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3. Chor, leider(Sonatine)

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Dienstag-, Mittwoch- und Donnerstagabende waren außerhalb der Schulferien für den Chorgesang verplant. Er sang nicht in einem oder mehreren Chören; nein, er leitete sie. Das Vereinswesen nach deutscher Art, das bis in seine Tage Gauchorleiter zu Führern ernennt, prägt nach-haltig die Sängerschaft der einzelnen Bundesländer. „ Frisia non cantat“ hat schon Tacitus in seiner „Germania“ bemerkt. Es gibt in der Tat ein sängerisches Qualitätsgefälle, das sich reziprok von Nord nach Süd hinzieht. Die Anzahl der Vereine steigt, je mehr man sich den Alpen nähert. Eine Daumenregel sagt auch, dass ein Chor nur so gut singt wie sein Leiter, pardon, Leiterin. Es gibt immer mehr Frauen, die dem Führerprinzip in Haus und Beruf folgen.

Bei ihm hingegen war es reiner Zufall, dass er ein Angebot diesbezüglicher Art bekam. Er hatte als Pianist den Gesangverein seiner Wohnstadt beim Konzert begleiten dürfen. Mittelmäßig, hemdsärmelig und laut kamen ihm die Menschen mit ihren aufgerissenen Kehlen vor. Er saß in Sichtweite zum Dirigenten schräg und nah am Publikum, das an langen Biertischen lärmend vor sich hin tafelte. Die Sänger und Sängerinnen auf der halbhohen Bühne störte dies nicht, denn sie waren auf die rudernden Gesten des Leiters programmiert, der mit seinem Schlagmuster, das zu groß war und sempre forte suggerierte, fast alle Blicke im Saale auf sich zog. War es Leidenschaft oder die bloße Abwehr gegen die Wand des permanenten Grummelns der anwesenden Zuschauer? Deutliche Liedschlüsse veranlassten schließlich zu Beifall, und ein verirrtes Bravo durfte nicht fehlen, schon aus Tradition nicht. Die Gage war ordentlich, und er vergaß diesen Abend in stickiger Luft bei zu geringer Raumhöhe schnell.

Eines Tages sagte sich der gesamte Vorstand der Singgemeinschaft bei ihm an, und die Herren klagten über den erwähnten Chorleiter. Schlechte Menschenführung, Probenausfälle, finanzielle Ungereimtheiten usw. sähen sie als ausreichenden Anlass, den Herrn seiner Funktion zu entheben. Der Pianist wollte seinerseits nicht den Königsmörder spielen. Man versprech ihm aber reichlich Entgelt für fürderhin zu leistende Dienste. Da er bald ein neues Auto kaufen wollte, machte ihm das Angebot mit Sondervergütungen bei Ständchen, Beerdigungen und Konzerten gierige Gedanken und er war sich damals nicht im klaren, auf was er sich da einlassen würde. Er sagte zu und startete nach den großen Schulferien mit dem Probenmarathon Kinderchor, junger Chor, gemischter Chor( In Stunden: 18 bis 19 Uhr, 19 bis 20 Uhr und schließlich 20 bis 22 Uhr)-jeden Donnerstag. Das größte Problem bereitete ihm die kritische und abwarten-de Haltung der eingefleischten Fans seines Vorgängers, allesamt aus der Gruppe „Junger Chor“. Junge Menschen sind im allgemeinen treu und wechseln ungern die Pferde. Er hatte aber gerade einige Songs zu „Hair“ arrangiert, die er gekonnt und mit pädagogischem Geschick einstudierte. Er war gewohnt, mit jungen Menschen umzugehen. Sein Charme und sein pianistisches Können überzeugten schließlich.

Die Alten hingen sowieso an seinen Lippen. Die Menge an singendem Personal war frappierend, die Niveauunterschiede ebenfalls. Die Soprane, die in den 40igern standen, kannten kein Passagio; deshalb war auch beim zweigestrichenen „e“ Schluss mit halbwegs sauberem und einheitlichem Singen.

Frauen waren noch nicht lange ins Geschehen integriert, da der Chor mit einer Tradition von 150 Jahren ursprünglich ein reiner Männerchor war, der sogar den Aderlass zweier Weltkriege einige Zeit kompensieren konnte. Mit dem gesellschaftlichen Umbruch der späten 60er Jahre veränderte sich das Männerbild, die Liedinhalte und das Selbstbewusstsein der Bevölker-ung. Elvis und die Beatles hatten ihren Teil dazu beigetragen, Radio und TV spülten immer mehr angelsächsisches Melodiengut ins Land (obwohl die ausländischen Stars und Sänger sich anfänglich auf die Verbreitung der jeweiligen deutschen Textversion ihrer Hits eingelassen hatten). Die sturen Vereine verschliefen diesen Trend und betrieben keine Jugendarbeit. Ihre Männer entschliefen nach und nach in den Armen des deutschen Mägde-leins.

Als Chorleiter lebte er nun mit der Schizophrenie der Literatur. Die einzelnen Altersgruppen beäugten sich argwöhnisch und verachteten insgeheim den musikalischen Geschmack der jeweils anderen. Bei Kon-zerten sollte er daher ein gemeinsames Lied spielen und singen lassen, um so wenigstens vor dem anwesenden Publikum den Anschein der Gemeinschaftlichkeit erscheinen zu lassen. Mit Diplomatie war es ihm noch immer gelungen, ein tragbares Konzept auf die Beine zu stellen. Der anschließende Dank mit Trollinger und Blumen war mehr als berechtigt.

Komischerweise war die Solidarität bei Stadtfesten mit Bewirtung oder beim Altpapiersammeln vollkommen intakt. Seit 7 Jahren trinkt er keinen Alkohol mehr, und sein Blutdruck dankt es ihm. Den genannten Chor leitet er seit nunmehr 25 Jahren. Die Alten sind (wenn sie nicht gestorben sind) noch älter geworden, die Stimmen leiser und…schöner! Die wachsende Qualität in den Jahren seiner Tätigkeit lässt Menschen singen, die Enkel waren und jetzt Eltern sind; sie lässt alten Damen und hageren Greisen die Ästhetik der Musik verspüren, wie es sie in der guten alten Zeit nie gege-ben hatte.

Den Kinderchor leiten seit langem andere. Er wollte sich nicht an Wunsch-geschöpfen aufreiben, wenn er wieder einmal wegen Überforderung kritisiert werden sollte. Modisch infantiles (wenn auch international) und die permanente Sucht nach einstimmigen Pillepalle- Musicals mit dem Stimmambitus einer kleinen Sexte waren ihm zeitlebens suspekt.

Dies war eben der Donnerstag, vom Dienstag oder Mittwoch ganz zu schweigen.

1 Chefsache (Menuett)


Bei seiner Inthronisation sang der Chor „You raise me up“, und die Big Band spielte einen flotten Two-Beat Titel im Stile der 20er Jahre des letzten Jahr-hunderts. Der Musiklehrer musterte den neuen Leiter beiläufig und stellte sich die bange Frage, ob es nun besser würde als die ganzen Jahre zuvor, als noch der emeritierte Rektor die Fäden in der Hand hielt. Dieser hatte ihn ständig seine latente Antipathie spüren lassen und vermied es, ihn nach Konzerten namentlich zu nennen oder lobend zu erwähnen; er hatte ihn des Öfteren pädagogisch auflaufen lassen, so sich irgendwelche Eltern wieder über Aussagen während des Unterrichts beschwert hatten. Zum Schluss stellte sich heraus, dass es die tradierte Fehlinterpretation einer Fehlinterpretation, also die Summe eines Missverständnisses – man kann auch sagen: Unverständnisses- handelte. Obwohl sich solche Vorgänge mehrere mal wiederholt hatten, hoffte jener Rektor, seinen ungeliebten Kollegen bei einem Fehltritt zu ertappen, um sich für die einstigen Avancen seitens seiner Exfrau- sie offenbarte sich vor Jahren bei einer Einladung ziemlich eindeutig- zu rächen.

Da saßen sie nun nebeneinander, der alte und der neue Chef, in einer Halle, die zu groß war, bei einer Feier, die zu lang war und die kulturellen Beiträge zur Redezeit der Provinz-Honoratioren im Verhältnis 1 zu 25 standen. Er er-innerte sich an die Freundschaft, die er mit dem Vorvorgänger, als dieser noch lebte, pflegte. In der Tat ein echter Westfale, laut, kantig, polarisier-end und glasklar in seiner Meinung. Sie beide waren anfänglich heftig aneinandergeraten, bis sie gemerkt hatten, wie kompatibel doch ihrer beider Charakter und Tun war. Als jener an einem Pankreasleiden starb spielte und sang sein junger Freund zu seiner Trauerfeier „My way“.

Das war lange her und jetzt stand er, der Musiklehrer, im selben Alter wie die beiden Chefs, die da mit ihren aktuellen Ehefrauen in der ersten Reihe saßen. Er selbst hatte noch ein Schuljahr vor sich, ehe er in Pension gehen könnte.

Das eine Jahr mit dem neuen Chef, der interessanterweise das selbe Tierkreiszeichen und den gleichen Vornamen wie sein Vorgänger hatte, ge-staltete sich recht fruchtbar und erfreulich. Der Mann hatte den nötigen Respekt vor den Leistungen seiner Fachschaft Musik. Auf einmal konnte der Musiklehrer mit Ratschlägen zum schulischen Alltag dienen, und ihre Be-gegnungen im Lehrerzimmer und in den Schulgängen wurden stets mit einem freundlichen Lächeln oder einem Handschlag begleitet. In der letzten Woche des Schuljahres- der Musiklehrer hatte freiwillig um eine Saison verlängert- bat der Chef um ein Gespräch, das eine oder anderthalb Stunden dauern sollte. Etwas irritiert stimmte der Musiklehrer zu, stand aber pünktlich zur vereinbarten Zeit am zweiten Ferientag frühmorgens vor dem Rektoratszimmer. Es entwickelte sich ein fruchtbares Gespräch, bei dem der Schulleiter von allerhand Tätigkeiten in der Vita seines Kollegen erfahren sollte. Als es im weiteren Verlauf des Gespräches zu den Verbesserungsvorschlägen für Schule und Alltag kam, wurde ihnen beiden schnell klar, dass die Nachhaltigkeit und die Brisanz ihres Meinungsaus-tausches den Rahmen dieser Schnupperstunde sprengen würde.

Man hatte auch über die beiden Schüler der 7. Klasse, die am letzten Schultag öffentlich und in der großen Pause ihr Bewusstsein mit dem Leeren 2er Wodka-Flaschen überfordert hatten, gesprochen. Außerdem war seit wenigen Tagen ein Graffiti-Penis an der Außenwand des Schul-gebäudes zu sehen und die ZehntklässlerInnen trügen T-Shirts mit schlüpfrigen Lettern, obwohl er, der Chef es ihnen in einem Vorgespräch ausdrücklich zu tragen verboten hatte. Der Musiklehrer schmunzelte und meinte lapidar: „ Das erste bestrafen, das zweite und dritte weglachen“!

Er und die Anderen

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