Читать книгу Ein Flaschengeist in Wanne-Eickel - Sieglinde Breitschwerdt - Страница 4
Das Schmatzen in der Nacht
ОглавлениеFabians Eltern waren wieder auf Tournee. Das Abendessen verlief schweigend. Das Küchenradio spielte leise im Hintergrund. Tante Eulalia stand am Herd und zauberte einen goldgelben Pfannkuchen nach dem anderen aus der Pfanne. Obwohl sich Fabian heute Pfannkuchen gewünscht hatte, schmeckten sie nicht so gut wie sonst.
Luzimops strich bettelnd um Tante Eulalias Füße. Hin und wieder gab sie ihm etwas ab, das er sogleich gierig verschlang.
„Möchtest du noch einen?"
Fabian schüttelte den Kopf, rollte den Pfannkuchen lustlos auf seinem Teller ein und wieder aus und streute noch mehr Zucker darauf.
„Fabian, nun sei doch nicht so traurig! In ein paar Wochen sind Ferien! Dann besuchen wir deine Eltern in London."
„Aber erst in vier Wochen! Das ist 'ne megalange Zeit!"
Maulig schlug er mit der Gabel nach einer Fliege, die in engen Spiralen um seinen Kopf kreiste.
„Wo kommt denn bloß diese Fliege her und das zu dieser Jahreszeit?"
„Weiß nicht!"
„Na gut!"
Die Tante seufzte und beschloss, ihren Neffen in Ruhe zu lassen.
Es war jedes Mal dasselbe: Wenn Fabians Eltern auf Tournee gingen, dann war mit dem Jungen tagelang nichts anzufangen. Sie holte einen kleinen Drahtkäfig aus der Schublade und legte ein Stückchen Käse hinein.
„Haben wir Mäuse?", erkundigte sich Fabian.
„Scheint so!", erwiderte die Tante und stellte die Falle in die Speisekammer.
„Die armen Mäuse! Das bisschen, was die fressen!"
„Das stimmt, trotzdem nagen sie alles an, und außer-dem können sie Krankheiten übertragen", murmelte Tante Eulalia ungeduldig und fügte nachdenklich hinzu: „Allerdings ist mir schleierhaft, wie sie die Marmeladen- und Gurkengläser aufbekommen!"
Fabian hielt beide Zeigefinger über seinen Kopf und meinte kichernd: „Vielleicht sind das Außerirdische?"
Lachend schüttelte Tante Eulalia den Kopf: „Was du dir immer ausdenkst! Das kommt sicher vom vielen Fernsehen. Jetzt hilf mir mal, den Tisch abzuräumen!"
Fabian hatte einfach schlechte Laune. Der ganze Tag war schiefgelaufen. Zuerst 'ne vier in Mathe, obwohl das sein Lieblingsfach war, dann die Eltern ab heute für lange Zeit weg, und im Fernsehen gab's auch nichts Spannendes. Zum Lesen hatte er keine Lust, und so beschloss er, ins Bett zu gehen, obwohl morgen Sonntag war. Im Bett wälzte er sich hin und her, knuffte das Kissen unter seinem Kopf zusammen, aber es half nichts! Er konnte einfach nicht einschlafen. Immer wieder dachte er an seine Eltern, auf die er eigentlich sehr stolz war. Nicht jeder hatte so berühmte Eltern. Trotzdem beneidete er seine Freunde, die in einer ganz normalen und nervigen Familie aufwuchsen.
Irgendwann stand er auf, setzte sich an den Computer und lud sein Lieblingsspiel. Grimmig versuchte er, den alten Punktestand zu knacken. Das war schwierig, denn ständig schwirrte eine Fliege um ihn herum und störte ihn gewaltig. Als er nach ihr schlug, flüchtete sie nach einem eleganten Looping durchs Schlüsselloch. Fabian stutzte. So etwas hatte er noch nie gesehen. Nach einiger Zeit bekam er Hunger. Ihm fielen die schönen Pfannkuchen in der Speisekammer ein, die sogar kalt noch sehr lecker schmeckten.Er schlich durch den Flur. Vor dem Zimmer seiner Tante blieb er kurz stehen, lauschte und grinste. Die alte Dame schnarchte wie eine Kettensäge, ein Zeichen, dass sie tief und fest schlief.
Luzimops, der Kater, lag auf der Kommode im Flur und döste. Gelangweilt öffnete er ein Auge und beobachtete Fabian, der in Richtung Küche ging. Schnell hüpfte er von der Kommode und heftete sich neugierig an Fabians Fersen. Ein Extraleckerchen wollte er sich keinesfalls entgehen lassen.
Leise öffnete der Junge die Küchentür und erschrak. Da schmatzte jemand! Erschrocken hielt er die Luft an. Es war ganz eindeutig! Das Schmatzen kam aus der Speisekammer, gleich nebenan! Er hatte noch nie Mäuse schmatzen hören. Ihm fiel die Mausefalle ein, die seine Tante heute Abend aufgestellt hatte. Er nahm sich vor, die Mäuse einzufangen und sie draußen im Garten wieder freizulassen.
„Oho, auuuaaa!"
Ein gellender Schrei kam aus der Speisekammer, gefolgt von einem lauten Klirren. Fabian wurde angst und bange, und sein Herz klopfte bis zum Hals. Hatte da nicht jemand Aua gerufen? Er schluckte und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Bestimmt hatte er sich verhört. Einbrecher in der Speisekammer? Seit wann klauten die Kartoffeln, Marmeladen- und Gurkengläser statt Schmuck und Silberbesteck?
Mit klopfendem Herzen drückte er die Türklinke herunter. Gleißendes Licht flutete in den kleinen Raum. Ungläubig riss er die Augen auf. Sah er Gespenster? In dem kleinen Drahtkäfig stand ein kleines blaues Männchen und bibberte am ganzen Körper. Sein Westchen war ganz und gar mit Erdbeermarmelade verschmiert.Fauchend stürzte sich Luzimops zu dem Käfig.
In letzter Sekunde packte Fabian den Kater im Genick und beförderte ihn in den Flur. Luzimops fauchte empört und kratzte an der Küchentür.
Fabian kniete sich hin und befreite das blaue, bibbernde Kerlchen aus dem Käfig. Neugierig sah er es sich genauer an. Der kleine Wicht hockte auf seiner Hand zwischen Daumen und Zeigefinger.
Verlegen baumelte er mit den kleinen Füßchen, verschränkte seine Ärmchen vor der Brust und verbeugte sich.
„Oh, mein mistiger Großer, ich meine, mein großer Meister! Ich bin der Dshinni Tanball, dein Diener!"
„Was?" Fabian lachte glucksend. “Du... du bist mein Diener? Warum?"
„Du hast mich gerettet, und deshalb muss ich dir zu Diensten sein!"
Demütig senkte er das Köpfchen und wisperte: „Ein uraltes Flaschengeistergesetz!"
Nur langsam begriff Fabian, was da auf seiner Hand hockte. Vor Aufregung wurde sein Mund ganz trocken, und er fragte mit krächzender Stimme: „Willst du damit sagen, dass du ein Flaschengeist bist? So... so... wie der Dshinni aus Aladin?"
In diesem Moment sprang die Küchentür auf. Tante Eulalia rauschte mit Luzimops im Schlepptau herein.
„Fabian, was ist hier los?", rief sie streng. „Warum machst du so einen Krach..."
Mitten im Satz verstummte sie. Entgeistert starrte sie auf das blaue Etwas, das auf der Hand ihres Neffen hockte.
„Wa... wa... was ist denn das?"
Fauchend sprang Luzimops auf den Küchentisch. Aufgebracht drosch er mit seiner Tatze nach diesem mausegroßen Etwas.
„Hihihilfe!", kreischte der kleine Wicht und schwebte auf Fabians Schulter.
Bibbernd versteckte er sich hinter dessen rechtem Ohr.
„Luzimops! Geh sofort vom Tisch runter!", herrschte Tante Eulalia ihn an und verpasste dem Kater einen kleinen Klaps. Der Kater erschr ak dermaßen, dass er auf den Küchenboden plumpste. Beleidigt stellte er seinen Schwanz in die Höhe, ließ ihn ein paar Mal zucken und stolzierte hinaus.
Vorsichtig näherte sich die Tante ihrem Neffen.
„Darf ich vorstellen?“, fragte Fabian grinsend. “Das ist Tanball, der Flaschengeist, und das ist meine Tante Eulalia Mehlmann!"
Ärgerlich runzelte die alte Dame die Stirn.
„So, so, ein Flaschengeist? Aha!? Und wo ist die Flasche?"
„Aber Tante, du weißt doch, Papa und ich haben diese komische Flasche geangelt! Und deshalb bin jetzt ich Tanballs Meister, stimmt's?"
„Stimmt!", wisperte es hinter Fabians rechtem Ohr.
„So ein Blödsinn!", regte sich die Tante auf. „Ich hab' noch nie gehört, dass es echte Flaschengeister gibt. Was will denn so ein Dingens hier in Wanne-Eickel?!"
„Bitte, bitte", bettelte Tanball, „Tante des großen Meisters. Ich laste Ihnen auch nicht zur Falle, ich meine, ich falle Ihnen auch nicht zur Last. Ich brauche nur ein plätziges, friediges Winzchen für meine Flasche!"
Tante Eulalia hatte sich wieder einigermaßen beruhigt. Prüfend sah sie sich um. Ein zerbrochenes Marme-ladenglas lag auf dem Boden. Ärgerlich sammelte sie die Scherben zusammen. Mit spitzen Fingern zog sie ein staubiges Ding aus dem Karton.
„Ist das die Flasche?"
„Ja, Tante des mistigen Großen!", säuselte es wieder hinter Fabians Ohr.
Ich träume, dachte Eulalia Mehlmann, ging zur Spüle, ließ Wasser ein und griff nach Flaschenbürste und Spülmittel. Entsetzt segelte Tanball vor ihre Nase und jammerte: „Was machen Sie denn da?"
„Ich mach' dat Ding erst mal sauber!", erwiderte sie ungerührt.
„Aber das ist mein Zuhause!", heulte Tanball. "Ich wohne darin!"
„Um so schlimmer", tadelte sie. Erbarmungslos und stocherte sie mit der Bürste in der Flasche herum.
„Wenn bei uns schon ein Flaschengeist wohnt, dann nur in einer sauberen Flasche! Basta!"
Ehe sich der Kleine versah, wurde er geschnappt. Mit dem feuchten Spüllappen wischte ihm Tante Eulalia die Erdbeermarmelade von Gesicht und Westchen. Zufrieden musterte sie ihn und setzte ihn auf den Toaster.
„So! Flasche und Geist sind sauber!"
Sie schüttelte den Kopf und kicherte: „So etwas Witziges hab' ich noch nie geträumt! Flaschengeister? Haha, noch dazu in Wanne-Eickel? Das gibt's doch gar nicht. Aber jetzt, marsch ins Bett! Und dieser kleine Fresssack kommt zurück in seine Flasche."
Sie kramte in einer Schublade und gab Fabian einen Korken.
„Stöpsel die Flasche gut zu, damit er nicht noch mehr Unsinn anstellt. Gute Nacht! Ich möchte noch ein bisschen schlafen!"
Mit diesen Worten verließ sie die Küche.
Fabian hielt Tanball die Hand hin. Zögernd schwebte der Kleine darauf.
„Zeigst du mir mal, wie du in die Flasche kommst?"
Der Flaschengeist nickte. Auf einmal wurde er ganz lang und dünn. Mit einem pfeifenden Geräusch verschwand er in der Flasche. Da war auch wieder die Fliege, die ihn schon vorhin so genervt hatte. Sie zog eine elegante Spirale, angefangen über Fabians Kopf, und schoss in den Flaschenhals.
Fabian grinste. Na gut, dachte er, dann hat der Kleine ein bisschen Gesellschaft. Er stöpselte die Flasche zu, ging in sein Zimmer und stellte die Flasche auf den Nachttisch.
Ich träume, dachte er. Ich träume ganz bestimmt. Mann, ich bin zehn. Ich glaub' doch nicht mehr an Geister!
Im Haus in der Frieda-Straße in Wanne-Eickel war Ruhe eingekehrt.
Die Tante schnarchte in ihrem Bett, Luzimops döste auf der Kommode, und Fabian träumte von seinen Eltern und von Tanball, der schmatzend auf dem Rand eines Marmeladenglases hockte.
Der Mond stand hoch am nachtblauen Himmel, schien durch Fabians Fenster und lächelte. Mit einem Mal stutzte er. Die Flasche, die auf dem Nachttisch stand, die hatte er doch schon einmal gesehen, oder? Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Das war doch die Flasche von diesem kleinen nichtsnutzigen Wicht? Aber wie kam die hierher, hier nach Wanne-Eickel? Neugierig sammelte er ein paar Strahlen ein, die sowieso nur so am Himmel herumhingen, und drang damit tief in das Innere der Flasche...
Wutentbrannt stampfte Tanball mit dem Füßchen auf und zeterte: „Bamase, sieh dir das an! Alles drüber- und drunter- und durcheinander! Ist das nicht grauenmäßig?"
Die Fliege hockte seelenruhig auf Tanballs Hänge-matte und surrte: „Aber sauber!"
„Und meine Büchertage, alle nass! Meine Zauber-bücher..."
„Reg dich wieder ab. Fast hundert Jahre hast du kein Zauberbuch mehr angefasst!", surrte sie und verdrehte ihre Augen.
„Sogar mein Handbuch 'Zaubern leicht gemacht für jedermann' ist pitschig und nassig. Wie soll ich da was wiederfinden?", jammerte er und popelte in seinem Näschen.
„Das wirst du schon", erwiderte Bamase ungerührt. „Überleg dir lieber, wie du deinem neuen Meister erklärst, dass du ein miserabler Zauberer bist!"
„Ach, Bamase", seufzte der kleine blaue Wicht. „Warum wird ständig meine Flasche gefunden? Andere Dshinnis müssen hundert Jahre und noch länger warten, bis sie entdeckt werden, und ich...", verstohlen wischte er sich ein paar luftige Tränchen ab. „Ich kann doch nichts dafür, dass ich nicht richtig zaubern kann!“
Bamase summte mitfühlend und putzte ihre Flügel.
„Vielleicht wünscht sich dein Meister nichts?", versuchte sie ihren kleinen blauen Freund zu trösten.
Zweifelnd sah Tanball sie an. Nachdenklich zog er die Stirn in luftige Falten und popelte wieder in seinem Näschen. Unerwartet stieß er einen abgrundtiefen Seufzer aus und murmelte: „Ich schreib' das alles inmein Tagebuch!"
„Ja, tu das", summte die Fliege schläfrig und klappte ihre Flügel zusammen.
Tanball fand einen Bleistift, legte das Tagebuch auf die Knie und schrieb: "Liebes Tagebuch! Mein Flaschen-geisterleben wird immer hauengrafter! Ein netter Junge hat meine Flasche gefunden. Mein neuer Meister hat eine Tante. Sie ist ein riesiger Drachen mit Lutzpappen... äh Putzlappen... Und ihre katzige Blöde trachtet mir nach dem Leben..."
„Nun übertreib mal nicht!", surrte Bamase, die auf seiner Schulter hockte. Neugierig las sie, was ihr Freund seinem Tagebuch anvertraute.
„Bis jetzt lebst du ja noch!"