Читать книгу Mika, Tony und Jack - Sigrid Zeevaert - Страница 5
ОглавлениеAls ich sie das erste Mal sah, wusste ich schon: Das könnte was werden mit uns. Nicht so, wie manche vielleicht gleich wieder denken, auch wenn Tony ein Mädchen und ich ein Junge war, aber darum ging es ja nicht. Außerdem saß sie nicht allein auf diesem Bretterzaun, Jack saß auch noch da. Sie sahen rüber zu mir und wahrscheinlich redeten sie in diesem Moment auch über mich, so jedenfalls kam es mir vor.
Kurz überlegte ich und ging dann aber doch nicht zu ihnen hin. Irgendwie fehlte mir dazu der Grund. Abgesehen davon hielt ich mich sowieso lieber zurück und kannte mich hier ja auch noch nicht aus. Ich war eben neu. Paul war daran schuld, der mich hierhergeschleppt hatte und zufällig mein Vater war. Wegen ihm waren wir hier und weil er glaubte, dass es nicht anders ging. Wo es da ja noch Greta, seine neue Freundin, gab und ihr kleines Haus. Paul und ich passten gerade noch rein. Groß gefragt hatte Paul mich allerdings nicht. Vielleicht hatte er Angst gehabt, ich würde Nein sagen. Hätte ich vielleicht ja sogar. Nur, um mal zu sehen, was für ein Gesicht er dann machen würde.
Aber na ja. Ich bekam ein kleines Zimmer gleich unterm Dach. Der Rest, sagte ich mir, ging mich erst mal nichts an oder jedenfalls hielt ich mich lieber raus. Ich hatte genug mit mir selber zu tun. Und damit, was alles wieder von vorn anfing.
Tony und Jack gingen sogar in dieselbe Klasse wie ich. Aber in der Pause stand ich mit anderen da.
»Du kommst wirklich aus Schweden?«, fragten sie, dabei wussten sie es doch längst. Frau Becker, unsere Klassenlehrerin, hatte es ja vorhin gesagt.
Ich schob die Hände in die Taschen und sagte achselzuckend: »In den letzten zwei Jahren haben wir da gewohnt, mein Vater und ich.«
Wieder wanderten Blicke. »Ah«, sagten sie. Wahrscheinlich hatten sie keine Ahnung, wo Schweden überhaupt lag und wie viele Seen es dort gab. Paul und ich hatten einen für uns alleine gehabt. Es hatte trotzdem nicht zum Bleiben gereicht, wie woanders ja auch nicht.
»Und ihr seid alle von hier?« Ich wollte nicht, dass sie weiter fragten. Nach Paul und mir und warum wir überhaupt in Schweden gewesen waren. Und was mit meiner Mom war. Paul und ich waren in den letzten Jahren immer wieder umgezogen und ich war gespannt, wie lange wir es diesmal aushielten.
Die anderen erzählten, nannten Straßen und zeigten in verschiedene Richtungen. Häuser, in denen sie wohnten, manche hatten es von hier aus nicht weit.
»Hör mal, Mika«, sagte einer und stellte sich dicht neben mich, »wenn du willst, können wir uns verabreden.« Er trug eine Brille, hinter der sein Gesicht fast verschwand. Überhaupt sah alles an ihm ein bisschen merkwürdig aus, irgendwie altmodisch. Obwohl ich mir nicht viel daraus machte, fielen seine Sachen mir jedenfalls auf. Die Hose mit den Hosenträgern, die von ganz früher übrig geblieben zu sein schienen. Und das Hemd. Ich kannte keinen, der so herumlief wie er. »Heute Nachmittag hätte ich Zeit«, sagte er jetzt leise. Anscheinend wollte er nicht, dass außer mir noch jemand mithörte.
Trotzdem grinsten alle um uns herum.
Und ich sagte schnell: »Weiß nicht.« Ich überlegte, wie ich mich am besten rausreden konnte. »Hab meinem Vater versprochen, ein paar Regale mit ihm aufzubauen.« Direkt gelogen war das ja nicht, schließlich gab es seit unserem Einzug immer noch etwas zu tun. Neue Leisten anbringen. Die letzten Kisten auf den Dachboden schleppen.
Der Junge mit der Brille, Arvid oder so ähnlich hieß er, nickte, als hätte er sich das schon gedacht. Er kaute auf seiner Lippe. Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass niemand wirklich etwas mit ihm zu tun haben wollte. »Du kannst mir ja Bescheid sagen, wenn du damit fertig bist«, murmelte er.
»Klar.« Irgendwie tat er mir leid. Und deswegen nahm ich den Zettel mit seiner Handynummer, den er mir hastig gab, und steckte ihn ein. Meine rückte ich aber lieber gar nicht erst raus. »Reicht ja, wenn ich deine habe«, erklärte ich schnell.
»Stimmt.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Wir standen alle noch da, schoben irgendwann eine Papierkugel zwischen uns her, die so was wie ein Ersatzfußball war.
Dann war die Pause vorbei. Und zwischen all den anderen auf der Treppe sah ich Tony und Jack. Sie beachteten mich gar nicht mehr, was mir vielleicht auch nicht so wichtig war. Irgendwie kam ich schon klar.
Ich saß schließlich wieder an meinem Platz, ziemlich weit hinten, von wo man alles gut übersah. Neben mir saß niemand, aber das war ja egal. Wo ich mir sowieso erst mal anhören musste, was wir im Unterricht gerade durchnahmen. Manches davon hatte ich schon mal durchgekaut. Von anderem dagegen hatte ich noch nie das Geringste gehört.
Als die letzte Stunde vorbei war, packte ich meine Tasche und zog wieder ab. Warf kurz noch mal einen Blick zu Tony und Jack rüber, die es anscheinend nur im Doppelpack gab. Immer und überall tauchten sie zusammen auf, als klebten sie aneinander fest und als interessierte sie alles, was um sie war, sowieso nicht die Spur, sie hatten ja sich. Ich wusste auch nicht, warum, aber irgendwie fand ich an ihnen etwas.
Ich setzte mich auf mein Fahrrad, es gehörte mir nur so halb und war auch ein bisschen zu groß für mich, weil es genau genommen Moms Fahrrad war. Ich hatte es damals aus dem Schuppen geholt. Paul hatte mir das auch erlaubt. Bevor es verrostete, war es ja wohl besser, wenn wenigstens ich es benutzte, hatte er dazu gesagt.
Jetzt fuhr ich erst mal nach Hause. Also dahin, wo wir neuerdings wohnten, auch wenn ich nachts manchmal noch aufwachte und nicht gleich wusste, wo ich überhaupt war. Bis ich das Licht anknipste und das schräge Dachfenster sah. Die hellblaue Wand. Keine Ahnung, ob Greta sie wegen mir so gestrichen hatte. Ich hatte sie nicht danach gefragt. Und war froh, dass sie mich erst mal in Ruhe ließ. Ich war mir noch nicht sicher, wie ich sie fand. Im Gegensatz zu Paul, der wirklich verliebt in sie war. Aber das war ja egal.
Etwas zu früh bog ich ab, geriet in Straßen, in denen ich bisher noch nicht gewesen war. Große alte Häuser standen überall hier herum, schicke Villen mit riesigen Balkons und prunkvollen Fassaden, die dreimal so groß waren wie Gretas Haus. Wer hier wohnte, war garantiert reich.
Ich fuhr nicht sehr schnell, fühlte mich irgendwie fremd. Und weil ich sowieso Hunger hatte, kehrte ich wieder um und erschrak, als mir vom anderen Ende der Straße ausgerechnet Tony auf ihrem Fahrrad entgegenkam. Ich erkannte sie an ihren Haaren, dunkle wilde Locken hatte sie. Nicht unbedingt lang. Von Jack war nichts zu sehen.
Meine Handbremse quietschte, als ich sie zog.
Auch Tony blieb stehen, sah mich misstrauisch an. »Suchst du was Bestimmtes?«, fragte sie nur.
»Quatsch.« Ich stammelte rum. »Hab mich verfahren …« Wahrscheinlich wurde ich sogar rot. Ich wollte nicht, dass Tony noch glaubte, ich spionierte ihr nach.
»Du kennst dich wohl noch nicht so gut aus?« Ihr Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.
Ich zuckte die Achseln und grinste jetzt auch. »Ja dann.« Ich nahm Schwung und fuhr auch schon weiter, obwohl ich gern noch stehengeblieben wäre, einfach nur so.
Ob sie mir nachblickte, fragte ich mich, aber natürlich drehte ich mich nicht noch mal zu ihr um. Dabei hätte ich sie fragen können, ob sie hier wohnte. Und ob sie und Jack am Nachmittag vielleicht Zeit gehabt hätten. Jetzt war es zum Fragen zu spät.
So schnell ich konnte, fuhr ich nach Hause. Ich würde mich nicht noch mal verfahren und in Straßen geraten, in die ich gar nicht wollte, soviel stand fest.
Ich schob mein Fahrrad in den Schuppen, drückte die Klingel, als ich vor unserer Haustür stand. Den Schlüssel ließ ich in der Tasche, irgendwie passte das für mich noch nicht.
»Ist Paul auch da?«, fragte ich, als Greta mir öffnete. Dabei wusste ich, dass er noch unterwegs war. Ich drückte mich an ihr vorbei. Aus der Küche roch es schon gut. Anscheinend hatte Greta gekocht.
»Nein«, sagte sie. »Paul kommt später. Aber wenn du nichts dagegen hast, könnten wir beide ja schon etwas essen? Was hältst du davon?«
Der Hunger war daran schuld, dass ich nicht gleich abwinkte, sondern mich zu ihr in die Küche setzte, wo der Tisch für drei gedeckt war. Ich war nicht freiwillig hier, das war Greta hoffentlich klar. Ich war ja nicht mal mit ihr verwandt. Aber essen musste man. Ich hatte also gar keine Wahl.
Ich fuhr schon bald wieder los. War froh, dass Greta nicht noch zu mir hochgekommen war und mir auch keine überflüssigen Fragen gestellt hatte. Reden war nicht so mein Fall. Beim Essen hatte sie lauter Sachen gesagt, die ich gar nicht hören wollte. Schon mal ganz bestimmt nicht von ihr. Dass alles wohl nicht so einfach für mich war und erst seine Zeit brauchte und so.
Ich wollte nur raus, in die Felder. Und vielleicht noch weiter, bis in den Wald.
In Schweden war ich manchmal mit Paul losgezogen und wir hatten geangelt, oft auch mit Thies, der mein Freund gewesen war. Wir hatten fast alles zusammen gemacht und uns geschworen, uns durch nichts und niemanden auseinanderbringen zu lassen. So schnell konnte es gehen, dass das nicht mehr galt.
Ich legte den Kopf in den Nacken und spürte den Wind. Fuhr an den Feldern vorbei. Krähen saßen darin, ein paar flogen auf. Ich blieb gar nicht erst stehen, fuhr, bis ich den Wald schließlich erreichte, der mir dunkel vorkam, kühl und irgendwie geheimnisvoll mit seinen riesigen Bäumen, durch die das Licht in Streifen bis auf den Waldboden fiel.
Ich stieg erst wieder ab, als der Weg steil bergan stieg, schob mein Fahrrad ein Stück. Hörte nichts bis auf meinen keuchenden Atem und meine eigenen Schritte. Das leise Rauschen der Bäume im Wind.
Als ich auf der Anhöhe war, fuhr ich wieder los, weiter, immer weiter geradeaus. Folgte Reifenspuren, bis ich sie wieder verlor. Der Waldweg war schmaler geworden, war jetzt nur noch ein Pfad. Zweige schlugen mir ins Gesicht, dichtes Gestrüpp und Geäst, bevor ich plötzlich wieder auf einen größeren Weg stieß. Und nicht viel weiter auf das Ende vom Wald. Häuser tauchten auf. Ehrlich gesagt war ich überrascht. Erst recht, als mir jemand auf dem Fahrrad entgegenkam, den ich an seinen blonden Haaren und dem grünen T-Shirt sofort erkannte: Es war Jack. Also interessierte er sich auch für den Wald?
Ich wurde langsamer und blieb stehen, als wir auf einer Höhe waren. »Hey«, sagte ich. »Erst treffe ich Tony, dann dich.«
Jack nickte kühl und musterte mich. »Ich weiß«, sagte er. Also hatte sie ihm davon erzählt. Vielleicht hatte sie ihm auch eine Nachricht geschrieben. »Und was machst du im Wald?«, fragte er.
Ich zuckte die Achseln. »Rumfahren.« Etwas anderes fiel mir nicht ein. »Und mich verirren.« Damit er mich nicht für blöd hielt, erwähnte ich schnell noch Schweden, wo es tausendmal mehr Wald als hier gab. Und riesige Seen.
Jack spielte an seiner Klingel. »Und warum seid ihr dann hier?«
»Mein Vater wollte das so«, murmelte ich und fügte noch hinzu, dass er eben gern unterwegs war und Abenteuer erlebte. »Früher ist er sogar Steilwände hochgeklettert. Und bis in die Baumspitzen und auf Dächer und so.«
»Ah«, sagte Jack und in seinen Augen blitzte etwas. »Und das macht er auch hier?«
»Manchmal«, sagte ich, und bevor das Gespräch noch auf Greta und Mom und all die Sachen kam, schob ich hinterher: »Dann machs mal gut.« Nach Tony fragte ich gar nicht mehr. Oder ob sie sich heute noch trafen. Ich fuhr wieder los.
Morgen, sagte ich mir, als ich die Straße hinunterrollte und schließlich die Siedlung erreichte, die mir bekannt vorkam, morgen in der Pause könnte ich ja wirklich mal zu ihnen gehen, eben zu Tony und Jack, wenn sie wieder zusammenhockten oder sich in eine Ecke verkrochen. Irgendwo erwischte ich sie schon. Und vielleicht fragte ich sie dann auch, ob sie mal Zeit hätten. Einfach nur so.