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Blauauge und Gelbfuß

Mein Onkel ist Hobbyornithologe«, erklärt die kleine Johanna. »Ja, das ist ein lustiges Wort. Wisst ihr denn auch, was das bedeutet?

Ornithologen sind Menschen, die sich mit der Vogelkunde beschäftigen. Das ist ein Zweig der Zoologie, denn es gibt so ungefähr einhunderttausend verschiedene Arten von Vögeln, und sie besiedeln fast alle Lebensbereiche auf unserer Erde. Da ist es wohl mehr als verständlich, dass es Menschen gibt, die sich davon faszinieren lassen.

Nun ja, mein Onkel Alfred ist so ein Mensch. Er ist zwar Dachdeckermeister, aber er interessiert sich so sehr für unsere heimische Vogelwelt, dass er sich jedes Jahr drei Wochen von seiner Arbeit freinimmt und auf die Insel Wangerooge fährt. Dort hilft er beim Einfangen von Vögeln, damit diese beringt und vermessen sowie gezählt werden können, bevor man sie wieder freilässt, oder er zählt die vielen Wasservögel, die in den Naturschutzgebieten der Insel landen, sich vor dem Weiterflug stärken oder auch das ganze Jahr dort leben.

Das sieht immer total lustig aus, wenn mein Papa ihn mit dem Auto zur Fähre nach Harlesiel bringt.

Papa meint dann immer, wenn Alfred vor unserer Tür steht, dass er wieder wie ein vollgepackter Packesel aussähe. Er hat zwar nur eine Tasche voll mit Kleidung und Waschutensilien bei sich, aber auf dem Rücken trägt er in einem Rucksack verpackt ein riesiges Fernglas mit Stativ. Ein weiteres Fernglas hat er um seinem Hals gehängt, an seinem Gürtel befinden sich ein Zählgerät, eine Getränkeflasche, ein Taschenmesser und eine Tasche für seine Sonnenbrille und in der anderen Hand hat er noch einige Bücher und Erkennungstafeln, damit er auch alle diese Vögel richtig identifizieren kann. Lustig finde ich auch seinen überdimensionierten, tarnfarbenen Schlapphut, von dem er behauptet, dass er seine menschlichen Konturen ein wenig verändern würde und er so von den Vögeln nicht so leicht als Mensch wahrgenommen werden könne.

Einmal meinte Papa zu ihm, dass er sich ja dann direkt als Kuh verkleiden könnte, aber das war natürlich nur ein Scherz.

Onkel Alfred meint immer, dass er als Dachdeckermeister seinen Traumberuf gefunden hat. Oben auf den Dächern ist man vielen Vögeln immer ganz nahe, sagt er und wir müssen meistens grinsen, wenn er mal wieder erzählt, welche Vögel ihm bei den Dachdeckerarbeiten begegnet sind.

Wenn er zu unseren verschiedenen Familienfeiern kommt, dann haben wir immer ganz viel Spaß daran, wenn er die verschiedenen Vogelstimmen nachmacht oder wenn er erklärt, wie sich die Vögel bei der Balz verhalten. Die Balz ist die Zeit im Jahr, wenn sich die Vögel paaren, also heiraten möchten.

Dann macht er immer irgendwelche Verrenkungen, bewegt Arme und Beine dabei, legt seinen Kopf in den Nacken und pfeift dann so, wie die jeweiligen Vögel es tun.

Aber was wir Kinder auch spannend finden, sind die vielen Geschichten, die er von den Vögeln erzählen kann, zum Beispiel wo sie herkommen, welchen Gefahren sie auf ihrem Zug zu uns ausgesetzt sind, wo sie wieder hinfliegen, wo sie ihre Nester bauen, um ihre Küken aufzuziehen, wo sie sich während der Mauser aufhalten und was sie so alles fressen.

Er weiß einfach alles von ihnen.

Als wir letzte Woche den achtzigsten Geburtstag meiner Oma gefeiert haben, da waren nicht nur alle meine Cousins und Cousinen da, sondern auch Onkel Alfred. Natürlich wurde er sofort wieder von uns Kindern umringt. Alle warteten ganz gespannt darauf, dass er wieder eine seiner spannenden Vogelgeschichten erzählt.

Als wir Kinder dann alle am Kindertisch zusammensaßen, da setzte er sich zu uns. Doch bevor er irgendetwas sagen konnte, da fragte meine kleine Cousine Marlis ihn, woher er denn diese ganzen Geschichten kennen würde.

Das wollten wir anderen Kinder natürlich auch wissen und so fing er an zu erzählen:

›Nun ja, Kinder. Ihr wisst ja alle, dass ich Dachdeckermeister bin. Deshalb verbringe ich viel Zeit auf Dächern und höre den Geschichten der Vögel zu. Denn im Laufe der Jahre, habe ich von ihnen die Vogelsprache gelernt, und manchmal unterhalten wir uns dann auf dem Dach. Gerade neulich habe ich durch Zufall die alte Dohle Jakob wiedergetroffen, mit der ich schon einmal auf der Insel Wangerooge gesprochen hatte.

Ich war natürlich neugierig und fragte sie sofort, was es denn Neues von der Insel gibt. So erzählte sie mir Folgendes:

Wir Dohlen hatten in diesem Frühjahr eine Erfahrung gemacht, die uns alle zum Nachdenken brachte und viele von uns sehen jetzt einige Dinge mit ganz anderen Augen.

Gerade war die Brutsaison beendet, unsere Dohlenkinder hatten sich gut entwickelt und sind aus den Nestern ausgeflogen. So flogen wir mit ihnen zusammen über die ganze Insel, um ihnen zu zeigen, an welchen Stellen man Futter findet. Bei uns Dohlen von der Nordsee ist es so, dass wir zum Strand fliegen, um auch dort nach Nahrung zu suchen. Oftmals findet man ein Stückchen Keks im Sand, vor allen Dingen, wenn Familien mit kleinen Kindern dort waren. Auch sonst sind wir nicht wählerisch. Wir fressen auch angeschwemmte tote Fische oder Schalentiere sowie ertrunkene Insekten, die von den Wellen angespült werden.

Und an solch einem Tag war es dann geschehen. Das Dohlenkind Blauauge traf das erste Mal auf die junge Heringsmöwe Gelbfuß. Ihr wisst ja, dass Dohlen strahlend blaue Augen haben, aber bei Blauauge war das Strahlen so schön, dass ihre Eltern ihr überhaupt keinen anderen Namen geben konnten.

Die beiden waren sich auf den ersten Blick sympathisch und so fingen sie an zu spielen. Sie liefen an die Wasserkante und gemeinsam tippelten sie ganz schnell an den Strand zurück, wenn eine Welle kam und das Wasser auf den Strand lief, sie pickten gemeinsam die toten Insekten am Ufer auf, schwebten zusammen im Wind und schauten, wer mit den wenigsten Flügelschlägen am längsten in der Luft bleiben konnte, ärgerten gemeinsam die Seehunde, die eigentlich nur in Ruhe ein Sonnenbad nehmen wollten, oder klauten den Touristen alles Fressbare, auf das sie gerade nicht aufgepasst hatten.

Die zwei Vogelkinder hatten sehr viel Spaß zusammen und wurden richtig dicke Freunde. Jeden Tag trafen sie sich wieder am Strand und jeden Tag wurden immer neue Dinge ausgeheckt. Die zwei waren unzertrennlich.

Das sahen nicht alle so gerne. Die erwachsenen Möwen waren damit gar nicht einverstanden und die älteren Dohlen aus Blauauges Schwarm fanden diese enge Freundschaft auch nicht gerade gut.

Dann schimpfte auch noch Blauauges Vater mit ihm und meinte, dass er ab sofort nicht mehr mit der Heringsmöwe Gelbfuß spielen dürfe. Dohlen gehörten in einen Dohlenschwarm und nicht in einen Möwenschwarm, sie seien schwarz und ein wenig silbergrau und nicht so einfältig weiß-grau, wie diese Möwen. Sie fänden ihre Nahrung hauptsächlich am Land und die Möwen am Wasser. Sie schliefen in Bäumen und Möwen am Strand oder auf den Felsen im Meer. Es gäbe einfach nichts, was sie mit denen gemeinsam hätten. Also solle Blauauge sich von denen fernhalten.

Und genau so erging es Gelbfuß, der Heringsmöwe. Auch ihm wurde von seinen Eltern der Umgang mit Blauauge verboten.

Natürlich machte das beide sehr traurig und wenn Blauauge mal wieder mit seinem Schwarm am Strand war, da beäugte man sich nur noch aus der Ferne, tat aber das, was die Erwachsenen ihnen gesagt hatten.

Aber eines Tages passierte etwas Unvorhersehbares. Blauauges Schwarm durchsuchte mal wieder den Strand nach etwas Fressbarem. Da passierte es. Blauauge verhedderte sich mit den Füßen in einem alten, angeschwemmten Stück Fischernetz. So sehr er auch zappelte und strampelte, er kam nicht von dem Netz los. Dann kam auch noch ein großer, schwarzer Hund auf ihn zu, den seine Besitzer nicht angeleint hatten, obwohl das zu dieser Zeit eigentlich verpflichtend war. Der wollte sich natürlich den zappelnden Federbalg sofort schnappen.

Die Heringsmöwe Gelbfuß erkannte die Gefahr sofort. Sie überlegte nicht lange, sondern flog direkt auf den Hund zu und attackierte ihn mit ihrem spitzen Schnabel. Als die anderen Möwen sahen, wie mutig Gelbfuß sich auf den Hund stürzte, da kamen sie ihm sofort zur Hilfe und auch alle Dohlen am Strand stürzten sich gemeinsam auf den Hund, der gar nicht mehr wusste, was um ihn geschah. Dieser nahm vor Schreck sofort Reißaus und kümmerte sich nicht länger um Blauauge. Nach einiger Zeit konnte dieser sich dann aus dem Netz befreien und flog sofort zu Gelbfuß, um sich zu bedanken. Diese meinte aber nur, dass Freunde doch so etwas füreinander machen würden.

Natürlich sprach sich im ganzen Vogelreich auf Wangerooge sofort herum, wie mutig Gelbfuß seinen Freund verteidigt hatte und wie die Möwen und die Dohlen den Hund gemeinsam in die Flucht geschlagen hatten. Und die alten Dohlen und Möwen erkannten, dass sie doch zusammenhalten und dass man sich bei Gefahr auch gegenseitig helfen müsse.

Dass sie eigentlich sehr unterschiedlich waren, spielte plötzlich keine Rolle mehr. Seit diesem Tag hatten keine Möweneltern und keine Dohleneltern von der Insel Wangerooge mehr etwas dagegen, wenn ihre Kinder miteinander spielten.

Ja, so war das. Diese Geschichte hat uns alle umdenken lassen und das ist auch gut so.

Nun Kinder, so hat mir die Dohle Jakob die Geschichte erzählt. Ich habe mich gefreut, dass die Geschichte so gut ausgegangen ist und auch ich habe aus der Geschichte noch etwas gelernt. Seit diesem Tag hebe ich nämlich am Strand immer die Reste von Fischernetzen oder auch alte Schnüre auf und entsorge diese im Mülleimer. Ich möchte ja nicht, dass sich nochmals ein Vogel mit den Füßen darin verheddert. Ich wäre froh, wenn ihr das ab heute genauso macht.‹

Das versprachen wir Kinder natürlich sofort.«



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