Читать книгу Stadtgespräch - Siegfried Lenz - Страница 5

Оглавление

Keine Spur, kein Zeichen, keine Erinnerung mehr: der genaue Platz unseres Lagers wird unauffindbar bleiben dort auf dem Berg unter den Schneefeldern. Nichts beweist mehr unsere Anwesenheit, keine erloschene Feuerstelle ist zu entdecken, überwachsen sind die ins Moos gedrückten Rechtecke unserer Zeltplätze, verfallen die Steinmauer, hinter der unsere Posten lagen. Vernarbt sind die Einschüsse in den Stämmen, das Flugzeugwrack ist im Schnee verschwunden. Das Lager besteht nur noch in unserem Gedächtnis. Wir müssen uns auf das Bild verlassen, das unser Gedächtnis bewahrt hat, auf die Erinnerung unserer Haut an die klare Kälte der Nächte und an den unablässigen Wind von den Schneefeldern. Anders können wir nichts mehr finden und bestätigen. Das Lager besteht nur noch in uns, endet in uns; in unserem Gedächtnis spannen sich die flachen, erdgrauen Zelte, das Steinhaus fügt sich zusammen, über der rauchlosen Feuerstelle zittert die Luft; und jetzt, jetzt kommt Christoph den schmalen Pfad herauf, das automatische Gewehr umgehängt, in der Hand einen Kübel mit Schmelzwasser. Er trägt das Wasser zur Feuerstelle. Er stellt es neben Lars hin, unseren Koch …

Wie oft hatte ich selbst Wasser getragen, wir schöpften es zwischen den Felsen, liegend, auf Baumwurzeln gestützt, die das Gestein umklammerten; unsere Kübel eigneten sich dazu, ihre Ränder ließen sich zusammendrücken, so daß wir den vollen Strahl erwischen konnten. Wortlos nahm Lars jedesmal das Wasser in Empfang, goß es in den baumelnden Kessel oder bezeichnete stumm den Platz, auf dem er die Kübel stehen haben wollte …

Oberhalb des Lagers zogen sich die Schneefelder bis zu dem nackten Massiv. Eine blendende Helligkeit lag über ihnen, ein gewaltsames Licht, das die Dämmerung in den Zelten aufhob, dem Wald und den Felsen scharfe Ränder verlieh, den Farben leuchtende Entschiedenheit. Selbst auf dem Grund wassergefüllter Mulden leuchtete das Gras. Das schwarze Balkenkreuz des abgestürzten Flugzeuges, das sich mit der Kanzel in den Schnee gebohrt hatte, glänzte zu uns herüber. Weiße Zungen ragten in das Metallgrau der Flechten hinein, schmolzen, brachen und lösten sich mit der Zeit und bildeten kleine Schneeinseln unterhalb der Felder. Der Wind strich durch die Wipfel der Föhren, und an manchen Tagen machte er ihre Stämme zum Bogen …

Flach, wie an den Boden geduckt, standen unsere Zelte in unregelmäßigem Kreis um die Feuerstelle. Wir hatten auf die Wände Zweige und Moos gelegt, die unteren Ränder mit Steinen beschwert. Einige Zelte standen im Schatten kantiger Felsrücken und mußten aus der Luft ebenfalls den Eindruck von Felsrücken machen. Nur das Steinhaus, in dem wir unsere Vorräte und die Munition aufbewahrten, hätte einen Flieger argwöhnisch machen können, aber es war nicht das einzige Steinhaus in den Bergen …

Daniels Zelt war am Fuß des Hügels aufgeschlagen, dort lag er, dorthin wanderten unsere Blicke, denn wir wußten, daß wir von seiner Entscheidung abhingen. Die Männer hockten rund um den Hügel und in den Zelteingängen, flüsterten, verständigten sich durch Zeichen und richteten immer wieder ihre Blicke auf das geschlossene, von Schweigen umgebene Zelt, so als hofften sie, in jeder Minute den ›Doktor‹ oder sogar Daniel selbst hervorkommen zu sehen und einen Beschluß zu erfahren, und wenn nicht dies, so doch eine Nachricht, wie es ihm ging nach der Nacht und wann sie mit ihm würden rechnen können. Ihr Zweifel und ihre Ungeduld hielten sie fest im Lager, ließen sie nichts anderes wahrnehmen als die Forderung, die der Kommandant nicht nur an Daniel, sondern auch an sie selbst gestellt hatte, und in meiner Erinnerung sehe ich sie da hocken in einer Haltung lauschender Unentschiedenheit, als ob sie bereits einen erwartungsvollen Monat lang so gesessen hätten und weiter sitzen würden durch ein erwartungsvolles Jahr.

Auch ich saß vor dem Zelteingang, auch ich beobachtete die gespannten, erdgrauen Stoffwände am Fuße des Hügels, nichts bewegte sich da, keine Schulter streifte den Stoff, keine Hand schlug das herabgelassene Dreieck des Eingangs zurück. Nur Olaf mißachtete die Stille, regte sich als einziger in der Reglosigkeit: vom Saum der Schneefelder kam er zu uns, blieb mitten im Lager stehen, aufgerichtet in dem schmerzhaften Licht, musterte uns alle und ging zu Christoph und kniete sich neben ihm hin. Flüsternd sprach Olaf auf ihn ein, deutete auf Daniels Zelt und flüsterte wieder; Olaf war der Älteste bei uns, ein Holzflößer mit einer verstümmelten Hand und einem Gesicht, in dem nichts zu lesen war als die Bereitschaft, alles zu tun, worum man ihn bat. Er erhielt nicht die Antwort, die er erwartet hatte, denn Christoph schüttelte nur den Kopf und zuckte die Achseln, und Olaf erhob sich, blickte sich schnell um, stürzte zum nächsten Zelt, wo er wieder zu flüstern begann, dringlich und mit werbenden Händen.

Sein Sohn war unter den Geiseln, und er ging von Zelt zu Zelt, kniete sich hin, flüsterte mit den Männern, weniger, um sie auszuhorchen, als in dem Wunsch, sie zu überzeugen, daß Daniel nur eine Möglichkeit der Wahl hätte. Je mehr Männer er befragte, desto größer wurde die Enttäuschung auf seinem Gesicht. Er schien nichts mehr zu erwarten, nicht mehr mit der Zustimmung zu rechnen, die er erfahren wollte, doch ein mechanischer Zwang trieb ihn zu den Männern am Hügel, zu Lars an der Feuerstelle und schließlich zu mir.

Der alte Mann kniete sich vor mir hin, legte mir die gesunde Hand auf die Schulter, drückte zu wie in einer verzweifelten Liebkosung. Er ließ seinen Kopf hin und her pendeln. An seinen Schläfen schimmerte Schweiß. Geblendet von der Helligkeit kniff er ein Auge zu, atmete tief, und dann betrachtete er mich ängstlich und sagte: »Und du? Hast du nicht mehr zu erzählen als die andern? Vierundvierzig warten unten in der Stadt, warten darauf, daß er sich stellt. Muß Daniel sich nicht stellen? Gibt’s da noch was zu überlegen? Sag, was du von ihm erwartest.« Olaf schloß die Augen, hielt den Atem an, neigte zitternd den Oberkörper vor, um so meine Antwort zu hören. Ich schwieg. Ich hielt seinem Blick stand, nachdem er die Augen wieder geöffnet hatte, sah in das alte, enttäuschte Gesicht, über das ein Zug von Hilflosigkeit glitt. Seine Lippen bewegten sich, als bildeten sie die Worte vor, die er von mir zu hören erwartete. Ich schüttelte den Kopf, wie Christoph und die anderen es getan hatten, bot ihm einen Schluck Kaffee aus meinem Becher an. »Gunnar«, murmelte er, »Gunnar.« Hastig wandte er sich um, lief schwerfällig am Feuer vorbei, jeder hörte ihn keuchen und erriet seine Absicht …

Vielleicht, Daniel, spürtest du die Erschütterung von seinen Schritten, während du im Zelt lagst und lauschtest, Schritte, die etwas ankündigten und hervorriefen: erzähl es. Olaf kannst du nicht auslassen in deiner Geschichte, denn er war der erste von uns, der sich entschieden hatte, er stellte die Bedingung dar, die berücksichtigen muß, wer erzählt: den eigenen Zweifel.

Also erinnere dich, daß er zwischen den hockenden Männern hindurchlief, auf dein Zelt zustürzte in seiner verstörten Hilflosigkeit und wer weiß wozu entschlossen und fähig war – ein alter, hochgewachsener, verzweifelter Mann – und das Zelt auch fast erreichte, als Christoph und Jörg sich ihm in den Weg stellten. Sie hielten ihn fest. Er widersetzte sich. Sie packten ihn an den Handgelenken. Er riß sich los. »Ich muß zu ihm«, schrie er und traf Christoph mit dem angewinkelten Ellenbogen am Kinn. Da schlug Jörg ihn nieder, fing ihn im Sturz auf und schleifte den alten Mann unter den Hügel, wo er ihn hinlegte und mit loser Hand auf sein Gesicht klatschte. Ruhig setzte sich Christoph zu den andern, nahm bald eine Haltung an von dauerhaftem Dasitzen, denn in Daniels Zelt rührte sich nichts, nicht einmal der ›Doktor‹ zeigte sein feistes, vergnügtes Gesicht.

Bis hierher, bis zu dem blendenden Morgen unter den Schneefeldern lief unsere gemeinsame Spur. Wir tranken Kaffee, rauchten und warteten, und es waren mehrere, Daniel, die sich in jenen Stunden deiner Anfänge entsannen. Daniel: das war nicht allein der Mann, der er selbst zu sein glaubte, vielmehr gehörte zu ihm längst und beständig das Bild, das sich die andern von ihm machten in der Stadt: die Kinder, die Erwachsenen, die Besatzungssoldaten.

Wir kennen immer etwas zu wenig, darum wiederholen wir gern, was wir wissen … Das erste, was ich von Daniel erfuhr, war, daß er unten am Fjord wohnte. Jeder in der Stadt kennt das mattgraue, getünchte Holzhaus, in dem er geboren wurde, und lange, bevor ich zu ihnen stieß, wußte ich, daß Daniel dort aufgewachsen war ohne Geschwister und früh den Vater entbehrte, der Böttcher gewesen war und der Stadt messingbeschlagene Kiepen, Baljen und Tonnen hinterlassen hatte. Beim Brand der Schuppen war er zum letzten Mal gesehen worden; es heißt, Daniels Vater war ein gütiger, wortarmer Mann, solange er lebte. Mitschüler Daniels erzählten von dem schmächtigen verschlossenen Jungen, der den Schulweg am Fjord allein bei Dunkelheit gegangen war, stapfend durch hochaufgewehten Schnee, sie erinnerten sich seiner blassen, schweißbedeckten Stirn, seiner reglosen Aufmerksamkeit im Unterricht, und einige glaubten bereits damals seine Neigung zu bedachtsamem Widerspruch bemerkt zu haben. Es wird gesagt, daß er der Lieblingsschüler von Rektor Holmsen war, der ihm später auch das Stipendium für die Universität verschaffte. Irgend jemand, aber ein Augenzeuge, hatte die Kammer beschrieben, in der Daniel einst lebte, unter gerahmten, unscharfen Photographien von Begräbnissen; dort strickte er, wetteifernd mit seiner Mutter, Pullover in Heimarbeit …

Nicht wenige, Daniel, sind darauf aus, dies zu erfahren, und auch ich erwarte deine Bestätigung oder deine Korrektur. Du kannst nicht außer acht lassen, was zum Hintergrund unserer Geschichte gehört, du mußt alles berücksichtigen und erwähnen, also auch dies, worin sich ein jeder mit dir vergleichen kann: die Anfänge. Weil wir den Wunsch haben, früh zu erkennen und unbedingt alles einzusehen, darfst du die Jugend nicht übergehen: du mußt von zuhause erzählen, von Rektor Holmsen, von jenem Winter in der Hauptstadt, in dem du dich auf dein Examen vorbereitet hast, während andere sich auflehnten und dafür bezahlten. Und wir möchten von dir erfahren, warum du kurz vor dem Examen zu deinem Professor gingst und ihn fragtest, ob du Chancen hättest zu bestehen, und nachdem dein Professor dies bestätigt hatte, zufrieden deine Sachen packtest, die Universität verließest und kurz darauf in unserer Stadt zum Widerstand aufriefst.

Jeder weiß, daß es spät geschah, die Stadt war schon zwei Jahre besetzt, wir hatten uns eingerichtet, unterworfen, gewöhnt; wir hatten entdeckt, daß man auch leben kann ohne Gerechtigkeit: da kamst du hierher und fordertest uns auf, ein anderes Leben zu wählen.

Was hatte dich auf einmal dazu bewogen? War es das, was von den andern erzählt wird? Der Tod des Jungen, der einem ihrer Soldaten seine Verachtung bewies, indem er in der Straßenbahn in dem Augenblick aufstand, als der Soldat sich setzte? Sie sagen, daß du dabei warst, als der Soldat in den Wagen trat, sich setzte und damit nur erreichte, daß alle sich schweigend erhoben, nicht nur der Junge. Denn es war ihre Art von Verachtung, die Verachtung der Wehrlosen: sie erhoben sich, sobald einer der Fremden sich setzte, doch dieser Soldat wollte zumindest den Jungen zwingen, mit ihm die Bank zu teilen, worauf der Junge floh – seine Verachtung in die Flucht retten wollte. Und du warst Zeuge, als der Soldat den Jungen verfolgte, ihn dreimal korrekt durch Anruf warnte und dann schoß: zwei Tage später – so erzählen sie – kamst du hier an …

Du bist es uns schuldig, Daniel, deine Gründe zu nennen, Gründe, die wir vielleicht bereits kennen vom Hörensagen, aber wie sollen wir zustimmen, verwerfen, urteilen, wenn wir uns aufs Hörensagen allein verlassen müssen? Vom Hörensagen, das heißt doch immer schon: verändert. Wir kennen das Bild, das wir uns von dir machten, was wir von deiner Geschichte fordern, ist das Bild des Mannes, für den du dich selbst hieltest. Ich unterschätze nicht die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man Veränderungen feststellen und beschreiben muß, und ich weiß, daß einige fragen werden: was ist denn nun wirklich wahr? In solch einem Fall kann man sagen: das Erlittene, und wird sich kaum widersprechen …

Und du wirst zugeben – wirst es wohl auch in deinem Zelt unter den Schneefeldern gespürt haben –, daß die Männer an jenem Morgen nur deshalb unentwegt im Lager blieben, weil sie wußten, daß etwas zu Ende gehen würde. Wir alle, die wir in den Zelteingängen und am Fuße des Hügels saßen, waren in die Forderung des Kommandanten eingeschlossen; darum wagte niemand, sich zu entfernen.

Nur Olaf stand auf, nachdem er zu sich gekommen war, der Alte massierte verlegen seinen Nacken, blinzelte, reichte Jörg, der ihn niedergeschlagen hatte, die Hand und verschwand mit den Wasserkübeln zur Schöpfstelle. Wir anderen blieben und beobachteten uns gegenseitig, und sobald zwei sich vorbeugten zu flüsterndem Gespräch, fanden sie sogleich unser Interesse. Mittags standen einige auf, nahmen ihre Gewehre und verließen das Lager, um die Posten abzulösen, und nach einer Weile kehrten die abgelösten Männer zurück, musterten prüfend Daniels Zelt, ließen sich dort nieder, wo sie es im Auge behalten konnten. »Und?« fragten sie. »Nichts«, sagten wir, und wir saßen und warteten in der Helligkeit unter dem Wind, fühlten die Zeit unter uns wegstürzen, hörten von fern das Geräusch schnell und friedlich strömenden Wassers. Die Sonne wanderte über die Schneefelder, und das nackte Massiv warf spitze Schatten bis zu dem abgestürzten Flugzeug. Die Sirene eines kleinen, grauen Kriegsschiffs drang zu uns herauf, durchschnitt unser Schweigen. Christoph stand auf, ging hin und her, blieb stehen, zog den Packen Kreuzworträtsel aus seiner Brusttasche, blätterte ihn unachtsam durch und stopfte ihn wieder in die Tasche. In dem baumelnden schwarzen Kessel über dem Feuer kochte Lars abermals Kaffee. Zwei Flugzeuge zogen hoch über uns hinweg, wir brauchten keine Deckung aufzusuchen …

Dann, als niemand darauf gefaßt war, schob der ›Doktor‹ seinen Kopf heraus; er verließ nicht das Zelt, schob nur seinen Kopf zwischen den lose hängenden Dreiecken hindurch, blickte sich um, nickte mir auffordernd zu, und während ich auf Daniels Zelt zuging, erhoben sich die andern und folgten mir, langsam und selbstverständlich, so als habe Ingolfs Aufforderung auch ihnen gegolten oder als habe meine Bewegung ein Signal gegeben, das das Warten beendete. Ich glaubte, der ›Doktor‹ werde mich in das Zelt lassen, doch er erwartete mich hockend vor dem Eingang, schluckte etwas herunter und sagte: »Du sollst ihn abholen. Du triffst ihn auf der Rückseite des Friedhofs, bei dem Haufen von trockenen Kränzen und Blumen. Er wird dich ansprechen und nach dem Grab von Johannesson fragen. Bring ihn zu uns.« Ich hörte kaum zu, ich hatte Mühe, ihn zu verstehen, obwohl ich unmittelbar vor ihm hockte; denn an seinem feisten Hals vorbei sah ich in das Innere des Zelts und erblickte Daniel: steif und mit offenen Augen lag er da, die Hände an den schmächtigen Körper gepreßt, so wie ich ihn das erste Mal wiedergesehen hatte nach unserer glücklosen Aktion am Fjord. Am Kopfende seines Lagers saß Petra mit offener Lederjoppe. Sie hob nicht das Gesicht. Sie blickte reglos auf Daniel hinab und stützte sich mit beiden Händen auf. Sie hatte die ganze Nacht bei ihm gesessen. Bevor ich etwas sagen konnte, stieß der ›Doktor‹ mich an, schnalzte mit der Zunge, fragte ungeduldig: »Alles klar?«

Ich ließ mir meinen Auftrag wiederholen, erfuhr, daß es Torsdag war, den ich abholen sollte, einen aus dem Hauptquartier, der den Weg zu uns heraus gefunden hatte. Als ich mich umdrehen wollte, rief Petra mich an; sie kam zum Eingang, sie sah müde und verfroren aus, ihre Lippen zitterten, ihre Haut war rauh. Sie fragte nach Vater, ich konnte ihr nichts sagen, und als ob sie diese Antwort erwartet hätte, wandte sie sich wortlos ab mit einem Ausdruck von Leere und Mutlosigkeit, kroch wieder zum Kopfende von Daniels Lager und setzte sich dort hin …

Die Männer, die im Halbkreis hinter mir gestanden hatten, errieten, daß sie nichts erfahren würden, niemand stellte eine Frage. Ich ging zu dem schmalen, erlaufenen Pfad, der sich wie eine geschwungene Narbe über den Berg zog und mich zu den Krüppelkiefern und den Föhren hinabführte. Tief unter mir lag die Stadt am Ende des Fjords zu beiden Seiten der Flußmündung. Der Schuppen des Sägewerks machte einen verlassenen Eindruck, keine Laufkatzen bewegten sich da, niemand barg Stämme aus der Strömung. Das flache Teerpappdach schien sich nicht über der Erde zu spannen, sondern sah von hier oben wie eine schwarze, riesige Grube aus. Ich suchte nach den Posten, doch ich konnte sie nicht entdecken, wahrscheinlich standen sie im Schatten der Bretterstapel oder waren in den Schuppen hineingegangen …

Woher sollte ich wissen, weshalb Torsdag an diesem Tag, zu dieser Stunde zu uns kam; ich war nicht eingeweiht, hatte nichts erfahren von dem, was zwischen Daniel und Christoph bestand. Ich ging zum Friedhof hinab, an der niedrigen, lichtgesprenkelten Mauer entlang, über der dichtbelaubtes Astwerk hing. Ich schwang mich hinüber, ging zwischen den Gräbern zur Rückseite des Friedhofs, wo ein Hügel von trockenen Kränzen und faulendem Laub und Blumen lag, sorgfältig zusammengekehrt und geschichtet. Dort setzte ich mich auf eine Schubkarre und saß in der letzten Sonne, bis ich Schritte hinter mir hörte und gleich darauf einen untersetzten jovialen Mann mit kalten Augen erkannte, der sich forschend zwischen den Gräbern umsah, als ob er ein bestimmtes Grab suche. Erleichtert kam er auf mich zu, und ohne sich zu vergewissern, ob ich es war, der ihn abholen sollte, gab er mir die Hand und sagte: »Du bist der kleine Lund, nicht wahr? Die gleiche Stirn wie der Alte, das gleiche Kinn. Na, denn komm …«

Du wußtest, warum er zu uns kam, Daniel; selbst im Zelt und mit Schmerzen hattest du seine Ankunft nicht vergessen und noch weniger das, wozu er gerufen wurde: du mußt beschreiben, was vor diesem Auftrag geschah. Ich beschränke mich darauf, Torsdag zum Lager zu bringen, den Mann, der mehr entschied, als ich ihm zugetraut hatte, und der seufzend vor mir ging, ein großes, mit einer Flüssigkeit getränktes Taschentuch in der Hand, das er von Zeit zu Zeit auf den Mund preßte, dabei holte er in langen Zügen Luft. Jeder von uns wird sich seiner erinnern, und er wird sofort an das zusammengeknüllte Taschentuch denken und an die kalten, glänzenden Augen darüber.

Ich fragte ihn: »Was wird Daniel tun?«, und er sagte: »Schlafen, schlafen, bis er gesund ist.« – »Und die andern in der Stadt? Im Schuppen?« Er sagte: »Sie haben keine große Wahl.«

Flüchtig begrüßte er die Männer im Lager, indem er eine Hand knapp in Brusthöhe hob, ging an ihnen vorüber, die sich bei seinem Anblick erhoben, erwartungsvoll näher kamen; er ließ sich zu Daniels Zelt führen und verschwand darin. Während ihr miteinander spracht, rief Christoph uns zusammen, wir traten in den Windschutz des Steinhauses, schweigend, unschlüssig, welche Antwort wir geben sollten, falls eine Antwort von uns verlangt würde. Christoph sah auf seine Uhr, nickte auf sie hinab, als ob er durch sein Nicken Stunden zählte, Zeit berechnete, dann wählte er fünf von uns aus. Er wählte zögernd, unaufmerksam, verwarf mehrmals seine Wahl – seine Aufmerksamkeit galt Daniels Zelt. Nachdem er eine endgültige Wahl getroffen hatte, schickte er die andern nicht fort; leise und zerstreut wiederholte er den alten Plan: die Umgehung der Stadt, den Abstieg zur Bahnlinie auf der andern Seite, die Befestigung der Sprengladung im Tunnel und die getrennte Rückkehr. Jeder wußte, daß es ein Plan war, der aus einer andern Zeit stammte, der überholt und zweifelhaft geworden war durch das, was uns auferlegt war; es gab keinen – nicht einmal Christoph selbst –, der an unsern Aufbruch glaubte. Doch er hielt uns zusammen, stand mit gespreizten Beinen da und wiederholte die Einzelheiten des Plans, wobei er unablässig den Blick auf Daniels Zelt gerichtet hielt. In der weißen Dämmerung verkürzten sich die Schatten und hoben sich auf. Die Schneefelder schimmerten und gaben ein Licht wieder, das sie von unten zu treffen schien wie von einer anderen Sonne, die aus der Tiefe der Erde hinaufstrahlte. Langsam ziehende Wolken verbargen die Spitze des aufragenden Massivs.

Wir setzten uns im Windschutz des Steinhauses, sahen Petra zur Feuerstelle und dann zu meinem Zelt gehen, gleichgültig, ohne zu uns herüberzusehen oder zu winken. Wieder begann Olaf zu flüstern; der Alte saß vor mir, neigte sich zu Lars hinüber, ich hörte, wie er Daniels Namen nannte und sagte: »Entscheiden muß er sich.« Jörg lächelte, auch er hatte es gehört, und er klopfte dem Alten auf den Rücken und sagte: »Ruhig, Olaf, ruhig. Sei doch froh über die Ungewißheit; solange alles ungewiß ist, können wir zumindest hoffen. Daniel weiß, was du von ihm erwartest.« – »Wir sollten runtergehen in die Stadt«, sagte Olaf, »wir sollten versuchen, unsere Leute aus dem Schuppen zu holen, alle vierundvierzig.« – »Das ist sehr gut«, sagte Jörg, »das ist wirklich eine naheliegende Idee – doch gerade deswegen hat der Kommandant auch daran gedacht und Vorsorge getroffen.« – »Was sollen wir denn tun?« fragte der Alte bitter. »Zusehen«, sagte Jörg. »Du kannst manchmal irgendo drinstecken, wo dir nichts besseres mehr möglich ist als zuzusehen …«

Sie sprachen weiter in leisem, aber gereiztem Ton und beobachteten dabei unablässig das Zelt am Fußende des Hügels, das in der Dämmerung noch flacher geworden zu sein schien und still und unscheinbar vor ihnen lag und das gerade deswegen ihre Ungeduld wach hielt, ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, weil sie weder etwas sahen noch hörten. Wir wußten nur, oder bildeten es uns ein, daß dort unter dem gespannten erdgrauen Stoff etwas erwogen, verhandelt und beschlossen wurde, was nicht nur über Daniels Zukunft entschied; durch die Zeltbahn und über die Entfernung hinweg machte sich etwas bemerkbar, zwang uns zur Anteilnahme, und als endlich Torsdag herauskam, wandten wir wie auf ein Kommando den Kopf und standen auf und gingen ihm entgegen. Als er so stand mit dem Taschentuch vor dem Mund und uns abschätzend und ruhig entgegensah, dachte ich: Daniel kennt bereits alles, und nun werden auch wir es erfahren, wenn er das wer weiß womit getränkte Taschentuch einsteckt und nicht mehr das Bild eines Mannes abgibt, der fürchtet, sich eine ansteckende Krankheit zu holen. Wir waren so nahe beim Zelt, daß Daniel jedes Wort hätte verstehen müssen und, während er steif und lauschend dalag, auch die Spannung, die Unruhe, die Erwartung gespürt haben sollte, von denen wir beherrscht wurden.

Auch wenn du kein Augenzeuge warst, alles nur hinter der Zeltwand erlebtest, warst du doch dabei und wirst darin mit mir übereinstimmen, daß es ein unerträgliches Schweigen war, in dem uns Torsdag gegenüberstand und sich Zeit ließ und darauf beschränkte, uns aus kalten, glänzenden Augen zu mustern. Da war es Christoph, der fragte: »Was ist? Wenn wir vor dem Erzzug drüben sein wollen, müssen wir jetzt los. Wir müssen. Also?« Er erhielt keine Antwort, zumindest keine Antwort auf diese Frage: Torsdag nahm das Taschentuch von seinem Mund, knüllte es in der Hand zusammen und ließ seinen Blick bedächtig den Halbkreis entlanglaufen, den wir um ihn bildeten, und sagte dann mit einer freundlichen, biederen Stimme: »Bleibt alle hier und hört zu. Ihr braucht nicht mehr zu tun als dies: hierbleiben und zuhören. Ich spreche auch im Namen von Daniel zu euch, der nicht herauskommen kann, obwohl es ihm besser geht. Ihr wißt, was los ist: wir müssen gemeinsam eine Lösung finden, wir müssen einige Fragen stellen, und da Daniel nicht antworten kann, wird Christoph es für ihn tun.«

Er unterbrach sich, gab Christoph ein aufforderndes Zeichen und wiederholte es noch einmal, da Christoph nichts zeigte als ein jähes Erstaunen, eine jähe Verwunderung, die auch noch anhielt, als unser aller Blicke ihn vorwärtszwangen, die fünf oder sechs Schritte zu tun, bis er auf gleicher Höhe mit Torsdag war.

Und nun wirst du wohl bestätigen müssen, Daniel, daß dies sich ereignete in der Dämmerung vor deinem Zelt, nachdem Torsdag abermals gesagt hatte: »Christoph wird antworten.«

»Ich?« sagte Christoph. »Warum ich.«

»Du bist Daniels Stellvertreter.«

»Was habt ihr entschieden? Will Daniel runter in die Stadt und sich stellen?«

»Wart ab.«

»Ich bin dagegen. Wir lassen ihn nicht gehn. Wir haben ein Recht darauf, daß er bei uns bleibt.«

»Davon hab ich nichts gesagt. Noch nicht.«

»Wofür nehmt ihr euch denn soviel Zeit an diesem Tag?«

»Für die Gerechtigkeit. Darum sind wir alle hier.«

»Und was soll ich tun?«

»Antworten.«

»Nicht mehr?«

»Unterschätze es nicht. Es wird genug sein.«

»Ich weiß nicht, ob ich der richtige Mann dafür bin.«

»Jeder eignet sich dazu, du bist Daniels Stellvertreter, darum wirst du antworten. Vor allen.«

»Hoffentlich fällt mir etwas ein. Also sag, wozu sich Daniel entschlossen hat.«

»Du bist lange genug bei uns, Christoph, du weißt, was wir tun, wovon wir abhängig und worauf wir angewiesen sind. Du kennst unser Ziel. Wer aber zu uns gehört, muß sich bestimmten Gesetzen unterwerfen. Er muß zu äußersten Verzichten bereit sein. Er darf nichts anderes anerkennen als das, was uns verbindet.«

»Einverstanden.«

»Wer sich Sicherheiten verschafft auf Kosten der andern –«

»Hat das jemand getan?«

Nur sie beide redeten, Christoph und Torsdag, und bis hierher verlief ihr Zwiegespräch weder in drohendem noch in warnendem Ton, sondern nur so, als wollte der eine den andern freundschaftlich überzeugen oder lediglich seine Meinung erfahren, und noch gab es auch nichts, was das Mißtrauen oder gar die Betroffenheit der Männer herausgefordert oder gerechtfertigt hätte, allenfalls eine stimmlose Enttäuschung darüber, daß sie immer noch nicht die Gewißheit besaßen, auf die sie aus waren. Die Männer lauschten. Das einzige Geräusch – das zugleich ein Zeichen der Ungeduld war – wurde hier und da von einem Schuh hervorgerufen, dessen Sohle sich schabend über bröckligen Stein bewegte oder knirschend im Gras drehte. Der Wind legte sich. Unten in der Stadt sprangen Lichter auf, die schwach durch die Baumkronen heraufblinkten. Torsdag – das heißt der Mann, der unter diesem Namen zu uns kam und unser Los und unsere Geschichte beeinflußte – änderte seine Stimme, sprach jetzt leise, konzentriert, mit geschlossenen Augen, so als spräche er mehr zu sich selbst als zu Christoph, der mit hängenden Schultern neben ihm stand.

»Es ist einer unter uns«, sagte Torsdag, »der mehr Rechte für sich beansprucht als jeder andere, doch das ist das wenigste. Wem alle Rechte verweigert werden, der muß sie sich holen. Allerdings kommt es darauf an, auf wessen Kosten er sie sich nimmt.«

»Wer ist es?« sagte Christoph. »Raus mit dem Namen!«

»Wir wollen keine Heiligen sein. Weil sie ihren Blick von der Welt abwendeten, hatten Heilige immer etwas Unmenschliches für mich; die Wirklichkeit reichte ständig aus, um sie zu widerlegen. Wir haben uns dazu bereitgefunden, als Menschen in der Solidarität zu handeln, die uns durch die Lage der Stadt und unseres Landes nahegelegt wird. Diese Solidarität verpflichtet uns zu einer doppelten Rücksichtslosigkeit: gegenüber dem Gegner und gegenüber uns selbst. Jeder, der zu uns kam, wußte, was ihn erwartete. Er mußte sich mehr oder weniger klar darüber sein, daß er sich unter Umständen für eine bestimmte Art des Sterbens entschieden hatte. Er mußte wissen, daß er bei uns etwas nicht würde finden können: Schonung.«

»Red nicht so unklar. Sag, was ist –«

»Einer von uns hat die Solidarität verletzt.«

»Zeig auf ihn!«

»Obwohl er zu uns gehört, hat er sich mit der Besatzung verständigt.«

»Schau ihn an, das genügt.«

»Er hat mit den andern zusammengearbeitet, weil er ihre Hilfe brauchte.«

»Das Urteil steht fest.«

»Einer ist schuld am Tod seiner Kameraden. Er verriet sie.«

»Wer ist es? Sag! Wer das getan hat, kann nicht mehr zu uns gehören. Und wenn er hier ist, wird er nicht mehr zurückkehren in die Stadt. Also los: Wer war es?«

»Du, Christoph.«

»Ich?«

»Ja.«

»Ihr seid wahnsinnig. Du weißt nicht, was du redest.«

»Du hast geantwortet vor allen. Deine Antwort enthielt das Urteil.«

»Beweise! Ihr müßt es doch beweisen.«

»Erinnere dich: das genügt.«

»Ich schwöre euch: das ist ein Irrtum.«

Ein Ruf drang aus Daniels Zelt, ein kurzer, gestöhnter Befehl, dem ein Keuchen folgte und das Geräusch einer körperlichen Auseinandersetzung; ein Rücken streifte und spannte von innen die Zeltbahn, die Stangen erzitterten, dann hörten wir einen Fall und einen verstümmelten Fluch des ›Doktors‹. Selbst Christoph wandte sich um und starrte auf das Zelt, und in diesem Augenblick hoben sich die Läufe von zwei oder drei Gewehren. Torsdag preßte das Taschentuch vor den Mund, machte einige lange, ruhige Atemzüge und sprach weiter unter dem Taschentuch hervor:

»Bleib stehen, Christoph. Sieh auf die Gewehre. Versuch nichts … Als Daniel befahl, das Depot zu sprengen, war ein einziger ohne Meinung: du, Christoph. Daniel suchte zwei Leute aus, Knud und Poul. Sie schwammen nachts mit den Ladungen über den Fjord zum Anlegesteg des Depots. Sie schwammen vier Kilometer, und als sie den ersten Pfahl erreicht hatten, wurden sie im Wasser erschossen. Die Posten hatten sie erwartet in dieser Nacht, die Posten wußten Bescheid.«

»Weißt du überhaupt, was du redest?«

»Ja, Christoph.«

»Dann sag mir doch, warum ich Knud und Poul verraten haben soll.«

»Hast du es vergessen? Die Schuppen und Hallen, in denen die andern heute ihr Depot haben, gehören deinem Vater. Du wolltest die Sprengung verhindern. Du wolltest euer Eigentum schonen, und dafür schien dir der Preis nicht zu hoch: das Leben von Knud und Poul. Du hast damit gerechnet, daß wir es als Fehlschlag hinnehmen würden, als ein Unglück, doch wir haben erfahren, daß du der Kommandantur einen Wink gabst. Die Kommandantur kannte unsern Plan, noch bevor Knud und Poul im Wasser waren.«

»Dann sag mir, woher ihr es wißt.«

»Aus der Kommandantur. Von unserem Mann dort.«

»Daniel! Was sagt denn Daniel dazu? Hörst du mich, Daniel! Hörst du mich?«

»Laß ihn liegen. Daniel braucht nichts mehr zu sagen. Du selbst hast geantwortet, Christoph.«

»Und alles, was ich für euch getan habe?«

»Wir vergessen es nicht.«

»Wer hat euch die ersten Waffen besorgt? Wer hat die Jungen damals rausgeholt, als sie in der Kiesgrube in den Hinterhalt gerieten! Wem ist es zu verdanken, daß die englischen Piloten fliehen konnten. Wer hat die Brücke hochgehen lassen, gerade, als die Lastwagen-Kolonne mitten drauf war. Und wer hat Daniel hier raufgebracht! Wo wäre Daniel, wenn ich mich nicht um ihn gekümmert hätte?«

»Wie genau du deine Verdienste kennst, Christoph. Wieviel muß man von sich selbst halten, um alles sorgfältig im Gedächtnis zu bewahren, was einem geglückt ist. Du läßt keinen Zweifel daran, was dir am meisten bedeutet. Du kannst sicher sein, daß wir deine Verdienste nicht unterschätzen, aber all deine Verdienste zusammen wiegen nicht den Tod von Knud und Poul auf. Die Pluspunkte der Vergangenheit befreien niemanden von der Verantwortung für eine gegenwärtige Tat. Für uns kann nur das zählen, wovon wir leben und was uns jeden Tag überprüft: die Gegenwart.«

»Was verlangt ihr von mir?«

»Nicht mehr, als du selbst verlangt hast.«

»Ihr könnt mich doch nicht erschießen!«

»Wir werden es nicht tun, denn wir können es uns nicht leisten. Früher oder später würden sie es in der Stadt erfahren, und es würde ihre Zuversicht beeinträchtigen und sie schwankend machen in ihren Hoffnungen, die sie auf uns gesetzt haben. Alle, die hier sind, werden deine Tat und dein Urteil vergessen für die Dauer unseres Kampfes. Du, Christoph, wirst eine Gelegenheit erhalten, deinen bisherigen Verdiensten ein neues Verdienst hinzuzufügen. Es wird das letzte sein, und wir wünschen, daß dich dein Glück auch diesmal nicht verläßt. Wir können nicht das Urteil aufheben, das du selbst gesprochen hast, es bleibt bestehen, nur werden es andere vollstrecken.«

»Was soll ich tun? Was verlangt ihr?«

»Du kennst die Forderung, die man an uns gestellt hat: unten in der Stadt warten vierundvierzig Geiseln und ihre Familien darauf, daß Daniel herunterkommt und alles aufgibt. Es ist eine Maßnahme des Kommandanten, es ist seine Idee. Wir haben erfahren, daß zwei seiner Offiziere – einer von ihnen ist sein Vertreter – diese Maßnahme persönlich mißbilligen und vielleicht sogar aufheben würden, wenn …«

»Wenn was?«

»… wenn der Kommandant stirbt, besteht die Aussicht, daß diese Maßnahme rückgängig gemacht wird.«

»Und ihr meint, ich soll ihn töten? Habt ihr mich dazu ausersehen?«

»Ja, Christoph.«

»Aber ihr wißt doch, daß das unmöglich ist. Genau so gut könnt ihr von mir verlangen, den Schnee dort zum Schmelzen zu bringen oder den Fjord trockenzulegen. Wie soll ich an ihn herankommen? Wie soll ich ihn erreichen hinter dem Schutz von Posten und Wachen? Ich weiß nicht einmal, ob er in der Kommandantur ist oder in seiner Villa. Was ihr verlangt, ist unmöglich.«

»Du mußt daran glauben und es versuchen.«

»Daran glauben? Ich glaube an die Zahl der Gewehre.«

»Auch wenn du nichts erreichst: es kommt darauf an, daß du es versuchst.«

»Und die Chance? Wo ist meine Chance?«

»Es wird heißen, daß du bei dem Versuch starbst, das größte Unheil von der Stadt abzuwenden. Du wirst ihnen ein Beispiel geben und sie daran erinnern, daß wir zumindest die Freiheit haben, uns unseren Tod auszusuchen.«

»Ihr verlangt, daß ich mich ihren Gewehren anbiete.«

»Wir fordern, daß du unseren Auftrag auszuführen versuchst: nicht mehr.«

»Und wenn ich es schaffe?«

»Versuch es erst!«

»Wenn es mir aber gelingt, den Kommandanten zu erledigen: was wird dann? Werdet ihr auf dem Urteil bestehen?«

»Es gibt keine Sicherheiten.«

»Ich gehe. Ich werde es versuchen.«

»Wir erwarten es.«

»Ich gehe sofort. Ich werde euern Auftrag ausführen.«

»Noch nicht jetzt, und du wirst auch nicht allein gehen, Christoph. Es wird dich jemand begleiten.«

»Bekomme ich Unterstützung?«

»Du bekommst einen Zeugen, das ist alles.«

»Wer wird es sein?«

»Tobias Lund.«

Ich erschrak, als Torsdag meinen Namen nannte und die Aufgabe erwähnte, die er oder Daniel mir zugedacht hatte. Ich ging auf ihn zu, ich protestierte – nein, wie komme ich darauf: ich hatte nur vor zu protestieren, öffnete die Lippen, blickte unverwandt auf Christoph, der keineswegs dastand wie ein Mann, der sich zu seiner Tat und zu dem Urteil bekennt, sondern mich spöttisch und zuversichtlich ansah, und zwar nicht, weil er wenig von meinen Fähigkeiten hielt, sondern weil er das Verhängnis mißachtete, das ihm bevorstand. Nicht mir, sondern dem Auftrag galt seine herausfordernde Zuversicht. Vermutlich hatte er sich eine Chance ausgerechnet. Ich protestierte nicht, trat zurück zu den andern, die Christoph ohne Verachtung, aber auch ohne Mitleid beobachteten. Ich fragte nur: »Wann?«, und Torsdag antwortete langsam: »Zur rechten Zeit …«

Wir gingen auseinander, Christoph blieb allein vor Daniels Zelt, niemand kümmerte sich um ihn, niemand bewachte ihn: wir wußten, daß er das Urteil anerkannt hatte und daß er warten würde, bis man ihn rief und in die Stadt hinunterschickte. Wir überließen ihn einfach sich selbst, und bevor ich in mein Zelt schlüpfte, drehte ich mich noch einmal um und sah, daß er sich hingesetzt hatte am Fuß des Hügels und mit erhobenem Kopf in die Dämmerung horchte, so als sei er entschlossen, nichts mehr zu tun, bis er die Schritte vernahm und den Befehl, seinen Auftrag auszuführen. Seine Haltung verriet die Bereitschaft, dort auszuharren und denen, die ihn auffordern würden zu beginnen, gelassen und vorbereitet entgegenzugehen. Ich duckte mich: der Hügel wuchs auf und verbarg Christoph. Ich griff zur Zeltstange, tastete nach meinem automatischen Gewehr, strich über Lauf, Schloß, Kolben und nahm das hängende Gewehr ab. Ich rutschte auf den Knien zu meinem Lager und sah Petra darauf liegen und hörte sie leise stöhnen. Durch das kalte Leder der Joppe spürte ich das Zittern ihres Körpers, als ich sie mit der Hand berührte. Sie wandte mir ihr Gesicht zu, es war müde und tränenlos, ein Schauer überlief die Haut, die von winzigen roten Punkten gesprenkelt war. Ihre Augen, helle Augen, die sonst abschätzend und überlegen blickten und nichts preisgaben, befragten mich mit Angst. Sie umschloß mein Handgelenk und hielt es fest, und dann sagte sie: »Wie ist es in der Stadt?«

»Still«, sagte ich.

Stadtgespräch

Подняться наверх