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Оглавление2 Pädagogik der Aufklärung: Das späte 18. Jahrhundert
„Menschlichkeit (Moral)
Menschlichkeit ist ein Gefühl des Wohlwollens für alle Menschen, das nur in einer großen und empfindsamen Seele aufflammt. Diese edle und erhabene Begeisterung kümmert sich um die Leiden der anderen und um das Bedürfnis, sie zu lindern; sie möchte die ganze Welt durcheilen, um die Sklaverei, den Aberglauben, das Laster und das Unglück abzuschaffen […] Es macht ihr Freude, die Wohltätigkeit auf alle Wesen auszudehnen, die die Natur neben uns gestellt hat. Ich habe diese Tugend […] zwar in vielen Köpfen bemerkt, aber nur in wenigen Herzen.“
2.1 Die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen
Johann Amos Comenius
„Nicht nur die Kinder der Reichen und Vornehmen sollen zum Schulbesuch angehalten werden, sondern alle in gleicher Weise, Adlige und Nichtadlige, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen aus allen Städten, Flecken, Dörfern und Gehöften […] Dem widerspricht nicht, daß manche Menschen von Natur aus träge und dumm erscheinen. Gerade das empfiehlt und fordert eine solche Wartung der Geister nur noch mehr. Denn je träger und schwächlicher einer von Natur aus ist, umso mehr bedarf er der Hilfe, um von seiner schwerfälligen Stumpfheit und Dummheit so weit wie möglich befreit zu werden. Und man findet keine so unglückliche Geistesanlage, daß sie durch Pflege nicht verbessert werden könnte […]“ (Comenius 1985, 55f u. 194)
Aufklärung
Allen, die als Menschen geboren werden, also auch jene mit einer Behinderung, das Lebens- und Bildungsrecht zuzuerkennen, sie zu erziehen und zu unterrichten – dieses Ziel findet sich schon bei dem großen Pädagogen Comenius (1592–1670) im 17. Jahrhundert und hat seine Aktualität bis in die Gegenwart nicht eingebüßt. Es sollte seit Erscheinen der Amsterdamer Ausgabe der „Didacta Magna“ (1657) von Comenius allerdings noch mehr als ein Jahrhundert vergehen, bis im Zeitalter der europäischen Aufklärung einzelne Persönlichkeiten Überlegungen, Pläne und praktische Unterrichtsversuche für jene erdachten, entwarfen und umsetzten, die „anders“ waren und die als Blinde, Taubstumme und „Blödsinnige“, vornehmlich als Angehörige der unteren Stände, von Bildung und Erziehung ausgeschlossen waren.
Dieser Impetus, Bildungsanstrengungen für die im ökonomischen Sinne armen und behinderten Menschen zu unternehmen, ist besonders hervorzuheben, denn in den höheren Gesellschaftsschichten hatte es zu allen Zeiten pädagogische Anstrengungen für Personen mit Sinnes- und Körperbehinderung gegeben. Nach Jürgen Oelkers war „die Verschulung der ‚unteren Stände‘ der ‚Testfall‘ der pädagogischen Aufklärung“ (Benner/Oelkers 2004, 102). Die von ihm herausgestellten drei wesentlichen Innovationen der Aufklärung, nämlich das experimentelle Verfahren der Naturwissenschaften, das Konzept der öffentlichen Bildung sowie die sensualistische Lerntheorie, waren notwendige Bedingungen für die ersten planvollen Erziehungsversuche für junge Menschen mit einer Behinderung.
Menschen mit Behinderung im Altertum
Doch zunächst sei daran erinnert, dass es bereits im Altertum gebildete Menschen mit einer Behinderung gab. Das blinde Mädchen von Brauron etwa gehörte zum Kreis gehobener Töchter Athens, deren Mädchenbildung im Rahmen des Artemiskultes erfolgte und das „nicht nur in den Kreis der sehenden Mädchen integriert, sondern […] wahrscheinlich sogar eine herausgehobene Position“ innehatte (Hoof 1990, 270). Auch in anderen Kulturkreisen gab es frühe Bildungsbemühungen um Menschen mit Blindheit, die meist handwerklicher Natur waren. So berichtet Wanecek (1969, 28f) von Zusammenschlüssen blinder Musiker und Masseure in Japan und China, die ihren Nachwuchs selbst heranbildeten, und Grosse (1993) erwähnt die Aufmerksamkeit, die in der Kultur der Sumerer einzelnen behinderten Menschen entgegengebracht wurde. Für das frühe Christentum wird von dem gelehrten Blinden Didymus (313–398 n. Chr.), ägyptischer Herkunft, erzählt, der ein aus Holz angefertigtes Alphabet benutzte, mit Hilfe des Tastsinns das griechische Alphabet erlernte und es bis zum Leiter der theologischen Hochschule von Alexandria brachte (Azer 1990). Und auch für das häufig als finster bezeichnete Mittelalter kann nicht pauschal von Ablehnung und Ausschluss von Menschen mit Behinderung die Rede sein:
„Von den verschiedenen Arten der Darstellung Gehörloser im Mittelalter her […] scheint es, daß die Gehörlosen trotz ihrer Andersartigkeit im Mittelalter weniger benachteiligt waren als andere Behinderte.“ (de Saint-Loup 1993, 447)
„Wolfskinder“
Selbst verwahrlosten, wilden, geistig zurückgebliebenen „Wolfskindern“, die, einmal aufgegriffen, die Menschen des Mittelalters vor große Rätsel hinsichtlich ihrer Wesenshaftigkeit stellten, wurde keinesfalls pauschal die Fähigkeit zur Entwicklung abgesprochen. Am Beispiel des bislang ältesten Berichtes über ein Wolfskind aus dem 14. Jahrhundert, dem hessischen Wolfsjungen, lesen wir als Fazit einer gründlichen Quellenanalyse folgendes Urteil:
„Es wird deutlich, daß der Junge – so befremdlich er auch gewirkt haben mag – für seine Zeitgenossen nur eine relative Gefahr dargestellt haben kann, denn sonst hätte man sich nicht um ihn gekümmert, ihn ernährt, ihm den aufrechten Gang beizubringen versucht und ihm eine Sprachfähigkeit zugeschrieben. Der Wolfsjunge konnte ohne ‚Verdammung‘ das bleiben, was er war: ein Kind, das Hilfe brauchte. Wahrscheinlich geschah dies nicht zuletzt deshalb, weil man in dem Kind eher ein Kuriosum und ein menschliches Wesen, aber kein Teufelswerk sah, weil man weniger eine schaurige Geschichte erzählen wollte, sondern vielmehr einen Hinweis geben auf die […] Lernfähigkeit der Kinder.“ (Saathoff 2001, 104f)
Abb. 2.1: Altägyptisches Grabrelief
Angehörige der Oberschicht mit Behinderung
Nicht unerwähnt seien in diesem Zusammenhang schließlich die nachgewiesenen Bildungsanstrengungen für hochgradig Hörgeschädigte aus den höheren Gesellschaftsschichten, die bereits im 16. Jahrhundert in Spanien durch den Benediktinermönch Pedro Ponce de Leon (1510–1584) unternommen wurden und die Nachahmer sowohl in England und den Niederlanden als auch in Frankreich und Deutschland fanden. Nach Löwe (1992, 25ff) liegt in diesen ersten planmäßigen Unterrichtsversuchen der Beginn der Beschulung hörgeschädigter Kinder, denn im Unterschied zu früheren Zeiten, wo es sich in der Regel nur um den Unterricht einzelner, meist erwachsener Personen handelte, wandten sich diese Lehrer nun bewusst Kindern und Jugendlichen zu, die sie zunehmend in kleinen Gruppen zusammenfassten.
europäische Aufklärung
Auch wenn es bereits in früheren Jahrhunderten immer wieder Bildungsbemühungen um Menschen mit Behinderung gegeben hat, so kann von einem planvollen Beginn jedoch erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Rede sein. Die „Entdeckung der Bildbarkeit Behinderter“ (Ellger-Rüttgardt/Tenorth 1998) war möglich geworden, weil mit den Ideen der europäischen Aufklärung das allgemeine Bildungsrecht für jeden und damit auch für den behinderten Menschen proklamiert wurde. Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) hat Aufklärung wie folgt definiert:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere Aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Herrmann 2005, 99)
pädagogisches Jahrhundert
Weil jeder Mensch auf Lernprozesse angewiesen ist, weil Bildung und Erziehung den „neuen Menschen“ schaffen wollen, der in der Lage ist, sich seines Verstandes zu bedienen, wird das 18. Jahrhundert immer wieder als das „pädagogische Jahrhundert“ bezeichnet (Herrmann 1981; 1993; 2005; Tenorth 2008).
John Locke
Bedeutsam für die Pädagogik der Aufklärung waren vor allem die Ideen des englischen Philosophen John Locke (1632–1704), der als Sensualist die Bedeutung der Sinne für Wahrnehmung, Denken und Erkenntnis als zentral hervorhob. Die Aussage, dass Ideen nicht etwa göttlichen Ursprungs, also angeboren seien, sondern durch sinnliche Erfahrungen entwickelt und aufgebaut werden, eröffnete eine radikal neue Sicht auf die Entwicklungsfähigkeit eines jeden Menschen und unterstrich zugleich die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung.
Locke beeinflusste vor allem die Vertreter der französischen Aufklärung, wie etwa die Enzyklopädisten d’Alembert und Diderot, aber auch Rousseau, Condorcet und Condillac (Hofer-Sieber 2000).
„Brief über die Blinden“
Diderots „Brief über die Blinden“ von 1749 gewann entscheidenden Einfluss auf eine gewandelte Einstellung gegenüber behinderten Menschen (Möckel 2006). Indem Diderot eine Sinnesbehinderung nicht mehr unter dem Aspekt eines Defizits betrachtete, sondern sich für Kompensationsleistungen durch andere Sinne, wie etwa den Tastsinn als „Vikariatssinn“ interessierte, bescheinigte er auch den in ihren Sinnen eingeschränkten Personen prinzipielle Bildungsfähigkeit. Folglich existierte nach Auffassung der Sensualisten kein grundlegender anthropologischer Unterschied mehr zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Damit bestand die Aufforderung an findige Pädagogen, Methoden und Hilfsmittel zu erdenken, durch deren Einsatz bei der Beanspruchung der „Stellvertretersinne“ das Bildungspotenzial behinderter Menschen zur Entfaltung zu bringen war.
Diderot thematisierte in seinem Brief bereits konkrete Fragen der Unterrichtung blinder Menschen wie die Gestaltung unterschiedlicher Unterrichtsfächer oder den Einsatz von Hilfsmitteln und gab damit unschätzbare Anregungen für die sich entwickelnde pädagogische Praxis der Bildung von Menschen mit Sehbeeinträchtigung. Auch die Gruppe der „Taubstummen“ erfuhr durch Diderot eine ungeahnte Aufwertung, da Sprache und Verstand von ihm nicht mehr als unaufhebbare Einheit betrachtet wurden und damit Taubstumme nicht mehr, wie so häufig, als geistlose Wesen und nicht zur Kategorie des Menschen gehörend, betrachtet wurden. Diderot sah vielmehr in der Gebärdensprache eine natürliche und aussagekräftige menschliche Sprache. Deren besondere Wertschätzung schlug sich auch in seinem literarischen Werk „Rameaus Neffe“ nieder.
Abb. 2.2: Diderots Brief über die Blinden“
Diese neue Sicht auf eine Behinderung findet sich in Diderots „Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden“, in dem uns ein Blinder aus dem Provinzstädtchen Puiseaux vorgestellt wird, der nicht nur über erstaunliche Fähigkeiten verfügt, sondern recht selbstbewusst sein tägliches Leben meistert:
„Das ist ein Mann, dem es nicht an gesundem Verstand fehlt, den viele Leute kennen, der etwas von Chemie versteht und der mit einigem Erfolg die Vorträge über Botanik im Jardin du Roi gehört hat. Er stammt von einem Vater, der an der Pariser Universität unter Beifall Philosophie gelehrt hat. Er besaß ein ansehnliches Vermögen, mit dem er die Sinne, die er noch hatte, leicht hätte befriedigen können; doch überwältigte ihn in der Jugend die Vergnügungssucht. Man mißbrauchte seine Neigungen, seine häuslichen Angelegenheiten gerieten in Unordnung, und so zog er sich in eine kleine Provinzstadt zurück, von der er nun jedes Jahr eine Reise nach Paris macht. Er vertreibt dort Liköre, die er selber destilliert und mit denen man sehr zufrieden ist […]
Wir trafen gegen fünf Uhr abends bei unserem Blinden ein und fanden ihn damit beschäftigt, mit Hilfe erhabener Buchstaben seinen Sohn das Lesen zu lehren. Er war erst vor einer Stunde aufgestanden; denn Sie müssen wissen, daß der Tag für ihn anfängt, wenn er für uns aufhört. Er pflegt seine häuslichen Angelegenheiten zu erledigen und zu arbeiten, während die anderen ruhen. Um Mitternacht stört ihn nichts und fällt er niemandem zur Last. Seine erste Sorge ist, alles aufzuräumen, was man im Lauf des Tages von seinem Platz entfernt hat; und wenn seine Frau erwacht, findet sie gewöhnlich das Haus in Ordnung […]
Wir sahen ihn sehr feine Nadeln einfädeln. Darf man Sie bitten, Madame, hier Ihre Lektüre zu unterbrechen und zu erproben, wie Sie an seiner Stelle damit zurechtkommen würden? Falls Sie keinen Ausweg finden, will ich Ihnen den unseres Blinden verraten. Er hält das Öhr der Nadel quer zwischen seinen Lippen, und zwar in der Richtung, die sein Mund hat; dann saugt er mit Hilfe seiner Zunge den Faden an, der seinem Atem folgt, vorausgesetzt, daß der Faden nicht zu dick für das Öhr ist. Aber in diesem Fall kommt der Sehende kaum weniger in Verlegenheit als derjenige, der des Gesichtssinns beraubt ist.
Er hat ein überaus gutes Gedächtnis für Töne, und uns zeigen die Gesichter keine größere Verschiedenheit, als er in den Stimmen bemerkt. Sie haben für ihn unendlich viele feine Nuancen, die uns entgehen, weil wir nicht das gleiche Interesse an ihrer Beobachtung haben wie der Blinde …
Irgendeiner von uns kam auf den Gedanken, den Blinden zu fragen, ob er sich nicht freuen würde, wenn er Augen hätte. ‚Wenn mich nicht die Neugierde beherrschte!‘, sagte er, ‚so hätte ich ebensogern lange Arme. Mir scheint, daß meine Hände mich dann über das, was auf dem Mond geschieht, besser unterrichten würden als eure Augen oder eure Fernrohre. Außerdem hören die Augen eher auf zu sehen als die Hände zu fühlen. Es wäre also für mich wertvoller, wenn man bei mir das Organ vervollkommnete, das ich besitze, als wenn man mir jenes Organ gäbe, das mir fehlt.‘ […]
Der Blinde aus Puiseaux schätzt die Nähe des Feuers nach den Hitzegraden, das Maß, bis zu dem Gefäße gefüllt sind, nach dem Geräusch, das die Flüssigkeiten beim Eingießen verursachen, und die Nähe der Körper nach der Wirkung der Luft auf sein Gesicht. Für die geringsten Veränderungen, die in der Atmosphäre eintreten, ist er so empfindlich, daß er eine Straße von einer Sackgasse unterscheiden kann. Er schätzt vortrefflich das Gewicht der Körper sowie die Hohlmaße der Gefäße und hat sich aus seinen Armen eine so genaue Waage und aus seinen Fingern einen so bewährten Zirkel gemacht, daß ich in den Fällen, in denen es um Fragen des Gleichgewichts geht, immer auf unseren Blinden gegen zwanzig Sehende setzen werde. Die glatte Oberfläche der Körper hat für ihn kaum weniger feine Unterschiede als der Klang der Stimme, und daß er seine Frau mit einer anderen verwechselte, wäre nur zu befürchten, wenn er bei dem Tausch gewänne […]
Vorher hatte er die Absicht, sich mit einem Tauben zusammenzutun, der ihm Augen leihen sollte und dem er als Gegenleistung Ohren bieten wollte. Nichts hat mein Erstaunen dermaßen erregt wie seine eigentümliche Begabung für sehr viele Dinge; doch als wir ihm unsere Überraschung bezeugten, sagte er: ‚Ich bemerke wohl, meine Herren, daß Sie nicht blind sind. Sie sind erstaunt über das, was ich tue. Und warum staunen Sie nicht darüber, daß ich sprechen kann?‘ In dieser Antwort, so glaube ich, liegt mehr Philosophie, als er selbst hineinlegen wollte. Erstaunlich ist in der Tat die Leichtigkeit, mit der man sprechen lernt. Mit einer Menge von Wörtern, die nicht durch sinnlich wahrnehmbare Gegenstände vorgestellt werden können und sozusagen körperlos sind, können wir Ideen doch nur durch eine Reihe von feinen und tiefen Kombinationen zwischen den Ähnlichkeiten verbinden, die wir zwischen diesen nicht sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und den durch sie erweckten Ideen bemerken.“ (Diderot 1961, 51ff)
französische Aufklärung
Es war die französische Aufklärung, so möchte ich resümierend mit U. Hofer-Sieber feststellen, der die Anerkennung gebührt,
„wesentliche Akzente gesetzt zu haben, um den Rahmen angenommener menschlicher Bildbarkeit zu erweitern durch den Einbezug von Menschen, denen diese bisher noch weitgehend abgesprochen worden war. Damit konnte einerseits der Bereich pädagogischen Wirkens durch methodische Differenzierung erweitert werden. Andererseits wurde damit gleichzeitig die Vorstellung des Allgemeinmenschlichen breiter und vielfältiger gedacht. Bisher geltende Normierungen mussten bezüglich ihrer Gültigkeit für Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten hinterfragt und relativiert werden“ (2000, 211).
Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung
Schließlich liegen auch die Anfänge der Bildung und Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung im Zeitalter der Aufklärung, auch wenn die institutionalisierten Erziehungsversuche zeitlich deutlich später als die der Menschen mit Hör- und Sehbeeinträchtigung erfolgten.
Johann Heinrich Pestalozzi
Im deutschsprachigen Raum war es Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), auch ein Kind der Aufklärung und anfänglicher Bewunderer seines Landsmannes Rousseau, der bis in die Gegenwart als Urvater einer Pädagogik gilt, die in Theorie und Praxis auch jene mit einschließt, die nicht zu den Musterbildern an Stärke, Schönheit und Klugheit gehören. Damit zählt Pestalozzi mit seiner Theorie der allgemeinen Menschenbildung zugleich zu den Mitbegründern der Heilpädagogik. Pestalozzis Erziehungsversuch auf dem Neuhof von 1777, wo er sich verwaister, verwahrloster und auch behinderter Kinder annahm, gibt davon Zeugnis. Ausgelöst durch die Enttäuschungen über die Schattenseiten der menschlichen Natur, wie sie im Laufe der französischen Revolution und der Revolutionskriege zutage traten, hat sich Pestalozzi später von dem optimistischen anthropologischen Grundmuster des Naturzustandes des Menschen eines Rousseau abgewandt. Hans Scheuerl schreibt:
„Lienhart undGertrud“
„In seinem Volksbuch ‚Lienhart und Gertrud‘ […] zeichnet Pestalozzi […] ein umfassenderes Bild des Menschen als Rousseau, ein Bild von den Menschen in ihren wirklichen Wechselbeziehungen, in denen zwischen Gut und Böse, Gelingen und Scheitern auch die Mitteltöne nicht fehlen; ein realistisches Gemälde sozialer und ökonomischer, moralischer und geistiger Zustände, wie er sie im Züricher Gebiet und von seinem Gut in Neuhof aus hatte studieren können.“ (1982, 116)
Pestalozzi schreibt in seinem Aufruf an die Gönner und Förderer seiner Armenerziehungsanstalt von 1777:
„Edle Menschenfreunde.
Sie haben vor einem Jahr den schwachen Anfang meiner Erziehungsanstalt für arme Kinder unterstützen wollen, und ich wende mich auch dis Jahr wieder an Sie, edle Gönner dieser Endzwecke. Noch ist der Erfolg und die ganze Sache klein – aber dennoch ist es Ihnen Freude, daß ich mit Wahrheit versichere, daß einige Jünglinge und Mädchen davon, die einen unfehlbar dem Bettel und allem ihn begleitenden Elend aufgeopfert, die ändern in der äussersten Vernachlässigung einer drückenden Hausarmuth geblieben wären – zu Arbeitern gezogen sind, die mir wirklich jetzo schon Hilfe und Freude sind.
Es zeichnen sich aus
Barbara Brunner von Esch Zürichbieth, voll Empfindung, Verstand und angreifender Thätigkeit. Nur fühlt es sich zu sehr in der niedern Claß des Dienstenlebens – und ist zu wenig sanft für ein Mädchen.
Franziska Hediger catholischer Religion ein achtsames bescheidens weitgefölgigers Mädchen – eine vortreffliche Magd im ganzen Sinn des Worts.
Leonze Hediger sein Bruder wird ein vorzüglich guter Weber werden – ein Knab voll Muth, Stärke und Wachsthum, kühn bis zur Frechheit aber doch gutherzig […]
Anna Vogt und Elisabeth Vogt von Mandach.
Diese 2 Geschwisterte sind im erbärmlichsten Landstreifferleben eines gänzlichen Müssiggangs gewohnt gewesen – und fast ohne Hofnung war es die Arbeit dreyer Jahre sie von dieser Unthätigkeit und der damit verknüpften Untreu und Dieberey zurück zubringen. Mit inniger Freude sehe ich die Dumheit des ältern, von der man sich keine Vorstellung machen kann, nach und nach entwickeln – und seine gänzliche Unempfindlichkeit – fangt an zu weichen; Empfindungen von sittlicher Freude und Dankbarkeit und Pflicht kommen in sein Herz, und die Folgen der tieffesten, ödesten, verworrensten Wildheit und des hartesten Elends fangen an sich zu schwächen […]
Noch muß ich Maria Bächli und Lisabeth Arnolds gedenken. Das erste ist gänzlich blödsinnig im höchsten Verstand des Worts – so stark, daß ich keinen grössern Grad von Blödsinnigkeit bey eingesperrten Narren gesehen – Dabey hat es ein bewundernswürdiges musicalisches Gehör. Das zweyte voll Fähigkeiten, aber von der höchsten Armuth entkräftet krumzwerg, konnte es im neunten Jahr noch nicht gehen – Beyde diese Kinder verdienen ihr Brod, und gehen einem Leben entgegen in welchem sie ruhig eines ihre Wünsche befriedigenden Unterhalts sicher sind – Und es ist grosse tröstende Wahrheit, auch der aller Elendeste ist fast unter allen Umständen fähig zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit befriedigenden Lebensart zu gelangen – Keine körperliche Schwäche, kein Blödsinn allein gibt Ursach genug – solche mit Beraubung ihrer Freyheit in Spitälern und Gefängnissen zu versorgen – sie gehören ohne anders in Auferziehungshäuser, wo ihre Bestimmung ihren Kräften und ihrem Blödsinn angemessen gewählt und leicht und einförmig genug ist – so wird ihr Leben, der Menschheit gerettet, für sie nicht Qual sondern beruhigte Freude, für den Staat nicht lange kostbare Ausgabe sondern Gewinnst werden. Und ich fühle die Wichtigkeit dieser Wahrheit so sehr, daß ich der Bestätigung derselben durch mehrere Erfahrung mit Sehnsucht entgegen sehe – und wirklich wünsche ich noch einige Kinder von diesem Grade des Blödsinns – und cörperlicher Schwäche, wenn selbige nicht mit Auszehrungskrankheit behaftet ist, in meiner Anstalt zu haben.“ (Pestalozzi 1927, 176ff)
der „Wilde von Aveyron“
Auch im Frankreich der Aufklärung gab es ein frühes Erziehungsexperiment, das von großer Bedeutung für die Entwicklung der „Geistigbehindertenpädagogik“ werden sollte: der Erziehungsversuch mit Victor, dem „Wilden von Aveyron“.
Jean Itard
Dieser fand im August 1800 Aufnahme in der Taubstummenanstalt von Paris, die nun unter der Leitung des Priesters Sicard stand und in der Jean Itard als leitender Arzt tätig war. Die Kunde über das Aufgreifen des „Wilden von Aveyron“ im Jahre 1799 drang auch nach Deutschland. 1800 erschien ein entsprechender Bericht in der Zeitschrift „Frankreich“, die im liberalen Altona von 1799 bis 1804 erschien – ein Beleg dafür, wie stark alles, was in Frankreich zur Zeit der Revolution geschah, in intellektuellen Kreisen in Deutschland Beachtung fand und wie dicht der internationale Diskurs zum Thema „Behinderung“ war. Die Pariser Korrespondenten übermittelten folgenden französischen Bericht:
„Wir haben diesen Knaben neulich in dem Garten von St. Magloire gesehn. Er scheint 12 bis 13 Jahre alt zu seyn. Er aß halbgekochte Bohnen, mit denen er eben so behend, wie ein Affe mit Nüssen umzugehn wußte. Er heftet seine Augen auf keinen Gegenstand; er mag nicht mit vielen Menschen seyn; sobald man ihm zu nahe kommt sucht er zu entfliehn. Man gab ihm ein Stück Zwieback; er warf es weg […] Er hat starke Narben am linken Arm; man sollte glauben die Stellen wären verbrannt. Wie es scheint hat man ihm den Hals abschneiden wollen, denn der Einschnitt des Messers ist noch sichtbar […]
Wie uns geschienen ist er nicht taub. Er läuft nicht schnell, und hat einen üblen Anstand und keine Leichtigkeit beym Laufen. Er weint zuweilen, und schreyt immer erst auf ehe er lacht. Er läßt sich ein leichtes Kleid gefallen; doch weder Schuhe noch Strümpfe. Seine Haare, seine Haut, seine Farbe, seine Füße und seine Hände sind nicht die eines Waldbewohners. Einige Taubstumme haben uns zu verstehn gegeben, daß er zuweilen Baumrinde äße. Wir haben gesehn, daß er Stroh von der Erde aufnahm und es zwar nicht aß, aber doch aussog. Man sollte glauben, daß er gerne auf Bäume kletterte; er thut es nie. Der Bürger Sicard, der krank gewesen ist, hat uns gesagt, daß er sich mit diesem Kinde noch nicht hätte beschäftigen können. Er hofft, daß es ihm zu den wichtigen Versuchen die er anstellt, und zur Bestätigung seines Systems über die Erzeugung der Ideen sehr nützlich werden soll.“ (Werner 2004, 11)
Itards Erziehungsversuch
Itards Erziehungsversuch ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer Reform der französischen Psychiatrie, vertreten durch Pinel und Esquirol, die nicht nur für eine menschenwürdigere Behandlung der „Irren“ eintraten, sondern auch wichtige Vorarbeiten für eine differenzierte medizinische Sicht auf das Phänomen „Geisteskrankheiten“ leisteten. Itard, der in der Tradition des Sensualismus stand, unternahm sein sorgfältig dokumentiertes Erziehungsexperiment, um nachzuweisen, dass – entgegen der landläufigen Meinung – auch dieses scheinbar idiotische Kind durch menschliche Zuwendung sowie geduldige, gezielte sinnliche Erziehung zu einer höheren Entwicklung gebracht werden könne. Sein Bericht beeindruckt noch heute durch die Präzision der Beobachtung, den methodischen Erfindungsreichtum sowie eine Haltung, die von der prinzipiellen Bildungsfähigkeit eines jeden Menschen, auch eines offenbar „aussichtslosen Falles“ ausgeht. Damit stand Itard im Gegensatz zu dem Psychiater Pinel, der als leitender Arzt der Pariser Irrenanstalt Bicêtre in Victor nur ein idiotisches, nicht bildbares Kind zu entdecken vermochte. 1801 legte Itard seinen ersten, aufsehenerregenden Bericht vor, der wie folgt beginnt:
„Vorwort
Schwach an Körperkräften, ohne eigenes Denkvermögen und außerstande, selbständig den Gesetzen seines Wesens zu folgen, die ihn zur Krone der Schöpfung machen, betritt der Mensch die Erde. Nur im Rahmen der Gemeinschaft kann der Mensch die große Aufgabe, die ihm von der Natur zugedacht wurde, erfüllen, und ohne Zivilisation wäre er eines der schwächsten und unbegabtesten Lebewesen: Eine oft wiederholte Behauptung, die man aber noch nicht eindeutig bewiesen hat. Die Philosophen haben sie zuerst aufgestellt und andere haben sie weitergeführt und propagiert, indem sie als Beweis den physischen und moralischen Stand irgendwelcher herumziehender Völkerschaften nahmen, die sie als unzivilisiert betrachteten, weil sie nicht nach unserer Art zivilisiert waren, und bei welchen sie diejenigen Züge suchten, die der Mensch im reinen Naturzustand aufweist. Nein, hier muß man ihn nicht su- chen und studieren. In der wildesten Nomadenhorde und in der zivilisiertesten europäischen Nation ist der Mensch nur das, was man aus ihm macht. Notwendigerweise von seinesgleichen aufgezogen, nimmt er auch Gewohnheiten und Bedürfnisse an. Seine Ideen gehören ihm nicht allein. Er genießt den schönsten Vorzug seiner Gattung, nämlich die Fähigkeit, seinen Verstand zu entwickeln durch die Kraft der Nachahmung und den Einfluß der Gemeinschaft […]
Bericht über die ersten Entwicklungsschritte eines jungen Wilden
Ein Kind von bis 12 Jahren wurde in den Wäldern von Caune gesichtet. Es war vollständig nackt, suchte Eicheln und Wurzeln als Nahrung. Gegen Ende des Jahres VII [das Jahr 1799 nach dem republikanischen Kalender, E.-R.] wurde es wieder am gleichen Ort von drei Jägern gesehen. Sie ergriffen es im Moment, als es auf einen Baum klettern wollte, um sich ihrer Verfolgung zu entziehen. In einen Weiler der Nachbarschaft geführt und der Obhut einer Witwe überlassen, entfloh es im Verlaufe einer Woche. Es suchte die Berge zu erreichen, wo es in der winterlichen Kälte herumirrte, kaum bedeckt mit einem zerrissenen Hemd. Während der Nacht zog es sich zurück an einsame Orte, am Tag näherte es sich den benachbarten Dörfern und führte so ein vagabundierendes Leben bis zum Tage, an dem es von sich aus in ein bewohntes Haus im Departement Saint-Sernin eintrat.
Es wurde wieder aufgenommen, überwacht und gepflegt während zwei oder drei Tagen […] Ein Minister, Gönner der Wissenschaften, glaubte, daß dieses Ereignis für die Kenntnis der menschlichen Natur aufschlußreich sein könnte. Er gab Anweisung, daß das Kind nach Paris gebracht werde. Dorthin kam es Ende des Jahres VIII in Begleitung eines armen und achtbaren Greises, welcher versprach, es wieder zu sich zu nehmen und an ihm Vaterstelle zu vertreten, wenn die Gesellschaft es verlassen sollte.
Übermäßige, ja unvernünftige Hoffnungen gingen in Paris der Ankunft des Knaben vom Aveyron voraus. Viele Neugierige machten sich ein Vergnügen daraus, sein Erstaunen beim Betrachten der schönen Dinge in der Hauptstadt zu sehen. Viele sonst durch ihre Einsicht bekannte Persönlichkeiten dachten nicht daran, daß unsere Organe umso weniger anpassungsfähig sind und die Nachahmung umso schwerer ist, je isolierter ein Mensch lebt und je älter er ist. Sie glaubten, daß die Erziehung dieses Individuums die Angelegenheit einiger Monate sei und daß man schon bald über sein vergangenes Leben die interessantesten Auskünfte bekommen könne. Was sah man statt dessen? Ein widerlich schmutziges Kind, von spastischen und zeitweise krampfartigen Zuckungen befallen, das sich ständig wie gewiße Tiere in einer Menagerie hin- und herwiegte. Es biß und kratzte seine Betreuer und war dann wieder ganz gleichgültig.
Es ist leicht begreiflich, daß ein solches Wesen nur vorübergehend die Aufmerksamkeit der Neugierigen reizen konnte. Man rannte in Massen herzu, man sah es, ohne es zu beobachten, man beurteilte es, ohne es zu kennen und dann sprach man nicht mehr davon. In der allgemeinen Gleichgültigkeit vergaßen die Leiter und der berühmte Direktor der staatlichen Taubstummenanstalten nicht, daß man diesem Kinde gegenüber Verpflichtungen übernommen hatte, die es zu erfüllen galt. Sie erhofften wie ich viel von einer medizinischen Behandlung und übergaben das Kind mir zur Pflege.“ (Itard 1965, 17ff; Malson et al. 1972)
Itard scheitert
Nach fünf Jahren engagierter pädagogischer Arbeit resignierte Jean Itard. Die Fortschritte in der Entwicklung Victors waren sehr viel geringer, als Itard erhofft hatte; trotz großer Anstrengungen war es ihm z. B. nicht gelungen, Victor zum Sprechen zu bringen (eine psychoanalytische Deutung des Scheiterns von Itard findet sich bei Leber 1981).
Edouard Séguin
Aber nicht nur die Idee von der Bildbarkeit auch geistig behinderter Menschen war geboren, sondern es waren zudem erste Beweise für deren praktische Umsetzung erbracht. Es war ein junger Mitarbeiter Itards aus der Pariser Taubstummenanstalt, der den Faden Itards wieder aufgriff und mit großem Erfolg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterspann: der „Taubstummenlehrer“ und Arztsohn Edouard Séguin (Pellicier/Thuillier 1996, 1979; Rohrmann 2013).
Condorcets Bildungsplan
Diderot formulierte nicht nur revolutionäre Bildungsideen, sondern er entwickelte auch eine Konzeption für das öffentliche Bildungswesen, das allen Kindern der Nation offenstehen und in dem alleine die Fähigkeiten und das Vermögen des Einzelnen, nicht aber der gesellschaftliche Stand über das Maß an Bildung für den Einzelnen entscheiden sollte (Nieser 1992, 43ff).
Antoine de Condorcet
Fortgeführt wurde der Gedanke einer allgemeinen Bildung für alle durch Marie Jean Antoine de Condorcet (1767–1794), einem Gegenspieler der Jakobiner und ihres durch Le Peletier repräsentierten Erziehungskonzepts radikaler Gleichheit (Hellekamps/Musolff 1999, 107ff). Condorcets liberaler Schulentwurf ging von einer natürlichen Gleichheit individueller Rechte bei gleichzeitiger Ungleichheit individueller Fähigkeiten aus, und er propagierte demgemäß ein gestuftes Bildungswesen, das aus Primarschulen, Sekundarschulen, Instituten und Lyzeen bestehen sollte. Auch wenn Condorcets Bildungsplan in Frankreich nicht in die Praxis umgesetzt wurde, so blieb dieser Entwurf doch bis auf den heutigen Tag Modell eines demokratischen Bildungswesens (Michael/Schepp 1993, 84f).
Jean-Jacques Rousseau
Als sich Valentin Haüy 1786 mit seinem Erziehungs- und Unterrichtsplan für blinde Kinder an den französischen König wandte, war es kein geringerer als Condorcet – Mitglied der Académie Française und der Académie des Sciences, Generalinspekteur der Staatsmünze –, den Haüy als Kronzeugen für seine erfolgreiche pädagogische Arbeit mit blinden Kindern benennen konnte. In seiner Eigenschaft als Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften hatte Condorcet im Februar 1785 einen Bericht über die ersten Unterrichtserfolge Haüys verfasst, in dem er nicht nur die außerordentlichen methodischen Fortschritte der Erziehung von Menschen mit Blindheit beschrieb, sondern zugleich auf das Wärmste die Etablierung einer Institution für die Erziehung und Unterrichtung blinder Kinder und Jugendlicher empfahl. Dabei erinnerte Condorcet ausdrücklich an die nur wenige Jahre zurückliegenden pädagogischen Erkenntnisse und Erfolge eines Abbé de l’Epée, der sich wie Haüy einer bislang vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppe zugewandt hatte (Haüy 1990, Anhang).
Während John Locke und der Sensualismus in Deutschland einen geringeren Einfluss als in Frankreich ausübten, war hingegen ein anderer Vertreter der frankophonen Aufklärung im deutschsprachigen Raum von ungeheurer Wirkung, nämlich Jean-Jacques Rousseau (1712–1778).
Erziehungs- roman „Emile“
Sein Erziehungsroman „Emile oder über die Erziehung“ von 1762 fand begeisterte Aufnahme in Deutschland:
„Der Einfluß, den Rousseau auf die gesamte deutsche Aufklärung ausübt, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden; Lessing und Kant sind von ihm tief beeindruckt, die Philanthropen übersetzen seinen ‚Emile‘ und orientieren ihre Erziehungsvorstellungen zum Teil an ihm, ohne allerdings seiner Gesellschafts- und Kulturkritik zu folgen. Für Herder und den Sturm und Drang dagegen wird gerade dieser Teil von Rousseaus Gedanken zum Evangelium.“ (Nieser 1992, 217)
Pädagogik vom Kinde aus
Rousseaus Lehre von der natürlichen Erziehung, die kritische Distanz gegenüber Gesellschaft und Kultur, die Anerkennung einer eigenständigen kindlichen Entwicklung sowie die Entdeckung des Eigenrechts des Kindes (Flitner 1957, 31ff; Blankertz 1982, 69ff), das Denken in Entwicklungsstufen – kurzum, eine „Pädagogik vom Kinde aus“ – sind die bahnbrechenden neuen pädagogischen Ideen, die auch jene erfasste, die sich den vernachlässigten, behinderten Kindern zuwendeten. So berief sich Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863) in seinem „Hülfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus“ von 1840 neben anderen Kronzeugen ausdrücklich auf das Vorbild Rousseau, und Johann H. Pestalozzi gab aus Verehrung für Rousseau seinem Sohn den Vornamen Jean-Jacques.
Und dennoch werden an die Erziehungstheorie Rousseaus gerade in der Gegenwart und vor dem Hintergrund der Erfahrungen einer ausgrenzenden Pädagogik im 20. Jahrhundert kritische Anfragen seitens der Sonderpädagogik gestellt. Indem Rousseau, zweifellos in exemplarischer Absicht, für sein Erziehungsexperiment bewusst ein gesundes und starkes Kind auswählte, schloss er all jene aus, die diesen Idealvorstellungen nicht entsprachen. Daraus den Schluss zu ziehen, dass Rousseau Kindern mit Behinderung keine Erziehung gewähren wollte, kann aus dem Kontext des Textes meines Erachtens nicht abgeleitet werden, aber es bleibt aus sonderpädagogischer Sicht das Problem, dass der imaginäre „durchschnittliche“ Educandus als anthropologisches Modell begrenzt ist und damit die Vielfalt menschlicher Existenz nicht umfasst. Haeberlin urteilt,
„dass Rousseau mit seiner Vorstellung von natürlicher Entwicklung einerseits das entwicklungspsychologische Verständnis für das Kind ausserordentlich gefördert, dass er aber andererseits damit den Zugang zum Kind mit Abweichungen von der Entwicklungsnorm eher verbaut hat.“ (Haeberlin 2005, 128)
Lassen wir Rousseau selbst zu Wort kommen:
„Dieser vorher abgeschlossene Vertrag setzt eine glückliche Entbindung, ein wohlgebildetes, starkes und gesundes Kind voraus. Ein Vater hat keine Wahl und darf kein Kind bevorzugen; sie sind alle auf gleiche Weise seine Kinder, er schuldet ihnen allen die gleiche Fürsorge und die gleiche Zuneigung. Ob Krüppel oder nicht, kränklich oder stark, jedes ist sein Gut, über das er dem Rechenschaft ablegen muß, der es ihm schenkte […]
Wer eine Pflicht übernimmt, die ihm die Natur nicht aufzwingt, muß sich zuvor der Mittel versichern, sie zu erfüllen. Andernfalls ist er sogar dafür verantwortlich, was er nicht leisten konnte. Wer sich mit einem kränklichen und schwächlichen Zögling belastet, macht sich zum Krankenpfleger statt zum Erzieher […]
Ich würde mich nicht mit einem kränklichen und siechen Kind belasten, und wenn es achtzig Jahre alt würde. Ich mag keinen Zögling, der sich selbst und anderen unnütz ist, der allein damit beschäftigt ist, sich am Leben zu erhalten, und dessen Leib der Erziehung der Seele schadet. Verschwende ich meine Fürsorge an ihn, so verdopple ich den Verlust, indem ich der Gesellschaft zwei statt nur einen Menschen entziehe. Mag ein anderer sich dieses Krüppels annehmen. Ich bin einverstanden und lobe seine Nächstenliebe; hier aber liegt nicht meine Stärke. Ich kann nicht jemanden leben lehren, der nur daran denkt, wie er dem Tode entgeht.“ (Rousseau 1762/1995, 28)
Am Beispiel Rousseaus werden Widersprüche und Ambivalenzen einer Pädagogik der Aufklärung deutlich, wie sie auch in der deutschen Aufklärung durch die Proklamierung des Prinzips der Perfektibilität (Moser 1995, 47) zu finden sind. Die philanthropische Bewegung in Deutschland verkündete zwar das Streben nach individueller Vollkommenheit und Glückseligkeit, aber zugleich auch das nach gesellschaftlicher Brauchbarkeit und Nützlichkeit. Damit waren Widersprüche gegeben „zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Anpassung und Mündigkeit, zwischen dem Utilitarismus […] und der Bildung der Individuen zur Humanität“ (Tenorth 2008, 76), aber auch – so möchte ich im Hinblick auf Behinderung hinzufügen – zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen sowie zwischen Differenz und Verschiedenartigkeit auf der einen und Normierung und Ausgrenzung auf der anderen Seite.
Pädagogik der Armut
Diese Widersprüchlichkeit zwischen zweckfreier Allgemeinbildung und gesellschaftlicher Brauchbarkeit spitzt sich zu, wenn Strategien einer Pädagogik der Armut in den Blick genommen werden. Der mutige Landreformer Fritz Eberhardt von Rochow (1734–1805) proklamierte zwar, „daß Bildung als allgemeines ‚Menschenrecht auch dem Geringsten und Ärmsten‘ zustehe“ (Wehler 1989, 287; Schmitt 2003), aber er scheiterte mit seinen Plänen. Das Schulwesen am Ende des 18. Jahrhunderts war in Deutschland nach wie vor ein Abbild der ständischen Gesellschaft, in der jedem von Geburt her sein Platz zugewiesen war. Auch die Industrieschule kann als eine „Institution der Pädagogik der Armut“ klassifiziert werden (Leschinsky/ Roeder 1976), denn ihr primäres Ziel war die Erziehung zu Tugenden wie Fleiß und Sparsamkeit im Rahmen der vorfindlichen Gesellschaftsordnung, die dem Phänomen der Armut vorrangig mit Überwachung und Strafe begegnete (Foucault 1961; 1976; Herrmann 1981; Moser 1995). Herwig Blankertz urteilte über den Philanthropismus:
„[…] im Programm der allgemeinen Menschenbildung drückte Rousseau den revolutionären Anspruch der Aufklärung pädagogisch aus. Die deutschen Philanthropen faßten das Problem sehr viel enger. In ihrer Theorie der utilitären Erziehung rechtfertigten sie das, was die Praxis des merkantilistischen Staates war, nämlich den einzelnen Menschen dem gesellschaftlichen Anspruch preiszugeben, durch die Aufgabe, an dem ihm angewiesenen Orte zu funktionieren.“ (Blankertz 1982, 81f)
allgemeines Menschen- und Bildungsrecht
Und dennoch, so möchte ich abschließend unterstreichen, waren mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Ideen der allgemeinen Menschen- und Bildungsrechte in die Welt gekommen, die fortan ihre Wirksamkeit entfalteten. Der nicht mehr hintergehbare Anspruch einer Bildung für alle war die Voraussetzung dafür, dass auch für behinderte, benachteiligte und arme Kinder das Recht auf Bildung und Erziehung eingefordert werden konnte – ein Recht, das bis auf den heutigen Tag keine Selbstverständlichkeit ist.
Institutionalisierung
Damit Ideen gesellschaftliche Wirksamkeit und Nachhaltigkeit erlangen können, bedarf es des Handelns von Personen, die bahnbrechende Ideen in gesellschaftliche Praxis umsetzen. Im Falle der Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen waren es einzelne Pioniere, die durch Gründung von Institutionen der bereits im Einzelfall bewiesenen Bildungsfähigkeit gehörloser und blinder, etwas später auch geistig behinderter Menschen, zur gesellschaftlichen Anerkennung verhalfen. Ob in Paris, Leipzig und Wien, wenig später auch in Berlin – stets waren es außergewöhnliche Persönlichkeiten, die zum entscheidenden Motor für die institutionelle Entwicklung eines besonderen Zweiges im Bildungswesen wurden. Ob diesen mutigen Schritten Einzelner aber Erfolg und eine langfristige Wirkung beschieden war, hing von den spezifisch politisch-gesellschaftlichen Umständen ab. Daher sind stets gesellschaftliche Antriebskräfte und Widerstände mit zu bedenken, wenn es um eine Darstellung der Erfolgsgeschichte der ersten Institutionen für die Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher geht.
Die Gründung der Pariser Taubstummenanstalt ist unaufhebbar verknüpft mit dem Wirken des Priesters Charles Michel de l’Epée (1712–1789), der nicht nur eine Methode des Taubstummenunterrichts wissenschaftlich begründete, sondern mit dem Beginn eines privaten Unterrichts taubstummer Schülerinnen den Grundstein für die Entwicklung eines Bildungswesens für Menschen mit Taubheit legte.
Abbé de l’Epée
De l’Epée, Sohn eines Architekten in Versailles, Jansenist2 und wegen freisinniger Ansichten aus dem Priesteramt entlassen, war zu seiner Zeit keineswegs der Einzige, der taubstumme Personen unterrichtete – erinnert sei nur an seinen Gegenspieler Jacob Rodriguez Pereira (1715–1780), ein Verfechter der Lautsprache –, aber er verstand es, durch seine jahrelangen, auch international wirksamen Aktivitäten die Basis für die Etablierung einer öffentlich anerkannten Gehörlosenbildung zu legen.
Der immer wieder in der Literatur erwähnte Auslöser für den Unterricht Gehörloser war de l’Epées etwa im Jahre 1760 erfolgte Begegnung mit zwei taubstummen Mädchen, die bereits von einem anderen Priester unterrichtet worden waren. Das erste Kapitel seines 1776 veröffentlichten Werkes „Institution des sourds et muets par la voie des signes méthodiques“ gibt Auskunft über die religiösen Motive de l’Epées, spiegelt die ungeheure Aufbruchstimmung und Begeisterung wider und berichtet schließlich von den öffentlich zur Schau gestellten Unterrichtserfolgen:
„Kommen seit etwa dreißig Jahren mehr taubstumme Kinder zur Welt als vorher? Die Stadt Paris beherbergt eine große Anzahl von ihnen, man meldet sie uns von allen Seiten aus den Provinzen, und wir wissen, daß sich in den uns umgebenden Reichen ebensoviele finden. Ohne die Ratschlüsse der göttlichen Vorsehung durchdringen […] zu wollen […] glaube ich, daß dieses Gebrechen immer in fast gleichem Verhältnis zu allen unsern Leiden gefunden worden ist. Wenn es trotzdem scheint, daß es heute mehr Taubstumme gibt als in früheren Zeiten, so kommt das daher, daß man bis auf unsere Tage die Kinder, die ohne die Fähigkeit zu hören und zu sprechen geboren wurden, von der menschlichen Gesellschaft fern hielt, weil ihr Unterricht immer als sehr schwer, in mancher Hinsicht sogar als unmöglich angesehen wurde. Die Gelehrten wußten indessen sehr wohl, daß seit zwei Jahrhunderten einige Phänomene dieser Art […] mehr oder weniger unterrichtete Taubstumme, aufgetreten waren, was man alsdann als eine Art Wunder ansah; aber die übrigen Menschen kamen gar nicht auf den Gedanken, daß man jemals dieses Werk versucht hatte, und noch weniger ahnten sie, daß es jemandem gelungen war.
Die Taubstummheit stellte sich also den Augen als ein entsetzlicher Zustand dar und schien nach der Ordnung der Natur ein unheilbares Übel zu sein. Wir wissen sogar durch einwandfreie Berichte, daß es noch jetzt barbarische Länder gibt, in denen man die Kinder, die weder hören noch sprechen können, tötet, weil man sie als Ungeheuer ansieht […]
Heute haben sich die Dinge geändert. Man hat mehrere Taubstumme sich in der Öffentlichkeit zeigen sehen. Die Prüfungen, die sie zu bestehen hatten, sind durch Programme angekündigt worden, welche die Aufmerksamkeit des Publikums erregt haben. Personen jeden Standes und jeden Ranges haben sich in Menge dazu eingefunden. Die Schüler sind umarmt worden, man hat ihnen Beifall gezollt, sie mit Lob überhäuft, sie mit Lorbeeren gekrönt. Die Kinder, die man bis dahin als Auswurf der Natur angesehen hatte, haben sich mehr ausgezeichnet und ihren Vätern und Müttern mehr Ehre gemacht als deren andere Kinder, die nicht imstande waren, gleiches zu leisten, und die darob erröteten […]
Da die inländischen und fremden Zeitungen über das berichtet, was sich in Paris unter den Augen einer beträchtlichen Anzahl von vornehmen Zeugen zugetragen hat, sind die gewöhnlichen Unterrichtsstunden der Taubstummen sozusagen fortwährende Prüfungen geworden. Man sieht dort alle Tage Gelehrte verschiedener Länder und Personen höchsten Standes. Sogar einige unserer Fürsten haben sie mit ihrer Anwesenheit beehrt, und fremde Herrscher haben sich selbst davon überzeugen wollen, daß die öffentlichen Zeitungen sie nicht durch falsche Berichte getäuscht hatten.
Es ist also gar nicht mehr die Rede davon, die Taubstummen gänzlich von der Welt abzuschließen […] Die Taubheit, die man allein für das Los der Menschen erhielt, die, sich durch eine kleine Glocke bemerkbar machend, ihr Brot in den Straßen erbetteln, erscheint jetzt nur noch als eine jener körperlichen Häßlichkeiten, von denen auch die höchsten Stände nicht ausgenommen sind, und deren Nachteilen leicht abzuhelfen ist […]
Ich bin Lehrer der Taubstummen geworden, ohne daß ich damals wußte, daß es jemals andere vor mir gegeben hatte […] Der P. Vanin, ein sehr achtbarer Priester der Kongregation der Christlichen Lehre, hatte vermittelst Bilder (einem an sich sehr schwachen und ungewissen Hilfsmittel) den Unterricht von zwei taubstumm geborenen Zwillingsschwestern begonnen. Als dieser barmherzige Geistliche gestorben war, blieben die beiden armen Mädchen ohne alle Hilfe […] Da ich nun fürchtete, daß diese beiden Kinder ohne Kenntnis ihrer Religion leben und sterben würden, wenn ich nicht irgend ein Mittel versuchte, sie zu unterrichten, wurde ich von Mitleid für sie gerührt und ließ sie mir bringen, um mein möglichstes an ihnen zu tun.“ (de l’Epée 1910, 1ff)
Protagonist der Aufklärung
De l’Epées ungeheurer pädagogischer Optimismus, gepaart mit religiösen Motiven, galt in erster Linie nicht den Kindern aus besseren Kreisen, sondern jenen aus den unteren Volksschichten, die bislang von allen besonderen Bildungsbemühungen ausgeschlossen waren. Durch diese Betonung des sozialpolitischen Aspektes seiner Aktivitäten, durch die Forderung nach gleichen Menschen- und Bildungsrechten auch für die Vernachlässigten, erwies sich de l’Epée als ein wahrer Protagonist der Aufklärung:
„Die Taubheit ist ein Elend, dem Personen jeden Standes und jeden Berufes verfallen sind. Wir haben unter unsern Schülern vornehme und reiche, aber auch arme und solche aus der Hefe des Volkes. Daß wir den ersteren alle Arten von Kenntnissen geben, die sie verstehen können, damit wird man wohl ohne Zweifel einverstanden sein. Nun wohl, so muß man, was man auch dazu sagen möge, dulden, daß die anderen sie in Gesellschaft miterwerben können. Das ist um so gerechter, als die Reichen nur bei mir geduldet werden. Nicht ihnen, sondern den Armen habe ich mich gewidmet. Ohne diese würde ich niemals den Unterricht der Taubstummen übernommen haben. Die Reichen haben die Mittel, einen Lehrer für ihre Kinder zu suchen und zu bezahlen.“ (de l’Epée 1910, 90)
erste Unterrichts- versuche
De l’Epée begann seine ersten Unterrichtsversuche in seinem Privathaus in der Rue des Moulins und bestritt sie, unterstützt von seinem Bruder, bis zu seinem Tod 1789 weitgehend aus seinen privaten Geldmitteln. Aus seinen Aufzeichnungen von 1776 geht allerdings auch hervor, dass der Gründer der privaten Taubstummenanstalt von Paris schon sehr bald deren Umwandlung in eine öffentliche Unterrichtsanstalt im Auge hatte, da nach seiner Ansicht nur besondere „Erziehungshäuser“ den spezifischen Bildungsauftrag sichern könnten. So schreibt er:
„Die Welt wird niemals lernen, ihre Finger und Augen in größter Eile arbeiten zu lassen, nur um das Vergnügen zu haben, sich mit den Taubstummen unterhalten zu können. Das einzige Mittel, diese der menschlichen Gesellschaft völlig wiederzugeben, ist, sie zu lehren, mit den Augen zu hören und sich mündlich auszudrücken. Bei vielen unserer Schüler gelingt uns das, obgleich sie nicht bei uns wohnen, sondern nur zweimal wöchentlich in unsere Unterrichtsstunden kommen […] Diese Fähigkeit sollte man ausbilden, und man würde unfehlbar zu etwas Vollkommenem gelangen, wenn man Erziehungshäuser hätte, die ganz diesem Werke geweiht wären. Es scheint jetzt, daß das erste in Deutschland durch den Herzog von Sachsen/Weimar gegründet werden wird. Als dieser junge Fürst einer unserer Unterrichtsstunden beigewohnt hatte, hat er sogleich den Plan einer solchen Anstalt gefaßt […]“ (de l’Epée 1910, 76f)
Streben nach Verstaatlichung
Michel de l’Epée unternahm mehrere Anläufe, um für seine private Schule den Status einer öffentlichen Schule zu erlangen. Wiederholte Eingaben an den König sowie eine unermüdliche Zurschaustellung erzielter Unterrichtserfolge waren die Mittel, um die prekäre finanzielle Situation, wenn nicht zu überwinden, so doch zumindest zu mildern. Ungeachtet des Wohlwollens des französischen Königs sowie anderer privater Förderer erfüllte sich der Wunsch nach staatlicher Übernahme lange Zeit jedoch nicht.
Abbé Sicard
Als de l’Epée am 23. Dezember 1789, im Jahr der Revolution, starb, trug seine Unterrichtsanstalt immer noch den Charakter einer Privatanstalt. In ihr befanden sich zu diesem Zeitpunkt etwa 60 Schüler, die entweder durch die Eltern oder verschiedene Wohltäter, teilweise auch durch die „Société philanthropique“ unterstützt wurden. Der strenge Winter 1788/89, der Ausbruch der Revolution und damit die geringer werdenden privaten Finanzmittel brachten die Anstalt in eine äußerst prekäre Lage. So erschien der Nachfolger de l’Epées, der Abbé Sicard (1742–1822), mit einer Delegation seiner taubstummen Schüler in der Sitzung der Nationalversammlung und überreichte eine Bittschrift zur Verbesserung der unhaltbaren Anstaltssituation. Die Nationalversammlung erkannte 1790 die Nützlichkeit der Anstalt an, versprach auch staatliche Protektion, machte aber zugleich den Vorschlag, die Anstalten für Gehörlose und Blinde aus Kostengründen zusammenzulegen, was wenig später tatsächlich erfolgte.
Restauration in Frankreich
Als die Taubstummenanstalt 1791 verstaatlicht wurde, erinnerte sie allerdings kaum noch an das ursprüngliche Konzept ihres Gründers. Dessen Motive waren zwar auch utilitaristischer Natur gewesen, denn es ging stets um die sozialpolitische Aufgabe einer möglichst kostengünstigen gesellschaftlichen Eingliederung von Außenseitern, aber diese Zielsetzung war nicht zu trennen von den humanitär-pädagogischen Beweggründen einer allgemeinen Menschenbildung.
Die offizielle französische Politik der 1790er Jahre setzte hingegen immer stärker auf soziale Kontrolle und Kostenreduzierung bei gleichzeitigem Zurückdrängen des Bildungsanspruches. Hierzu passt auch, dass das Taubstummeninstitut und die 1785 gegründete Pariser Blindenanstalt noch im Oktober 1791 zusammengelegt und in dem „Couvent des Célestines“ untergebracht wurden. Hauptziel der Anstalt war nun das Ausüben einer Moralerziehung und das Verdienen des eigenen Lebensunterhaltes. Nach erlassenen Richtlinien herrschte in der Institution eine klar geregelte Hierarchie, durch welche die ununterbrochene Produktivität überwacht, Müßiggang geahndet und Fleiß belohnt werden sollten. Keiner der Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände, welche von den Schülern selbst hergestellt werden konnte, durfte außerhalb der Institution in Auftrag gegeben werden. Eine autarke Institution dank ökonomischer Unabhängigkeit, erwirtschaftet durch die Arbeit der Blinden und Taubstummen, das war das erklärte Ziel dieser neuen Institution, in der die Zöglinge kontrolliert und lückenlos überwacht wurden.
Es kam noch einmal im Nationalkonvent in den Jahren 1793 und 1794 zu einer hitzigen Debatte um die Funktion der Taubstummenerziehung. Dabei blieben aber jene in der Minderheit, die unter Verweis auf die Menschenrechte und das Prinzip der Brüderlichkeit den Bildungsanspruch auch für Gehörlose reklamierten. Die Vertreter der Gegenposition hingegen plädierten dafür, den Betroffenen einen Bildungsanspruch generell abzusprechen.
Die utilitaristische Ausrichtung der Taubstummenanstalt wurde in den Folgejahren fortgeführt. Für die 60 Freiplätze wurde festgelegt, dass der Staat bei einer Unterrichtszeit von fünf Jahren (im Alter von 9 bis 16 Jahren) nur für die ersten drei Jahre die Pensionskosten übernehmen würde, im vierten Jahr nur noch zur Hälfte für die Kosten aufkäme und das fünfte Jahr schließlich ganz durch die Arbeit der Schüler finanziert werden musste.
Restauration in Frankreich
Die sich nach dem Machtantritt Napoleons abzeichnende Restauration der französischen Gesellschaft mit ihrer erneuten Zementierung gesellschaftlicher Klassengegensätze bewirkte eine noch stärkere Pointierung der Nützlichkeitsbestimmung der Taubstummenerziehung bei gleichzeitiger Verfestigung ihres klassenspezifischen Charakters. In einem Prospekt aus dem Jahr 18013, welcher den Auftrag der Institution neu umreißen sollte, wurde insbesondere die gesellschaftliche Nutzbarmachung der Taubstummen hervorgehoben, eine Nutzbarmachung – so der Verfasser des Prospekts – welche die Schule de l’Epées weitgehend vernachlässigt habe. Die Leistung des Gründers wurde zwar gewürdigt, gleichzeitig aber auf das Problem verwiesen, dass die Zeit, welche von diesem für die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten aufgewendet wurde, „fût perdu pour le travail des mains“.4 Taubstumme – so die Meinung der Verfasser des Prospektes – waren durch die ausschließlich intellektuelle Bildung zu einem müßigen und faulen Leben erzogen worden und damit weiterhin eine Bürde ihrer Eltern geblieben.
Demgegenüber wurden nun die entstandenen Werkstätten in den Vordergrund gerückt, in denen die verschiedenen Handwerke gelernt werden konnten: Druckerei, Drechslerei, Gravur, Zeichnen, Mosaik, Schreinerei, Schneiderei, Schuhmacherei. Wie bereits 1792 festgelegt, wurde auch in diesem Prospekt darauf verwiesen, dass sämtliche Gebrauchsartikel und Unterrichtsgegenstände von der Institution selbst herzustellen seien, und darüber hinaus wurde angeregt, auch andere Hospize mit den Erzeugnissen der Anstalt zu versorgen.
Als eine besondere Neuigkeit wurde die Zweiteilung der Institution angepriesen, die die gesellschaftliche Schichtung getreu widerspiegelte, indem eine spezielle Schulabteilung für Taubstumme aus vermögenden Familien eingerichtet wurde. Damit bestand die Pariser Anstalt zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus zwei strikt voneinander getrennten Sektionen, die kaum noch Gemeinsamkeiten in der pädagogischen Arbeit aufwiesen. In der ersten Abteilung befanden sich etwa 80 Taubstumme, die auf Kosten der Nation unterrichtet und nur für eine nützliche Tätigkeit ausgebildet wurden. In der zweiten, kleineren Gruppe erhielten dagegen etwa 40 taubstumme Kinder zahlender Eltern in allen üblichen Unterrichtsfächern Unterweisung.
Sozialdisziplinierung
Nicht allgemeine Menschenbildung war mehr das Ziel der Unterrichtung Gehörloser aus den armen Volksschichten, sondern soziale Disziplinierung und die Perpetuierung sozialer Ungleichheit. Für all diejenigen, die aufgrund ihres gesellschaftlichen Status zu einer frühen Berufswahl prädestiniert waren, musste demnach eine über das Notwendige hinausweisende intellektuelle Bildung als Verschwendung gelten. Somit war es nur konsequent, dass Anträge auf Freiplätze nur noch für Taubstumme im Alter von 12 bis 14 Jahren gestellt werden konnten, denn nur durch Heraufsetzung des Eintrittsalters war die erwartete Arbeitsfähigkeit der taubstummen Menschen zu gewährleisten.
Die Parallelen zwischen den Anfängen der Taubstummen- und Blindenbildung in Paris sind unübersehbar. So ist, ungeachtet der zeitlichen Differenz, auch im Falle der Bildung von Menschen mit Blindheit eine hervorragende Persönlichkeit Motor der Anstaltsgründung: Valentin Haüy (1745–1822), Sprachwissenschaftler und königlicher Dolmetscher. Nicht anders als die Taubstummenanstalt hat auch die Blindenanstalt zunächst den Charakter einer Privatanstalt, und sie soll gerade den Kindern armer Bevölkerungsschichten offenstehen. Auch sie befindet sich permanent in einer finanziell äußerst angespannten Situation und bewegt sich in ihrem pädagogischen Konzept zwischen dem Ideal allgemeiner Menschenbildung und der utilitaristischen Festlegung auf die Hinführung zur Erwerbsarbeit.
Valentin Haüy
August Zeune
Natürlich kannte Haüy wie alle gebildeten Franzosen seiner Zeit Diderots Briefe über die Blinden, aber es bedurfte eines Schlüsselerlebnisses, um in ihm den Plan reifen zu lassen, mit einem Unterrichtsversuch für blinde junge Menschen zu beginnen. Es war die unwürdige Zurschaustellung blinder, kostümierter Musikanten auf dem Pariser Markt Saint-Ovide im Jahre 1771, von der Haüy in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder berichtete und die ihn zutiefst empört hatte. Noch im Sommer 1806, als Haüy Paris Richtung Russland verließ und auf seiner Reise Halt in Berlin machte, trug er den bildlichen Beweis dieser Szene mit sich, gleichsam als symbolischen Beleg für die notwendige Befreiung blinder Menschen aus solch erniedrigender Abhängigkeit durch Unterricht und Erziehung. August Zeune, der spätere Direktor der Blindenanstalt in Berlin, erwähnte diese Episode in seinem Werk „Über Blinde und Blindenanstalten“, in dem er schrieb: „Haüy zeigte bei seiner Anwesenheit in Berlin mir einen Kupferstich, wo dieses lächerliche Tonspiel vorgebildet war, worunter noch Reimereien zur Verspottung der Blinden standen.“ (Zeune 1817, 32)
Philanthropische Gesellschaft
Die Gründung der Philanthropischen Gesellschaft, der „Société Philanthropique“, 1780 schuf die Voraussetzung für die Etablierung einer Institution zur Unterrichtung Blinder. Diese Vereinigung wohlhabender, aufgeklärter Bürger und Adeliger, der auch Louis XVI seit 1784 angehörte, wollte drei Personengruppen Unterstützung und Hilfe gewähren: unversorgten armen und alten Menschen, armen Wöchnerinnen sowie armen Blinden. In einem Aufruf im „Journal de Paris“, der ersten Pariser Tageszeitung, vom Dezember 1783 bat die Gesellschaft die Öffentlichkeit um Spenden für blinde Kinder. Mit dem Hinweis auf das Quinze-Vingts5, welches Blinde erst im Alter von 21 Jahren aufnehmen könne und außerdem überfüllt sei, gab die Société Philanthropique bekannt, dass sie zwölf blinden Kindern eine jährliche Unterstützung zukommen lassen wolle. Als Aufnahmebedingung war festgelegt, dass diese Kinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren ihren Wohnsitz in Paris haben und armen, aber ehrenwerten Arbeiterfamilien entstammen. Außerdem war der Anmeldung das Zeugnis eines Augenarztes zur Bestätigung der geburts- oder früherworbenen Blindheit beizulegen.
Die Motive der Société Philanthropique lagen keineswegs nur in selbstloser Nächstenliebe, sondern ebenso in einem wohlbegründeten gesellschaftlichen Interesse, das auf die soziale Tüchtigkeit bisher untätiger Personen abzielte. Der König selbst bekundete die Absicht, die Bettelei mit allen Mitteln zu bekämpfen und den Müßiggang in Arbeitsamkeit umzuwandeln, ablesbar an einem Brief aus dem Jahre 1771, in welchem er sein Entsetzen über das Ausmaß an Bettelei in den Straßen von Paris und Versailles äußerte. Der Generalleutnant der Polizei, so forderte der königliche Brief, solle demzufolge geeignete Arbeitshäuser für körperlich Gesunde wie auch für Versehrte errichten.
Maria Theresia Paradis
Im September 1784 meldete sich Valentin Haüy bei der Philanthropischen Gesellschaft zu Wort und unterbreitete einen Vorschlag zur Unterrichtung Blinder – unter Berufung auf Diderot, aber auch Maria Theresia Paradis und Johann Ludwig Weissenburg. Die blinde Wienerin Maria Theresia Paradis (1759–1824) war Sängerin, Pianistin, Komponistin. Sie unternahm 1783 eine dreijährige Konzertreise durch Deutschland, in die Schweiz, nach England und Frankreich. In Paris traf sie im März 1784 ein, wo sie bis zum Oktober des Jahres zahlreiche, mit großem Beifall des Publikums aufgenommene Konzerte gab und engen Kontakt mit Haüy pflegte, der bei ihr viele Hilfsmittel für Blinde kennenlernte. .
Johann L Weissenburg
Johann Ludwig Weissenburg (1752–1800) stammte aus Mannheim, und er war im Alter von fünf Jahren erblindet. Für seine Unterrichtung waren verschiedene Hilfsmittel konstruiert worden, welche Haüy ebenfalls durch Maria Theresia Paradis während ihres Aufenthaltes in Paris kennenlernte (Mell 1952; Dreves 1998).
Eröffnung der Pariser Blindenschule
Die Philanthropische Gesellschaft reagierte positiv auf das Angebot Haüys, und nur wenige Monate später, im Februar 1785, würdigte die „Académie Royale des Sciences“ die pädagogischen Erfolge Valentin Haüys, wobei sie insbesondere sein Verdienst für die Ausarbeitung einer zusammenhängenden, so bislang nicht existierenden Methode des Blindenunterrichts hervorhob. Bereits am 19. Februar 1785 erfolgte die Eröffnung der Blindenschule Haüys mit einem Konzert in der „Académie Royale de Musique“ und einer anschließenden Demonstration der Unterrichtserfolge der ersten Schüler, deren Zahl sich im folgenden März bereits auf 24 belief.
1786 veröffentlichte Valentin Haüy seinen „Essai sur l’Education des aveugles“, der einen kurzgefassten Bildungs- und Lehrplan für den Unterricht blinder Schüler enthält. In seinem Vorwort erinnerte Haüy an das doppelte Schicksal von Armut und Behinderung, indem er darauf hinwies, dass er vor allem der „classe d’infortunés“, also der Klasse der Unglücklichen, Armen, mit seinem Erziehungsplan dienen möchte. Haüy, der sein Werk dem französischen König widmete, unterließ es nicht, das positive Urteil mehrerer Mitglieder der Académie Royale des Sciences – namentlich Antoine de Condorcet – als Beleg für seine erfolgreiche pädagogische Arbeit mit blinden Kindern anzuführen. In ihrem Bericht würdigten die Mitglieder der Königlichen Akademie der Wissenschaften vom Februar 1785 nicht nur die außerordentlichen methodischen Fortschritte der Blindenerziehung, sondern empfahlen zugleich auf das Wärmste die Etablierung einer Institution für die Erziehung und Unterrichtung blinder Kinder und Jugendlicher. Dabei erinnerten auch sie an die nur wenige Jahre zurückliegenden pädagogischen Erkenntnisse und Erfolge eines Abbé de l’Epée, der sich wie Haüy einer bislang vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppe zugewandt hatte.
öffentliche Darbietungen
Haüy folgte dem Beispiel de l’Epées und trachtete danach, ein großes Publikum für seine Anstalt zu interessieren und lud somit auch zu öffentlichen Darbietungen ein. So gab er bereits im Dezember 1784 im „Journal de Paris“ bekannt, dass man sich künftig in seiner Wohnung, Rue Coquillière, einschreiben könne, und schon kurze Zeit später kündigte er an, dass die Prüfungen seiner blinden Schüler nun zweimal wöchentlich abgehalten würden.
Lehrer mit Blindheit
Nicht anders als de l’Epée unterrichtete Haüy von Anfang an Blinde beiderlei Geschlechts. Aus dem Programm der öffentlichen Unterrichtsschau, welche Haüy mit seinen blinden Schülern im Dezember 1786 vor der königlichen Familie in Versailles abhielt, geht hervor, dass sich unter den 24 anwesenden Blinden im Alter von 8 bis 30 Jahren neun Mädchen befanden. Eine Besonderheit der Blindenanstalt war, dass nach Möglichkeit begabte blinde Schüler als Lehrer eingesetzt werden sollten, was zweifellos der Kostenersparnis diente. Vorbild war der sehr begabte erste Schüler Haüys, Le Sueur, der nach seiner Aufnahme 1784 schon bald als Lehrer tätig wurde und als Anerkennung für seine Arbeit eine regelmäßige finanzielle Entschädigung erhielt.
Bericht eines deutschen Besuchers
Die im Vorjahr der Revolution über Frankreich hereinbrechenden Naturkatastrophen veränderten das Finanzgebaren der Société Philanthropique, die nun vor allem die Katastrophenopfer unterstützte und damit die Gelder für die Blinden spärlicher fließen ließ. Ähnlich wie de l’Epée musste Haüy neue Finanzquellen erschließen, und er tat es, indem er ab 1789 Klassen sehender Kinder aufnahm, die durch blinde Lehrer unterrichtet wurden. Die Wirren der Revolution ließen schließlich die private Unterstützung immer weiter schrumpfen, denn viele Mitglieder der Philanthropischen Gesellschaft zählten zu den politisch Verfolgten, die enteignet oder umgekommen waren bzw. das Land verlassen hatten. Ein deutscher Besucher der Blindenanstalt im Jahre 1791 vermittelt in seinem Bericht einen Eindruck von den existenzsichernden Maßnahmen der Blindenanstalt:
„Diese Waren werden zum Besten des Instituts verkauft. Diejenigen, die Geisteskraft, Fähigkeit und Kenntnisse haben, bietet man dem Publikum in einer eigenen Ankündigung zu Lehrern sehender Kinder an, nicht sowohl, um eine geschwindere, leichtere und fasslichere Unterrichtsmethode erwarten zu lassen, als dem Publikum Gelegenheit zu geben, Wohlthätigkeit zu üben und aus diesem Grunde diese blinden Kinder vorzüglich für ihre Kinder zu wählen. Ich habe ein paar, von ihnen unterrichtete, Kinder gesehen, die einige Fragen aus der Religion, Moral, Geschichte und Geographie sehr fertig beantworteten.“ (Schulz 1791, 188f)
Lehrplan Blindenschule
Es leuchtet unmittelbar ein, dass Haüy, nicht anders als de l’Epée, alles daran setzte, seine Unterrichtsanstalt unter staatliche Aufsicht zu stellen, nicht zuletzt um dem finanziellen Ruin zu entgehen. Dabei schwebte ihm gleichfalls vorrangig der Charakter einer Schule, weniger der einer Arbeitsanstalt vor. Hiervon zeugt die öffentliche Prüfung im Pariser Rathaus von 1790, deren Programm aus folgenden Punkten bestand:
➥ Protokollverlesung,
➥ Instrumentalmusik der Blinden,
➥ Schreibdiktat für einen Blinden,
➥ Lesen,
➥ Rechnen, Lesen von taktiler Musiknotation,
➥ Schreiben in Schwarz- und in Reliefschrift,
➥ Drucken von Text und Musik in Schwarz- und Reliefdruck,
➥ Unterricht sehender Kinder durch Blinde,
➥ Darstellung von Produkten und gleichzeitig demonstrierte Anfertigung handwerklicher Arbeiten,
➥ Vortrag eigener Poesie,
➥ Geographie,
➥ Musik von Gossec.6
Die überlieferten Kritiken dieser Veranstaltung attestierten Haüy uneingeschränkt große Erfolge hinsichtlich der erworbenen Kenntnisse seiner Schüler, insbesondere im Lesen, der Musiknotationen, aber auch in der Unterrichtung sehender Schüler durch blinde „Lehrer“.
Verstaatlichung
1791 wurden, wie bereits erwähnt, die Blinden- und die Taubstummenanstalt verstaatlicht. Zugleich verordnete die Nationalversammlung die Zusammenlegung beider Einrichtungen, was allerdings nicht die erhoffte finanzielle Rettung der Blindenanstalt bewirkte, wohl aber eine unüberbrückbare feindschaftliche Rivalität zwischen Haüy und Sicard (Weygand 2003, 161ff). Die Zusammenführung wurde bereits 1794 wieder aufgehoben, und die Gehörlosen unter der Leitung Sicards zogen in ein neues Lokal in der Rue St. Jacques – der Ort, an dem die Pariser Gehörlosenschule noch heute ansässig ist.
Blindenanstalt in Not
1795 wandten sich Haüy und sein zweiter Lehrer mit einer Petition an den Nationalkonvent, in der sie sehr eindringlich die Hungersnot in ihrer Anstalt schilderten, die bereits Todesopfer gefordert hatte. Trotz der ungenügenden finanziellen Ausstattung während all der Jahre gelang es Haüy dennoch immer wieder, seine Blindenanstalt über Wasser zu halten und den blinden Menschen ein Mindestmaß an Bildung sowie eine Existenzgrundlage zu verschaffen.
Ernst Moritz Arndt
Ernst Moritz Arndt, der während seiner Reisen 1798 und 1799 auch die Blindenanstalt von Paris besuchte, zeichnet in seinem Reisebericht das Bild einer Art Selbsthilfe- und Überlebensgemeinschaft, wenn er schreibt:
„Den Namen, blinde Arbeiter, führen sie nicht blos als eine Zierde, sondern ihre ganze Einrichtung und Subsistenz ist auf Arbeitsamkeit und Industrie berechnet […] Man wundert sich gewiß, wenn ich erzähle, daß die Oekonomie, das Rechnungswesen, der Einkauf der Materialien, und der Verkauf der Produkte ihrer Arbeit von einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft verwaltet, und gut verwaltet wird. Noch mehr wird man sich wundern, wenn ich erzähle, daß unter diesen Bürgern der Republik in ihrem kleinen Staate mehrere Blinde in der Ehe leben […] Diese guten Leute zeugen sich denn mit Gottes Hülfe sehende Kinder, und haben Leiter für ihre alten Tage […] Es sind hier Knaben und Mädchen, Jünglinge und Jungfrauen, Männer und Weiber unter einander, und alles wird durch die Bande der Liebe in Zucht und Ordnung verbunden. Durch rastlose Thätigkeit sucht diese kleine Kolonie ihren Zustand zu verbessern, und zu dem Wenigen, was der Staat für sie thun kann, sich noch einige Freuden und Vergnügungen zu verschaffen. Sie lernen das Lesen, Schreiben und Rechnen sich selbst, und gaben uns davon seltne Proben; ihre Bücher, Musikalien und eine Art Landkarten drucken sie sich selbst auf dickes Papier mit erhabnen Lettern, so, daß die eine Seite leer bleibt.“ (Arndt 1802, 204ff)
existenzsichernde Maßnahmen
Insgesamt waren es die folgenden Maßnahmen, die im Einzelnen dazu beitrugen, das Fortbestehen der Blindenanstalt zu gewährleisten:
➥ manuelle Arbeiten und deren Verkauf im eigenen Laden und auf Ausstellungen,
➥ Druck von kleinen Schriftstücken gemäß Aufträgen,
➥ Unterricht sehender Kinder, wobei alle Inhalte, mit Ausnahme von Schrift und Zeichnen, durch blinde Lehrer unterrichtet wurden,
➥ musikalische Darbietungen in Gottesdiensten,
➥ Anstellung blinder Musiker für private festliche Anlässe,
➥ Auftritt eines Orchesters blinder Musiker,
➥ Unterrichtung blinder (zahlender) Kinder aus reichem Hause.
Niedergang der Blindenanstalt
Die 1800 verfügte Zusammenlegung der Blindenanstalt mit dem „Hospice des Quinze-Vingts“, dem Hospiz für ältere Blinde, läutete den Niedergang der Blindenanstalt als Bildungseinrichtung ein und damit auch das Ende der Tätigkeit Haüys in dieser Institution. Unverhohlen und eindeutig begründete der Innenminister die Zusammenführung beider Institute mit ausschließlich ökonomischen Motiven. So teilte er 1802 der Blindenversorgungsanstalt mit, dass aus Gründen der Kostenersparnis die überwiegende Zeit den Handarbeiten zu widmen sei, der Unterricht hingegen auf nur zwei Stunden pro Tag reduziert würde. Haüy erhob Einspruch gegen die Übersiedlung der Blindenanstalt und ihre damit verbundene Zerschlagung, aber sein Einspruch blieb erfolglos – im Gegenteil, Minister Chaptal beeilte sich, die geplante organisatorische Maßnahme sogar als einen pädagogischen Erfolg auszugeben, da nun doch die Bewohner des Versorgungsheims an den Arbeiten der jungen blinden Menschen beteiligt werden könnten.
Entlassung Haüys
Nach viermonatigem Widerstand musste sich Haüy geschlagen geben. Das staatliche Blindeninstitut zog im Februar 1801 in das Gebäude des Hospice des Quinze-Vingts, und nur ein Jahr später erreichte Innenminister Chaptal, dass der verhasste Revolutionär Haüy seines Amtes enthoben wurde. Die jungen blinden Menschen erwartete für die kommenden Jahre ein ghettoartiges Überwachungssystem, das durch Strafe, Kontrolle und Arbeit bestimmt war und nur noch schemenhaft an eine Bildungseinrichtung erinnerte. Nach dem Urteil Weygands (2003, 299) war dies ein Rückschritt in die Zeit vor Haüys Schulgründung im Jahre 1785, als ausschließlich begüterte Taubstumme in den Genuss von Bildung gelangt waren.
Auch die Fachwelt brachte der politischen Entscheidung kein Verständnis entgegen und verurteilte sie scharf. In den „Französischen Miscellen“ wurde Heilmann, ein ehemaliger Schüler Haüys und später dessen Nachfolger als Direktor des „Musée des aveugles“, mit seiner Kritik sehr deutlich:
„Man wies ihn [gemeint ist Haüy, E.-R.] zwar mit einer ehrenvollen Pension zurück, unter dem Vorwand, dass es besser wäre, die Blinden Handarbeiten, als Künste und Wissenschaften zu lehren. Diese zuvor mit Wissenschaften beschäftigten Menschen, wurden nun zum Spinnen und Weben angehalten, auch errichtete man ihnen eine Tabakfabrik, auf welcher sie einen kümmerlichen Unterhalt verdienten. Die Neider des Herrn Haüy trugen kein Bedenken, auszusprechen, dass die Blinden durch die Natur nicht zu den Künsten und Wissenschaften, sondern nur zu den groben Handarbeiten bestimmt wären, und dass man ihnen nur soviel Unterhalt geben müsste, dass sie verhindert würden zu sterben.“ (Heilmann 1804, 125f)
Haüy in St. Petersburg und Berlin
Nach seiner Entlassung gründete Haüy 1802 erneut eine private Anstalt, die aber weitgehend nur von zahlenden jungen Blinden des In- und Auslandes besucht wurde. 1806 kehrte Haüy Paris endgültig den Rücken. Er folgte dem Ruf des russischen Zaren, um in Sankt Petersburg eine Blindenanstalt aufzubauen. Auf der Durchreise blieb er einige Tage in Berlin und führte mit Hilfe seines mitreisenden blinden Schülers seine Unterrichtserfolge einem interessierten Publikum vor. Hier war der Boden bereits gut vorbereitet und der Auftritt beim Preußischen König Friedrich Wilhelm III. war vielleicht der letzte Anstoß, damit 1806 durch August Zeune die erste Blindenanstalt auf deutschem Boden errichtet werden konnte (Dreves 1998; Mehlitz 2003; Drave/Mehls 2006).
Vor seiner Abreise nach Russland im Jahre 1806 hatte Haüy die Leitung seiner Privatschule dem blinden Deutschen Heilmann übertragen; wie lange diese Schule noch weiter existierte, ist anhand der Quellenlage nicht genau zu bestimmen. In der staatlichen Blindeninstitution, nun mit dem Quinze-Vingts verbunden, spielte der Unterricht nur noch eine Nebenrolle, denn es wurden überhaupt nur noch zwei Unterrichtsstunden gegeben. Aber nicht nur der Unterricht kam in der staatlichen Anstalt in den Folgejahren zum Erliegen, sondern auch die manuelle Beschäftigung, da durch die Aufgabe der Leintuchmanufaktur im Jahre 1805 keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten für die Blinden mehr gegeben waren. Damit hatte diese Institution kurz nach der Jahrhundertwende ihre Bedeutung eingebüßt. Sie war weder eine Bildungsanstalt noch eine Einrichtung der Arbeitserziehung; sie verkam zu einer Verwahranstalt.
Neuorganisation staatlicher Blindenfürsorge
Mit Machtantritt der Bourbonen 1815 erfolgte eine Neuorganisation der Blindenfürsorge. Die Zusammenlegung mit dem Versorgungsheim wurde zurückgenommen, und 1816 zogen die jungen Blinden in ein neues Gebäude. Aber ganz im Unterschied zu der Zeit, in der Haüy die Blindenanstalt als eine Lebens- und Selbsthilfegemeinschaft geleitet hatte, wurde sie nun als eine Einrichtung organisiert, die streng auf Effizienz ausgerichtet war und in der die blinden Zöglinge durch Unterricht und Arbeit einer straffen Ordnung und Disziplin unterlagen. Ein streng geregelter Tagesablauf, eine strikte Trennung nach Geschlechtern, das Verbot jeglichen körperlichen Kontaktes, ständige Überwachung, lange Arbeitszeiten, himmelschreiende hygienische Verhältnisse, mangelhafte Ernährung und medizinische Versorgung sowie harte Strafen – all das sind die Kennzeichen der Pariser Blindenanstalt in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.
Direktor Guillié
Ein besonders dunkles Kapitel bildet die Ära unter der Leitung des Arztes Doktor Guillié, der zur Zeit der Restauration von 1815 bis 1821 wie ein Despot in der Anstalt agierte und der nicht nur vor dem Auspeitschen und Anketten der Zöglinge nicht zurückschreckte, sondern auch mit Hilfe operativer Eingriffe medizinische Experimente an ihnen durchführte (Weygand 2003, 317ff). Kein Schüler durfte sich nach Belieben frei in der Institution bewegen; jeder, der irgendwo angetroffen wurde, musste sich ausweisen können und belegen, dass er aufgrund dieser speziellen Erlaubnis mit einem besonderen Auftrag unterwegs war.
Die 1815 beschlossene Neuorganisation des Königlichen Blindeninstituts in Paris als eine Einrichtung für Unterricht und Arbeit blieb weitgehend graue Theorie. Bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hatte die Anstalt sowohl mit einer ungenügenden räumlichen Unterbringung als auch mit einer mangelhaften finanziellen Ausstattung zu kämpfen. In ihr war weder das zugestandene Lehrpersonal vorhanden noch die anvisierte Schülerzahl von 90 Freistellen realisiert. Erst 1843 konnte durch den Umzug in das Gebäude am Boulevard des Invalides, das das Institut noch heute bewohnt, für die desolate Raumsituation eine zufriedenstellende Antwort gefunden werden.
Protokolle des Verwaltungsrats
Mangelnde politische und damit finanzielle Unterstützung ließen die Pariser Anstalt in einem recht erbärmlichen Zustand verharren, der eindrucksvoll durch die Protokolle des Verwaltungsrats der Blindenanstalt während der 1820er und 30er Jahre belegt wird:
29. März 1824: Die Anstalt ist voll belegt; es gibt keine vakanten Plätze mehr; Anfragen können nicht berücksichtigt werden in nächster Zeit.
8. Juli 1824: Der Direktor und der Buchhalter berichten über die Besichtigung verschiedener Grundstücke, welche zur Errichtung einer Anstalt geeignet sein könnten; die weiteren Maßnahmen hierzu werden vertagt.
17. April 1826: Aufgrund der schlechten finanziellen Lage des Staates und demzufolge auch des Instituts, wird vom Innenminister in Erwägung gezogen, die Anzahl der Schüler zu verringern, also nicht mehr alle vakanten Plätze zu besetzen.
12. Mai 1828: Verschiedene Schüler sind ihren Familien zurückgegeben worden. Ein Schüler wurde infolge seiner Epilepsie in ein Spital aufgenommen; drei sind gestorben. Der Direktor berichtet über die große Zahl an Krankheiten in der Anstalt und die Überlastung der Krankenschwester. Der bauliche Zustand des Instituts ist schlecht; die nötigen Mittel für Reparaturen fehlen. Es ist sehr dringend nötig, ein anderes Lokal zu finden. Der Bestand der kostenlos aufgenommenen Schüler ist jetzt stark reduziert.
27. April 1830: Zwei Schüler sind gestorben. Die Krankenschwester ist überlastet, muss Unterstützung erhalten.
10. Februar 1831: Der Buchhalter ist mit der Kasse und den Unterlagen verschwunden. Die prekäre finanzielle Situation der Anstalt wird durch diesen Vorfall noch verschlimmert.
8. März 1831: Der Innenminister teilt mit, dass die finanzielle Lage des Staates den Ankauf von Gebäuden für die Institution momentan nicht erlaubt.
22. April 1831: Zwei Schüler sind gestorben.
30. März 1832: Die Cholera breitet sich in der Hauptstadt aus, und die Blindenanstalt befindet sich in den besonders gefährdeten Gebieten.
7. April 1832: Angesichts der Choleragefahr rät der Innenminister, die Kontakte mit der Außenwelt weitmöglichst zu reduzieren.
25. April 1832: Aufgrund der schwierigen finanziellen Lage der Anstalt ordnet der Minister an, auf weitere Aufnahmen von Schülern im Moment zu verzichten. Ein Schüler ist gestorben. Auch der neu eingestellte Buchhalter ist gestorben.
20. Juli 1832: Zwei Schüler sind an Cholera gestorben.
28. Dezember 1832: Dem Minister wird in Erinnerung gerufen, dass immer noch viele Plätze in der Anstalt unbesetzt sind.
29. März 1833: Zwei Schüler sind gestorben.
31. Mai 1833: Ein Schüler ist gestorben. Der Minister ernennt 20 neue Freischüler; anschließend noch zwei weitere, um somit die vakant gebliebenen Plätze wiederum zu besetzen.
28. Juni 1833: Einer der neuen Schüler ist bereits gestorben.7
Todesfälle
Diese Berichte, die sich fortsetzen ließen, sprechen für sich und lassen keinen Zweifel aufkommen am desolaten Zustand der Pariser Blindenanstalt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie Weygand (2003) berichtet, lagen die jährlichen Todesraten der Zöglinge zwischen 1803/04 und 1811 durchschnittlich bei mehr als vier Insassen, wobei diese statistischen Angaben eher noch als zu niedrig einzuschätzen sind. Die Sterblichkeitsrate blieb auch in den folgenden Jahren hoch, obgleich sich der Nachfolger des unsäglichen Guillié im Amt des Direktors, der Arzt Alexandre-René Pignier (ab 1821), für eine verbesserte Ausstattung der materiellen Rahmenbedingungen der Anstalt einsetzte. So waren, folgt man der offiziellen Statistik, auch unter seiner Leitung zwischen 1821 und 1838 54 Todesfälle in der Blindenanstalt zu beklagen (s. a. Henri 1952, 14ff).
Zuständigkeit: Innenministerium
Eine entscheidende Ursache für den Niedergang der Bildungsinstitute für „Sinnesbehinderte“ lag zweifellos in der zur Zeit der Revolution gefallenen Entscheidung, diese Institute nicht dem Erziehungsministerium zu unterstellen, sondern sie als Einrichtungen der Wohlfahrt dem Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums zuzuordnen. Damit war eine folgenreiche bildungspolitische Strukturentscheidung getroffen, die bis zum heutigen Tag im Bereich der Sondererziehung in Frankreich nachwirkt. Der Großteil der „klassischen“ Behinderungen gehört nach wie vor nicht zum Ressort des Erziehungsministeriums (Ellger-Rüttgardt 2006b).
Aufgabe von Gleichheitsideal
Aber auch die ideelle Basis erwies sich als brüchig, denn die uneingeschränkte Anerkennung von Menschen mit einer Behinderung als gleichwertig war noch keineswegs Gemeingut. Mit der Diskreditierung des revolutionären Gleichheitsideals durch Restauration und staatliche sowie kirchliche Reaktion wurde folgerichtig der Personenwert behinderter Menschen erneut in Frage gestellt. Hierauf deuten Äußerungen Sicards bzw. Guilliés hin, die den Taubstummen in seinem „natürlichen“ Zustand mit einer beweglichen Maschine verglichen, welche in ihrer Organisation unterhalb der Tiere stehe, oder aber den Blinden als ein Wesen ohne Moral und nur mit einer rudimentären Gefühlswelt ausgestattet betrachteten (Hofer-Sieber 2000, 276ff; Weygand 2003, 321).
Mit derartigen Charakterisierungen erfolgte nicht nur ein Rückschritt in den Bildungsanstrengungen für behinderte Menschen, sondern zugleich ein Rückfall in eine partikularistische und exkludierende Anthropologie. Somit manifestierte sich noch vor der Wende zum 19. Jahrhundert in den ersten Bildungsinstituten für Menschen mit Behinderung auf französischem Boden eine Abkehr vom Ideal der allgemeinen Menschenbildung. Die Kehrseite einer Pädagogik der Aufklärung, die auf ökonomische Nützlichkeit und soziale Kontrolle setzte, wurde zunehmend gesellschaftliche Praxis.
2.2.3 Das Taubstummen-Institut
Kaiser Joseph II.
Das Urteil Paul Schumanns, dass die Wirkung Michel de l’Epées nicht auf Frankreich begrenzt sei, sondern „alle Kulturnationen“ von ihm lernten (1940, 131f), trifft in ganz besonderem Maße für die Gründung der Wiener Taubstummenanstalt zu. Ihr Initiator und Förderer, der aufgeklärte Monarch Joseph II., Bruder der französischen Königin Marie Antoinette und damit Schwager Ludwig des XVI., hatte anlässlich seines Besuchs in Paris 1777 nicht nur von der Taubstummenschule de l’Epées erfahren, sondern diese auch selbst besucht (Schumann 1940, 196; Schott 1995, 54f).
Friedrich Stork Joseph May
Nach Wien zurückgekehrt, beauftragte Joseph II. Kardinal Migazzi mit der Benennung eines geeigneten Leiters für die zu gründende Anstalt. Dieser entschied sich für den Priester Friedrich Stork (1746–1823), dem er als Gehilfen den Lehrer Joseph May an die Seite stellte. Das von Kaiser Joseph II. 1779 eingerichtete k. k. Taubstummen-Institut, das zunächst für nur zwölf Zöglinge vorgesehen war, fiel – und hier sehen wir den Unterschied zu Frankreich – in die Zuständigkeit der für die Unterrichtsangelegenheiten in der Monarchie zuständigen Studienhofkommission. Die Finanzierung des Instituts teilten sich zwei Institutionen: für die Besoldung zeichnete die Hofkammer verantwortlich, während für den Unterrichtsraum die „Milde Stiftungs-Hof-Kommission“ aufkam. Die Kosten für den Unterricht der kaiserlich-königlichen Zöglinge wurden ebenfalls durch diese Behörde getragen.
staatliche Verantwortung
Die Anfänge der Institutionalisierung in Wien verdeutlichen, wie groß die Unterschiede zu Paris waren. Hier in Wien war es keine Privatperson, die die Initiative ergriff und stets um die finanzielle Absicherung der Einrichtung kämpfen musste, sondern die Spitze des Staates, die das Vorhaben ideell und auch materiell in ausreichender Weise unterstützte:
„Somit waren Stork und May die ersten staatlich angestellten Gehörlosenlehrer und das k. k. Taubstummen-Institut die erste staatliche Gehörlosenanstalt. Das Jahresgehalt von 800 fl (Gulden) für Stork entsprach der damaligen Norm für den etwas angehobenen Staatsdienst. Der ‚kaiserliche Compositeur‘ Wolfgang Amadeus Mozart erhielt bekanntlich ein ebenso hohes Jahresgehalt.“ (Schott 1995, 60)
Charakteristisch für die Wiener Gründung war auch, dass sie keineswegs nur auf den Großraum Wien beschränkt bleiben sollte. Sogenannte „Circulare“ wurden in allen Ämtern der Kronländer bekannt gegeben, um auf die neu errichtete Anstalt für Taubstumme in Wien aufmerksam zu machen. Schon bald war die Kapazität der zwölf Plätze überschritten.
Bereits im November 1779 erstattete Stork der Studienhofkommission einen Bericht über die von ihm „unterrichteten Tauben und Stummen“, in dem die folgenden Zöglinge mit den Angaben ihrer sozialen Herkunft und der Einschätzung ihrer Fähigkeiten aufgeführt sind (s. Tab. 2.1).
Tab 2.1: Storks Bericht an die Studienhofkommission8
„Allerunterthänigster Bericht Johann Friedrichs Stork des erzbischöflichen Kur Priester Über die von Ihm im Monathe November 1779 unterwiesenen Taubstummen | |
Namen der Taubstummen | Fähigkeiten und Fleiß |
Josepha Fräulein von Gudenus alt 25 Jahr | Sehr gut |
Christoph Wachterk. k. Thürhüters Sohn, alt 19 Jahr | Sehr guter thut sich unter allen Schülern am meisten hervor |
Veit Kreilitzk. k. Zögling, alt 38 Jahr | Gut,er könnte aber seiner Fähigkeit nach fleißiger seyn |
Joseph Okowalskyk. k. Trabantens Sohn, alt 21 Jahr | Sehr gut |
Bartholomäus Kramerin der Versorgung im Bürgerspitale, alt 24 Jahr | Sehr gut |
Franz HeinrichTagwerkers Sohn, alt 13 Jahr, sehr arm | Sehr gut |
Johann KramerBürgerl. Wollzeugmachers Sohn, alt 9 Jahr | Sehr gut |
Franz ReithSchustermeisters Sohn, alt 9 Jahr | Gut |
Anna FegerlSchneiders Wittib Tochter, alt 22 Jahr | Gut besonders im Schreiben |
Aloysia Okowalskyeine Schwester des vorigen, alt 11 Jahr | Sehr gut |
Theresia Fräulein von PrinaSchwester der Frau Hofrätin von Braun, alt 32 Jahr | Gut auf ihre schwach Gedächtniß |
Aloysius WeinerTagswerkers Sohn, alt 10 Jahr | Mittelmäßig |
Peter MollBedientens Wittib Sohn, alt 12 Jahr | Sehr nachläßig in Schulgehen |
Thekla N.Ein Findling, alt bey 20 Jahr | Etwas blöd, aber emsig |
Anton LinzMüllerknechts Sohn, alt 13 Jahr | Etwas dumm |
Maria Anna Pöschl, alt 19 JahrUndMaria Anna Hörner, alt 17 Jahrbeyde k. k. ZöglingeSumma 17 | GutFür den Anfang sehr gut |
J. Friedrich Storkk. k. Lehrer der Tauben und Stummen“ |
öffentliche Prüfung
Nach Verlautbarung der „Wiener Zeitung“ vom 22. Dezember 1779 fand die erste genehmigte und öffentliche Prüfung der Zöglinge im Beisein „hochgestellter Persönlichkeiten“ der Wiener Gesellschaft statt. Stork hatte sogenannte „Prüfungszettel“ vorbereiten und drucken lassen, die den Lehrstoff der Prüfung enthielten und die jedem Besucher überreicht wurden.
Sowohl Stork als auch May kannten den Unterricht de l’Epées aus eigener Anschauung. Joseph May war mehrere Jahre als Deutschlehrer an der Pariser Militärakademie tätig gewesen und hospitierte nach seiner Nominierung für das Taubstummeninstitut in Wien gemeinsam mit Stork acht Monate lang in der Taubstummenanstalt de l’Epées. Aufgrund der engen Verbindung zu Frankreich war es nur naheliegend, dass die Wiener Anstalt die Methode de l’Epées übernahm – allerdings mit der Ausnahme, dass Lehrer May bereits frühzeitig mit einem Artikulationsunterricht begann. Diese Bemühungen und ihre offenbar günstigen Resultate wurden anlässlich einer weiteren öffentlichen Vorführung im Jahre 1780 dem erstaunten und begeisterten Publikum präsentiert. Die Reaktion des Kaisers bestand darin, May eine Gehaltserhöhung von 100 fl Gulden zu gewähren.
Mit dem Dekret vom 8. September 1784 legte Joseph II. fest, dass die Zahl der Zöglinge auf 30 zu erhöhen sei, allerdings mit dem Zusatz, dass diese bei Schülern mit besonderen Fähigkeiten auch überschritten werden dürfe. Schon nach kurzer Zeit befanden sich 31 männliche und 16 weibliche Zöglinge im Taubstummeninstitut von Wien.
Johann Strommer
Allerdings kam es schon bald zu Konflikten zwischen Stork und May, die vor allem auf unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich des Unterrichts Gehörloser beruhten. Die Kritik an der Unterrichtsmethode Storks verschärfte sich, als 1783 ein dritter Lehrer, Johann Strommer, eingestellt wurde. May und Strommer hatten der Studienhofkommission berichtet, dass Stork das ganze Jahr über nur die Fragen und Antworten unterrichtete, die er für die öffentlichen Prüfungen bestimmte. Die Schüler wüssten bereits vor der Prüfung die Antworten auswendig, und auf diese Weise würde Stork das Publikum täuschen.
Entlassung Storks und Methodenwechsel
Die Kritik an Stork zielte zugleich auf die Methode seines Vorbildes de l’Epée, dessen Verfahren nun grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Der Methode de l’Epées wurde der Vorwurf gemacht, dass sie weder das Sprachverständnis Gehörloser befördere noch die gesellschaftliche Kommunikation und damit die gesellschaftliche Eingliederung der Betroffenen bewirke. Am 28. September 1792 wurde Direktor Stork von seinem Amt entfernt und an seine Stelle der Lehrer Joseph May berufen;9 damit war zugleich ein Wechsel in der Methode des Unterrichts zugunsten einer stärkeren Beachtung der Lautsprache entschieden.
Ziel: bürgerliche Brauchbarkeit
Mit dem Wechsel in der Leitung der Wiener Taubstummenanstalt von Stork zu May war aber auch die erste Institutionalisierungsetappe des Wiener Taubstummeninstituts abgeschlossen. Die Wiener Anstalt verdankte ihre Entstehung und weitere Entwicklung großzügiger staatlicher Unterstützung, wobei ihr vorrangiges Ziel nicht in erster Linie eine zweckfreie Entfaltung der persönlichen Kräfte des einzelnen Zöglings, sondern die Vorbereitung auf ein späteres Erwerbsleben war. Die 1793 für das Taubstummeninstitut erlassenen Grundsätze belegen unmissverständlich, dass Auswahl der Zöglinge und Zweck der Anstalt dem übergeordneten Ziel der Erziehung zur bürgerlichen Brauchbarkeit dienten:
„1. Der Endzweck, den der Staat durch das k. k. Taubstummen-Institut zu erreichen sucht, ist gehör- und sprachlosen Kindern nach einer eigenen, ihren Organisations-Fehlern angemessenen Lehrart, Unterricht und Übungen in gemeinnützlichen, und zum bürgerlichen Leben unentbehrlichen Kenntnissen so lange zu verschaffen, bis sie imstande sind, sich selbst ihren Lebensunterhalt zu erwerben, und wieder anderen Unglücklichen dieser Art im Institute Platz zu machen.“
Hinsichtlich der weiblichen Taubstummen heißt es unter Punkt 10:
„Die weiblichen taubstummen Zöglinge müssen in allen weiblichen Arbeiten, als Nähen, Stricken, Märken, Spinnen, Kochen u. s.w. unterrichtet, und dadurch in Stand gesetzt werden, bey dem Austritte aus dem Institute sich selbst ihren Unterhalt bey ihren Ältern oder in Diensten auf die thunlichste Weise zu verschaffen.“10
Ausrichtung auf Erwerbsleben
Entsprechend der utilitaristischen Zielsetzung war auch der Unterricht nicht für alle Schüler gleich. Die Zöglinge wurden vielmehr in drei Klassen aufgeteilt: Die erste Klasse hatte täglich vier Unterrichtsstunden und sechs Handarbeitsstunden, die zweite Klasse drei Unterrichts- und acht Handarbeitsstunden, und die dritte erhielt schließlich nur zwei Unterrichtsstunden, arbeitete die übrige Zeit jedoch in- oder außerhalb des Instituts bei ihrem Lehrherren. Mit der Ausrichtung auf das Erwerbs- und Arbeitsleben in der Ära nach Joseph II. reihte sich auch das Wiener Taubstummeninstitut in ein Bildungswesen ein, das in der Folgezeit vor allem der Bekämpfung der Armut dienen sollte (Engelbrecht 1984, 240).
Wie de l’Epée in seinem Werk „Die Unterweisung der Taubstummen durch die methodischen Zeichen“ von 1776 erwähnt hatte, wurde tatsächlich im Jahre 1778 durch den Kurfürsten Friedrich August von Sachsen in Leipzig das erste Taubstummeninstitut in einem deutschen Land eröffnet. Berufen zur Leitung wurde Samuel Heinicke (1727–1790), der bereits über eine mehrjährige Erfahrung in der Unterrichtung taubstummer Personen verfügte.
Samuel Heinicke
Heinicke war ein glühender Verfechter der Lautsprache und geriet damit in Widerspruch zu de l’Epée, mit dem er in den Jahren 1781/82 eine fünf Briefe umfassende kontroverse Korrespondenz führte. Die Differenz zwischen Lautsprachmethode und Gebärdensprache hat hier ihren Ursprung – und sie wirkte bis in das 20. Jahrhundert fort, nationalistisch überhöht, als Gegensatz von „deutscher“ und „französischer“ Methode (List 1991).
So veröffentlichte Paul Schumann aus Leipzig, zweifellos der beste deutschsprachige Kenner der historischen Gehörlosenpädagogik, die Früchte seiner langjährigen Forschungstätigkeit zu einer Zeit (1940), als erneut größter Wert auf die Hervorhebung des Deutschtums gelegt wurde. Die von der Reichsfachschaft V Sonderschulen im NS-Lehrerbund herausgegebene Schrift trug den Titel „Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt“. Dieser kompromittierende Titel sowie die zeitgeschichtlichen Umstände hatten zur Folge, dass dieses kenntnisreiche und differenzierte wissenschaftliche Werk über lange Zeit nicht die Würdigung erhielt, die es verdient.
Kontrahenten: de l’Epée – Heinicke
Betrachtet man die Protagonisten und Kontrahenten de l’Epée und Heinicke, so lassen sich kaum größere Gegensätze vorstellen: auf der einen Seite der katholisch-aufklärerisch geprägte Priester de l’Epée, durch akademische Studien gebildet, gut situiert, der als alleinstehende Person über genügend Zeit verfügte, um seine selbstgewählte Aufgabe praktisch zu erproben und theoretisch zu begründen. Wir haben somit eine Person vor uns, die in großer Unabhängigkeit national und international agieren konnte. Auf der anderen Seite der vermögende Bauernsohn Samuel Heinicke aus Sachsen, pietistisch erzogen, Autodidakt, der, von großem Bildungshunger getrieben, der dörflichen Enge entfloh und als 23-Jähriger sich als Soldat bei der Leibgarde in Dresden verdingte. In seiner freien Zeit nahm er Privatunterricht in Latein, Französisch, Mathematik und Musik und begann schon während seiner Dresdner Zeit einen taubstummen Soldaten zu unterrichten und Literatur über die Erziehung und Bildung Gehörloser zu lesen.
Biografie Heinickes
Bei Ausbruch des Siebenjährigen Krieges floh Heinicke vor den Preußen, wurde Student in Jena (Philosophie, Mathematik, Naturlehre) und kam auf der Flucht vor den preußischen Häschern 1758 in das dänische Altona. Altona und Hamburg waren zur damaligen Zeit eine Hochburg der Aufklärung und des Philanthropismus (Overhoff 2004), und es muss angenommen werden, dass Heinicke, der sowohl in Altona als auch in Hamburg ab 1760 als Privatlehrer und Hofmeister tätig war, nicht nur Kontakt zu den Repräsentanten der aufklärerischen Reformpädagogik hatte, sondern auch wichtige Impulse von ihnen empfing. So berichten Georg und Paul Schumann (1912) in der biografischen Einleitung zu den von ihnen herausgegebenen Schriften Samuel Heinickes, dass der Druck seiner biblischen Geschichte für Taubstumme den Beifall von „angesehenen Gelehrten“ wie Reimarus fand, der neben Richey zu den wichtigsten Repräsentanten der hamburgischen Frühaufklärung zählte, und Schumann erwähnt, dass Heinicke in Altona „von 1763–1768 als Hofmeister in der vornehmen Familie des dänischen Residenten und Schatzmeisters Heinrich Carl Schimmelmann Verwendung fand“ (Schumann 1940, 146).
Heinicke war von 1768 bis 1777 Küster, Organist und Lehrer in Eppendorf bei Hamburg. Während dieser Zeit unterrichtete er mehrere taubstumme Schüler in der lautsprachlichen Methode und verfasste seine ersten Aufsätze. Heinicke bewarb sich beim sächsischen Kurfürsten um die Leitung der geplanten Gehörlosenschule, und er war erfolgreich. 1778 übersiedelte er mit seiner Familie sowie neun gehörlosen Zöglingen nach Leipzig.
Heinicke ein Kind der Aufklärung
Wie sehr Samuel Heinicke ein Kind der Aufklärung war, belegt der folgende Auszug aus seiner Schrift „Über die Denkart der Taubstummen, und die Mißhandlungen, welchen sie durch unsinnige Kuren und Lehrarten ausgesetzt sind. Ein Fragment“ von 1780, in der er gegen Vorurteile und Unwissenheit und für die Menschenrechte Gehörloser stritt:
„Noch vor Kurzem brachte ein Vater seinen taubstummen Sohn zu mir, und wollte ihn unterrichten lassen, den ich aber nicht annehmen konnte, so gern ich auch wollte, weil man ihm die Zunge gelähmt hatte. Ich will das Gespräch hersetzen, welches ich mit dem Vater dieses unglücklichen Knaben hielte. Nach vorhergegangenen Höflichkeiten sagte Er: Ich habe sehr viel an meinen Sohn gewandt; ich habe Vermögen, und gerne wendete ich noch einige tausend Thaler für ihn an, wenn er nur sprechen lernte; alle Arzneyen hat er schon gebraucht; und dreymal habe ich ihm die Zunge lösen lassen.
Ich: Das ist entsetzlich! Wer hat denn Ihrem Sohne die Zunge gelöst?
Er: Unser Physicus.
Ich: Euer Physicus? Wer?
Er: Ja Herr. Er ist ein studirter, sehr geschickter, und weit und breit berühmter Mann.
Ich: Gott erbarme sich der Kranken, die bey ihm Hülfe suchen!
Er: Ey warum aber das?
Ich: Aber auch eine Frage: Können Sie die spanische Sprache?
Er: Nein, davon habe ich in meinem Leben kein Wort gehört.
Ich: Nicht – Aber muss man denn eine Sprache hören, wenn man sie will reden lernen?
Er: Das dächt ich doch.
Ich: Auch ich denke es. Und kann denn Ihr Sohn hören?
Er: Nein, auch nicht einmal einen Kanonenschuss.
Ich: Und nun besinnen Sie sich einmal – Wie kann denn Ihr Sohn die deutsche Sprache reden lernen, wenn er von keinem Menschen jemals ein deutsches Wort sprechen gehört hat?
Er: Nun sehe ichs ein – erkenne meinen Irrtum. Gott! was hat mein Sohn vergebens ausstehen müssen! Der dumme Physicus! hätte ich ihn doch nie gesehen!
Ich: Beruhigen Sie sich: denn alles diess kann nun weder Ihnen noch Ihrem Sohne helfen. Dem Physicus aber möchte wohl durch die Obrigkeit bedeutet werden: dass er künftig in Fällen, wo er nichts versteht, vorsichtiger werde, verständigere Männer, als er ist, um Rath frage, und dem Henker nicht ins Handwerk falle.
Traurig und trostlos musste der bekümmerte Vater von mir gehen. Seinen unglücklichen Sohn aber, dem die Zungenbänder zerschnitten waren, und dessen Zunge daher dick und unbeweglich war, musste ich seinem Schicksale überlassen, und konnte dabey nichts thun, als – mitempfinden und bedauern.
Hier klagt das Unglück selbst die Unwissenheit an; und es ist sehr betrübt, einen Menschen, aus Irrthum, verstümmelt zu sehen, dem auf keine Weise wieder geholfen werden kann […]
Es fällt mir noch Etwas bey, nämlich die Leute, die über den unglücklichen Zustand der Stummen spotten, sie, als wenn sie nicht auch Menschen wären, übel behandeln und zum Narren brauchen, auch wohl gar ihre Aeltern darüber aufziehen und sie verunglimpfen, dass sich deswegen manche ihrer stummen Kinder schämen. Allein es ist sehr thöricht über Anderer Unglück zu spotten, das doch auf so mancherley Weise einem Jeden alle Tage begegnen kann. Aeltern aber haben gar nicht nöthig, sich ihrer taubstummen oder gebrechlichen Kinder wegen zu schämen. Auf die Frage wegen einem Blindgebornen an unsern Heiland: Wer hat gesündigt, dieser, oder seine Aeltern? war die Antwort von ihm: Weder dieser noch seine Aeltern haben gesündigt, sondern dass die Herrlichkeit Gottes offenbar werde an ihm. Joh. 9, 3.“ (Heinicke 1912, 87f u. 103f)
Unterricht armer Landeskinder
Das Besondere an dem kurfürstlichen Taubstummeninstitut zu Leipzig war nicht nur sein staatlicher Charakter, sondern die Tatsache, dass, laut Berufungsurkunde, auch „arme Landeskinder“ unentgeltlich zu unterrichten seien. Heinicke, der in zweiter Ehe verheiratet war und selbst vier Kinder aus erster Ehe hatte, begann mit etwa zehn gehörlosen Kindern seine Tätigkeit in Leipzig. Rechtlich unterstand das Institut der Leipziger Universität; die Räumlichkeiten waren zunächst sehr beengt.
Heinicke hegte große Pläne zum Ausbau eines international anerkannten Taubstummeninstituts, doch die Verhältnisse waren anders. Samuel Heinicke konnte in dem international geführten Gelehrtendisput um die „richtige“ Methode als Autodidakt und zudem als impulsive, wenig diplomatische Person nicht gewinnen. Er unterlag in der akademischen Welt in seinem Streit mit de l’Epée vor der Züricher Akademie im Jahre 1783 (Ernst 1906). Heinicke befand sich stets in materieller Abhängigkeit und finanzieller Not, was ihn letztlich auch hinderte, seine ausgearbeitete Lehrmethode sowie sein „Berufsgeheimnis“ (genannt „Arkanum“) zu veröffentlichen. Paul Schumann urteilt:
„Es ist eine tiefe Tragik im Leben Heinickes: Überall klafft der Gegensatz zwischen Idee und Ausführung. Heinicke stellte das Prinzip des in der Lautsprache sprechenden und in dieser Sprache denkenden Taubstummen auf und konnte doch nur selten seine Verwirklichung in vollkommener Form zeigen.“ (Schumann 1940, 147)
Heinickes Gesundheit litt zunehmend; Geld-, Existenzsorgen und Rivalitäten nahmen kein Ende, und die großen Pläne erfüllten sich nicht. Nur 63-jährig verstarb Samuel Heinicke am 30. April 1790. „Verarmt und unversorgt hinterließ der Verstorbene die junge Witwe, denn ein 1782 beantragtes Witwengehalt war nicht bewilligt worden.“ (Winkler 1993, 326)
allgemeine Volksbildung
Heinicke war aber nicht nur ein Pionier der Gehörlosenpädagogik, sondern auch ein bedeutsamer Anreger der allgemeinen Volksbildung, insbesondere des Leseunterrichts in der Volksschule, für den er 1780 seine Fibel „Neues A, B, C, Sylben- und Lesebuch“ vorlegte. Darin geißelte er die herkömmliche Buchstabiermethode und forderte stattdessen, beim Leselehrgang bei den Lauten, also bei der Artikulation, anzusetzen:
Abb. 2.3: Heinickes Fibel 1780
„Die gewöhnliche Lesemethode beruhet auf einem alten Schlendrian, dieser aber auf einem Vorurtheile, das noch eine ganze Heerde Junge nach sich schleppt, wovon immer eins abscheulicher als das andre ist, und dieses Vorurtheil heisst Buchstabiren – vor der Lesekunst. Man hat bisher geglaubt, durch diese einzelne Tonleierei lesen zu lernen; allein das ist ganz unmöglich, und so lange die Welt steht, hat noch nie ein Mensch eine Sprache durch Buchstabiren lesen gelernt.“ (Heinicke 1912, 523)
Plan: Lehrerseminar
Schließlich unterbreitete Heinicke seinem Kurfürsten 1784 einen Plan zur Errichtung eines Lehrerseminars, das in räumlicher Nähe zu dem Taubstummeninstitut stehen sollte, so dass eine enge Verbindung zwischen Elementar- und Taubstummenpädagogik in der Lehrerausbildung erreicht würde (Heinicke 1912, 544ff).
Anna C. E. Heinicke
Das Leipziger Taubstummeninstitut hätte nach dem Tode Heinickes vermutlich über kurz oder lang seine Existenz eingebüßt – es gab viele Widersacher, nicht zuletzt in der Universität vor Ort –, wenn nicht eine Frau auf den Plan getreten wäre, die energisch, kompetent und mit viel psychologischem Geschick das Haus weiterführte: Anna Catharina Elisabeth Heinicke (1757–1840). Es war Heinickes Witwe, die 1790 noch eine junge Frau war und die bis zum 1. Januar 1829, also fast 50 Jahre lang, die Gehörlosenschule leitete. Anna C. E. Heinicke gelang es, die Zustimmung des Kurfürsten zur Weiterführung des Instituts unter ihrer Leitung zu erwirken, und sie organisierte erfolgreich die Neueinstellung von Personal sowie den Umzug in bessere Lokalitäten. Sie initiierte die Einführung einer jährlichen Landeskollekte zur Unterstützung der Schule, und sie wurde nicht müde, durch rege Öffentlichkeitsarbeit das Interesse des Publikums für die Leipziger Anstalt zu wecken. Sie legte für die zahlreichen Besucher ein Gästebuch an, in das sich Johann Wolfgang Goethe unter dem Datum vom 7. Mai 1800 eintrug.
Anna Heinicke als Pädagogin
Anna C. E. Heinicke war nicht nur eine glänzende und phantasievolle Organisatorin, sondern zugleich eine kompetente Fachfrau. Joachim Winkler, der ein eindrucksvolles Portrait ihrer Person gezeichnet hat, berichtet auch von ihren pädagogischen Aktivitäten. So regte sie an, eine Überprüfung der „Verstandes- und Unterrichtsfähigkeit“ zukünftiger Schüler vorzunehmen, wobei sie klare diagnostische Kriterien vorschlug:
„Man frage die Eltern, ob das Kind zu häuslichen, seinem Alter und Kräften angemessenen Verrichtungen zu gebrauchen ist – ob es mit anderen Kindern spielt – ob es sich wieder nach seiner Eltern Haus finden kann, wenn es so weit davon entfernt ist, daß das Kind es nicht mehr sieht – ob es Kleinigkeiten für kleine Münze holen […] ob er zählen kann, ob er bemerken kann wie viel Stühle, Tische, Personen in der Stube sind und wenn einiges davon wegenommen, wie viel noch übrig u wie viel fehlet […] Auch womit er sich beschäftiget, ob er Lust zur Arbeit zeiget oder ob er unbeschäftiget mehrere Stunden in Unthätigkeit bleibet.“ (Winkler 1993, 336)
Ihr psychologisches Geschick und Einfühlungsvermögen zeigen sich, wenn sie Überlegungen anstellt, wie eine Überprüfung der Fähigkeiten vonstatten gehen solle:
Abb. 2.4: Goethes Eintrag in das Fremdenbuch der Taubstummenanstalt zu Leipzig am 7. Mai 1800
„Eine solche Prüfung muß freilich von solchen Personen, die dem Kinde bekannt sind angestellt und vielleicht öfter wiederholt werden bis das Kind erst Zutraun zu dem Fragenden bekömt. Es ist dabei die äußerste Behutsamkeit nöthig um nicht zu bald über ein solch unglückliches Wesen abzustimmen. Die hl. Prediger und Schullehrer eignen sich am besten zu dieser menschenfreundlichen Untersuchung, denn bei ihnen und in ihrer Behausung ist nichts was den unglücklichen Taubstummen zurück schreckt. Ein liebevolles Annähern wird ihnen sein Zutraun erwerben. Nicht so ist es, wenn sie in eine Amtstube treten, da wird das Gemüth eines solchen Kindes beängstiget, es weiß nicht was die Herren von ihm wollen, es tritt schon in sich zurück […]“ (Winkler 1993, 336; die alte Schreibweise wurde leicht verändert, E.-R.)
Ausgestattet mit den Geldern einer Stiftung kaufte Anna Heinicke 1821 ein Haus mit Grundstück und hatte endgültig die Existenz des Leipziger Taubstummeninstituts gesichert.
„So ging nach genau 44 Jahren des Bestehens der Leipziger Taubstummenanstalt ein langgehegter Traum in Erfüllung. Unabhängig von Hauseigentümern, finanziell gesichert, mit wesentlich erweiterter Aufnahmekapazität ausgestattet, beherbergte das neue Institut im Jahre 1823 bereits 38 Schülerinnen und Schüler. Sie lernten in vier Klassen und hatten pro Woche 40 Stunden Unterricht. Dieser verteilte sich auf die Wochentage Montag bis Sonnabend und wurde nachmittags von 14 bis 17 Uhr erteilt.“ (Winkler 1993, 338)
Schülerbiografien
Und was wissen wir über die Schüler des Leipziger Taubstummeninstituts? Wie sah ihr Alltag aus, und gelang es ihnen, sich in der Gesellschaft zu behaupten und ein eigenständiges Leben zu führen? Überlieferte Zeugnisse veranschaulichen Institutsalltag und Biografien einzelner Zöglinge und erfüllen so Ereignisse von vor mehr als 200 Jahren mit Leben.
Georg A. Hoffmann
Der spätere, hochgeehrte Kunstmaler Georg Andreas Hoffmann, der 1793 zum Mitglied der „Königlich-Preußischen Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften“ gewählt wurde, war seit 1781 Schüler bei Samuel Heinicke. Er stammte aus der Nähe von Bayreuth und war das vierte von insgesamt 15 Kindern eines evangelisch-reformierten Pfarrers, wobei neun der 15 Kinder als taubstumm galten. Georg Andreas besuchte zunächst keine Schule und lebte bis zum 28. Lebensjahr im Elternhaus; in seiner Freizeit ging er seinem Hobby nach: Malen und Zeichnen. Initiiert und auch finanziert durch einen aufgeklärten Reformer, den Freiherr von Erthal, Fürstbischof von Bamberg und Würzburg, kam G. A. Hoffmann in die Taubstummenschule von Leipzig. Über seine Schulzeit lesen wir:
„Der 28jährige Georg Andreas war der älteste ‚Zögling‘ in Heinickes kleiner Residenz am Roßplatz und – ab 1782 – in der Klostergasse beim Thomaskirchhof. In der Klostergasse lebte Hoffmann bis 1784 mit der Familie Heinicke und weiteren 11 Schülern unterschiedlichen Alters. Wie schon in Eppendorf, waren die ‚Lehrlinge‘ voll in den Familienalltag Heinickes integriert. In den Räumen einer Etage schlief, speiste und lernte man gemeinsam; Freiluftaufenthalte erfolgten zumeist gruppenweise unter Aufsicht Heinickes oder seiner Frau. Bei Heinicke fühlten sich nicht alle ‚Zöglinge‘, aber zweifellos der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Georg Andreas ‚besser aufgehoben, als in ihrer Aeltern Hause‘ […]
Vor allem war die Beköstigung bei Heinicke für die Zeitverhältnisse ausgesprochen üppig. Es gab vier Mahlzeiten am Tag, mehrmals in der Woche Fleisch sowie reichlich Gemüse. Zu den Getränken, die gereicht wurden, gehörten (auch für Kinder!) Bier, Wein und Kaffee. Auch übermäßige Strenge mußten die Schüler im allgemeinen nicht fürchten. Ultima ratio der Strafen für faule, unachtsame, nachlässige und unfolgsame Kinder war der Ausschluß von den Mahlzeiten und Gemeinschaftsspielen. Lediglich die beengten Verhältnisse im ‚Churfürstlich Sächsischen Institut‘ gaben den Revisoren der Universität Leipzig, der die Aufsicht oblag, immer wieder Anlaß zu Beanstandungen […]
Georg Andreas Hoffmann hat sicherlich nichts dabei gefunden, mit jüngeren Mitschülern in einer kleinen Kammer zusammen zu wohnen. Das war er von Haus aus gewohnt. In der Kommunikation mit seinen Mitschülern konnte er die natürlichen Gebärden ‚testen‘ und weiter ausbilden, die er mit seinen gehörlosen Geschwistern entwickelt hatte. Die Gebärde war und blieb sein wichtigstes Verständigungsmittel im Umgang mit der hörenden Umwelt. Auf die Aneignung der Lautsprache legte er keinen gesteigerten Wert. Entsprechend bescheinigte ihm Anna Catharina Elisabeth Heinicke ‚geringe Fortschritte‘ beim Sprechenlernen […] nach Heinickes Lautiermethode. Aber Schreiben und Lesen lernte er einigermaßen, auch wenn es ihm mit seinen 28 Lebensjahren nicht leichtgefallen sein dürfte.
Zusammen mit Hoffmann besuchte der spätere Meißner Porzellanmaler Johann Gottfried Posselt (Posselt, 1770–1809) das Heinicke-Institut. Es ist denkbar, daß das gemeinsame Interesse an der Malerei eine engere Verbindung zwischen dem 18 Jahre Jüngeren und Georg Andreas bewirkte. Zusammen immatrikulierten sich beide – auf Vermittlung Heinickes – als Studenten […] an der Leipziger Kunstakademie […]“ (Feige 1999, 33)
Christian A. Schlick
Einige seiner Zöglinge konnte Samuel Heinicke in dem sehr angesehenen Beruf des Porzellanmalers in Meißen unterbringen. Einer von ihnen war Christian August Schlick, der aus Leipzig stammte und der nach der Übersiedlung des Heinicke’schen Instituts von Hamburg-Eppendorf nach Leipzig 1778 als 30-Jähriger aufgenommen worden war. Schon nach zwei Jahren wurde C. A. Schlick mit der Konfirmation entlassen und trat als Lehrling in die Kurfürstliche Sächsische Porzellanmanufaktur in Meißen ein, wo er bis zu seinem Lebensende mit 70 Jahren tätig war. Hans-Uwe Feige schreibt über seinen Arbeitsalltag:
„Christian August Schlick war derjenige von Heinickes ‚Lehrlingen‘, der am längsten an der Porzellanmanufaktur Meißen arbeitete. Er erlebte, wie der erblindete Zeichenschüler Johann Adam Ernst Backmann ins Armenhaus Waldheim geschickt wurde (1799). Er überlebte den wesentlich jüngeren Johann Gottfried Posselt, der 1809 an Wassersucht verstarb. Gehörte er – nun mit seinen bald 30 Dienstjahren ein Senior unter den Manufakturisten – zu den Porzellanarbeitern, die am 3. April 1810 mit zwei Wagen nach Dresden fuhren, um die drohende Schließung der Fabrik zu verhindern? Sicherlich nahm er an dem Volksfest teil, mit dem im gleichen Jahr das 100. Gründungsjubiläum der ältesten europäischen Porzellanmanufaktur in Meißen begangen wurde: reich geschmückte Straßen und eine festliche Illumination prägten die Stadt, Turmblasen und ein gemeinsamer Gottesdienst im Dom vereinten Bürger und Porzellanarbeiter; 412 Arbeiter, Angestellte und Künstler, 22 ‚angestellte Frauenzimmer‘, 28 Pensionäre, 331 Ehefrauen und 154 Witwen waren in die Festzelte auf der Schützenwiese geladen […]
Christian August Schlick erlebte die zweimalige Besetzung Meißens durch Napoleon (1806 und 1812/1813). Im September/Oktober 1813 stand Meißen im Zentrum der Kampfhandlungen. Nach der ‚Beschlagnahme‘ unentbehrlicher Arbeitsmittel, Werkzeuge, Brennstoffe und Feuerlöschgeräte durch preußische und russische Offiziere mußte die Arbeit in der Manufaktur im September 1813 völlig eingestellt werden […] Der in Dresden residierende russische General-Gouverneur Fürst Repin reformierte die Meißner Manufaktur radikal. Ihre Belegschaft wurde auf 328 Mitarbeiter reduziert. Christian August behielt seinen Job in der Brennerei. Aber in die neu eingeführte vier-klassige Rangordnung der Porzellanmaler […] fand er keinen Eingang […] Christian August Schlick blieb trotz angegriffener Gesundheit bis ins hohe Alter berufstätig. Im Alter von 70 Jahren […] verstarb der gehörlose Porzellanmaler ohne den Pinsel aus der Hand gelegt zu haben. Die Sterbe-Caße der Porzellanmanufaktur Meißen stellte für seine Beerdigung 70 Taler und 6 Groschen bereit.“ (Feige 1999, 51f)
Als nach dem Tode Samuel Heinickes 1790 dessen Witwe für die weitere Existenz der Schule kämpfte, überprüfte eine Kommission, bestehend aus 30 Professoren der Leipziger Universität, die Leistungen der Schüler. Das Gutachten fiel insgesamt positiv aus, und damit war die Voraussetzung für das Fortbestehen des Instituts gegeben; nur eine Sache wurde negativ vermerkt: Die Schüler zeigten ungenügende Leistungen im Schreiben mit Feder und Tinte auf Papier.
Tagebuch-aufzeichnungen
Die erfindungsreiche Anna C. E. Heinicke ersann ein didaktisches Mittel, um diese Fertigkeit bei den Schülern zu üben: Sie regte zum Schreiben von Tagebüchern an. Aus den Tagebuchaufzeichnungen des Schülers Adam Ernst G. Backmann erfahren wir nicht nur etwas über den Alltag innerhalb des Taubstummeninstituts, sondern auch über die Kontakte zur Außenwelt, die sich recht liberal gestalteten.
„Sehr beliebt war bei den Heinike’schen Pensionären das Bad in der Pleiße während der Sommermonate. Ein bevorzugter Spielplatz war der Boden des fünfstöckigen Miethauses am Neuen Kirchhof, in dem Heinicke sein Institut 1785 auf einer ganzen Etage untergebracht hatte. In Backmanns Aufzeichnungen finden sich Schilderungen von Spielen der Schüler und der Töchter Heinickes […] auf dem Boden. Außerdem diente er als ‚Ausguck‘. Von seinen Fenstern aus beobachteten Adam Ernst und seine Mitschüler die vorbeiziehenden Passanten, zumeist Handwerker oder Bauern auf dem Weg zum Markt. Seine bevorzugte Freizeitbeschäftigung waren allerdings ausgedehnte Spaziergänge in der Allee […]
Alle seinerzeit berühmten Leipziger Gärten kannte Adam Ernst. Als ‚vorzüglich verständiger‘ Lehrling durfte er ‚ohne sichere Begleitung‘ ausgehen […] den Tagebucheintragungen nach zu schließen, nutzte er dieses Privileg ausgiebig. Überall beobachtete er die Mitbürger genau bei ihren Verrichtungen. ‚Ich habe gestern viel nackende Menschen gesehen‘, notierte er unter dem 18. Juni 1790, ‚sie hatten Hemde, Schuhschnallen, Hoth, Strümpfe, Halstuch und alle Kleider ausgezogen, badeten sich im Wasser und gingen hernach spazieren, wenn sie sich wieder angezogen hatten‘ […] Wichtig war ihm, wie ihm bekannte Personen gegenübertraten: ob sie grüßten zum Beispiel. Lobend erwähnt wurde ein Bauer namens Rudolph aus dem Heimatdorf Grethen, den Adam Ernst eines Sonntagmorgens 5 Uhr in der Grimmaischen Gasse traf: ‚Er hat den Hut vor mir abgenommen‘ […]
Als ältester ‚Lehrling‘ im Heinicke-Institut genoss Adam Ernst Backmann gewisse Vorrechte. So durfte er den Lehrer Petschke begleiten, wenn dieser für das Institut einkaufen ging. Ihm war der Schlüssel für die Speisekammer der Pension anvertraut. Zuweilen ließ er sich von der Mitschülerin Anna Dorothea Richter oder dem Mitschüler Johann Christoph Hofmann dazu verleiten, den begehrten (Kandis-)Zucker zu verteilen, wenn Madame Heinicke schlief […] Zusammen mit Christian Friedrich Irmscher wurde Adam Ernst zur Erledigung kleinerer handwerklicher Tätigkeiten in den Räumlichkeiten des Instituts herangezogen.
Adam Ernst Gottlieb Backmanns Schulzeit in Leipzig endete am 27. Januar 1792. Er mußte das Institut A. C. E. Heinickes ohne förmlichen Abschluß und ohne Konfirmationsexamen verlassen, ‚weil ihm sein Vater, ehe dieses geschehen konnte, eine Stelle in Meißen bei der dasigen Porzellanfabrike … ausbedungen hatte‘ […] wie in der Matrikel nachzulesen ist. Frau Heinicke hat das bedauert. Ihrem ehemaligen Schüler bescheinigte sie abschließend, ‚seine Gedanken ziemlich correct zu Papier bringen, auch sonst fleißig und ein guter Kopf‘ zu sein […] Den Ausbildungsplatz in Meißen hat der Vater vermutlich unter Vorlage der Blumenzeichnungen seines Sohnes erwirkt.“ (Feige 1999, 68ff)
Diese durch Selbstzeugnisse beschriebene familiäre und zugleich bildungsorientierte Lebenssituation der Leipziger Zöglinge beeindruckt als ein positives Beispiel für die ersten Bildungsanstrengungen mit behinderten Kindern und Jugendlichen – vielleicht war es sogar eine Ausnahme.
Gefährdung von Menschen mit Behinderung in Notzeiten
Zu einem Zeitpunkt, zu dem noch längst nicht für alle Kinder und Jugendliche Bildungsangebote bereitgestellt wurden, verwundert es nicht, dass die ersten planmäßigen Unterrichtsversuche für Schüler mit Behinderung zunächst in eher bescheidenen Bahnen verliefen. Die beiden Pariser Anstalten, wir erinnern uns, sind hierfür beispielhaft; denn sie waren fortwährend durch materiellen Mangel und immer weiteres Zurückdrängen des Bildungsanspruchs bestimmt. Aber auch in anderen Ländern zeigte sich das Phänomen, dass in Not- und Mangelsituationen jene am weitesten an den Rand gedrängt werden, die am bedürftigsten sind.
Gehörlosenschule Madrid
Als Napoleon Spanien besetzte und die Bevölkerung unter Entbehrung und Hunger litt, traf dies besonders stark jene junge Institution, die 1805 als staatlich unterstützte Taubstummenschule in Madrid ihre Tore geöffnet hatte. In nahezu aussichtsloser Situation siedelte der gehörlose Kunstlehrer Roberto Francisco Prádez 1811 mit sechs gehörlosen Schülern an die städtische Schule von San Ildefonso über, und der Bericht hierüber lautet:
„Dort erwartete sie ein kühler Empfang. Da die gehörlosen Jugendlichen deutlich älter waren als die Kinder an der städtischen Schule, befürchtete man, daß sie einen schlechten Einfluß ausüben könnten. Deshalb wurde rigoros die totale Trennung der beiden Gruppen durchgesetzt. Die Verbindungstür vom Zimmer der gehörlosen Schüler zum Rest der Schule wurde von außen verschlossen, der Schlüssel wurde fortgenommen und obendrein wurde noch ein Riegel über die Außenseite genagelt […] Obwohl sich auf dem Schulgrundstück ein Brunnen befand, wurde Prádez und seinen Schülern der Zugang zu diesem verweigert, und sie mußten Wasser aus einem öffentlichen Brunnen in der Nachbarschaft holen […] Sie durften nicht im Speisesaal der Schule essen, und ihre Verpflegung, zwei magere Mahlzeiten pro Tag, wurde in einem öffentlichen Gasthaus zubereitet […] Die Kinder waren barfuß, ihre ungewaschenen Kleider zu Lumpen heruntergekommen […] In einen einzigen Raum eingesperrt waren sie wie Gefangene in San Ildefonso. In derartigen Umständen fand ein Beobachter, es sei nicht […] verwunderlich, daß sie sich damit unterhalten, ihr Quartier zu ruinieren, indem sie alles in den Abort werfen, was ihnen in die Finger kommt, nachdem sie ihn vollkommen zerschlagen und den Abfluß mit Knochen, Steinen und Schutt verstopft haben.“ (Plann 1993, 75)
Dennoch, nachdem die ersten Schulgründungen für Gehörlose und Blinde erfolgt waren, war die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen international nicht mehr aufzuhalten:
erste Schulgründungen
Schulen für Gehörlose
1763: Paris, Edinburgh
1778: Leipzig, Wien
1784: Rom
1786: Prag
1787: Bordeaux
1788: Berlin
1790: Groningen
1800: Waitzen (Vác/Ungarn), Barcelona
1805: Madrid
1806: Pawlowsk, St. Petersburg
1807: Kopenhagen
1808: Gent
1809: Stockholm
1824: Trondheim
1846: Porvoo/Bargo/Helsinki
Schulen für Blinde
1791: Liverpool
1792: Edinburgh
1793: Bristol
1799: London
1804: Wien
1806: Berlin, Glasgow
1807: Mailand, St. Petersburg (Leiter Haüy)
1808: Prag, Amsterdam, Stockholm
1809: Dresden, Zürich
1811: Kopenhagen
1861: Christiania (Oslo)
1865: Helsinki
Anstalten für Taubblinde
1832: Boston/USA
1860: Larnay bei Poitiers/Frankreich
1874: New York/USA
1886: Venersborg /Schweden
1901: Edinburgh/Schottland
1906: Nowawes bei Potsdam/Deutschland
internationale Kommunikation
Dieser europäische Siegeszug einer Idee war nur möglich durch die Existenz einer internationalen Kommunikationsstruktur. Frankreich war im 18. Jahrhundert die tonangebende Kulturnation, und für gebildete Menschen in Europa war es eine Selbstverständlichkeit, in der französischen Sprache zu kommunizieren – ein berühmtes Beispiel ist der intensive Dialog zwischen Voltaire und dem Preußenkönig Friedrich dem Großen. De l’Epée und Heinicke wussten nicht nur voneinander, sondern sie führten eine europaweit beachtete, kontroverse Diskussion über die „richtige“ Methode. De l’Epée, aber auch Haüy empfingen zahlreiche ausländische Gäste in ihren Schulen, und es waren wiederum Einzelpersonen, die, angeregt durch diese Begegnungen, Institute wie etwa in Berlin (Zeune), in Wien (Stork) oder in Rom (Tommaso Silvestri) ins Leben riefen. Auch außerhalb des europäischen Festlandes, im Lande John Lockes, entwickelten sich parallel zu Paris, Leipzig und Wien erste Bildungseinrichtungen für Gehörlose und Blinde:
„Two years before Rousseau wrote Emile, and in the same year as the first Parisian deaf entered de l’Epée’s school, nine-year-old Charles Shirref became a pupil of Thomas Braidwood […] so […] began the first school for the deaf in Britain.“ (Pritchard 1963, 11)
Trotz dieses imposanten Aufschwungs könnte das Bild täuschen. Es war lange Zeit nur eine kleine Minderheit behinderter Menschen, die in den Genuss von Bildung und Erziehung kam, denn die Ideen der europäischen Aufklärung, die die Bildungsfähigkeit von Menschen mit Behinderung mit einschloss, entfalteten ihre Wirksamkeit nur langsam:
„Unverkennbar, man muß einen Bruch zwischen pädagogischen Programmen und gesellschaftlicher Wirklichkeit, zwischen dem umfassenden Erziehungsanspruch und den bescheidenen Grenzen der realisierten Erziehungsreformen konstatieren. Man muß aber zugleich berücksichtigen […] dass erst mit der Aufklärung selbst dieser Bruch, die Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit systematisch als […] Problem formulierbar wird.“ (Tenorth 2008, 117)
Recht auf Bildung
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Recht auf Bildung in den entwickelten Staaten in größerem Umfang in die Praxis umgesetzt, und blicken wir auf die Gegenwart, so müssen wir feststellen, dass nicht einmal alle europäischen Länder den Bildungsanspruch für jedes behinderte Kind bislang eingelöst haben. So wird in Frankreich, dem Land der ersten Pioniere einer Pädagogik für Menschen mit Behinderung, mit zunehmender Empörung registriert, dass die Schulpflicht noch nicht für alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung realisiert ist (Ellger-Rüttgardt 2016, 125ff). Geht man gar von einer globalen Sichtweise aus, so müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die verheißungsvollen Anfänge noch im 21. Jahrhundert weit davon entfernt sind, im weltweiten Maßstab gesellschaftliche Realität zu werden.
2.3 Die Erfindung neuer Methoden
Ohne die Entwicklung angepasster Methoden an die besonderen Bildungsbedürfnisse gehörloser, blinder und wenig später auch geistig behinderter Menschen hätte sich die pädagogische Spezialdisziplin der Heilpädagogik nicht etablieren können, denn nur mit Hilfe spezifischer Methoden konnte die in der Theorie anerkannte Bildungsfähigkeit jedes Menschen in der Praxis tatsächlich entwickelt werden, und somit kann zu Recht die Erfindung neuer Methoden als die „Geburtsstunde der Behindertenpädagogik“ (Drewek/Tenorth 2001, 63) gelten.
Kompensation fehlender Sinne
Methoden bei Gehörlosigkeit: Angeregt durch die Philosophie der Sensualisten und ihrer Erkenntnistheorie richtete sich das Augenmerk der „Erfinder“ auf die Frage, wie ein fehlender Sinn durch den Einsatz eines anderen kompensiert werden könne. Im Falle von Gehörlosigkeit lag ein gravierendes Problem vor, da der fehlende Gehörsinn zugleich Sprachlosigkeit nach sich zog. Somit stand zur Debatte, ob der Gehörlose in seiner „eigenen“ Sprache, also der Gebärde, kommunizieren solle – allerdings damit weitgehend isoliert von der übrigen menschlichen Gesellschaft – oder aber befähigt werden solle, die menschliche Lautsprache zu erlernen – möglicherweise um den Preis eines Verlustes von Identität.
Wie die historische Entwicklung zeigt, spitzten sich die beiden unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu wahren Gegensätzen zu, als „deutsche“ Lautspracherziehung und „französische“ Gebärdensprache zu unversöhnlichen Gegensätzen konstruiert wurden. Die Realität sah meist anders aus, nämlich sehr viel bunter. Weder Heinicke noch de l’Epée schlossen das jeweils andere methodische Verfahren aus. Wie berichtet, benutzten Heinickes Zöglinge selbstverständlich Gebärden, und ebenso versuchte de l’Epée seine Schüler auch zur Lautsprache zu erziehen. Aber – und das ist bedeutsam – die Schwerpunkte beider Verfahren unterschieden sich im Kern, und das belegt auch der kontroverse Briefwechsel zwischen den beiden Protagonisten (Heinicke 1912, 104ff).
Methode de l’Epée
Während Heinicke vor allem aus wirtschaftlichen Gründen keine präzise Darstellung seiner lautsprachlichen Methode veröffentlichte – er wollte seine Methode gewinnbringend veräußern –, hat de l’Epée ganz im Gegenteil den öffentlichen Diskurs gesucht, um seiner Methode national und international den erhofften Einfluss zu sichern. In seinem Werk „Die Unterweisung der Taubstummen durch die methodischen Zeichen“ räumte er der Darstellung seines praktischen Vorgehens breiten Raum ein. Es folgt ein Beispiel für das methodische Vorgehen de l’Epées, das sich bewusst von der Methode des Handalphabets absetzte:
„Das Handalphabet bezeichnet am Anfange den Taubstummen, die keine Sprache verstehen, nichts; es vermittelt ihnen aus sich selbst nicht das geringste Verständnis. Wenn wir, nachdem wir uns seiner bedient haben, um einen Taubstummen die Buchstaben unterscheiden zu lehren, die beiden Wörter nous portons [wir tragen] an die Tafel schreiben, wird er große Augen machen und nichts davon verstehen. Es wird ihm auch nichts nützen, wenn wir über diese beiden Wörter die drei Personen der Einzahl und unter sie die beiden andern der Mehrzahl setzen; er wird nur noch größere Augen machen und uns mit trauriger Miene ansehen. Die meisten führen ihre Hand oder ihren Finger an die Stirn und begleiten diese Geste mit dem gewöhnlichen Zeichen der Verneinung, um uns begreiflich zu machen, daß sie nichts davon verstehen. Aber nur einen Augenblick Geduld, und unserm neuen Schüler wird bald mit Hilfe unserer methodischen Zeichen das Verständnis erschlossen werden.
Ein Folioband, den wir auf den Tisch legen lassen, beginnt seine Aufmerksamkeit anzuziehen. Alle anderen Taubstummen versammeln sich um uns, und ich stelle den Neuling neben mich, zu meiner Rechten. Dann setze ich den Zeigefinger meiner linken Hand auf das Wort je [ich] und zeige gleichzeitig mit dem der rechten mich selbst, indem ich mich damit auf die Brust klopfe; sodann stelle ich den Finger meiner linken Hand auf das Wort porte [trage], nehme den Folioband und trage ihn nacheinander auf der Schulter, auf dem Arm, in den Zipfeln meines Rockes; auf dem Rücken und auf dem Kopf; alles das im Gehen und mit der Haltung eines Menschen, der sich schwer beladen fühlt. Keine meiner Bewegungen entgeht der Aufmerksamkeit des Taubstummen. Ich gehe nun zum Tische zurück und setze, um die zweite Person zu erklären, den Zeigefinger der linken Hand auf das Wort, tu [du]; gleichzeitig richte ich den der rechten Hand gegen die Brust des Taubstummen und klopfe einige mal sanft darauf, wobei ich ihn darauf aufmerksam mache, daß ich ihn ansehe; und daß er mich auch ansehen muß. Sodann setze ich den Finger auf das Wort portes [trägst] und gebe ihm den Folioband, indem ich ihm ein Zeichen mache, nun seinerseits dasselbe zu tun, was er mich zuerst hat ausführen sehen. Er fängt an zu lachen, nimmt das Buch und richtet den Auftrag sehr gut aus.“ (de l’Epée 1910, 46f)
Methodenstreit
Wie schon dargelegt, obsiegte im internationalen akademischen Streit um die adäquate Unterrichtsmethode Gehörloser zunächst de l’Epée. Spätestens jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wendete sich das Blatt, und mit den Beschlüssen des Mailänder Kongresses der Taubstummenlehrer von 1880 erfolgte wiederum eine einseitige Entscheidung, nun zugunsten der Lautsprache.
Urteil der Züricher Akademie
Ein schweizerisches Dokument, ein Artikel aus dem Feuilleton der Neuen Züricher Zeitung von 1906, erinnert an das Urteil der Züricher Akademie über den Methodenstreit zwischen Heinicke und de l’Epée von 1783 und wirft rückblickend ein differenziertes Bild auf die scheinbar so unversöhnlichen Positionen:
„Zu der Eigenart des großen Abbé de l’Epée gehört, daß er wenig Widerspruch ertrug und seine Lehrweise zwar als verbesserungsfähig, aber doch als die beste der bestehenden betrachtete. Er glaubte, der Taubstumme sei vorzugsweise nur durch den Gesichtssinn zu unterrichten, daher entspreche das geschriebene und nicht das gesprochene Wort seinen Bedürfnissen; seine Muttersprache sei die Gebärdensprache, die durch methodische Zeichen so vervollkommnet werden könne, daß sie allein es ermögliche, seine geistigen Kräfte allseitig auszubilden. Nicht dass de l’Epée die Fingersprache oder das laute Sprechen vernachlässigt hätte. Von der ersten Stunde an übte er beide nach bekannter Methode; denn jene war notwendig, um das Handalphabet zu lehren, diese wegen des Verkehrs mit den Vollsinnigen […] Allein die Fingersprache und das laute Sprechen schienen ihm so einfach und für die Erfassung der übersinnlichen Begriffe so beschränkt zu sein, daß er die größte Arbeit auf die Anwendung und Ausbildung seiner methodischen Zeichen verwandte. Es waren dies teils natürliche, teils künstlich kombinierte pantomimische Beschreibungen der zu erklärenden sinnlichen oder übersinnlichen Begriffe […]
In der Großartigkeit des Systems lag aber gerade seine Schwäche; die Fingersprache wie das eigentliche Sprechen mußten zu kurz kommen. Indem de l’Epée das Grösste wollte, die vollständige, geistige Ausbildung der Taubstummen, die ihm nur bei wenigen gelingen konnte, unterschätzte er das Nächstliegende und Einfachste, was alle Taubstummen in erster Linie nötig haben, die tägliche Umgangssprache. Abbé de l’Epée war nicht nur in seiner uneigennützigen Hingabe für die Armen, sondern auch in der groß angelegten Unterrichtsmethode Idealist.
Einen entgegengesetzten Standpunkt nahm der Zeitgenosse Epées, der Deutsche Samuel Heinicke ein, der, ein ausgezeichneter, praktischer Schulmann, dem gesprochenen Wort die erste Stelle im Taubstummenunterricht anwies […]
Leider hielt er, teils aus Spekulation, teils aus Furcht vor Mißbrauch, seine Methode geheim. Er ging von der richtigen Annahme aus, daß die Gedanken erst durch die Sprache gebildet werden und man somit auch im Unterricht der Taubstummen so schnell als möglich zum artikulierten Sprechen übergehen müsse. Die Lernfähigkeit der Taubstummen gründe sich auf Gesicht, Gefühl und Geschmack […] Auch er erreichte überraschende Resultate; geschickte Schüler vermochten die Worte von den Lippen abzulesen und mit Vollsinnigen zu reden. Natürlich erregten seine Tätigkeiten und Erfolge großes Aufsehen; weckten aber ebenso sehr Neugier, Mißtrauen und Verleumdung, in seiner Anstalt in Leipzig hatte er selten gleichzeitig mehr als 9 Zöglinge, die er kaum 4 Jahre behalten konnte. Auch fehlte es ihm nicht an ökonomischen Schwierigkeiten; er war und blieb arm. Dazu kam seine Reizbarkeit; denn Heinicke war eine streitbare Natur und griff Uebelstände und Personen schonungslos an, wenn sie ihm hindernd in den Weg traten. Besonders hatte er für die Mängel der Volksschule einen offenen Sinn, für die Klagen der Lehrer ein williges Ohr und auf die Anmaßungen der Geistlichen ein scharfes Auge. Er verstand es aber, nicht nur zu tadeln, sondern auch besser zu machen und darf füglich ein Vorläufer der modernen Pädagogik und Schule genannt werden […]
Auch Heinicke überschätzte seine Lehrart und fällte deswegen über die anderen Methoden, ohne sie zu kennen, ein scharfes und ungerechtes Urteil […]
Es wäre eine müßige Frage, zu untersuchen, wer von den beiden Taubstummenlehrern Epée und Heinicke der größere wäre: beide haben ihr ganzes Können und ihre ganze Persönlichkeit für eine erhabene Aufgabe eingesetzt. Ihre Ziele und ihre Erfolge waren nahezu die gleichen, nicht aber ihre Wege, die sie betraten. Der Streit um den Vorzug ihrer Methode konnte nicht ausgetragen werden, weil der Wert einer Methode weniger von ihr selbst abhängt, als vielmehr von der Art und Weise, wie sie ausgeübt wird. Der Buchstabe tötet, der Geist ist’s der lebendig macht. Was aber dieser literarischen Fehde besondere Bedeutung verleiht, ist, daß sie in allen Ländern zum erstenmal die öffentliche Meinung für die Bildung der Taubstummen interessierte.“ (Ernst 1906)
In den ersten praktischen Unterrichtsversuchen, ich hatte bereits darauf hingewiesen, überwog ein pragmatisches Ausprobieren, das zwangsläufig verschiedene methodische Elemente berücksichtigte.
Beispiel Rom
So ging der Italiener Silvestri in der römischen Gehörlosenschule zwar von der Gebärdensprache de l’Epées aus, ergänzte sie aber um lautsprachliche Anteile. Er schrieb 1785:
„Unser Ziel in Rom ist nicht allein, diesen armen Menschen die Sprache wiederzugeben, sondern auch, ihre wichtigste Qualität, ihren Verstand zu fördern. Zu diesem Zwecke bediene ich mich eines einfachen, natürlichen Mittels, welches der natürlichen Stärke des Taubstummen keine Gewalt antut, sondern im Gegenteil gerade die Kommunikationsform bevorzugt, mit der er […] so wohlvertraut ist, und die ihm zu Gewandtheit und Schnelligkeit verhilft. Mittels Gebärden drückt ein jeder Taubstumme seine Wünsche und Bedürfnisse vollends aus. Aus diesem Grunde hat die Schule sich die Gebärden für seine Bildung zunutze gemacht, dabei aber gewisse Korrekturen vorgenommen […] Doch um den Taubstummen wieder ganz der Gesellschaft zuzuführen, versäumt die Schule es auch nicht, ihn das Verstehen von Lippenbewegungen und die ihnen zu Grunde liegenden Gedanken zu lehren. Dies gestattet es ihm, unverzüglich und ohne andere Hilfsmittel als die lebendige Stimme zu antworten.“ (Pinna et al. 1993, 417f)
Wiener Methode
Die Verbindung unterschiedlicher Elemente wurde nach dem Ausscheiden Storks auch in dem Wiener Taubstummeninstitut unter der Leitung seines Nachfolgers May praktiziert. Walter Schott spricht von einer „Wiener Methode“, über die er Folgendes schreibt:
„Die ersten Lehrer des k. k. Taubstummen-Instituts hatten […] die Gebärdenmethode des de l’Epée in Paris erlernt und in Wien zur Anwendung gebracht. Die Pariser Gebärdensprache war aber in ihrem Gebrauch so umständlich (infolge der vielen grammatikalischen Endungen, Ableitungen usw.), daß sie als Kommunikationsmittel für den alltäglichen Gebrauch der Gehörlosen untereinander sehr unpraktisch und zeitraubend war. Daher war es nur natürlich, wenn neben der im Unterricht verwendeten Gebärdensprache eine andere, abgekürzte, sich entwickelte und die Schrift als sicheres Mittel zur Verständigung gegenüber der hörenden Umwelt besondere Bedeutung erlangte […] Während Stork ein entschiedener Gegner Heinickes war, verschloß sich May nicht dessen Gedanken. Besonders den sozialen Ideen stimmte May durchaus bei […] May löste sich von der französischen Methode auch insofern, als er die komplizierten Zeichen durch Vereinfachungen ersetzte und diese mit […] Handalphabetszeichen ergänzte. Damit gelang ihm die Konstruktion eines ‚gemischten Systems‘, das Gebärde und Lautsprache verband. Offenbar versuchte May die Vorteile beider Methoden zu vereinen.“ (Schott 1995, 112f)
Musikerin M. Paradis
Methoden bei Blindheit: Was die Methode zur Unterrichtung Blinder betraf, so lagen die Dinge hier wesentlich einfacher. Als Haüy mit seinen Überlegungen begann, hatte er nicht nur wesentliche Anregungen durch Diderots Brief über die Blinden erfahren, sondern aus eigener Anschauung miterlebt, in welch erstaunlichem Maße eine blinde Person über intellektuelle und musische Fähigkeiten verfügte.
Maria Theresia Paradis
Am 1. April 1784 trat die blinde Pianistin und Komponistin Maria Theresia Paradis aus Wien zu öffentlichen Konzerten in Paris auf, und ihre Präsentationen wurden umgehend zum Stadtgespräch. In Alexander Mells Handbuch des Blindenwesens von 1900 lesen wir über sie:
„Sie wurde in allen Städten, wo sie auftrat, Mittelpunkt der Gesellschaft; die berühmtesten Personen der Zeit, Gelehrte, Musiker, Dichter, Staatsmänner suchten ihren Umgang, um sich an ihrem geistreichen Gespräche, an ihren feinen gesellschaftlichen Formen zu erfreuen. Nichts erinnerte, wenn sie saß, an ihr Unglück.“ (Mell 1900, 577)
Paradis’ Hilfsmittel
Maria Paradis, ein Patenkind der österreichischen Kaiserin Maria Theresia und „Mozarts berühmte Zeitgenossin“ (Fürst 2005) war nicht nur eine exzellente Musikerin und Komponistin, sondern zugleich eine allseits gebildete Persönlichkeit. Sie vermochte sich mit Hilfe einer kleinen Handpresse schriftlich mitzuteilen, verfügte über geografische Karten, konnte Karten und Schach spielen sowie mit Hilfe besonderer Tafeln rechnen. Die dafür notwendigen Hilfsmittel hatte sie, wir erwähnten es bereits, durch ihre Kontakte zu dem Blinden Johann Ludwig Weissenburg, Sohn eines Kammerdieners aus Mannheim, erhalten, der aufgrund seiner Begabung insbesondere in Mathematik ausgebildet worden war.
Grundlegend für die Unterrichtung blinder Menschen war die Erkenntnis, dass der fehlende Gesichtssinn durch den des Tastens zu ersetzen sei, und alle Kunst bestand darin, Hilfsmittel zu erfinden, die den Tastsinn für die Anbahnung von Lernprozessen nutzbar machten.
Leselernprozess
Haüy hat in seinem 1786 erschienenen Werk „Essai sur l’éducation des aveugles“ (Abhandlung über die Erziehung Blinder) beschrieben, welche Mittel er für den Leselernprozess seiner blinden Schüler einsetzte, wobei er ausdrücklich auf die Hilfsmittel der Maria Paradis sowie J. L. Weissenburgs verwies:
„Durch das Lesen wird das Gedächtniss leicht, rasch und methodisch ausgebildet. Es ist der Canal, durch welchen wir verschiedene Kenntnisse erlangen. Unsere hauptsächlichste Sorgfalt muss daher darauf gerichtet sein, die Blinden lesen zu lehren und für ihren Gebrauch eine Bibliothek herzustellen. Früher hat man in dieser Hinsicht verschiedene vergebliche Versuche gemacht. Man lehrte den Blinden lesen durch Buchstaben, die erhaben und beweglich auf einer Platte waren, oder indem man Buchstaben anwandte, die auf eine Karte durch Nadelstiche gebildet waren. Schon erschlossen sich ihnen die Wunder der Schreibkunst […] Aber diese rohen Hülfsmittel gaben dem Blinden nur die Möglichkeit, den Reiz der Lectüre empfinden zu lassen, ohne ihm die Mittel derselben zu gewähren. Wir fanden dieselben ohne Mühe, ihr Princip existirte schon lange, und täglich machte es sich vor unsern Augen geltend.
Wir beobachteten, dass ein bedrucktes Blatt beim Verlassen der Presse auf der Rückseite alle Buchstaben in relief zeigte, aber verkehrt. Wir liessen Buchstaben giessen, die so beschaffen waren, dass ihr Abdruck auf Papier von den Augen wahrgenommen werden kann, und mit Hülfe eines nach Art der Buchdrucker angefeuchteten Papiers gelang es uns, das erste Exemplar abzuziehen, das bisher mit erhabenen Buchstaben erschienen war, welche durch das Gefühl unterschieden werden konnten. Das war der Ursprung der Bibliothek für die Blinden […]
Vom Lesen des Gedruckten bis zu dem des Geschriebenen hat der Blinde nur einen Schritt zu thun. Wir sprechen hier nicht von der Schrift der Sehenden; wir haben bis zu diesem Tage vergebens den Gebrauch von Relieftinten versucht, und wir haben dieselben durch Schriftzüge ersetzt, die auf einem dicken Papiere vemittelst einer eisernen Feder, deren Schnabel nicht gespalten ist, erzeugt werden. Es ist unnütz zu bemerken, dass man, wenn man an einen Blinden schreibt, sich keiner Tinte bedient; dass die Buchstaben gerade, von einander getrennt und etwas dick sind, und dass man nur die eine von den zwei Seiten eines Blattes beschreibt. Wird dies beobachtet, werden die Blinden leidlich fliessend die Cursivschrift der Sehenden, ihre eigene und die anderer Blinden lesen. Ausserdem werden sie auf dem Papiere ebenso die Musiknoten und andere Figuren unterscheiden, welche durch unser Verfahren fühlbar gemacht worden sind.“ (Haüy 1883, 2ff)
Haüys Auftritt mit blindem Schüler
Der 17-jährige François Le Sueur war Haüys erster Schüler, mit dem er bald den Beweis seiner Unterrichtserfolge öffentlich machte. Alexander Mell hat uns in Dokumenten die Entstehungsgeschichte der Pariser Blindenanstalt übermittelt und dabei auch den Auftritt Haüys mit seinem Schüler im „Bureau Académique d’Ecriture“ wiedergegeben:
„Herr Haüy ließ sodann seinen Schüler Uebungen ausführen. Der Herr Generalleutnant der Polizei hatte ein Buch aufgeschlagen und gab daraus einige Wörter an, die sofort auf die Tafel gebracht wurden; und der junge Le Sueur las, nachdem er die Fingerspitzen über die Buchstaben hatte gleiten lassen, mit lauter Stimme: ‚Tableau de la Maison du Roi‘. Er führte mit demselben Verfahren die Addition mehrerer Zahlensummen, die man auf die Tafel eingetragen hatte, aus. Man nahm auch aufs Geratewohl einige Lettern, Buchstaben and Ziffern gemischt; man druckte sie auf ein Papier ab und der junge Mann brachte es zuwege, sie zu nennen, wenngleich mit etwas Mühe; was nicht überraschen darf, weil man, abgesehen davon, daß diese Lettern keinerlei Sinn bildeten, es darauf angelegt hatte, sie ohne Ordnung vorzulegen und einige davon sogar umzukehren. Er bewegte sich ebenso auf mehreren geographischen Karten, die man ihm gab und auf denen die Grenzen der verschiedenen Länder durch eine Menge von Nadelstichen, die den Konturen folgten, tastbar gemacht worden waren. Le Sueur erkannte die einzelnen Provinzen, auf die man seine Hand legte, und nannte gleichzeitig die Hauptstädte dieser Provinzen. Er unterschied ebenfalls die Musikzeichen, indem er der Reihe nach sowohl die Stufe, die sie in der Tonleiter einnahmen, als auch die Ausdrücke, die ihre verhältnismäßigen Werte angaben, benannte […]
Man vergegenwärtige sich, daß dieser junge Mann noch vor sechs Monaten in tiefer Unwissenheit steckte; daß er, geboren ohne Vermögen und genötigt, um die Unterstützungen betteln zu gehen, die er mit seiner Familie teilt, täglich nur ein paar Augenblicke dem Studium widmen kann; man vergleiche mit seinen Fortschritten selbst jene, die in einem gleichen Zeitraum ein junger Mann macht, der sich aller seiner Sinne und der Muße, die Wohlhabenheit gewährt, erfreut, und man wird ermessen, wie berechtigt sowohl die Befriedigung der hochgebildeten Beamten, die sich an der Spitze der Versammlung befanden, als auch die Beifallsbezeugungen waren, die die Zuseher den Erfolgen der erfinderischen und wohltätigen Bemühungen des Herrn Haüy verschwenderisch spendeten. Man wird schließlich folgern, wie interessant eine Anstalt wäre, die die des Gesichtssinnes beraubten Individuen in die Lage versetzen würde, aus den für ihren Gebrauch gedruckten Büchern Kenntnisse, geeignet ihren Geist zu bilden und zu schmücken, und Reize zu schöpfen, fähig, in ihrem Herzen das Bewußtsein ihres Unglücks zu mindern oder selbst aufzuheben.“ (Mell 1952, 34f)
Louis Braille
Auch wenn es mit der Entwicklung dieser neuen Methoden zum ersten Mal gelungen war, blinden Menschen in systematischer Weise Bildungsprozesse zu vermitteln, so ist doch einschränkend anzumerken, dass diese ersten Methoden aus der Sicht der Sehenden entwickelt worden waren und letztlich nur begrenzte Kommunikationsmöglichkeiten eröffneten. Erst als Louis Braille (1809–1852), der 1819 als Zehnjähriger in der Pariser Blindenanstalt Aufnahme gefunden hatte, ein aus der Kombination von sechs Punkten bestehendes Schriftsystem erfand, war der entscheidende Schritt zur Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten blinder Menschen getan.
Punktschrift
Erfunden hatte die Punktschrift Charles Barbier de La Serre, ein ehemaliger Artillerieoffizier, der während der Revolution in die USA emigriert und Anfang des 19. Jahrhunderts nach Frankreich zurückgekehrt war. Barbier bot seine Methode dem Pariser Königlichen Blindeninstitut an, das sich unter der Leitung von Pignier 1821 zur Einführung der Punktschrift entschloss. In der praktischen Erprobung durch die blinden Schüler selbst, unter ihnen Louis Braille, der 1821 erst zwölf Jahre alt war, stießen diese aber auf eine Reihe von Nachteilen der Methode Barbiers. Sie bemängelten, dass sich Barbiers Methode an den Lauten, nicht aber am Alphabet orientierte, keine Möglichkeiten für Rechenoperationen und Notensetzung vorsah und schließlich auf zwölf Punkten basierte, wodurch die Ertastbarkeit erschwert wurde. Es war Louis Braille, der als 20-Jähriger schließlich die entscheidende Lösung fand: ein System aus nur sechs Punkten, das die Zeichen das Alphabets sowie musikalische und mathematische Zeichen umfasste (Weygand 2003, 327ff).
Abb. 2.5: Blindenpunktschrift nach Louis Braille
Erfindung einer Schreibmaschine
Braille arbeitete in den Folgejahren an der Optimierung seines Systems, das er in zweiter Auflage 1837 veröffentlichte und dessen Version von Direktor Pignier an zahlreiche Blindenanstalten des Auslandes verschickt wurde. Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten blinder Menschen war schließlich die Erfindung einer Schreibmaschine 1842, erdacht und hergestellt von dem Mechaniker Pierre-François de Foucault, einem ehemaligen Zögling der Blindenanstalt, in Zusammenarbeit mit Louis Braille.
Der Siegeszug der Braille-Schrift ließ allerdings noch einige Zeit auf sich warten, denn der Nachfolger Pigniers, Pierre-Armand Dufau, beeilte sich (1840), zum alten Schriftsystem zurückzukehren. Die Weltausstellung in Paris 1878, die mit einem Weltkongress der Blinden und Gehörlosen verbunden war, brachte letztendlich den nationalen und internationalen Durchbruch. Wie in allen anderen europäischen Ländern entschieden sich auch die deutschen Blindenpädagogen 1879 für die Einführung der Punktschrift nach Louis Braille. Er selbst war bereits 1852 in der Pariser Blindenanstalt verstorben. Nur ein Jahr später weihte das nun Kaiserliche Blindeninstitut eine Braille-Büste ein, mit „le Jean Guttemberg des aveugles“, der Johannes Gutenberg der Blinden, geehrt wurde. Bedenkt man, wie dürftig das Bildungsangebot für die große Mehrheit der Insassen der Pariser Blindenanstalt war, so ist die hohe Bedeutung und Wertschätzung dieser Methode zu verstehen, die den in der Isolation lebenden Blinden trotz aller Hindernisse plötzlich ungeahnte Wege zur Welt der Kultur, zur Kommunikation untereinander und zur intellektuellen Emanzipation eröffnete (Weygand 2003, 358).
Laura Bridgman
Unterricht Taubblinder: Der methodische Erfindungsreichtum der Anfangsphase führte schließlich auch dazu, dass bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, fünf Jahrzehnte vor der berühmten Helen Keller, die erfolgreiche Unterrichtung eines taubblinden Mädchens in der Blindenanstalt von Boston geschah: Laura Bridgman (1829–1889). Es war der Leiter der Blindenanstalt von Boston, Dr. Samuel Gridley Howe, der sich dieser Herausforderung stellte und mit großer Phantasie und Methodengeschick die Lernfortschritte des Mädchens über viele Jahre begleitete (Jerusalem 1890).
S. G. Howes Methode
Die taubblinde Laura Bridgman wurde 1837 in der Bostoner Blindenanstalt aufgenommen, und im „Encyklopädischen Handbuch des Blindenwesens“ von Alexander Mell findet sich eine minutiöse Beschreibung der von Howe entwickelten Methode:
„Dr. Howe ließ auf kleine Papierstreifen die Namen häufig vorkommender Gegenstände, wie Messer, Gabel, Löffel, Schüssel, Stuhl, Buch u. dgl. in erhabenen, tastbaren Lettern drucken. Er befestigte dann einen solchen Streifen z. B. den mit knife (Messer) bedruckten auf ein Messer und ließ einen andern solchen Streifen lose. Darauf gab er nun Laura das Messer mit dem darauf geklebten Streifen in die Hand, ließ sie das Object und die Lettern betasten. Dann gab er ihr den losen Streifen mit dem Worte knife (Messer) und machte ihr das Zeichen der Gleichheit, indem er ihre beiden Zeigefinger genau nebeneinander legte. Laura schien leicht zu begreifen, dass die Zeichen auch bei den Streifen gleich seien; mehr aber wusste sie noch nicht. Man versuchte es nun ebenso mit anderen Objecten und setzte die Lection am dritten Tage fort. Am dritten Tage erst begriff Laura, dass die Lettern auf den Streifen Zeichen für die Dinge seien, an denen sie befestigt waren. Dies zeigte sich dadurch, dass sie den Streifen mit dem Worte „chair“ (Stuhl), auf einen Stuhl, dann auf einen andern legte, wobei ein verständnisinniges Lächeln ihr bis dahin verdutztes Antlitz erhellte und ihre sichtbare Befriedigung ihrem Lehrmeister zeigte, dass sie ihre erste Lection begriffen hatte.
Damit hatte nun Laura die wichtige Erkenntnis gewonnen, dass die Dinge mit Namen bezeichnet werden. Diese Namen hatte sie aber bisher nur als einheitliche Complexe von Tastempfindungen kennen gelernt. Durch Zerschneiden der Streifen und mit Hilfe eines Typenkastens lehrte man sie nun, die Worte aus den einzelnen Buchstaben zusammensetzen, was sie mit großem Eifer und ziemlich schnell erlernte. Auch die Ordnung des Alphabets merkte sie sich bald und wusste ihre Typen nach beendeter Lection in richtiger Weise in den Kasten einzuordnen, was ihr die rasche Auffindung sehr erleichterte. Das Manipulieren mit den Typen war jedoch immerhin langwierig und nicht immer anwendbar. Dr. Howe sorgte deshalb dafür, dass Laura die Fingersprache der Taubstummen erlernte. Damit erst war für Laura die Einsamkeit, in die sie der Verlust der beiden vornehmsten Sinnesorgane gebannt hatte, durchbrochen, indem ihr jetzt erst die Sprache und der Verkehr durch dieselbe erschlossen war. Sie lernte die Fingersprache mit großem Eifer und brachte es darin im Sprechen sowohl, als auch im Verkehr zu großer Geläufigkeit.“ (Mell 1900, 135f)
Es sollte übrigens nur noch ein gutes Jahrzehnt dauern, bis ein Franzose den Boden der neuen Welt betrat und in den USA als Pionier der Geistigbehindertenpädagogik seine Erfolgsgeschichte begann: Edouard Séguin.