sich wohl, saßen sie sich auf den Ladeflächen der Lastwagen gegenüber, die Gesichter einander zugewandt, den Blick des andern reglos ertragend oder, was wahrscheinlicher war, gar nicht mehr wahrnehmend …

Du hast sie nicht kommen sehen, Daniel, ihr wart fort, als sie in die Stadt einzogen – nicht nur, um uns eine Antwort auf unsere glücklose Aktion zu erteilen, sondern um auch gleich dafür zu sorgen, daß sie in Zukunft von allen ähnlichen Aktionen verschont blieben. Du konntest nicht sehen, wie sie die Falle entstehen ließen, in die wir alle gerieten; denn in deiner Geschichte müßte jetzt – wenn Zeit für dich das ist, was sie für mich ist – das letzte Stück eures keuchenden Aufstiegs beginnen: Christoph müßte als Träger abgelöst werden durch die andern, die euch vom Lager aus entdeckt hatten und entgegengekommen waren; ihr müßtet die Kühle der Schneefelder spüren können, und du würdest wohl erwähnen müssen, was im Lager geschah nach eurer Ankunft.

Aber es genügt, wenn jeder von sich erzählt, mehr ist nicht zu erreichen; auch wenn wir abweichen voneinander, sind wir gleichzeitig betroffen: du im Lager, ich in der Stadt hinter der Bodenluke. Vielleicht kommt es zunächst auch gar nicht darauf an, wer unsere Geschichte erzählt, sondern daß sie überhaupt erzählt, und das heißt wiederholt wird …

Die Anfahrt der Lastwagen und Motorräder in der Frühe wird doch immer wiederholbar bleiben in der Vorstellung, der Augenblick, als sie um das Denkmal auf den Rathausplatz bogen, durch das Netzwerk unserer Straßen fuhren, auf einmal langsam wurden, auf einmal mit laufenden Motoren hielten.

Sie hielten vor dem Haus von Richter Heyerdal, die ganze Kolonne – zwei Motorräder vorn, drei Lastwagen, zwei Motorräder am Ende –, und ich sah einen Offizier mit Augenklappe und zwei Soldaten auf das Haus zugehen; der Offizier schlug mit dem ringförmigen, glänzenden Messingklopfer gegen die Tür, blickte auf die Uhr, salutierte, als die Tür geöffnet wurde, wobei sein Körper sich wippend vor und zurück legte, und betrat mit den beiden Soldaten das Haus. Sie blieben etwa so lange in dem Haus, wie ein Mann – kein beliebiger Mann, sondern Richter Heyerdal, der auf seine Kleidung Sorgfalt legte – braucht, um sich anzuziehen, dann erschienen sie wieder, geleiteten den schwarzgekleideten, hageren, weder redenden noch um sich blickenden Richter zu dem zweiten Lastwagen, klappten ein Trittbrett herab, halfen ihm beim Aufsteigen, klappten das Trittbrett wieder hoch und fuhren an, während die Haustür noch einmal geöffnet wurde und der Bruder des Richters, der ihm den Haushalt führte, auf die Veranda trat: ein Mann mit eisengrauem Haar und verstörtem Gesicht, der den Kopf in die Schultern einzog und der abfahrenden Kolonne starr nachblickte. Er stand da, sah weniger ängstlich aus als bekümmert, und in dieser Haltung von ratlosem Kummer lehnte er sich gegen einen Holzpfeiler, so als wisse er nichts anderes zu tun, als die Rückkehr seines Bruders zu erwarten.

Wahrscheinlich bemerkte er gar nicht, daß die Kolonne schon wenige Häuser weiter abermals hielt, daß der Offizier und die beiden Soldaten ausstiegen und durch den abfallenden, mit Muscheln eingefaßten Vorgarten auf das Haus von Niels Nielsen zugingen; ich konnte es erkennen. Ich konnte jetzt außerdem erkennen, daß der mittlere Lastwagen, der vom Begleitkommando eingeschlossen wurde, dazu ausersehen war, alle unsere Männer aufzunehmen, auf die man Wert legte, auf die man sich bereits geeinigt hatte. Arne Baard von der Sparkasse war dabei, Kaplan Lassen, Axel Malberg, der Redakteur, und ich sah auch das gutmütige Gesicht von Olsen, von dem niemand etwas wußte, es sei denn, daß er ein Mann von Einfluß war, den man aufsuchte, wenn man es mit der Besatzung zu tun hatte …

Sie holten auch Niels Nielsen, den Polizisten; sie warteten vor dem rostrot getünchten Haus, bis er erschien, in Uniform, aber ohne Waffe; korrekt erwiderten sie seinen Gruß – einen Gruß, zu dem er verpflichtet war; denn die Macht, die er zu besitzen glaubte, kam von ihrer Macht –, nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn zum zweiten Lastwagen, vor dem Niels stehen blieb und verwundert zu seinem Haus zurücksah; er zögerte, er konnte nicht verstehen, warum sie ihn holten, vielleicht dachte er, es sei ein Versehen oder ein Irrtum, denn sie selbst, der Offizier und die beiden Soldaten von der Feldgendarmerie, hatten ihn als Polizisten geprüft und bestätigt, hatten ihm ihr Vertrauen geschenkt und sich sogar als seine Kameraden bezeichnet. Der kinnlose Polizist mit den müden, verwunderten Augen sah zu dem Holzbalkon seines Hauses hinauf, auf dem eine Frau erschien, eine schwere, blonde Frau in dünnem Kittel, die auf kräftigen Armen ein kräftiges, schlafendes Kind hielt und in einer Art müder Demut auf die Kolonne blickte.

Niels Nielsen winkte ihr, er winkte beschwichtigend: sei unbesorgt, es wird sich rasch alles aufklären, es ist bestimmt nur ein Irrtum, und sie nickte träge, sie glaubte ihm. Höflich wies der Offizier auf das Trittbrett, Niels stieg auf den Lastwagen und winkte ein letztes Mal zu der Frau und dem kräftigen Kind hinauf, dann setzte sich die Kolonne in Bewegung.

Niels begrüßte die andern auf der Ladefläche, sie tauschten nicht mehr als einen Handschlag, so als wüßten sie längst, wozu man sie ausersehen hatte; anscheinend gab es keinen Zweifel mehr für sie, keine Ungewißheit. Anscheinend glaubten sie aber auch alle, daß sie lediglich zeitweilige Opfer eines Mißgeschicks seien: niemand protestierte, weigerte sich, lehnte sich auf; alle schienen überzeugt, daß ihr Mißgeschick sich aufklären werde … Nur der alte Holmsen mißtraute ihnen, er sorgte für den einzigen Zwischenfall, der sich während der Geiselnahme ereignete, ich beobachtete es von der Luke aus. Die Kolonne hielt vor Holmsens Haus, ich wußte, warum sie hielt, ich brauchte mich nicht zu verbergen; die einzige Frage, die sich stellte, hieß: Clemens oder Rektor Holmsen, der Junge oder der Alte. Sie holten Clemens.

Sie kamen ins Haus, ihre Stimmen blieben unhörbar, ihre Schritte; sie sprachen und gingen leise, als bemühten sie sich, bei ihrer Aktion Rücksicht zu nehmen, nur die Stimme des alten Rektors war zu hören und die harten Stöße seiner Krücken. Dann führten sie Clemens hinaus, brachten ihn zum Lastwagen, doch bevor er aufstieg, durchdrang ein Ruf den Morgen, energisch und fordernd und so unerwartet, daß die Soldaten des Begleitkommandos sich argwöhnisch vorbeugten und die Motorradfahrer abstiegen. Es war Rektor Holmsen, der gerufen hatte, Daniels alter Lehrer. Mit kurzen, ruckhaften Körperschwüngen, unter den skandierenden Stößen der Krücken näherte er sich der Gruppe, in deren Mitte Clemens stand mit grauem Gesicht; alle wandten sich dem Alten zu, der in diesem Augenblick nicht nur ihr Erstaunen, sondern auch ihre Bewunderung hervorrief durch die heftigen, beherrschten Schwünge; doch während sie sich ihm zuwandten, bildeten ihre Körper stillschweigend und instinktiv eine Mauer, eine schirmende Wand vor Clemens, als ob sie Rektor Holmsen zu verstehen geben wollten, daß sie seinen Sohn nicht mehr preisgeben würden oder könnten.

Der Alte schwang sich heran, ein hochgewachsener Mann mit kahlem Schädel, mit asketischem Eulengesicht – alle, die einst seine Schüler gewesen waren, hatten ihn nur ›Eule‹ genannt –, und als er den Offizier mit der Augenklappe erreicht hatte, lehnte er eine Krücke an den Lastwagen, deutete mit der andern auf Clemens und begann zu sprechen.

Der Offizier hörte ihm schweigend zu, stellte keine Frage, schüttelte nicht einmal den Kopf, er schien nur seines teilnahmslosen Schweigens fähig zu sein, das Rektor Holmsen desto unsicherer machte, je länger es dauerte. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, doch aus seinen Gesten und aus seiner Haltung war zu erkennen, daß er dem Offizier einen Tausch vorschlug, einen Wechsel: er bot sich für seinen Sohn Clemens an, er wollte für ihn auf den Lastwagen steigen. Vielleicht dachte Holmsen dabei an Torsten und an Albert, die er beide an einem Tag verloren hatte, am ersten Tag des Krieges, und vielleicht machte er sein maßloses Angebot auch nur, weil er der Meinung war, daß es dem Offizier lediglich auf die Zahl der Geiseln ankam, nicht auf die angegebenen Namen und Vornamen. Unaufhörlich sprach er auf den Offizier ein, der ihn ohne Interesse, ohne Mitgefühl ansah; da begann die Krücke zu rutschen, die er an den Lastwagen gelehnt hatte, die Krücke neigte sich, fiel und rollte unter das Auto – nah genug, so daß er in Versuchung geriet, sie aufzuheben, und doch zu weit, als daß er sie mühelos erreicht hätte. Niemand half ihm. Sie verfolgten seinen Versuch, die Krücke zurückzugewinnen, und zwar weniger, weil sie seiner Hilflosigkeit keine Beachtung schenkten, sondern weil sie ihm wohl eine Gelegenheit geben wollten, die Dürftigkeit seines Angebots zu empfinden. Der alte Holmsen begriff. Er sah ein, daß alles, was er für seinen Clemens anbieten konnte, ein Krüppel war.

Ich hatte den Eindruck, daß er enttäuscht über sich selbst war, als ihm der Offizier schließlich die Krücke mit formellem Bedauern reichte, und er wartete auf keine Entscheidung mehr, grüßte nicht, drehte sich um, stieß die Krücken heftig auf das Pflaster und schwang sich zum Haus zurück: seine Scham lag in der Eile …

Holmsen war der einzige, der zwar nicht protestierte, aber doch etwas zu ändern versuchte an dem Morgen, als sie die Geiseln nahmen in der Stadt, der einzige von vierundvierzig; alle anderen nahmen es auf sich ohne Widerspruch, bereitwillig, gefügig, nicht einmal sehr überrascht: hatten sie nach unserer Aktion damit gerechnet?

In jedem Fall wußten sie, warum man sie holte, und auch mein Alter schien es zu wissen. Er war vorbereitet, er war möglicherweise sogar verständigt worden; durch die wehrlos lauschende Stadt liefen Signale, Warnungen, für die die Angst und die Bedrohung verborgene Systeme der Übermittlung erfunden hatten, man tauschte Zeichen im Dunkeln. Vor der Bedrohung wurde die Stadt zum Fuchsbau mit abseitigen Gängen und Röhren, in denen nur Eingeweihte sich zurechtfanden, in denen die Nähe der Gefahr lautlos mitgeteilt und weitersignalisiert wurde; ein Schaudern genügte als Nachricht, eine tastende Bewegung, ein scharfer Atemzug … Ja, er mußte gewarnt worden sein, mußte außerdem erfahren haben, daß sein Name auf der Liste stand; denn als die Kolonne vor unserm Haus hielt und der Offizier an die Tür klopfte, trat mein Alter in Mantel und Hut heraus.

Lächelnd beantwortete er den Gruß des Offiziers, mit dem gleichen freimütigen und beruhigenden Lächeln, mit dem er seine Patienten empfing. Er hielt sich nicht auf, ihm lag immer daran, gleich zur Sache zu kommen, und an dem erstaunten Offizier vorbei ging er zum Lastwagen. Der Offizier folgte ihm, er bemühte sich, meinem Alten etwas zu erklären, höflich, fast respektvoll zu erklären, woraus ich schloß, daß der Offizier die Verbindung kannte, die zwischen dem Kommandanten und meinem Alten bestand. Er klappte das Trittbrett selbst herunter und klappte es auch selbst wieder hoch, nachdem mein Alter auf die Ladefläche geklettert war …

Das alles, Daniel, ist gewesen und bekannt: unsere mißlungene Aktion am Hang über dem Fjord und die Folgen, die sie hatte, die Geiselnahme muß auch in deiner Geschichte erzählt, zumindest erwähnt werden, selbst wenn sie jedem in der Stadt bekannt ist, aber jeder wird erwarten und darauf eingestellt sein, in deiner Geschichte etwas Bekanntes zu finden. Wahrscheinlich müssen alle Geschichten etwas Bekanntes enthalten oder davon ausgehen, das erst gibt uns die Möglichkeit, uns an einem Urteil zu beteiligen, das von uns erwartet wird … So wirst auch du erzählen müssen, daß sie die vierundvierzig Geiseln an jenem Morgen zum Schuppen des Sägewerks führten, keineswegs drohend oder triumphierend, sondern ohne viel Aufhebens, und daß man ihnen – was beobachtet wurde – beim Absteigen behilflich war, ihnen das Tor zum flachen, breiten Schuppen öffnete, sie ohne Gewalt bat, hineinzugehen. Und nachdem sich das Tor hinter ihnen geschlossen hatte, die verstärkten Wachen aufgezogen waren, rührte und bewegte es sich auf einmal in der Stadt, die Stadt atmete aus, befragte und versicherte sich: der Milchwagen war plötzlich da, Gardinen wurden hastig aufgezogen, Fenster geöffnet, eine Gruppe von Holzflößern ging zur Brücke hinab, die Dampfstöße des Baggers, der die rostige Eimerkette auf den Grund senkte, hallten über die Stadt, und auch Kinder waren zu sehen, die auf den Asphalt der Straße mit Kreide einen waghalsigen Baum malten und in das Geäst des Baumes ein dreieckiges Gesicht, das jeden an irgend jemand erinnerte. Von Fenster zu Fenster wurden Zeichen gewechselt. Bei Rektor Holmsen läutete das Telefon. Eine junge Frau, die von einem Stück Brot abbiß, überquerte die Straße und betrat ein Haus durch den Hintereingang. Die Kinder schrieben einen Namen auf den Asphalt: Daniel. Oben im Lager bei den Schneefeldern hatten sie die erste Sonne …

Als der Frühbus auf dem Rathausplatz hielt, zog ich die Bodenklappe auf, horchte, ließ mich hinab und trat auf die Diele. Meine Kleider waren trocken, auf dem Körper getrocknet während der Nacht. Ich hörte die klagende Stimme einer Frau, wußte, daß es die Frau des Rektors war, doch ich konnte nicht erkennen, woher die Stimme kam. Vorsichtig öffnete ich die Tür, die zum Ufergarten führte, ich wollte ihnen den Abschied ersparen, ich wollte mich entfernen, wie ich gekommen war, und ich drückte die Tür leise hinter mir zu, ging geduckt unter den Fenstern vorbei zur Straße. Außer den Kindern war niemand in der Nähe, und die Kinder beachteten mich nicht, sie bearbeiteten wütend mit ihren Absätzen das gestrichelte Gesicht, das jeden an irgend jemand erinnerte. Ich ging die Straße hinauf zu unserm Haus, an der Vorderseite des Hauses vorbei, dann schnell zwischen den Bäumen zurück zur hinteren Veranda, da riefen mir die Kinder etwas zu, doch es war nicht zu verstehen. Niemand erwartete mich im Haus, das durfte ich annehmen; trotzdem sah ich durchs Fenster, warf einen prüfenden Blick ins Sprechzimmer, suchte festzustellen, was sich verändert hatte in den beiden Tagen, die ich fortgewesen war, dann erst ging ich ins Haus.

Auf dem Küchentisch standen die Reste eines Frühstücks, die hölzerne Brotschale, Marmelade, Tassen, deren Boden noch mit frischem, grobem Satz bedeckt war, es waren zwei Tassen, zwei Messer, zwei Teller, und ich blieb stehen und lauschte, wartete, fühlte die Nähe eines andern; der Wasserhahn tropfte, ein schabendes Geräusch kam aus dem Wohnzimmer: dort also saß er – oder war es schon seine Ablösung –, saß und erwartete meine Rückkehr mit dem Gewehr auf den Knien, mit der unfehlbaren Ausdauer, die ihn irgendwann zum Erfolg führen mußte. Ich bewegte mich rückwärts, streckte die Hand langsam nach dem Drücker aus, als ich das Seufzen hörte und gleich darauf den ängstlichen Anruf: »Wer ist da?«

Es war Tante Birte: sie saß im Wohnzimmer, schmal, leicht und blind, sie mußte in meiner Abwesenheit von der Küste gekommen sein, ihre Schultern ragten kaum über die Lehne des Korbsessels hinaus, ihre Füße baumelten über dem Boden und riefen das schabende Geräusch hervor.

»Bist du es?« fragte sie. »Bist du schon wiedergekommen, Erik?« Sie hob ihr leeres, knochiges Gesicht, wandte es der kleinen Treppe zu, auf der sie meinen Alten vermutete, ihre trüben, milchglastrüben Augen, die wie geronnen erschienen, blickten starr auf meine Füße, die knotigen Finger verschränkten und rieben sich aneinander, und ein Frösteln überlief den leichten, zähen Körper. »Siehst du, Erik, du hattest recht, es war ein Mißverständnis. Es hat nicht lange gedauert.« Ich bewegte mich nicht, ich war entschlossen, zu schweigen; ich wollte mich ihr nicht zu erkennen geben, denn ich wußte, daß es hoffnungslos war, Tante Birte meine Lage zu erklären. Sie würde weder etwas verstehen noch für sich behalten können; ihre Welt waren die kahlen, ungeschützten Inseln vor der Küste, das einzige Ereignis, worüber sich zu sprechen lohnte, die dreißigjährige Verschollenheit ihres Mannes, etwas anderes kannte sie nicht. »Bring mir noch Kaffee, Erik«, sagte sie. Ich brachte ihr lauwarmen Kaffee, trank selbst eine Tasse, sah schweigend auf sie hinunter, als sie mich fragte: »Wo sind die Kinder? Warum kommt Petra nicht, Erik? Wo ist Tobias?«

Ich antwortete nicht, nahm ihr die Tasse aus der Hand und ging in das Arbeitszimmer meines Alten, von ihren unaufhörlichen Bitten und Wünschen verfolgt, schloß die Tür hinter mir und fand mit einem Griff das Buch, das uns allen als Versteck für Nachrichten diente, eine in Glanzpappe gebundene Geschichte der Arzneikunde. Jahrelang hatten wir den zeitgebräunten Band als Versteck benutzt, in dem wir Mitteilungen für einander zurückließen; wir hatten uns daran gewöhnt, alles, was über die Abwesenheit des andern zu wissen notwendig war, in diesem Buch zu finden. Es war Petras Idee gewesen, sie hatte uns den Vorschlag an jenem Abend gemacht, als mein Alter zum ersten Mal zum Kommandanten gebeten wurde … Er selbst hatte diesem Vorschlag sogleich zugestimmt, womit er uns zu erkennen gab, daß er unsere Besorgnis teilte und vielleicht mehr als dies; denn er kannte den Kommandanten, kannte ihn länger und besser als irgend jemand in der Stadt, näher und verläßlicher sogar, als der Adjutant ihn kannte, und zwar noch aus einer Zeit, die weit vor dem Krieg lag – was jedoch nicht bedeutete, daß die Erlebnisse und Eindrücke und die Summe daraus verschwommen und wertlos geworden wären, unleserlich wie der Abdruck eines trockenen Stempels. Vielmehr schien mein Alter gerade das, was er einst im Haus von der Laubes erlebt hatte – vier, fünf Semester lang hatte er als ausländischer Student bei ihnen gewohnt –, mit besonderer Schärfe bewahrt und aufgehoben zu haben, so daß er seine Schlüsse nicht erst nach mühseliger, stockender Erinnerung zu ziehen brauchte, sondern sich entschied, als sei die Studentenzeit in dem kühlen, sauberen Haus unter den Weinbergen für ihn zu einer dauernden Gegenwart geworden. Wir zweifelten nicht, daß seine schnelle Zustimmung gerechtfertigt war, auch wenn er uns zunächst nichts oder nur wenig über die Abende auf der Kommandantur erzählte, wohin Freiherr von der Laube ihn so oft einlud zu Gespräch und Spiel, nachdem er unsere Adresse erfahren hatte …

Aber auch das ist bekannt, war schon Stadtgespräch, bevor unsere Geschichte begann: die Verbindung zwischen meinem Alten und dem Kommandanten, die abendlichen einsamen, jedoch nicht heimlichen Gänge zur Kommandantur, in der das Licht mitunter bis zum Morgen brannte; die Erwartungen und Hoffnungen, die man in ihn setzte, als ihn die Auszeichnung ereilte, Gast des Kommandanten zu sein; die viel beredete, unbegreifliche Erfolglosigkeit, mit der er Bitten und Gnadengesuche weitergab; die Vermutungen, die entstanden und die zu Verdächtigungen führten; mißtrauische Patienten, die von meinem Alten absprangen, nachdem er dem fremden Kommandanten bei einer Lungenentzündung geholfen hatte: niemand bei uns hat das vergessen. Vielleicht hat darum auch niemand erwartet, daß sein Name auf der Liste der Geiseln sein würde, und ich wäre auch überrascht gewesen, wenn ich nicht gesehen hätte, mit welch sorgsamem Eifer mein Alter damals ein Versteck ausmachte, in dem Petra, er und ich Nachrichten füreinander hinterlassen sollten …

Ich fand das Buch mit einem Griff, schlug es auf, sah den steilen, verblaßten Namen meines Alten – Erik Lund, stud. med. –, entdeckte den Zettel und die Nachricht, die ich zu finden erwartet und doch nicht erwartet hatte: ›Wir sind im Sägewerk. Daniel soll sich stellen. Ich habe recht behalten.‹

Ich suchte nach einer andern, ergänzenden Nachricht, entdeckte nichts, schloß das Buch wieder, dachte an den zweiten Satz und daran, daß Daniel und die andern im Lager die Forderung des Kommandanten erfahren mußten.

Die Schritte einer Streife näherten und entfernten sich auf der Straße. Ich stellte das Buch ins Regal, ging zurück ins Wohnzimmer, wo Tante Birte mit steifem Oberkörper und baumelnden Beinen saß, zerschnitten vom Lichtgitter der Fensterblenden, das knochige Gesicht erhoben, mit ihren rissigen Lippen unaufhörlich Wünsche bildend. Sie hörte die Bewegung der Tür und rief mich an, verlangte eine Decke für die Schultern, ein Kissen für die Füße, ich brachte ihr beides, zog mich um und verließ das Haus … Er hatte recht behalten, sein Argwohn hatte recht behalten: es hatte ihm nichts geholfen, daß er Gast des Kommandanten gewesen war durch mehr als drei Jahre – allerdings hatte mein Alter auch nie damit gerechnet –; sie hatten eine Liste der Geiseln aufgestellt, und da es ausgesuchte Geiseln waren, durfte er hier ebensowenig fehlen wie bei allen anderen Anlässen, zu denen sich ›die Stadt‹ traf; insofern war es auch ›die Stadt‹, die der Kommandant als Geisel genommen und in den flachen breiten Schuppen des Sägewerks gebracht hatte; die Stadt schien ihm gerade ausreichend, um seine Forderung durchzusetzen …

Daniel mußte es erfahren, ich mußte die Nachricht ins Lager bringen, und ich ging in die Stadt zum Rathausplatz und weiter zur Brücke. Die Kinder waren verschwunden. Die Sonne stand über dem Fjord; Motorradfahrer mit Staubbrillen fuhren vorbei, Lastwagen, auf denen junge Soldaten saßen; ihre Gesichter wandten sich mir zu, geringschätzig, überrascht, mich an diesem Morgen unterwegs zu sehen, und auch die Motorradfahrer sahen mich ungläubig an mit ihren drohenden Insektengesichtern. Sie kannten mich nicht, sie konnten mich nicht kennen, denn ich war der letzte, der zu Daniel gestoßen war, der einzige, der es noch hätte wagen können, die Stadt am hellichten Tag zu durchqueren.

Ich wurde unsicher unter ihren Blicken, sah mich um, sah an mir herab und betrachtete mein Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe: es verriet nichts, nichts zumindest, was ihre Verwunderung hervorrufen konnte, später jedoch bemerkte ich, warum sie mich verfolgten mit ihren Blicken: niemand war in der Stadt unterwegs außer mir. Die Straße war leer und stimmlos und gab nichts wieder als meinen Schritt, keine vertrauten Gesichter erschienen, keine Rufe hallten vom Wasser herüber, und jetzt hörte ich die erzwungene Stille über der Stadt, erkannte, daß sich abermals etwas geändert hatte mit den Gezeiten der Furcht: der Bagger in der Flußmündung hatte wieder aufgehört zu arbeiten; der Schulhof war leer; niemand saß auf dem Geländer unten am Anlegesteg; das Gericht und die Sparkasse waren geschlossen; im Steinbruch wurde nicht gesprengt.

Ich ging langsamer, überlegte, ob ich umkehren sollte, ich machte mich auf etwas gefaßt, von dem ich nicht wußte, was es sein könnte oder sein würde, da sah ich deinen Namen, Daniel: in schiefen, weggerutschten Buchstaben oben auf dem hölzernen Zaun des Schulhofes, quer über den grauen Asphalt der Straße, scharf eingerissen in den Putz einer Hauswand: DANIEL. Nachts mußten sie deinen Namen in die Stadt geschrieben haben, Kinder vielleicht oder ein einzelner Mann, der vom Fischfang zurückgekehrt war. Nein, es waren mehrere Schreiber gewesen, und dein Name enthielt nicht nur ein Zeichen; er stand nicht allein für Freundschaft, er war die Lebensformel der besetzten Stadt, von der Ermutigung ausging, Widerstand, Starrsinn. In diesem Namen verbanden sie sich, hoben sie ihre Hoffnung auf, dein Name erinnerte sie an die Geschehnisse, deren tatenlose Zeugen sie geworden waren, und ließ sie ertragen, was ihnen gegenwärtig geschah. In deinem Namen fanden sie ihre eigene Empörung wieder, ihre verhinderte List und Tapferkeit, denn das solltest du doch wissen, daß du deinen Namen längst an sie verloren hattest. DANIEL: das war jeder in der Stadt, der sich nicht abgefunden hatte, der sich auflehnte nach Möglichkeit oder doch seine Auflehnung träumte. Wußten sie schon, die in der Nacht deinen Namen in die Stadt geschrieben hatten, welche Forderung an dich und damit auch an sie gestellt wurde an diesem Morgen? Und wußten sie, daß dies der Augenblick war, der sie alle bestätigen oder widerlegen würde? Eine Linie lief durch die Stadt, eine Schattenlinie, eine Entscheidungslinie. Sie war bereits sichtbar und spürbar, sie galt dir und allen …

Deine Geschichte muß davon erzählen, du bist gezwungen, zu beschreiben, was du dachtest, als du deinen Namen zum ersten Mal – und später immer wieder – auf Zäunen und Hauswänden fandest und welche Schlüsse du zogst; das muß ich von dir erwarten, Daniel, und ich muß auch fordern, daß du den Augenblick erwähnst, in dem du zum ersten Mal mit einem Ereignis wie diesem zu rechnen begannst: Daniel soll sich stellen.

Du warst vorbereitet durch die Nachrichten, die wir von draußen empfingen: solch ein Verlangen hatte einer ihrer Kommandanten in Lyon gestellt, ein anderer in Warschau, wir erfuhren, daß sie es so in Prag und Kowno und Rom und Belgrad und Rotterdam gemacht hatten; wo man sich gegen ihre Macht erhob, da nahmen sie Geiseln und verlangten die Auslieferung der Männer, die sich empört hatten. Warst du vorbereitet auf diese Forderung?

Aber wir sollten nicht ungeduldig werden, da ist immer noch die Stadt an jenem Morgen, von Stille überspannt, und ich sehe heute noch überall den Namen, unter mir und neben mir und vor mir. Ich schlug den Weg zur Brücke ein, die von verdoppelten Posten bewacht wurde, entdeckte den Namen auch auf dem Wasserturm und auf den verlassenen Bänken der Anlagen. Bei Baard von der Sparkasse waren die Fenster zugezogen, elektrisches Licht schimmerte durch die Vorhänge. Vor der Brücke bog ich in die Anlagen ein, stand über dem Fluß, beobachtete, wie die Stämme in der Strömung trudelten, hart gegen die Ufer stießen, wieder vom Strom erfaßt und gegen das Sperrseil gedrückt wurden. Und ich beobachtete die auf und ab gehenden Posten, ihre mattglänzenden Stahlhelme, die sich beständig über dem Brückengeländer voneinander entfernten, aufeinander zu bewegten.

Ich weiß nicht, warum ich zögerte, die Posten kannten mich nicht, sie hätten mich durchlassen müssen, doch ich blieb dort an der Flußseite der Anlagen, bis ich den langsamen Zug entdeckte, den Begräbniszug, der mit entmutigtem Schritt, mit entmutigten Gesichtern die Straße zur Brücke heraufkam. Dem Zug voran fuhr das Begräbnisauto, es fuhr mit Holzgas, wie alle Autos, die uns geblieben waren; grüner, giftgrüner Qualm entströmte ihm, traf den Trauerzug, und umhüllte den riesigen, barhäuptigen Greis, der im Schreiten eine Hand auf den Sarg gelegt hielt. Nur sieben oder acht Männer und zwei Frauen folgten dem Sarg, und als sie auf meiner Höhe waren, schloß ich mich ihnen an; ich ging nicht einmal als letzter, schob mich wortlos zwischen zwei Männer, suchte ihren Schritt, und sie waren weder erstaunt noch befremdet, hoben kaum ihre Gesichter …

Sie mußten die Nachricht im Lager erhalten, Daniel vor allem mußte sie erhalten: ich hatte mich für einen sicheren Weg entschieden. Mit dem Trauerzug stieg ich zur Brücke hinauf, atmete den giftgrünen Qualm, beobachtete aus den Augenwinkeln die Posten, die sich mitten auf die Straße stellten und uns den Weg versperrten. Die Posten mißtrauten uns, sie bestanden darauf, den Sarg zu öffnen, und zwei Männer hoben ihn vom Auto herab und öffneten ihn. Jeder von uns wird sich daran erinnern, wie sie den glatten, unverzierten Deckel abhoben, zaudernd, umständlich, so als fürchteten sie selbst, etwas anderes in dem Sarg zu finden als ihren Toten, und sie zeigten sich seltsam erleichtert, als sie sahen, daß er es war und immer noch war: Ulf Clausen, der junge Schriftsetzer. Sie hatten ihn erschossen, weil er allein Flugblätter gedruckt und in die Hauseingänge geworfen hatte, Manifeste, in denen er mehr die Lauheit und Unterwerfung unserer Leute beklagt hatte als die Maßnahmen der Besatzung, und als sie die Gewehre auf ihn anlegten, rief er: »Lest es noch einmal!«

Die Posten überzeugten sich flüchtig, sie entdeckten nicht das Flugblatt, das unter Blumen auf Ulfs zerschmetterter Brust lag – ein knapper Wink, der Sarg wurde geschlossen, auf das Auto gehoben: wir durften die Brücke überqueren. Ich ging im Zug am Fjord entlang bis zu der Stelle, wo der Aufstieg zu unserem steinigen Friedhof beginnt; hier trennte ich mich von ihnen, was sie wiederum ohne Erstaunen oder Befremden zur Kenntnis nahmen …

Schräg hinauf über den Hang ging ich, lag im Schutz der Steine, bis ich wußte, daß niemand mir gefolgt war, stieg zum Gürtel der Krüppelkiefern hinauf, ruhte mich aus und dachte an die Nachricht, die mein Alter mir hinterlassen hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, was Daniel tun würde, nachdem er die Nachricht empfangen hätte – nein, warum sage ich das, ich versuchte es mir nicht vorzustellen, denn von Anfang an gab es da bereits ein Bild, eine Vorstellung, eine geprägte Ansicht; danach schien die Entscheidung bereits gefallen, jede Unsicherheit ausgeschlossen: Daniel allein und waffenlos auf dem Weg in die Stadt, mit seinem resignierten Lächeln durch das schweigende Spalier der Straßen; ein einzelner Schrei, der ihn lediglich veranlaßt, das Gesicht zu wenden, nicht aber stehenzubleiben; der Halbkreis der Posten auf dem baumlosen Platz vor der Kommandantur; die Blicke, die Daniel folgen und erkennen, wie er selbst die Hand vor die geblendeten Augen hebt, um sie vor der Sonne zu schützen; die auseinandertretenden Posten, die ihn aufnehmen und lautlos umschließen und nach einer Weile wieder eine Lücke bilden, durch die die ausgelösten Geiseln zurückkehren, vierundvierzig Männer, von denen einige sich umdrehen, schwanken, aber von den andern vorangeschoben werden. Von Anfang an war dies Bild da, es barg für mich die einzige und selbstverständliche Möglichkeit: Daniel auf dem Weg in die Stadt, um die wartenden vierundvierzig Männer auszulösen.

Erst oben, zwischen den Krüppelkiefern, dachte ich an die andere Möglichkeit …

Ich begann zu laufen, der flechtenbedeckte Boden federte, von den Schneefeldern herab wehte ein gleichmäßiger Wind, der mein Gesicht kühlte, meinen Hals, die Brust. Tief unter mir blitzten zwischen den Kronen der Bäume die Wasser des unbewegten Fjords. In flachen, bewachsenen Mulden stand Schmelzwasser, das von glimmenden Schneekrusten eingefaßt war. Winzige brennende Pfeile sprangen von ihnen ab. Aus dem Boden hoben sich die kantigen Rücken von Felsen – Rücken von mächtigen alten Fischen, die allmählich aus ihren Gräbern ausgewaschen wurden. Ich lief, kletterte und sprang und lief, bis ich unsern ersten Posten traf. Es war Olaf. Er lag hinter einer Mauer aufgeschichteter Steinplatten, das Gewehr vor sich …

Sie kamen aus Zelten und aus dem niedrigen Steinhaus heraus, als ich das Lager erreichte, standen und sahen mich verblüfft an, und an dem Ausdruck ihrer Gesichter erkannte ich, daß Daniel und Christoph angekommen waren. Sie riefen mir Grüße zu, laut genug, so daß Daniel in seinem Zelt sie hätte hören müssen, und wollten mich festhalten und ausfragen, doch ich ließ sie stehen, ging den Hügel hinab zu Daniels Zelt. Petra kam mir entgegen in ihrer braunen Lederjoppe, das Haar stumpf und nur von Fingern gekämmt; nachlässig strich sie mit der Hand über mein Gesicht und sagte: »Na, da bist du ja. Wir fingen schon an, uns Sorgen zu machen. Wie geht’s Vater?« Ich deutete auf Daniels Zelt. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie, »der Dicke ist bei ihm und hat das Wichtigste getan. Du kannst zu ihm rein.« Ich wäre nicht gekommen, wenn Petra mir etwas anderes gesagt hätte, ich hätte die Nachricht für mich behalten, hätte Daniel geschont und wäre mit dem Risiko allein fertig geworden; doch da sie mich nicht hinderten, kam ich zu dir, und du erfuhrst, Daniel, was die ganze Stadt bereits wußte …

Und nun verlange nicht, daß ich den Augenblick vollkommen treffe, so daß wir beide sagen könnten: ja, so war es. Mir genügt es, wenn du zugibst, daß es ungefähr so war; denn schließlich wird auch deine Geschichte, dein Erinnerungsbild unvollständig sein ohne den Spiegel meiner Erzählung. Mein ungefährer Augenblick enthält: Ingolf im spitzen, dreieckigen Zelteingang, das feiste, vergnügte Gesicht unseres Dicken, der wie immer etwas lutschte oder kaute und dem wir kein größeres Vergnügen machen konnten, als wenn wir ihn ›Doktor‹ nannten, obwohl jedem bekannt war, daß er ein abgebrochener Mediziner war. Zu meinem Augenblick gehört ferner sein pfeifender Atem, den ich hinter mir hörte, als ich im Zelt kniete und dich auf dem Schlafsack liegen sah mit entspanntem, geduldigem Gesicht. Du bewegtest dich nicht, du machtest zunächst keinen Versuch, mich anzublicken, zeigtest nicht Zustimmung und nicht Abwehr. Ich zögerte immer noch, und der Dicke flüsterte hinter mir: »Anderen ist es schon schlechter gegangen, sag ihm doch, was du zu sagen hast.« Ich legte meine Hand auf Daniels Schulter, fühlte den festen Verband unter seinem Hemd, beugte mich hinab und sagte: »Ich hab es geschafft, Daniel, ich schwamm durch den Fjord, und jetzt bin ich hier.« Seine Lippen zogen sich zu einem bitteren Lächeln zusammen, er drehte sich auf die Seite, blinzelte mir zu, schob eine Hand unter den Kopf. Der Verband und das Hemd waren durchblutet, das Blut sickerte in die Fasern des Stoffes wie Tinte in Löschpapier, das sah ich nun.

Der Dicke stieß mich auffordernd an, tätschelte meinen Arm und nickte zu Daniel vielsagend hinunter: na, sieht er nicht zufriedenstellend aus?

Er sah besser aus, als ich gedacht hatte: er lebte. Und dann kam der Augenblick, in dem er sich wieder auf den Rücken legte, nah unter meinem gesenkten Gesicht, und ich erschrak, als ich die müde Verachtung, die nachsichtige Erbitterung bemerkte, die er für mich aufbrachte – nicht lange aufbrachte, nur bis er sicher war, daß ich ihn verstanden hatte. Danach schloß er die Augen, streckte die Arme aus und preßte sie an seinen schmächtigen Körper.

Der Dicke flüsterte wieder: »Sag ihm, was du zu sagen hast, er kann hören«, und da redete ich auf ihn hinab, schwamm noch einmal durch den Fjord, stand noch einmal an der Bodenluke von Rektor Holmsen und beobachtete die Geiselnahme in der Stadt, fand die Nachricht meines Alten in der Arzneikunde. Ich verließ noch einmal das Haus, sah den Namen, seinen Namen auf Zäunen, Häusern und Türen, ging im entmutigten Schritt des Trauerzugs, entschied mich für Daniel und widerrief sogleich die Entscheidung, und zuletzt faßte ich ihn an den Schultern, rüttelte ihn und wiederholte dem gleichgültigen, abweisenden Gesicht, was der Kommandant verlangte und viele in der Stadt erwarteten: Du sollst dich stellen, Daniel.

Er schwieg und bewegte sich nicht, sah mich nicht an, nicht einmal mit stummer Überraschung oder stummer Weigerung, lag nur steif und gleichgültig da und schien entschlossen, so liegenzubleiben. Ich wiederholte aus dem Gedächtnis den Wortlaut der Nachricht, dann sagte ich: »Auch mein Alter ist unter den Geiseln im Sägewerk …« Und diese Worte brachen die Gleichgültigkeit, hoben die Starre auf, diese Worte trafen dich mehr als die Nachricht, ja, ich weiß – und in deiner Geschichte wirst du es zu erzählen haben –, daß es schließlich diese Worte waren, die dich dazu brachten, den Körper zu spannen, ihn hochzustemmen; du richtetest dich auf, schwanktest, griffst nach der Zeltstange – es waren unbedachte, unabsehbare Worte –, schlugst kraftlos meinen Arm zurück, als ob du ohne Hilfe aufstehen und das Zelt verlassen wolltest, und nicht nur verlassen: du warst schon unterwegs zur Brücke, Stadt, Kommandantur, entschieden, bereit und auf das Ziel eingestellt. Bestätige es oder zeig mir meinen Irrtum, Daniel: So, wie du dich erhobst, auf das Lichtdreieck des Ausgangs sahst, bis du stürztest, schien alles dafür zu sprechen, daß du deine Wahl getroffen hattest; es gab keinen Zweifel für uns. Du warst unterwegs, um dich zu stellen, nur dein Körper hatte dich im Stich gelassen, war zurückgeblieben. Noch im Sturz dachtest du an den Ausgang, ich sah dich daliegen und wußte es.

Stadtgespräch

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