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Ausgerechnet ein Engel

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Der schwarze Kater lag hingestreckt auf der Terrasse und genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen des bunten Herbstes – bis ihn die grässlich laute Musik des neuen Nachbarn beim Dösen störte. Die Ohren auf Halbmast gesenkt und schlitzäugig begann seine Schwanzspitze zu zucken. Ein unwilliges Fauchen zitterte durch seine Schnurrbarthaare. Missmutig erhob er sich und ging zu seinem Frauchen, das auf der Terrasse einen alten Stuhl restaurierte.

Inga hielt für einen Moment in ihrer Arbeit inne und streichelte den Kater über sein seidiges Fell.

“Na Schröder! Geht dir der Krach auch auf die Nerven?”

Der Kater blinzelte Inga liebevoll zu und schritt hoheitsvoll ins Haus.

Lächelnd sah sie ihm nach und seufzte.

Vor ein paar Tagen waren im Haus nebenan die neuen Besitzer eingezogen. Tagelang glich das Nachbarhaus einem Bienenstock. Jede Menge junger Leute halfen beim Umzug und bei den Renovierungsarbeiten. Wenn nicht gerade gehämmert, gebohrt oder gesägt wurde, brüllte Techno-Musik zu ihr herüber.

Auf einmal war es still. Sie vernahm eine sonore Männerstimme. Die Antwort darauf ließ auf eine weibliche Person schließen.

Inga reckte sich und bemerkte, wie dunkle Regenwolken über den Horizont trieben. Kurz darauf versank die strahlende Sonne hinter einer düsteren und fast dunkelgrauen Wolkendecke.

Grimmig biss sie sich auf die Lippen! Der Regen durchkreuzte ihre Pläne.

Sie packte den Stuhl und verstaute ihn samt Pinsel und dem Topf mit Lasur im Schuppen, der sich an der Grenze zum Nachbargrundstück befand. Kaum hatte sie den Riegel vorgeschoben, klatschten schon die ersten Regentropfen in ihr Gesicht.

Nebenan eilte ein Mann auf die Terrasse und packte eiligst alle Werkzeuge zusammen. Er war sehr groß von athletischem Körperbau, trug Flickenjeans und Turnschuhe. Obwohl der prasselnde Regen immer stärker wurde, blieb Inga wie angewurzelt stehen. Fasziniert beobachtete sie diesen dunkelhaarigen Mann, dessen nasses T-Shirt sich wie eine zweite Haut um seinen muskulösen Oberkörper spannte.

Das muss der neue Nachbar sein, sinnierte Inga. Ihr Herz fing plötzlich an zu klopfen. Was für ein Mann! Sehr markantes Profil. Ob er dunkle Augen hatte?

In diesem Moment blickte er zu ihr rüber! Seine leuchtend blauen Augen musterten sie interessiert. Ein Lächeln teilte seinen Mund. Er hob die Hand und winkte grüßend.

“Beeil dich!”, rief von der Terrassentür eine junge Frau mit blonden Haaren. Ihr hübsches ebenmäßiges Gesicht drückte Langeweile aus, das durch ihr unablässiges Kaugummi kauen noch verstärkt wurde.

Da habe ich mich wohl getäuscht, dachte Inga und verspürte plötzlich einen feinen Stich in der Herzgegend. Der Bursche steht anscheinend auf blond, und dass diese um einiges jünger war als er, das konnte sie sogar von hier aus sehen. Außerdem schien die Kaugummi kauende Blondine den Typen völlig im Griff zu haben. Wie ein Hündchen war er ihr gleich ins Haus gefolgt.

Inga blieb keine Zeit, die neuen Nachbarn weiter zu analysieren. Von einer Sekunde zur anderen kam ein heftiger Wind auf, und der Regen verwandelte sich in einen wahren Wolkenbruch.


„Tut mir echt Leid”, seufzte Gerrit und steckte Max ein paar Geldscheine in die Brusttasche. „Ich muss für meinen Kollegen einspringen! Aber Hannover ist ja nicht so weit entfernt. Ich komme alle zwei oder drei Tage mal kurz vorbei!”

„Macht nix, Bruderherz”, feixte Max. “Mit der Kohle kann ich, was noch fehlt, kaufen! Und wenn alles klappt, dann sind Biggi und ich bis zum Wochenende mit dem Chaos einigermaßen durch!”

Kameradschaftlich klopfte Gerrit seinem Bruder auf die Schulter und verabschiedete sich.

Mit gemischten Gefühlen fuhr er zur Messe. Obwohl er eigentlich Umzugs- und Renovierungsurlaub genommen hatte, blieb ihm nichts anderes übrig. Sein Kollege lag mit einem Beinbruch im Krankenhaus. Aber andererseits hatten sein Bruder und dessen Freundin gerade Semesterferien. Sie hatten ihm angeboten, für ein kleines Entgelt bei den Renovierungsarbeiten zu helfen.

Bitterböse wälzte sich Inga in ihrem Bett hin und her. Trotz geschlossener Fenster, heruntergezogener Jalousien und der fest über den Kopf gezogenen Bettdecke, war an Schlaf nicht zu denken!

Heiße Technorhythmen stampften vom Nachbargrundstück zu ihr herüber. Dazwischen ertönte kreischendes Gelächter und albernes Gegröle. Völlig genervt richtete sich Inga auf. Stirn runzelnd sah sie auf den Wecker.

Wahnsinn! Schon halb fünf! Das Fest nebenan schien kein Ende zu nehmen! In spätestens zwei Stunden würde dieser dämliche Wecker sein schadenfrohes Gekreische von sich geben! Meine Güte, wie sollte sie bloß den Tag überstehen!?

Inga wurde immer wütender.

Heftig vor sich hin schimpfend sprang sie aus dem Bett. „So“, keifte sie entschlossen. „Jetzt ist es aus mit meiner Gutmütigkeit! Dieser Partybande werde ich jetzt gründlich in die Suppe spuken!“

Maulend verließ Schröder sein Plätzchen am Fußende. Interessant! Frauchen ging sogar in Richtung Küche. Eiligst hefte er sich an Ingas Fersen. Vielleicht fiel noch ein Extraleckerchen für ihn ab?

Inga griff nach dem Telefonbuch und fing an zu blättern. Seufzend hielt sie inne. Zu dumm, sie wusste ja nicht einmal, wie die neuen Nachbarn hießen. Sie versuchte es mit der Nummer der Vorbesitzer. Doch die Stimme der Ansagerin verkündete bedauernd, dass kein Anschluss unter dieser Nummer sei. Inga warf sich den Morgenrock über, stieg in ihre Badelatschen und stiefelte entschlossen durch ihren Garten.

Auf der nachbarlichen Terrasse hockten bei Kerzenschein mindestens ein Dutzend Leute und sangen jetzt lauthals von einem österreichischen Anton.

„Hallo”, schrie Inga und ruderte mit ihren Armen, in der Hoffnung, dass wenigstens einer dieser Krawallmacher auf sie aufmerksam wurde.

Das Lied vom Anton wurde durch das des Holzmichels abgelöst.

Erst als sie fast heiser war und ihre Arme zu schmerzen anfingen, tapste die Blondine von heute Nachmittag auf sie zu. Ihre leicht geröteten Augen und ihr glasiger Blick verrieten, dass sie nicht mehr ganz nüchtern war. Ein leises Rülpsen drang aus ihrer Kehle. Sie kicherte verlegen.

Wie ein seltenes Insekt musterte sie Inga, die sich nur mühsam beherrschen konnte.

Inga atmete tief durch, um ihre Stimme sachlich klingen zu lassen.

„Würden Sie bitte die Musik leiser stellen! Ich will noch ein bisschen schlafen...”

„Biggi! Wer ist das?”, grölte eine Männerstimme von hinten.

Die Blonde drehte sich um und lallte zurück: „Die... die Dings... die ältere Frau von nebenan iss... da.“

Inga schluckte! Also, das war doch die Höhe! Als 'ältere Frau' hatte diese blonde, blöde, dämliche Tussi sie tituliert, dabei war sie erst achtundzwanzig! Augenblicklich drehte sie sich um und stiefelte in ihr Haus zurück!

„Warum hab’ ich ihr nicht gleich den Hals umgedreht?“, keifte sie vor sich hin. „Aber wehe, wenn ich diese dumme, diese blöde, diese dämliche Tussi noch einmal zwischen die Finger kriege, dann reiß' ich ihr die wasserstoffblonden Fusseln einzeln vom Kopf!“

Beinahe hätte sie Schröders Schwanz eingeklemmt, als sie wütend die Terrassentür zuschlug.

Mit ihrer Übersetzung für eine amerikanische Firma kam Inga überhaupt nicht voran. Die Zeit drängte. Wenn keine Party war, wurde dafür gebohrt, gehämmert und gesägt – auch bis tief in die Nacht hinein.

Grimmig kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Was sollte sie tun?

Die Grundstücke der anderen Nachbarn lagen etwas weiter entfernt. Vermutlich hatten sie von dem Lärm bisher kaum etwas mitbekommen.

Ich werde es noch mal im Guten versuchen, nahm sie sich vor. Ich werde diesen Neulingen schreiben! Ganz höflich! Plötzlich fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, wie die neuen Nachbarn hießen. Sie schlüpfte in ihre Strickjacke und ging zum Briefkasten ihrer Nachbarn.

„Kann ich Ihnen helfen?”

Die Stimme kam von hinten - völlig unerwartet.

Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie hoch und blickte in die leuchtend blauen Augen ihres Nachbarn.

Sie hatte nicht damit gerechnet, ihm zu begegnen.

Ihr Herz setzte für einen Schlag auf, zugleich spürte sie, wie die Röte in ihr Gesicht stieg und ein süßes Ziehen sich in ihrer Magengrube ausbreitete.

„Darf ich mich Ihnen vorstellen?“, sagte er lächelnd und verneigte sich leicht übertrieben. „Mein Name ist Engel! Gerrit Engel!"

Mit einem Schlag kam Inga wieder auf die Erde zurück. Ein geringschätziges Lächeln umspielte ihren Mund. Ihre Worte trieften vor Zynismus, als sie ihm ins Gesicht schleuderte: „Für einen Engel, lieber Herr Nachbar, machen Sie aber verteufelt viel Krach!”

„Wie bitte?”

Gerrit starrte sie verblüfft an.

Das wird ja immer schöner, schoss es ihr durch den Kopf. Nicht nur, dass er ein rücksichtsloser Kerl war, jetzt tat er auch noch so, als wenn er von nichts eine Ahnung hätte! Inga kam erst recht in Fahrt: “Ach, tun Sie bloß nicht so! Aber wenn man sich mit wasserstoffblonden Teenies einlässt, dann...“

Inga schnappte wütend nach Luft, stampfte mit dem Fuß auf und keifte: „Der Teufel soll Sie holen, Mister Engel, wenigstens für einen Tag!”

Verständnislos sah er sie an!

Nur mühsam konnte sie seinem Blick standhalten. Abrupt drehte sie sich um und eilte in ihr Haus zurück.

Gerrit sah ihr nach. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, mit nassen Regentropfen auf ihrem Gesicht, das kastanienbraune, vom Wind leicht zerzauste Haar und ihre wunderschönen, meergrünen Augen, geisterte sie unablässig durch seine Gedanken. Kopfschüttelnd setzte er sich in seinen Wagen und fuhr wieder zur Messe zurück!

Was hatte sie damit gemeint? Teenies? Krach? Er seufzte. Morgen war die Messe zu Ende. Gerrit nahm sich vor, dann zu ergründen, warum seine schöne Nachbarin so wütend auf ihn war.

Inga saß an ihrem PC und tippte ihre Übersetzung ins Reine. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren, denn leuchtend blaue Augen verfolgten sie auf Schritt und Tritt.

Sie machte sich nichts mehr vor! Da hatte sie sich doch tatsächlich in einen egoistischen und rücksichtslosen Typen verknallt, der auf wasserstoffblonde Tussen-Teenies stand.

Vom Nachbargrundstück dröhnte laute Musik und schallendes Gelächter herüber. Sie spürte, wie wieder heißer Zorn langsam in ihr hoch wogte. Schon wieder eine Party! Das war dann schon die dritte in dieser Woche!

Grimmig schaute sie zur Uhr. Um Punkt zehn griff sie zum Telefon. Über die Auskunft erfuhr sie Gerrit Engels Nummer. Nach dem x-ten Läuten nahm endlich jemand ab.

Sofort wetterte Inga los: ”Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?”

„He?“, klang es am anderen Ende. Auf einmal war die Stimme weit weg: „Da will einer wissen, wie spät es ist!”

„Wer denn?”

„Keine Ahnung. Ich glaub’, das ist die Dings... äh... die ältere Frau von nebenan!”

Dann vernahm sie ein undeutliches Genuschel, dem albernes Gelächter folgte.

Völlig außer sich pfefferte Inga den Hörer auf und rief die Polizei an. Bitterböse beschwerte sie sich über die nächtliche Ruhestörung ihrer neuen Nachbarn. Bald wird die himmlische Gesellschaft einen höllischen Ärger kriegen, dachte sie schadenfroh.

Ein schrilles Klingeln riss sie aus ihren kriegerischen Gedanken. Sie sah zur Uhr. Viertel nach zehn! Sie nickte anerkennend. Dass die Polizei so fix war, damit hatte sie nicht gerechnet. Ahnungslos machte sie die Tür auf. Vor ihr stand Gerrit Engel. Verlegen hielt er ihren Brief in der Hand.

„Sie?”, stammelte Inga.

„Glauben Sie mir”, bat ihr Nachbar lächelnd. „Ich hatte keine Ahnung, was in meinem Haus abgeht! Ich war diese Woche kaum zu Hause! Und jetzt...”, er machte eine hilflose Handbewegung, „mein Bruder und seine Freundin...”

Beschämt sah Inga zu Boden. Meine Güte, was hatte sie ihm alles an den Kopf geworfen. Gleichzeitig durchzuckte sie ein Glücksgefühl, als sie hörte, dass die wasserstoffblonde Tussi nicht zu ihm gehörte.

Ihre Stimme klang rau, als sie ihm gestand: „Herr Engel, ich... ich habe die Polizei schon verständigt! Sie müsste bald eintreffen!“

Amüsiert lachte er auf und zwinkerte ihr zu: „Das gönne ich der Bande da drüben!”

„Sie sind mir also nicht böse?” Wie ein kleines Mädchen stand sie vor ihm und sah bang zu ihm hoch.

Er schüttelte den Kopf. Wie selbstverständlich nahm er ihre Hand. „Kommen Sie, das Intermezzo mit der Polizei will ich mir nicht entgehen lassen!“

Ohne Widerstand ließ sie sich von ihm durch den Garten führen. Hinter dem Schuppen stand eine alte Birke. Sie bildete nicht nur hervorragendes Versteck, sondern auch einen guten Einblick auf die Eingangstür.

Gerrit Engel legte den Arm um ihre Schultern und zog sie leicht an sich. Erwartung lag in seiner Stimme, als er fragte: „Was hältst du davon, wenn wir noch einen kleinen Absacker auf deiner Terrasse trinken, sobald das polizeiliche Intermezzo hier vorbei ist?“

Inga nickte.

Ein Motorengeräusch, das immer lauter wurde, näherte sich. Die Polizei!

Gerrit legte den Finger auf den Mund. Gespannt lauschten sie dem Disput der jungen Leute mit den Gesetzeshütern und amüsierten sich köstlich.

Sie lächelten sich zu. Ihre Blicke versanken ineinander. Beiden war mit einem Male klar, dass es viel mehr werden würde als nur gute Nachbarschaft!


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