Читать книгу Ardeen – Band 10 | Teil 1 - Sigrid Kraft - Страница 5
Zuflucht
ОглавлениеEryn trieb durch den Nebel der Wege und noch tat er sich schwer damit, die Geschehnisse der letzten Zeit zu begreifen. Ärger wallte in ihm hoch. Dieser Drecksack Ador hat mich als Objekt seiner Forschungen missbraucht. Wie kann ein Vater bloß so kaltherzig und grausam sein. Natürlich, er ist ja nicht mein Vater – Er ist lediglich mein Erschaffer. Bin ich doch genauso ein Hybrid wie der trottelige Chirok. Diese Gedanken schmeckten wie Galle.
An seine ersten Tage in Elverin konnte Eryn sich noch erinnern. Aber dann, in den Wochen und Monaten unter dem Einfluss des Rauschkrautes verschwammen Traum und Wirklichkeit. Chirok, Ador, Elverin, die Feen. Nichts als wirre, zusammenhanglose Fetzen seiner Erinnerung. Er meinte auch, sich an Vedi zu erinnern, war sich aber nicht sicher, ob er seinen alten Freund tatsächlich gesehen hatte oder ob alles nur ein Traum gewesen war.
Als sein Kopf plötzlich wieder klar war, da fand er sich in Gesellschaft von Meister Savyen in Draegnok wieder, ohne einen blassen Schimmer, wie er überhaupt dorthin gekommen war. In knappen Worten erklärte ihm sein Urgroßvater die Lage und offensichtlich hatte Eryn ihm seine unverhoffte Rettung zu verdanken. Weder seinem Dienstherrn Meister Raiden noch seinem Freund Vedi, dem kleinen schwarzen Drachen, sondern dem griesgrämigen Meister Savyen, dem er am allerwenigsten einen Sinn für Familie zugetraut hätte.
Doch die Zeit drängte und Eryn schob die Erinnerungen an die Vergangenheit beiseite.
Eine Stunde hält die Unterdrückung des Rauschkrautes an, das hat er gesagt. Das ist nicht sonderlich viel Zeit, um sich eine neue Bleibe zu suchen. Es muss ein sicherer Unterschlupf sein, wo mich keiner findet. Ich muss mich beeilen, bevor der Entzug einsetzt. Und mit Grausen erinnerte sich Eryn an seine erste Erfahrung mit dieser starken Droge. Damals hatte er nur kurz unter dem Einfluss des Krautes gestanden, aber diesmal war es anders. Monate der vollständigen Abhängigkeit waren vergangen und Meister Savyen hatte ihn bereits vorgewarnt, der Entzug würde grausam sein.
Eins nach dem anderen. Ich muss mich zunächst in Sicherheit bringen. Ador ist der Meister der Wege. Wer weiß, welche Zauber er beherrscht, um meine Spur zu finden.
Meister Savyen hatte Eryn zwar versichert, dass das Wasser die Spuren verwischen würde, doch gewisse Zweifel blieben und die nackte Angst, wieder nach Elverin verschleppt zu werden, ließ Eryn erschaudern.
Ador ist zu mächtig, als dass ich offen gegen ihn kämpfen könnte. Wenn nicht einmal Meister Raiden eine Chance gegen ihn hat, was kann ich da schon ausrichten. Aber vielleicht war es Meister Raiden die Sache auch gar nicht wert. Wer bin ich schon für ihn? Ein weiterer seiner vielen nützlichen Dienstboten, mehr nicht.
Diese Vorstellung schmerzte Eryn mehr, als er sich eingestehen wollte. Naganor mit all seinen Bewohnern war ihm eine zweite Heimat geworden und er verband viele gute Erinnerungen mit diesem Ort. Nicht zuletzt, weil sich auch sein Sohn Gannok dort befand, und Eryn fühlte sich schäbig, weil er seinen Sohn derart im Stich gelassen hatte.
Warum musste ich auch nach Elverin gehen? Ich hatte alles und nun habe ich nichts mehr.
Das war ein Fehler gewesen, sah Eryn nun reumütig ein. Doch daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Die Ereignisse im Goldenen Turm waren ihm eine bittere Lehre gewesen und nun war die Zeit gekommen, auf eigenen Füßen zu stehen. Irgendwie hatte Eryn immer gewusst, dass er nicht ewig bei Meister Raiden bleiben würde und nun hatte ihm das Schicksal diese Entscheidung abgenommen. Jetzt gab es keinen Weg mehr zurück und ein Neuanfang stand bevor.
Eryn trieb an den Rand des Nebels, sodass er in die reale Welt hinaussehen konnte. Wie durch einen Wasserschleier konnte er die leicht verschwommenen Umrisse der Landschaft erkennen. Vor ihm lag ein Kornfeld kurz vor der Ernte und dahinter konnte man ein kleines Dorf erkennen.
Ein Fremder, der in solch ein Dorf kam, warf Fragen auf und sorgte für Gerede. Darum zog sich Eryn wieder zurück in den Bereich des magischen Reisens. Die Wege, wie jene Zone genannt wurde. Doch Wege im üblichen Sinne gab es hier keine. Wie genau das Reisen funktionierte, hatten schon klügere und vor allem weitaus erfahrenere Magier als Eryn vergeblich versucht zu ergründen. Es gab Gesetzmäßigkeiten und kannte man das magische Profil eines Ortes, so konnte man direkt dorthin gelangen. Das war die Art, wie die meisten Magier die Wege nutzten. Denn ein Herumstreunen in der nebeligen Wolke barg durchaus unvorhersehbare Gefahren. Eryn hatte eine Möglichkeit gefunden, um sich an die Oberfläche treiben zu lassen – jene Zone, kurz bevor er die Wege verließ, und er konnte dort verharren. Eine weitere nützliche Errungenschaft war das Entlangschweben an eben dieser Austrittsgrenze und er hatte auch gelernt die Struktur zu erkennen, in der er sich befand. Gestein, Wasser, Luft oder jenen Bereich, der ihn auf der Erdoberfläche herauskommen ließ. Sein erster Gedanke war es, sich ein Versteck in den Bergen zu suchen. Er war im Gebirge aufgewachsen und verband damit immer noch gute Erinnerungen. Aber dann dachte er an Meister Savyens Hinweis. Wasser verbarg und Wasser verwischte die Spuren der Magie. Somit war eine Insel der ideale Ort.
Ich suche mir eine einsame Insel weit draußen im Meer.
Nachdem sein Entschluss feststand, begab er sich auf die gezielte Suche. Normalerweise initialisierte man die Zieladresse noch vor dem Eintritt in die Wege, doch Eryn standen mithilfe seiner goldenen Ader weitaus größere Möglichkeiten zur Verfügung. Ihm war es möglich, sein Ziel auch innerhalb der Wege auszuwählen und das tat er nun. Nicht punktuell, sondern nur vage. Ein Ort, den die blaue Magie des Wassers prägte, vermengt mit ein wenig Grau für Felsgestein und natürlich war etwas Weiß für die Luft an der Oberfläche notwendig. Schließlich wollte er nicht auf dem Grund des Meeres herauskommen, sondern eben auf einer Insel. Die Magie brachte ihn scheinbar wahllos an einen Ort und Eryn tastete sich an die Grenzlinie zur realen Welt heran. Vor ihm erstreckte sich eine zerklüftete Felslandschaft. Als er das Tor verließ, schlug ihm ein eisiger Wind entgegen und riss heftig an seinen Haaren und der dünnen Kleidung.
Ein unwirtlicher Ort, urteilte Eryn, bevor er dann das missliche Wetter mit einem Schild aussperrte. Der karge Fels hatte nichts von einem gemütlichen Heim, doch darum ging es ja auch nicht.
Einsam und verlassen, bestätigte sich Eryn beherzt in seiner Entscheidung und ließ dann ein Auge aufsteigen, um zu prüfen, ob dem auch wirklich so war. Ein paar Seevögel nisteten in den Felsspalten, ansonsten gab es keine Anzeichen von Leben auf der Insel. Doch als Eryn sein Auge in die Ferne schweifen ließ, entdeckte er Land. Eine dunkle, unregelmäßige Linie, die sich von Nord nach Süd zog und direkt in Richtung seines Spähauges erhob sich ein Turm in den Himmel. Aus der Entfernung war er nicht größer als ein schmaler Finger, dennoch war das Gebäude unverkennbar ein Turm und Eryn wusste sofort, wo er gerade war. Draegnok. Diese hässliche Insel liegt direkt vor Meister Savyens eigener Haustür. Eryn empfand keinerlei Bedauern, als er den Felsen wieder verließ und in die Wege zurückkehrte.
Wasser ist zwar eng mit dem Kreis Blau verbunden, doch es ist nicht dasselbe. Wasser ist ein Element und der Kreis Blau ein magischer Fluss. Draegnok liegt nicht von ungefähr in solch einem Gebiet.
Sein Hang zur Wissenschaft ließ ihn die Dinge derart analysieren. Dann wählte er deutlich weniger von der blauen Magie und fügte stattdessen noch etwas Orange für Wärme hinzu.
Das brachte ihn zu einem anderen kargen Felsen von rundlicher Form. Keine fünfzig Meter im Durchmesser und an seiner höchsten Stelle mochte er gerade mal an die Zehnmetermarke heranreichen. Hier war es genauso windig, jedoch nicht ganz so beißend kalt und auch das Spähauge konnte nichts und niemanden in der näheren Umgebung ausfindig machen.
Zufrieden nickte Eryn und beschloss, genau hier einen Neuanfang zu wagen.
„Mein neues Heim, hier soll es sein“, scherzte er. Er hatte keine genaue Einschätzung darüber, wie viel Zeit ihn die Suche gekostet hatte, doch mit Schrecken wurde ihm bewusst, dass er noch viel zu erledigen hatte, bevor die Wirkung des Rauschkrautes wiederkehrte und seinen Geist hoffnungslos benebeln würde.
Wenn man sich ranhielt, konnte man wirklich viel in kurzer Zeit erledigen und das tat Eryn. Nun gab es in der Felsnase auf mittlerer Höhe einen Raum mit einem Ausgang nach draußen und einem Fenster, welches natürliches Licht hereinließ. Nun, Fenster klang ein wenig übertrieben für das Guckloch mit der groben Scheibe davor, die das Licht bräunlich färbte und die Außenwelt lediglich schemenhaft erkennen ließ. Eryn hatte sie aus einem Kristall geschnitten, weil ihm die Herstellung von Glas nicht bekannt war und er konnte hier auch kaum etwas magisch einsammeln. Das war nämlich sonst die bevorzugte Methode der Magier etwas Neues zu erschaffen. Man stahl die Substanz von schon vorhandenen Gegenständen und kopierte dann das Muster. Aber da es hier nichts gab, stieß diese Methode rasch an ihre Grenzen und die Einrichtung der neuen Wohnung war äußerst primitiv. Links vom Eingang gab es drei Steinbecken. Das erste enthielt Trinkwasser, das mittlere war mit Salzwasser gefüllt und ein paar Fische schwammen darin. Das dritte enthielt einen Vorrat an gebratenem und getrocknetem Fisch und Eryn befürchtete, dass ihm dieses Nahrungsmittel schon bald zum Hals heraushängen würde. Fische, Muscheln und Seegras, mehr hatte er in der Eile nicht gefunden. Einen guten Teil des Seegrases hatte er getrocknet und in seinem Lager erst einmal gehortet. Vielleicht konnte es später daraus Matten oder andere brauchbare Dinge flechten. Doch während er seine Wohnstätte erschuf, hatte er für solche Spielereien keine Zeit. Nun lag also ein beträchtlicher Haufen auf der rechten Seite der Höhle, während sich in der Mitte des Raumes ein Steintisch mit einem Steinblock als Sitzgelegenheit befand. Der war nun mit Blechgeschirr und einfachstem Werkzeug vollgestellt. Denn zum Glück war das Felsgestein reich an Eisen. An der Wand gegenüber von Eingang und Fenster stand Eryns neues Bett. Eine rechteckige Aussparung, die er mit etwas Sand aus der Aushöhlung seiner Wohnstatt gefüllt hatte. Der Rest davon war ins Meer gewandert. Auf diesem Sandlager saß Eryn nun schweißgebadet und zitterte leicht. Er war total erschöpft und leichte Kopfschmerzen kündigten bereits das Verblassen von Meister Savyens Unterdrückungszauber an.
Eryn schloss kurz die Augen und stöhnte leise. Nicht mehr lange und die Hölle beginnt.
Es würde eine Zeit voller Schmerzen und Leiden werden, doch noch etwas anderes machte ihm dabei Sorgen. Wenn ich nicht mehr klar denken kann, kann ich dann trotzdem noch Magie wirken? Und dann entfaltete sich in seiner Fantasie ein ganzes Horrorszenario, wie ihm gerade die Magie großen Schaden zufügen könnte. Die Vorstellungen reichten von einem unbeabsichtigten Verraten seines Verstecks bis hin zu einem verpatzten Zauber, der ihn das Leben kostete.
Und selbst ohne Magie könnte ich mich von dieser Klippe stürzen und im Meer ertrinken. Die Kopfschmerzen wurden stärker und machten ein klares Denken immer schwerer. Am liebsten hätte er sich einfach hingelegt und versucht zu schlafen. Doch ihm war durchaus bewusst, wenn er noch etwas vorbereiten wollte, dann musste er es jetzt tun.
Ein Magieblocker, und ich kette mich an die Wand. Das sollte das Schlimmste verhindern. Seine Gedanken flossen bereits wie zäher Brei dahin und er brauchte zwei Anläufe, bevor er einen brauchbaren Magieblocker hergestellt hatte.
Den Reif hatte er mit einer Kette verbunden. Diese war in der Wand verankert und lang genug, damit er sich im ganzen Raum frei bewegen konnte. Mit einer gewissen Abscheu betrachtete er den Reif.
Es ist entwürdigend, aber notwendig, urteilte er und entschied dann: Ich lege ihn um den Fuß. Bei den Göttern, diese Kopfschmerzen bringen mich um. Ich bin so ausgelaugt. Er schloss seine Augen und fühlte, wie ihn die Erschöpfung zu übermannen drohte. Doch dann riss er sich zusammen. Ich kann mich noch nicht ausruhen. Ich muss den Reif anlegen. Ob es schlimmer wird, wenn meine Magie versiegt ist? Aber mit Magie ist es einfach zu gefährlich. Dann wirkte er noch einen letzten Dehnungszauber und schob den vergrößerten Reif schnell über seinen Fuß. Die Magie versiegte schlagartig, während sich der Reif um seinen Knöchel wieder zusammenzog.
Selbst eingesperrt, dachte er dümmlich und legte sich anschließend auf sein Sandbett. Noch war ihm angenehm warm, denn mit Magie hatte er den Raum aufgewärmt. Aber er hatte vergessen, diese Magie zu entkoppeln und so erstarb die Wärmequelle in dem Moment, in dem auch seine Adern versiegten. Eryn war das im Augenblick egal. Er war so müde, dass er fast augenblicklich in den Schlaf hinüberglitt. Aber erholsam war dieser Schlaf nicht. Unruhig wälzte er sich hin und her, während ihn wirre Träume heimsuchten und die permanenten Kopfschmerzen ihm eine entspannte Erholung versagten. Schließlich weckten ihn diese miserablen Schmerzen zusammen mit einer grausamen Übelkeit auf. Es musste tiefste Nacht sein, denn im Raum war es stockdunkel. Eryn wälzte sich auf die Seite, um aufzustehen. Doch der Versuch verschlimmerte seinen Zustand noch weiter und anstatt auf die Beine zu kommen, fiel er zurück auf die Knie und erbrach sich. Einmal, zweimal und obwohl nun nichts mehr in seinem Magen war, hörte der Würgereiz nicht auf. Seine Hände krallten sich in das gehortete Seegras und er war sich dessen nicht einmal bewusst.
Ich brauche den Trank. Bei den Göttern, ist mir schlecht. Gebt mir das Kraut. Aber niemand erhörte sein Flehen und schließlich beruhigte sich sein Magen wieder, während er sich unglaublich schwach fühlte und am ganzen Körper zitterte. Er sehnte sich nach Wärme und Geborgenheit und nach dem wohligen Trunk aus Rauschkraut. Aber er hatte nichts von alledem. Es war inzwischen ganz schön frisch in seinem neuen Refugium geworden und der Gestank seiner eigenen Kotze stieg ihm ekelerregend in die Nase. Auf allen vieren kroch er von dem widerlichen Geruch weg. Seine linke Hand griff versehentlich in das glitschige warme Nass am Boden, während seine andere den Haufen Seegras ertastete. Er grub sich in den Haufen Tang ein, denn sein trügerisches Hirn versprach ihm Wärme unter der Schicht trockener Pflanzen. Die sperrigen Blätter halfen nicht viel gegen die Kälte der Nacht, doch der intensive Geruch des Tangs überlagerte zumindest den anderen Gestank. Sein Kopf schmerzte nun nicht mehr ganz so stark, doch jetzt ließ ihn die Kälte frösteln. Geraume Zeit lag Eryn zusammengerollt da und wimmerte.
„Gib mir Rauschkraut. Chirok, siehst du nicht, wie schlecht es mir geht. Selbst der Schöpfer kann dies nicht wollen. Ich brauche den Trank, den Trank, den Trank ...“
In seinem Geist vermischte sich alles. Vergangenheit, Gegenwart und Traumbilder formten sich zu einer ganz eigenen Realität.
Er erwachte, als es draußen bereits hell war und sah sich verwundert um.
Wo bin ich? Das ist nicht Elverin. Oder doch? Bin ich in einem der Kerker tief unten im Turm?
Ziemlich wackelig kam er auf die Beine und betrachtete seine Umgebung. Dann blitzte eine Erinnerung in seinen verschwommenen Gedanken auf. Ich bin geflohen. Meister Savyen war bei mir und hat mir einen Trank gegeben – einen anderen Trank und dann habe ich mich hierhergezaubert. Oder ist das alles nur eine Illusion? „Ador, du Schöpferarsch, zeig dich. Ich habe genug von deinen Spielchen!“, schrie er so laut, dass es von den Wänden widerhallte, doch nichts weiter geschah. In seinem Zustand war es für Eryn ausgesprochen mühsam, einen Gedanken zu Ende zu führen und dann war ihm auch schon wieder egal, ob dies hier eine Illusion war oder nicht. Er war durstig, also torkelte er zu einem der Becken hinüber und trank, bevor er den Schluck prustend wieder ausspuckte.
„Wäh, Salzwasser. Und da schwimmen Fische drin.“ Dass er diese Becken selbst gemacht hatte, war ihm entfallen. Doch nun sah er das andere Becken und diesmal probierte er zunächst vorsichtig.
Gut, Süßwasser, stellte er zufrieden fest und dann trank er gierig. Danach tat er sich an dem gebratenen Fisch gütlich. Dabei interessierte ihn das Geschirr auf dem Steintisch reichlich wenig. Mit bloßen Händen stopfte er sich das Essen in den Mund, bis er satt war. Doch nach dem Essen kamen die Kopfschmerzen zusammen mit der Übelkeit zurück und raubten ihm den kläglichen Rest seines Verstandes. Dann begann er auch noch zu fiebern und fühlte sich, als würde er innerlich verbrennen.
Die Zeit verlor gänzlich an Bedeutung und die Tage vergingen. Schließlich sank das Fieber und Eryns Geist wurde wieder etwas klarer. Er fühlte sich unendlich matt, doch die Kopfschmerzen waren verschwunden. Auch daran, wie er hergekommen war, erinnerte er sich wieder und dann war da dieses unglaublich starke Verlangen nach Rauschkraut. Die Droge rief nach ihm wie eine süße Verheißung.
Ich muss etwas von dem Zeug auftreiben. Ich muss ...
Aber hier gab es kein einziges Blatt dieser begehrenswerten Pflanze und Eryn hätte diesen unwirtlichen Ort am liebsten sofort verlassen. Doch die Kette an seinem Knöchel hinderte ihn daran. Die Haut war von dem Metall inzwischen aufgescheuert und da der grässliche Kopfschmerz der vergangenen Tage verschwunden war, rückte das unangenehme Brennen nun in den Vordergrund.
Wie konnte ich nur so blöd sein, mich selbst an die Wand zu ketten? Hätte ich meine Magie, dann könnte ich diese lächerliche Hautabschürfung spielend heilen und Rauschkraut auftreiben. Ich war so glücklich damit. Ich will es wiederhaben.
Eryn riss an der Kette, doch die hatte keinerlei Verständnis für seine Wünsche und blieb fest in der Mauer verankert. Erst jetzt interessierte er sich für die die Gegenstände auf dem Steintisch, ob sich darunter vielleicht ein brauchbares Werkzeug befand. Zunächst versuchte er mit dem groben runden Stiel einer Gabel eines der Kettenglieder aufzubrechen, doch bald schon gab er diesen kläglichen Versuch auf.
Ich bin so schwach geworden. Also beschloss er etwas zu essen.
„Fisch, welch große Auswahl. Wenn ich hier raus bin, dann werde ich nie wieder Fisch essen.“ Danach wollte er seinen Durst stillen. Doch als er vor dem Becken stand, zögerte er.
„Was schwimmt denn da an der Seite?“ Bei den Göttern, ich habe in das Trinkwasser gekotzt. So gut es ging, schöpfte er die Verunreinigung heraus, doch von nun an schien ihm, als habe das Wasser einen komischen Beigeschmack.
Trotz alledem hatte ihn das Mahl schläfrig gemacht und er zog sich in den Seegrashaufen zurück. Obwohl sein Kopf sich inzwischen klarer anfühlte, war er immer noch weit von einem logischen Denkvermögen entfernt. Äußerst sprunghaft glitten seine Gedanken hin und her und er beschäftigte sich nur mit seinen unmittelbaren Bedürfnissen. Essen, Schlafen und Rauschkraut.
Aber auch diese zweite Phase des Entzuges besserte sich langsam, nur um ihn mit neuen Problemen zu konfrontieren.
Eryn zerkaute Seegras und stopfte den weichen Brei zwischen Haut und Eisenfessel. Das linderte die Schmerzen der Schürfwunde und wirkte dem erneuten Wundreiben entgegen. Ich muss das Ding loswerden. Warum habe ich nicht an ein verdammtes Schloss gedacht?
„Weil du ein hirnloser Hybrid bist.“
Eryns Kopf zuckte nach oben, denn diese Stimme kannte er nur allzu gut. Hinten in der Ecke stand Ador und betrachtete Eryn mit der gewohnten Geringschätzigkeit.
„Wie kommst du hier her?“, fragte Eryn entgeistert und Ador lächelte abfällig.
„Wie schon. Durch ein Tor. Oder hast du geglaubt, ich würde schwimmen?“ Dann zog er einen Beutel aus seiner Jackentasche und schwenkte ihn lockend hin und her.
„Sieh, was ich dir mitgebracht habe. Einen ganzen Beutel voller Rauschkraut. Willst du es haben?“
Und wie Eryn das wollte. „Gib es mir!“ Sein wunder Knöchel war vergessen und er sprang nach vorne. Dabei rammte er die Tischkante und kam ins Straucheln. Er stieß einen Schmerzenslaut aus und fand sich auf dem Boden wieder. Als er sich wieder aufgerappelt hatte und fest entschlossen war, sich nun das Rauschkraut von Ador zu holen, da war niemand mehr im Raum.
„Ador, verdammt, wo bist du?“ Verhüllt er sich mit Magie? Verspottet er mich? Wie hat er mich überhaupt gefunden? Kann er Spuren in den Wegen finden? Er hatte viele Fragen und keinerlei Antworten.
Eryn erging sich erneut in lautstarken Beschimpfungen, doch sein Vater blieb vorerst verschwunden.
Aber das plötzliche Erscheinen Adors stürzte Eryn in eine tiefe Krise.
Meine Flucht war umsonst. Er hat mich gefunden und nun quält er mich wieder mit seinen sinnlosen Experimenten. Wahrscheinlich beobachtet er mich gerade und will herausfinden, wie ich mich verhalte.
Eryn kauerte sich ängstlich in seinen Seegrashaufen. Er hatte versagt. Seine Flucht war umsonst gewesen und Ador hatte ihn gefunden. Andererseits aber konnte der Herr von Elverin Eryn das geben, was er am meisten begehrte – das Rauschkraut. Und so wich die Angst und machte einer tiefen Erleichterung Platz.
Es ist vorbei. Er hat mich entdeckt und nun wird wieder alles gut. Ich muss nur abwarten. Eryn döste eine Weile im Sitzen vor sich hin, dann erinnerte er sich an die Fußfessel und holte sich jenes Messer, in das er inzwischen ein paar Kerben gehauen hatte. Das war das beste Werkzeug, das er hatte und damit kratzte er jetzt auf der Eisenfessel herum. Es war nicht so, dass er dabei große Fortschritte gemacht hätte, doch es war eine Beschäftigung und irgendwie hatten diese ständigen Wiederholungen in der Bewegung etwas Beruhigendes.
„Das ist sinnlos.“
Diesmal erschrak Eryn nicht ganz so sehr wie beim ersten Mal, doch er hielt sofort in seinem Tun inne. „Ich weiß, doch du könntest mir die Fessel abnehmen. Ein Leichtes für einen Magier.“
Diesmal stand Ador in der anderen Ecke. „Warum sollte ich das? Du hast dich doch selbst in diese Situation gebracht.“
Eryn fuhr mit dem Gekratze fort. „Habe ich nicht. Du hast mich in Elverin gefangen gehalten und mit Rauschkraut vollgepumpt.“ Dann sah er doch auf und in seinen Augen glitzerte es gierig.
„Hast du welches dabei?“
„Vielleicht“, meinte Ador vage und Eryns ganze Aufmerksamkeit war geweckt.
„Gib mir etwas davon. Ich brauche es. Du weißt, dass ich es brauche und das Hybridenrecht verbietet, dass du mich unnütz quälst.“
„So, jetzt bist du also doch ein Hybrid?“, verspottete ihn Ador und Eryn reagierte plötzlich übertrieben heftig und schrie:
„Ja! Und jetzt gib mir das Rauschkraut.“ Dabei warf er das Messer nach Ador, doch das flog einfach durch die Gestalt Adors hindurch und prallte mit einem Klirren gegen die Wand. Daraufhin verschwand die Illusion und Eryn tobte umso mehr: „Eine verfickte Illusion. Er ist nicht einmal richtig hier, sondern schickt nur ein lächerliches Trugbild. Verdammtes poxiges Arschloch. Die Dämonen der Hölle sollen dich fressen.“ Nachdem er seinem Ärger freien Lauf gelassen hatte, glitt er wieder in den apathischen Zustand hinüber, in dem er sich die meiste Zeit über befand.
Noch ein drittes Mal an diesem Tag bekam er Besuch. Er stand gerade vor dem Fenster und überlegte, wie lange es wohl noch hell sein würde, als er das Gefühl hatte, jemand stünde direkt hinter ihm. Eryn fuhr herum und da saß Meister Raiden im Schneidersitz auf dem Sandbett.
„Du bist also zu unfähig, um den Magieblocker zu entfernen, Nurin.“
Er lässt mich immer dumm aussehen. „Dann zeig es mir doch“, brauste Eryn auf.
Prinz Raiden ging auf diese Forderung gar nicht ein, sondern meinte lediglich:
„Aus dir wird nie ein brauchbarer Magier werden, Nurin. Es ist nur recht und billig, dass du dich selbst eingesperrt hast. Ein Fennrebell wie du gehört weggesperrt. Du bist eine Gefahr für dich und andere.“
Warum ist Prinz Raiden überhaupt hier? Spielt Ador seine Spielchen mit mir? Aber dann kam Eryn noch eine andere Erklärung. „Das hier ist nicht real.“ Es ist mein eigener Geist, der mir diesen üblen Streich spielt. Hier manifestieren sich meine Ängste und meine Wünsche. Halluzinationen eines verwirrten Hirns. Eryn sah weg und konzentrierte sich auf die Fische, die in dem Vorratsbecken schwammen. Als er wieder aufsah, war Prinz Raiden verschwunden und das Bett war wieder leer.
Das brachte ihm einen Moment der Erleichterung, denn seine Flucht war nicht vergebens gewesen. Natürlich bestand immer noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Ador ihn mit diesen Trugbildern heimsuchte, denn die Illusionen kamen immer wieder. Meist war es Ador, doch auch Meister Raiden und andere Personen, die er kannte, tauchten auf. Vor allem jene, zu denen er ein schwieriges Verhältnis gehabt hatte. Sir Haerkin befand sich darunter und auch Meister Tellenor und Meister Savyen, obwohl ihm dieser zur Flucht verholfen hatte. Einmal tauchte auch der Forscherdrache auf und verkündete, dass er das Forschungsobjekt Nummer eins fressen wolle, um den unterschiedlichen Geschmack der Forschungsobjekte zu katalogisieren.
Eryn gewöhnte sich schnell an diese Halluzinationen. Manchmal unterhielt er sich mit ihnen sogar ganz gerne, denn sie vermittelten ihm das Gefühl, nicht alleine zu sein.
So verstrichen die nächsten Tage und wenn er gerade keinen Besuch hatte, lag Eryn oft antriebslos auf dem Haufen Seegras und döste. Manchmal aß er etwas und hin und wieder unternahm er einen Versuch, die Fußfessel zu zerstören. Aber bisher hatte er nicht mehr zustande gebracht, als eine dünne Rille in die Oberfläche des Metalls zu kratzen. Etwas mehr Erfolg hatte er beim Anker in der Mauer. Dort war es ihm gelungen ein paar Gesteinssplitter herauszuschlagen. Allerdings nicht genug, um den tief sitzenden Anker freizubekommen. Doch selbst wenn er die Kette vom Felsen lösen könnte, dann verhinderte immer noch der metallene Magieblocker um seinen Knöchel, dass er seine Magie würde gebrauchen können. Doch ohne Magie war es so gut wie unmöglich, von diesem kargen Felsen zu entkommen. Die Kette selbst war lang genug, sodass er sogar problemlos den Raum verlassen konnte.
Um den Wind abzuhalten hatte Eryn nämlich einen schmalen Einlass in den Stein gegraben, der steil eineinhalb Schritte nach oben führte und dann in einem ovalen Durchlass nach draußen mündete. Dort gab es dann nur mehr einen kleinen Vorsprung, bevor der Fels kerzengerade in die Tiefe abfiel.
Manchmal stand Eryn dort am Abgrund und sah den Wellen zu, wie sie in der Ferne immer kleiner wurden, bis sich Wasser und Himmel in der verschwommenen Linie des Horizonts trafen.
Zunächst war ihm nichts wichtig gewesen und die Zeit trieb nur so dahin, doch mit zunehmender Klarheit wurde er sich auch wieder der Probleme seiner derzeitigen Situation bewusst.
Abgesehen mal von dem gierigen Verlangen nach Rauschkraut, welches er immer noch nicht kontrollieren konnte, würde ihm irgendwann auch die Nahrung ausgehen. Die Muscheln hatte er schon allesamt gegessen und nur, um noch etwas anderes als Fisch zu essen zu haben, kaute er auf dem Seegras herum und spuckte dann den faserigen Brei aus, wenn er ihn nicht gerade auf die Scheuerstelle am Fußgelenk aufbrachte.
Fischhaufen und Wasservorrat hatten sich bereits halbiert und wenn diese Vorräte zur Neige gingen, dann hatte er ein richtiges Problem. Doch noch hoffte er auf eine Eingebung, wie es ihm gelingen könnte, die Fessel zu lösen.
Meister Raiden hat immer behauptet, sich eines einzelnen Magieblockers zu entledigen, wäre einfach. Manchmal hatte er das sogar demonstriert, nur um Eryn zu verspotten. Aber der Herr des Schwarzen Turmes hatte seinen Schüler nie in dieses Geheimnis eingeweiht. Eine andere Möglichkeit war es, sich den Fuß abzuhacken. Dann könnte der eiserne Ring mit Leichtigkeit entfernt werden. Ein zerstörtes Glied konnte mit Magie wieder ersetzt werden, doch trotz dieses Wissens war Eryn zu solch einer drastischen Maßnahme noch nicht bereit. Somit blieben ihm lediglich die unmagischen Methoden und er kratzte mit dem zackigen Messer, benutzte die inzwischen abgebrochene Gabel wie einen Meißel und manchmal schlug er mit dem Stein auf das Eisen ein. Doch dabei hatte er sich bereits mehrfach verletzt und nun zierten weitere Abschürfungen und mehrere dunkle Blutergüsse sein Bein.
Etwa eine weitere Woche verging und langsam wurde Eryns Verlangen nach dem Rauschkraut geringer, die Illusionen kamen seltener, sein Geist wurde deutlich klarer und die lethargische Antriebslosigkeit nahm ab. Allesamt gute Zeichen. Doch seine Vorräte nahmen ebenfalls stetig ab und im Trinkwasserbecken war der Wasserspiegel bereits auf eine Handbreite abgesunken.
Ich muss das Wasser rationieren, dachte Eryn und etwas anderes bereitete ihm ein flaues Gefühl im Magen. Wenn ich den verdammten Reif nicht bald zerstören kann, dann muss ich meinen Fuß abschneiden. Und er begann damit, sich eine bessere Säge zu basteln. Dafür musste ein Blechteller herhalten, den er so lange hin und her bog, bis er in der Mitte auseinanderbrach. Er stanzte Zacken in die Bruchkante hinein und schaffte es sogar, den oberen Bereich derart umzubiegen, dass er dort seinen einzigen Löffel als Griff einsetzen konnte. Diese neue Säge benutzte er nicht, um am Metallreif herumzuschaben. Das würde die größeren Zacken nur stumpf werden lassen. Diese Zacken mussten scharf bleiben, wenn der Moment kam, an dem sie durch Fleisch und Knochen schneiden mussten. Doch noch hegte Eryn die Hoffnung, dass er den Reif irgendwie zerstören könnte. Die kleine Rille hatte mittlerweile eine Tiefe von zwei Millimetern erreicht, was ungefähr einem Fünftel der Metalldicke entsprach. Er arbeitete nun viel intensiver daran, denn ihm war klar, dass er bessere Fortschritte machen musste, um nicht auf den letzten Ausweg angewiesen zu sein.
Seiner Schätzung nach blieben ihm noch ein paar Tage, wenn er das Wasser gut einteilte. Das Messer kratzte ständig und so fiel es Eryn zunächst gar nicht auf, dass der Wind draußen stärker wurde. Der Wind blies beständig und kam nie ganz zum Erliegen, doch jetzt braute sich etwas zusammen. Dunkle Wolkenberge türmten sich am Himmel auf und starke Böen peitschten über die See.
So, wie der Raum angelegt war, hielt er den Wind gut ab, doch das Heulen vom Eingang her konnte man nun überdeutlich hören. Eryn sah von seiner Arbeit auf und ging zum Ausgang hinüber. Dort peitschte ihm bereits heftiger Regen aus schwarzblauen Wolken entgegen und große Wellen brachen sich an dem Felsen, sodass die Gischt bis zum Eingang emporspritzte.
Mit Unbehagen zog sich Eryn wieder zurück in seine Kammer, denn ein Sturm zog auf. Immer heftiger heulte und rüttelte es und dann schlug Wasser gleich einem Hammer von draußen an die Scheibe des Fensters und ließ sie zerbrechen. Die nächste Welle trieb dann einen Schwall Wasser durch die Öffnung und Eryn mühte sich verzweifelt, das Loch abzudichten. Doch die Kräfte der wütenden Wellen waren einfach zu groß. Sie zerstörten seine kläglichen Bemühungen und warfen ihn selbst zu Boden. Dort sammelte sich bereits das eingedrungene Wasser und immer mehr kam herein, sodass Eryn den Rückzug antrat.
Er begab sich in den schmalen Durchgang, der sich nach draußen öffnete. Der war so steil, dass es das Wasser noch nicht bis dorthin geschafft hatte, während es bereits knietief den Boden des Raumes bedeckte.
Bei den Göttern, warum werde ich so heimgesucht? Das Wasser stieg und Eryn befand sich nun fast am Ende des Durchgangs. Auch vom Eingang spülte Wasser herein und lief die Schräge hinunter, um beim Befüllen des Raumes zu helfen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und es war so dunkel geworden, dass man nicht mehr die Hand vor Augen sah. Eryn horchte auf das zornige Heulen, ob der Sturm vielleicht langsam schwächer werden würde. Kein Unterschied ließ sich erkennen und dann begann das Wasser seine Füße zu umspülen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Kammer nun fast vollständig geflutet war. Eryn ertastete die Kante des Ausgangs mit seinen Händen, dann kam ihm ein Schwall Wasser entgegen und der warf ihn rückwärts zurück in den Durchgang. Er fiel und tauchte kurz mit dem Kopf unter, bevor er japsend an die Oberfläche kam. Auf Händen und Knien kletterte er wieder nach oben. Doch der Sturz hatte seine Orientierung beeinträchtigt und er merkte nicht, dass er inzwischen den geringen Schutz des Durchgangs verlassen hatte und sich nun draußen auf dem schmalen Vorsprung befand. Die nächste Welle erwischte ihn mit voller Kraft und drückte ihn mit dem Rücken an den Felsen. Wieder drohte er zu stürzen. Schnell machte er einen Schritt zur Seite, um sich abzufangen, dabei glitt er aus und fiel über den Rand des Vorsprungs in die Tiefe. Er schrie, doch der Sturm verschluckte seine Stimme. Und dann schrie er noch mehr, als ein scharfer Ruck an seinem Fußgelenk den Sturz bremste. Nun hing er kopfüber von der Klippe und der Eisenring schnitt grausam in das Fleisch seines Beines, doch die Kette hielt und hinderte ihn daran, gänzlich in die tosenden Wellen zu stürzen.
Die nächste Welle rollte heran und schlug mit Wucht zu, während Eryn hilflos über Kopf herunterhing.
Ihr Götter, lasst mich einfach sterben. Der Gedanke war verlockend, doch dann obsiegte sein Willen zu überleben. Er drehte sich zur Seite und konnte mit der Hand einen guten Griff in der Felswand finden. Tatsächlich war dies gar nicht so schwierig, denn der Fels war verwittert und scharfkantig. Er zog sich seitlich nach oben, und dann fand er Halt mit seinem freien Bein. Eine weitere Welle krachte neben ihm gegen den Felsen, doch ihn traf dabei nur ein Schauer von Tropfen. Langsam kämpfte er sich die Felswand wieder hoch und dann rollte er über die Kante des Vorsprungs, wo er keuchend auf dem Rücken liegen blieb. Bildete er sich das nur ein, oder war der Regen inzwischen schwächer geworden? Er horchte. Eine Welle brach sich am Felsen und überschüttete ihn mit Gischt. Daraufhin kroch er halb in den Durchgang hinein, damit er nicht wieder in die Tiefe gerissen würde.
Sein Fuß musste ziemlich lädiert sein, doch zum Glück spürte er keinen Schmerz. Noch nicht. Er tastete nach dem Gelenk und fühlte eine tiefe Schnittwunde. Sie musste ziemlich bluten, doch alles war so dermaßen nass, dass er das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Allerdings war er in der Heilkunst versiert genug, um zu wissen, was er zu tun hatte. Von seinem Hemd riss er einen Streifen Stoff und band damit das Bein ab, während der Sturm langsam zur Ruhe kam.
Eryn lehnte erschöpft mit dem Rücken an der Wand und zitterte am ganzen Körper. Es war kühl, doch nicht so kalt wie an der Küste im Norden, sonst hätte er diese Nacht nicht überlebt. Aber auch so war ihm klar, dass sich seine Situation drastisch verschlechtert hatte. Salzwasser hatte sein Domizil geflutet und damit waren seine Vorräte an Trinkwasser dahin. Vielleicht fand er noch etwas Seegras und einen der Fische, doch auch das würde ihn nicht mehr lange retten. Somit war seine finale Entscheidung gefallen.
Hoffentlich finde ich noch die Säge. Sobald es genügend Licht gibt, muss ich den Fuß abnehmen. Ich brauche Zugriff auf meine Magie, der Rest lässt sich heilen.
Sein ausgezehrter Körper hatte ihn in einen traumlosen Schlaf gleiten lassen und als er erwachte, schien die Sonne von einem blauen Himmel, den kein Wölkchen trübte. Nichts mehr erinnerte an den gewaltigen Sturm der letzten Nacht. Eryn saß im Durchgang im Trockenen, denn der nun ruhige Wasserspiegel in seiner Behausung reichte nur bis auf die Höhe des tiefer liegenden Fensters.
Ich hätte in der Kammer bleiben können und wäre nicht ertrunken, dachte Eryn. Doch tags zuvor hatte das alles anders ausgesehen. Sein Fuß war nun dunkelblau angelaufen und er spürte ihn nicht mehr. Kein gutes Zeichen. Ich muss die Säge finden. Doch was er zuerst fand, war ein größerer Stein, der sich gelöst haben musste und nun im Durchgang halb unter Wasser lag. Eryn griff danach und beschloss, damit noch einmal auf den Metallreif einzuschlagen. Das erschien ihm noch deutlich besser, als die Säge zu benutzen. Außerdem spürte er den Fuß sowieso nicht mehr.
So hämmerte er auf das Metall ein. Einmal, zweimal. „Du Scheißding, geh endlich auf!“
Und dann schmetterte er den Stein wie ein Irrer wieder und wieder auf das Eisen. Tränen standen ihm in den Augen.
„Ich habe eine Scheißangst, diese Säge zu gebrauchen ... Wenn ich sie überhaupt finden kann. Geh auf, geh auf, geh auf!“
Da endlich hatten die Götter ein Nachsehen und der Eisenring zerbrach. Zunächst konnte Eryn es gar nicht fassen, als ihn die Magie durchflutete. All seine zwölf Adern pulsierten in leuchtenden Farben. „Die Poxe am Arsch, ich bin frei!“, jubelte er. „Ich bin wieder frei und nie wieder in meinem Leben werde ich so dumm sein, mir so etwas anzutun. Einen Magieblocker ohne Schloss. Wie dämlich muss man sein.“ Eryn lachte befreiend über seine eigene Dummheit. Sein benebeltes Hirn hatte ihn damals nicht klar denken lassen, doch nun war alles anders. Das Martyrium durch den Sturm und die Schmerzen hatten die letzten Reste der Rauschkrautvergiftung aus seinem Körper getrieben und nun konnte er wirklich ein neues Leben beginnen.
Doch zunächst musste er sich um seinen verletzten Fuß kümmern. Er löste das Stoffstück, mit dem er das Bein abgebunden hatte und untersuchte die Verletzung magisch, so wie er es schon oft getan hatte – allerdings stets bei anderen. Was sich ihm da offenbarte, sah nicht gut aus.
„Den Schaden wieder zu richten, wird eine Weile dauern“, murmelte er und leitete erste Schritte ein. Blutgefäße waren zerstört und der Schnitt, welchen er sich beim Fall von der Klippe zugezogen hatte, reichte bis hinunter auf den Knochen. Drum herum gab es noch etliche Quetschungen und Eryn vermutete, dass einige davon auf die Schläge mit dem Stein zurückzuführen waren. Am Fußgelenk selbst gab es eine Knochenabsplitterung und die Bänder waren arg in Mitleidenschaft gezogen. Rund eine Stunde lang war er in die Behandlung vertieft und konnte dabei vieles richten. Doch selbst mit magischer Unterstützung würde die endgültige Heilung noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Dann zog er Wasser aus der Luft und ließ es sich direkt in den Mund laufen. Als er auch seinen Hunger gestillt hatte, schickte er ein Auge aus. Denn so viel stand fest:
Hier auf diesem Felsen bleibe ich nicht. Zunächst sah er nichts als blaues Meer, was die Vermutung nahelegte, dass er sich ziemlich weit vom Kontinent entfernt befand. Als das Rauschkraut ihn noch fest im Griff hatte, konnte rein gar nichts sein Interesse wecken, doch nun kehrte seine Wissbegierde zurück.
Ob es noch einen weiteren Kontinent gibt? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte ihn schon längst jemand gefunden. Aber einen Steinhaufen wie diesen hier könnte es durchaus noch irgendwo geben. Wenn ich allerdings nichts weiter finde, dann muss ich doch weiterhin hierbleiben.
Aber das Blatt des Schicksals hatte sich gewendet und die Götter meinten es gut mit Eryn. In einiger Entfernung lag eine weitere Insel. Da Eryn nicht viel Erfahrung mit Schiffen und ihrer Fahrgeschwindigkeit hatte, schätzte er die Distanz bis dorthin auf ungefähr zwei Tagesritte. Diese neue Insel war etwas größer als sein jetziges Domizil und hatte die Form eines zu drei viertel geschlossenen Kreises. Dadurch konnten sich die Wellen an einer Seite brechen und bildeten so einen natürlichen Schutzwall. Eryn erspähte sogar einen schmalen Streifen Sandstrand innerhalb dieses geschützten Bereiches.
„Perfekt! Dann werde ich mal umziehen.“ Irgendwie hatte er es sich in letzter Zeit angewöhnt, laut mit sich selbst zu sprechen. War ja sonst keiner da, mit dem er sich unterhalten konnte.
Ein Tor brachte ihn zur Sichel, wie er die neue Insel bereits getauft hatte und dort setzte er sich erst einmal an den Strand und genoss die angenehme Wärme der Sonne auf seiner Haut. Ohnehin musste er sein Bein schonen und als Magier bestand auch keine Notwendigkeit herumzulaufen, nur um die Insel zu erkunden. Sein Auge wanderte flink hin und her, während er selbst träge im Sand lag.
Drei Tage später hatte sich Eryn schon gut eingerichtet. Im höchsten Felsen der Insel befand sich nun seine Unterkunft und die konnte sich durchaus sehen lassen. Ohne Zeitdruck und mit klarem Kopf hatte Eryn seine Fähigkeiten voll ausschöpfen können und eine Behausung mit fünf Zimmern gebaut. Schon früher hatte er reichlich Übung mit der Ader Grau gehabt und sich als ganz guter Baumeister erwiesen. Vom großzügigen Eingangsbereich kam man in die Haupthalle und die Küche. Dort lagerten auch Eryns Vorräte, die allerdings auch wieder nur aus Fisch und Muscheln bestanden. Ein ovales Becken aus poliertem Stein war mit klarem Wasser gefüllt. Es gab noch einen extra Baderaum, den man von der Halle aus durch einen kleinen Gang betreten konnte. Derselbe Durchgang führte auch in Eryns neues Schlafgemach.
Die Wände drinnen waren akkurat gerade, wohingegen er den Felsen draußen in seiner ursprünglichen Form belassen hatte. Die Fenster waren in den Stein eingearbeitet, und zwar dort, wo sich bereits natürliche Vertiefungen befunden hatten. Darum war auch keines von ihnen symmetrisch, sondern sie sahen vielmehr aus wie vergrößerte Risse. Auch der Eingang lag etwas versteckt und führte nur auf ein kleines Plateau hinaus, ähnlich wie bei seiner ersten Behausung. Um auf den Strand hinunterzukommen, musste Eryn schweben, was für ihn freilich kein Problem darstellte. Er hatte sich noch nicht dazu durchgerungen, eine Treppe zu bauen, denn niemand sollte auf den ersten Blick erkennen können, dass die Insel bewohnt war. Zu sehr saß Eryn noch die Angst im Nacken, dass Ador ihn aufspüren könnte. Darum brachte er auch keine permanenten Zauber an, die durch einen Scan leicht zu erkennen waren.
Aber der Sturm von neulich hatte ihm eine andere, ganz unmagische Gefahr aufgezeigt und Eryn nutzte die Adern Braun und Grau, um den schützenden Ring aus einzelnen Felsbrocken um die Insel herum noch zu verdichten. Dabei hob er den Meeresboden magisch an. Keine intellektuell schwierige Arbeit, jedoch eine sehr anstrengende. Und nachdem er den ganzen Vormittag damit verbracht hatte, hinkte er den Sandstrand ein paar Schritte hinauf und setzte sich dann auf ein sonniges Plätzchen. Sein Fußgelenk schmerzte von der Belastung und er bedachte es mit einer Kombination aus Betäubung und Heilzauber. Ich muss dem Fuß mehr Ruhe geben, dann heilt er schneller. Offensichtlich war es ihm nicht gelungen, alle kaputten Stellen im Gelenk zu reparieren. Dergleichen verlangte eine sehr hohe Kunstfertigkeit, doch Eryn war mit dem erzielten Ergebnis ganz zufrieden und mit der Zeit würde auch der Rest noch heilen.
Aber es gab andere Probleme, mit denen er sich außerdem auseinandersetzen musste. Stein, Eisen, Fisch und Wasser gab es im Überfluss, doch an allem anderen mangelte es. Seine eigene Kleidung war mittlerweile so zerrissen und verdreckt, dass sie den Namen kaum mehr verdiente. Eryn hatte versucht, aus dem Seegras einen Stoff zu weben, doch das Ergebnis war ein kratziges, raues Gewebe, welches mehr einer Matte denn einem weichen Stoff glich. Meister Raiden war stets der große Webkünstler gewesen, weswegen sich Eryn mit dieser Kunst nie sonderlich beschäftigt hatte. Er hatte Kleidung und Stoffe auf dem Markt gekauft. Auch Möbel und Nahrungsmittel hatte er dort erstanden.
Und gerade erschien ihm ein Markt wie ein gesegneter Ort der Götter.
Dort gibt es alles. Obst, Gemüse, Hühnchen – lebendig und gebraten. Frisches knuspriges Brot, gebratene Apfelringe. Eryn stöhnte sehnsüchtig. Allein ein unmagisches Feuer hat seinen Charme. Und er kam immer mehr zu der Überzeugung, dass er in die Zivilisation zurückkehren musste, um sich all diese notwendigen Dinge zu besorgen, die es hier auf seiner Insel nicht gab. Nur etwas machte ihm dabei Kopfzerbrechen: Meister Ador. Er war Eryns größter Feind und seine Spezialität waren die Ader Gold und das Reisen in den Wegen.
Kann er mich in der Zwischenwelt aufspüren? Das war die Frage aller Fragen und Eryn wusste keine Antwort darauf. Was er allerdings mit Sicherheit wusste, war, dass er nie wieder ein Gefangener in Elverin sein wollte. Ebenso wenig wie er in die Dienste Naganors zurückkehren wollte. Es war die Zeit gekommen, endlich sein eigener Herr zu sein – frei und niemandem verpflichtet, außer sich selbst. So war er hin und her gerissen, doch dann obsiegte die Notwendigkeit über seine Bedenken.
„Wasser verwischt die Spuren, hat mein weiser Urgroßvater Meister Savyen gesagt. Ich öffne das Tor erst im Wasser und komme dort auch wieder heraus. Und ich werde in der Nacht gehen, wenn selbst dieser verdammte Bastard von Ador schläft.“
Hätte Eryn gewusst, dass Meister Adors Gedanken zu dieser Zeit einzig und allein Lady Syrdae galten, dann hätte er sich nicht all diese Mühen gemacht. Doch davon ahnte er nichts und sein erster Raubzug führte ihn in die Abgeschiedenheit der Berge. In jenes Tal, in welches es ihn in Begleitung von Meister Raiden, Meister Eriwen und dem Forscherdrachen auf der Flucht verschlagen hatte. Damals hatte die Barriere des Nimrods noch die Welt geteilt. Doch das gehörte inzwischen schon längst der Vergangenheit an.
Eryn hielt sich nicht lange dort auf, sondern zog seine Aura ähnlich einem Netz über das Erdreich einschließlich allem, was darauf wuchs. Fünf Schritt im Quadrat konnte er so umspannen und das geraubte Land schaffte er dann direkt auf seine Insel. Den Baum verlor er in den Wegen, doch den Rest brachte er unbeschadet hindurch. Sein Beutegut lag nun knapp unterhalb der Wasseroberfläche in der Nähe des Sandstrandes und Eryn arbeitete hart, um Erde und Pflanzen schnell auf festen Grund zu befördern. Als er endlich damit fertig war, schwebte er hinauf in seine Gemächer.
Morgen schaue ich mir genauer an, was ich da erbeutet habe, sagte er sich, dann fiel er todmüde in sein Bett.
Fünf Wagen standen im Hof des Händlers und auf ihren Planen prangte das Wappen der Meretts und darunter stand „Merett Handelskompanie“, während sich auf dem Hof Kisten, Säcke und Stoffballen stapelten. Zwei ältere Männer hatten sich mächtig in der Wolle, während die Knechte und Fuhrleute jeweils hinter ihren Anführern standen und dem Streit zuhörten.
„Drei Säcke Korn fehlen, so viel steht fest. Hundert sollten es sein und wir haben nur 97 entladen“, meinte der lokale Händler, während sich der Vertreter der Meretts rechtfertigte:
„Aber ich habe die Säcke selbst gezählt und nach dem Verladen noch einmal nachgeprüft. Sie waren eindeutig auf den Wagen.“
„So, waren sie“, meinte der Händler spitz und polterte dann los: „Dass die Meretts Halsabschneider sind, weiß ich schon lange, aber dass sie es jetzt schon nötig haben zu betrügen, das ist ungeheuerlich.“
„Vorsicht, was du da sagst. Vielleicht haben die Kornsäcke ja beim Entladen Füße bekommen.“
Der Händler lief bei dieser infamen Anschuldigung rot an.
„Was soll das heißen? Etwa dass meine Männer stehlen? Bitte, sieh dich um. Würde mich verdammt noch mal wundern, wenn du die Säcke hier findest. Aber ich sag dir eines: Ich werde die Ware jetzt aufs Genaueste prüfen und dann werden wir sehen, ob ihr vielleicht noch mehr Tricks auf Lager habt.“
Der Mann der Meretts versuchte nun den Händler zu beruhigen:
„Das ist doch lächerlich. Wir machen schon so lange miteinander Geschäfte und es war nie was.“
„Es gibt immer ein erstes Mal und vielleicht habe ich es bisher auch nur nicht gemerkt. Aber jetzt werde ich der Sache auf den Grund gehen.“ Dann drehte er sich zu seinen Leuten um:
„Männer, prüft die Ware. Jeder Sack wird gewogen, jeder Ballen auf seine Stofflänge geprüft und alles gezählt, und dann werden wir ja sehen.“
„Bitte, das ist dein gutes Recht“, meinte der Vertreter der Meretts und ließ durchklingen, wie beleidigt er ob dieses Vorgehens war.
Die Untersuchung ergab letztendlich, dass auf jedem der Stoffballen nur 45 Meter aufgewickelt waren anstatt 50, und dass etliche Kisten und Säcke zu wenig Gewicht hatten.
Damit war für den Händler der Fall klar und er rief nach der Obrigkeit, während der Merett-Lieferant sich das absolut nicht erklären konnte.
„Ich habe alles gewogen und gezählt. Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein.“
Während unter den Unmagischen Unfrieden herrschte, räumte Eryn den letzten Sack Diebesgut in seine Vorratskammer. Seit seiner ersten Reise auf den Kontinent war er noch mehrfach zurückgekehrt und bei seinen Beutezügen immer dreister geworden.
Nun erstreckte sich auf Eryns Insel gleich im Anschluss an den Sandstrand ein Grünstreifen, der sich noch ein ganzes Stück weit den Hang hinaufzog. Erst als das Gelände zu steil wurde und die Erde keinen rechten Halt mehr finden wollte, hatte Eryn mit seiner Umgestaltung aufgehört. Hühner, Gänse und Hasen hatte er ebenfalls auf die Insel gebracht, da diese recht problemlos in der Haltung waren. Unabsichtlich waren dabei noch ein paar Singvögel und anderes kleineres Getier auf die Insel gereist. Sie hatten in dem herangeschafften Erdreich und Gebüsch ihr Zuhause gehabt.
Auf der zweitgrößten Erhebung der Insel hatte Eryn noch einen Süßwassersee angelegt. Er diente zum Baden und generell als Wasserspeicher. Den Schutzwall um die Insel herum hatte er weiter vergrößert und auch sein Heim war inzwischen ganz gut eingerichtet und war durchaus wohnlich. Da gab es Tische, Kommoden und Schränke, allesamt von solider Bauweise und manche davon waren sogar verziert. Am Anfang hatte sich Eryn als Schreiner versucht, war aber mit dem Ergebnis nicht sonderlich zufrieden gewesen und so besorgte er sich die Güter aus der alten Welt. Er mied große Siedlungen und nahm sich nur Gegenstände, die verstaubt und vergessen auf Dachböden und in Scheunen herumstanden. Nichts, was jemand vermissen würde. In einem abgelegenen Landhaus machte er die reichste Beute. Auf dem Haus selbst lag ein Schutzzauber, weswegen er es unberührt ließ. Doch in dem Nebengebäude gab es eine ganze Kammer voller alter Möbel. Die Staubschicht lag so dick über allem, dass hier schon lange niemand mehr gewesen sein konnte.
Auf den Wagenzug der Meretts stieß er eher zufällig, als er nach weiterer Beute Ausschau gehalten hatte. Sein erster Gedanke war, sich gleich wieder zu entfernen, um nicht von den Menschen entdeckt zu werden. Doch dann hielt er inne und änderte seine Meinung.
Warum nicht. Die Meretts sind die reichsten und die schlimmsten aller Händler. Sie zu bestehlen, ist kein Verbrechen. Das ist ausgleichende Gerechtigkeit.
Die Wagen standen über Nacht in einem Kreis um das Lager herum und waren bewacht – doch nicht gut genug, um einen begabten Magier vom Sammeln abzuhalten. Und einmal angefangen, wollte Eryn gar nicht mehr aufhören, denn er konnte wirklich vieles aus dem dargebotenen Sortiment gebrauchen.
Nun saß er auf seinem bequemen, neu bezogenen Sofa und lachte in sich hinein.
Es ist nur recht und billig, wenn man einem armen Magier unter die Arme greift. Die Fenster hatten hübsche Vorhänge und auf dem Steinboden lagen Teppiche und Felle. Sein Bett hatte eine Matratze, und alle Decken und Kissen waren mit Daunenfedern gestopft. Im Kamin in der Wohnstube brannte ein richtiges Feuer und das Knistern der Holzscheite sorgte für eine wohlige Behaglichkeit.
„So lässt es sich leben“, meinte Eryn zufrieden. Allerdings, stehlen werde ich nun nichts mehr. Das ist einfach nicht recht ... Auch wenn es mit den Meretts keine Armen trifft. Außerdem wird jeder Dieb irgendwann einmal erwischt. Sie finden meine Spur, die Magier bekommen davon Wind und schon stehen ungebetene Gäste vor meiner Tür. Das wäre das Letzte, was ich gebrauchen könnte.
Somit war es an der Zeit, wieder redlich zu werden. Doch es lag nicht in seinem Naturell, träge vor dem Kamin zu sitzen und die Tage sinnlos verstreichen zu lassen. Aber es fehlte ihm an entsprechender Gesellschaft. Andere Menschen, mit denen er sich unterhalten konnte. Darum erfüllte ihn bald eine Unrast und er spielte mit dem Gedanken, seinen Sohn Gannok zu sich zu holen.
Er ist mein Sohn und ich habe ihn aus selbstsüchtigen Gründen zurückgelassen, um nach Elverin zu gehen. Das war nicht richtig. Das weiß ich jetzt, und ich habe bitterlich dafür gebüßt. Dafür hat schon mein eigener Vater gesorgt. Der Schöpfer – wie kann jemand nur so selbstherrlich sein. Heißt es nicht, mit dem Alter käme die Weisheit? Daran hege ich inzwischen große Zweifel. Doch die Fehler der Vorfahren müssen sich nicht wiederholen. Ich kann es weitaus besser machen als mein eigener Vater und Gannok mit Güte und Liebe erziehen.
Doch die Sache hatte einen Haken. Gannok befand sich in Naganor und der Schwarze Turm war gegen Magie gut gesichert – nicht so wie die Häuser der Unmagischen.
Eryn dachte lange über dieses Problem nach. Seine Angst vor Ador hatte sich inzwischen ein wenig gelegt, denn die magische Wolke der Wege war unendlich groß und er würde sich sicherlich nicht in die Nähe von Elverin begeben. Meister Raiden selbst war in der Tormagie nicht sonderlich bewandert, alleine schon deswegen, weil ihm die Ader Gold fehlte. So schlussfolgerte Eryn, dass der Herr von Naganor nur eine Gefahr für ihn werden könnte, wenn er aus den Wegen heraustrat. Das musste Eryn aber gar nicht. Wenn er nahe genug an die magische Barriere herantrieb, konnte er wie durch eine Scheibe hindurchsehen.
Also machte er sich auf nach Naganor und suchte in dem Nebengebäude nach den Kindern. Aber das Zimmer, in dem sie zu viert schliefen, war leer.
Vielleicht haben sie Unterricht oder spielen irgendwo draußen. Eryn glitt an der Barriere entlang, fast so, als würde er durch das Gebäude laufen. Er konnte sich inzwischen eine ganze Weile in den Wegen aufhalten, war aber ungefähr eine halbe Stunde verstrichen, wurde er nach draußen gezogen. Ähnlich einem Taucher, der zurück an die Wasseroberfläche schwimmen musste, um Luft zu holen. Diese Zeitspanne war schon deutlich länger als am Anfang und sicherlich würde er mit etwas Übung noch besser darin werden. Schließlich hatte Ador ganze fünfzig Jahre in den Wegen verbracht – wenn auch nicht freiwillig. Eryn verdrängte die unliebsamen Erinnerungen an Ador und schob die Grenze zur realen Welt vor sich her. Die Gesetzmäßigkeiten in den Wegen waren andere als draußen. Man konnte problemlos durch Wände und alle anderen Feststoffe wandern. Nur auftauchen sollte man nicht in solchen Materialien.
Gerade erreichte Eryn den Unterrichtsraum, der ebenfalls leer war. Doch im Hof wurde er dann fündig. Alle vier Kinder saßen in Eintracht nebeneinander. Danian warf seinem Raben Brotkrumen zu, welche dieser gezielt aufpickte, während Carmina ihre Katze streichelte, die wohlig brummend auf ihrem Schoß lag. Gannok spielte mit seinem Hund Flocke Stöckchen holen und war gerade dabei erneut zu werfen. Nur Asrans Bergkatze Fauchi war nirgends zu sehen. Das Bild war verschwommen und Eryn wagte sich noch ein klein wenig näher an die Grenze heran. Die Kinder redeten irgendetwas, dann schienen sie zu lachen. Aber Eryn konnte nichts hören.
Ob ich sie verstehen kann, wenn ich noch näher heranschwebe? Man konnte auch Zauber nach draußen schicken, aber die erregten mit Sicherheit Aufmerksamkeit. Und der Grenze noch näher zu kommen, barg das Risiko plötzlich hinausgezogen zu werden.
Naganor ist nicht der Ort, um dahingehend Experimente zu machen.
Also gab er sich im Augenblick damit zufrieden, den Kindern einfach nur zuzusehen.
Wenn ich Gannok zu mir hole, dann soll nicht gleich jeder wissen, dass ich es war. Meister Raiden hat sicherlich ein großes Interesse, dass ich als sein williger Untergebener zurückkehre. Ich würde ihm sogar zutrauen, dass er Ador ins Vertrauen zieht, damit der ihm bei der Mission ‚Eryn einfangen‘ auch noch behilflich ist. Aber Ador hilft nur sich selbst. Irgendwie erstaunlich, dass Meister Raiden das noch nicht selbst aufgefallen ist. Hat er doch sonst einen sehr gesunden Scharfblick für die Geschehnisse um ihn herum.
Carmina sagte etwas und Asran streckte ihr die Zunge heraus. Woraufhin sie aufstand und mit einem hochnäsigen Gesicht davonstolzierte. Gannok und Asran schienen sich darüber köstlich zu amüsieren, während Danian immer noch mit seinem Raben beschäftigt war.
Aber dann sagte Asran etwas zu Gannok und die beiden Buben fielen übereinander her und balgten sich.
Dieser Asran ist der Teufel, urteilte Eryn und war gleichzeitig auch ein wenig um Gannok besorgt. Aber die beiden schenkten sich nichts und dann war der Streit so schnell vorüber, wie er gekommen war und die Jungs kugelten sich vor Lachen.
Kinder und ihre Spiele, wer kann die verstehen?, wunderte sich Eryn, dann trat er die Rückreise an.