Читать книгу Mika, Tony und Jack - Sigrid Zeevaert - Страница 7
ОглавлениеIch hatte eine Ewigkeit für den Rückweg gebraucht. Hatte mich heillos verlaufen und mich über mich selbst geärgert. Wie schnell ich abgezogen war, obwohl ich den Weg gar nicht kannte. Dabei wusste ich doch, wie gefährlich es war, noch dazu, wenn man in Panik geriet und dann wieder wütend war und einem fast die Tränen kamen. Auch wegen Tony und Jack. Und weil ich auf sie reingefallen war.
Ich war gelaufen und gekrochen, war auf Wege gestoßen und wieder von ihnen weg, war stehengeblieben und hatte versucht, mich zu erinnern. Bis ich endlich an eine Weggabelung gekommen war, die ich wiedererkannt hatte. Wegen einem Baumstamm, der aussah wie ein Gesicht. Von dort aus war es bis zu der Stelle, wo wir die Fahrräder zurückgelassen hatten, nicht weit. Sie hatten tatsächlich alle noch dagelegen.
Ich hatte meins zwischen den anderen herausgezogen, war aufgestiegen und gefahren, hatte nur gehofft, von Tony und Jack nicht noch etwas zu sehen.
Jetzt war ich wieder zu Hause. Allein in meinem Zimmer gleich unterm Dach. Riss die Dachluke auf. Vielleicht sollte ich für immer hier oben bleiben. Luft hatte ich ja genug. Und mein Zimmer reichte doch auch. Ich brauchte niemanden sonst, weil der Einzige, den ich jetzt vermisste, sowieso viel zu weit weg von hier war. So einen wie Thies gab es kein zweites Mal auf der Welt.
Dass erst Greta, dann Paul mich rief, überhörte ich, stellte mich ganz einfach taub und vielleicht war ich es auch.
Ich war eben wirklich enttäuscht, weil ich einen Moment lang geglaubt hatte, Tony und Jack läge etwas an mir, keine Ahnung, warum. In Wahrheit hatten sie sich nur ihren Spaß erlaubt. Meine Angst war ihnen egal und dass ich wirklich gedacht hatte, ich käme aus dem See nicht mehr raus. Dabei war an der Geschichte mit der verschwundenen Frau bestimmt nicht viel dran und mit der Sache heute hatte sie schon gar nichts zu tun.
Wer mich unter Wasser gezogen hatte, war ja wohl klar. Und ehrlich gesagt konnten Tony und Jack mich mal, wenn die so was gut fanden. Ich wollte das alles nur noch vergessen.
Sie gingen mir trotzdem nicht aus dem Kopf. Und ich fragte mich, ob sie immer so waren. Als gäbe es nur sie und als wären ihnen die anderen egal.
»Es nervt«, fluchte ich leise, als Paul mich zum dritten Mal rief, ging dann aber immerhin mal zur Tür. »Was gibts?«
»Da liegen Würstchen für dich auf dem Grill. Komm runter, vielleicht schmecken sie ja.«
Ich atmete tief. Und saß bald darauf mit Greta und Paul auf der kleinen Terrasse, kaute auf einem Stück Wurst, das ich in Ketchup getaucht hatte. Sogar vom Salat probierte ich noch.
Sie fragten nicht viel. Wenn ich nicht wollte, bekam man aus mir ja auch nicht viel raus. Nickte nur, als Greta wissen wollte, wie es im Wald gewesen war, und murmelte: »Ganz okay.« Meine Hose war zum Glück auf dem Weg zurück schon wieder getrocknet. Nicht umsonst hatte ich so lange gebraucht.
Ich war trotzdem froh, als Paul von seiner neuen Firma anfing. Wie sie ihn einspannten und lauter Aufträge für ihn hatten. Ein großes Stück Wurst verschwand in seinem Mund. Es ging ihm gut. Das konnte ich sehen. Und ehrlich gesagt wusste ich nicht, wie ich das fand. Aber das war kompliziert. Und wirklich mit jemandem darüber reden konnte ich nicht, nicht mal mit Thies, der ja sowieso längst unerreichbar weit weg für mich war, auch wenn wir uns manchmal Nachrichten schickten oder ein Bild.
»Willst du noch eine Wurst?«, fragte Greta mich jetzt und ich sagte nicht Nein.
Sie hatte sich die Haare hochgesteckt, stellte ich mit einem Seitenblick fest. Vielleicht war sie hübsch. Vielleicht aber auch nicht. Es war mir egal. Und ich mochte jedenfalls nicht, wenn Paul eng umschlungen mit ihr dastand und sie sich küssten oder plötzlich anfingen, so albern zu lachen. Ich fand, es musste nicht sein.
Jetzt redeten sie zum Glück nur. Über die Arbeit. Dann über die Nachbarn.
Ich hatte genug mit meinen Würstchen zu tun. Immerhin aß ich drei Stück und trank reichlich Bionade dazu. Die hatten sie extra für mich besorgt.
Dann verzog ich mich wieder in mein Zimmer. Das schräge Dachfenster stand immer noch offen.
Vielleicht hatten Tony und Jack sich nichts Besonderes dabei gedacht, als sie mich unter Wasser gezogen hatten, und es musste für sie eben sein, weil es hier so wenig Aufregendes gab, überlegte ich mir. Vielleicht hatten sie aber auch einfach nur wissen wollen, ob ich ein Angeber war, und hatten eine Art Mutprobe daraus gemacht. Schon wegen dem, was ich von Schweden mit den Wäldern und Seen gesagt hatte, vielleicht hatten sie mir das nicht geglaubt. Und mal ganz ehrlich: Die Geschichte mit der verschwundenen Frau interessierte mich vielleicht ja sogar.
Ich steckte meinen Kopf zum Fenster raus, klopfte auf den Dachpfannen herum. Auf einmal tat es mir schon fast leid, dass ich so schnell gegangen war. Eine beleidigte Leberwurst wollte ich schließlich nicht sein. Auch keiner, der nicht mal ein bisschen Schlammwasser vertrug, ich hatte ja einiges davon geschluckt.
Als ich am nächsten Morgen in der Schule ankam und Tony und Jack sah, die wie immer zusammenstanden, hob ich kurz die Hand.
Sie nickten. Drehten sich aber gleich wieder weg, steckten die Köpfe zusammen.
Wahrscheinlich war ich erledigt für sie, mit allen anderen hatten sie ja auch nichts weiter zu tun. Gingen ihnen eher aus dem Weg, lachten manchmal sogar über sie oder verdrehten die Augen und warfen sich wieder Blicke zu. Sie waren eben anders, Tony und Jack.
Und ich gehörte nicht zu ihnen dazu, ich gehörte nirgendwohin, und natürlich hatte ich keinen Grund, zu ihnen zu gehen. Sie kamen ja auch nicht zu mir.
Nur einmal, in der kleinen Pause, als wir in der Klasse blieben und ich im Wandschrank nach losen Blättern suchte, stand Jack plötzlich da. Wahrscheinlich brauchte er auch Nachschub, wie ich.
»Wie viele willst du?«, fragte er und fing auch schon an, Blätter abzuzählen. Drückte mir vier in die Hand.
»Reicht«, sagte ich.
Schon drehte er sich wieder um. Fragte nicht, ob ich sauer gewesen war. Fragte auch nicht, was ich heute vorhatte und ob ich noch mal mit ihnen kam. Egal, ob in den Wald, zum See oder einfach nur mit den Fahrrädern rumfahren.
Ich ging wieder an meinen Platz, stieß fast mit Arvid zusammen, der sich anscheinend ein Herz gefasst hatte und mir jetzt eine große Tüte Lakritze hinhielt. »Willst du?«, fragte er und sah mich unsicher an. »Die schmecken echt super.«
Ich zögerte und griff dann hinein, was wahrscheinlich ein Fehler war. Das Leuchten in Arvids Augen verriet schon genug. Und wie er seine Brille hochschob.
»Ich habe immer welche dabei«, sagte er schnell, wedelte mit der Lakritztüte vor meiner Nase herum und erzählte mir dann, wie viel Geld er von seinen Eltern bekam und von seinem Onkel und was er alles besaß. Auch einen Fernseher. Und einen Laptop und zwei Smartphones, weil es immerhin sein konnte, dass er eines von ihnen verlor und sich vielleicht gerade verirrt hatte und dann nicht nach Hause zurückfand.
Ich hörte mir alles an. »Ah«, murmelte ich. »Und was machst du, wenn du das zweite Smartphone nicht eingesteckt hast?« Ich wollte eigentlich nicht groß mit ihm reden und hoffte, Arvid würde bald wieder gehen.
Aber er dachte gar nicht daran. Stolz zeigte er mir das Smartphone, das er immer bei sich trug. »Das andere«, sagte er, »habe ich in meiner Schultasche.« Er erklärte mir alles genau und hörte gar nicht mehr auf. Kam auch noch auf die Sicherungsanlage bei sich zu Hause zu sprechen, weil sein Vater ein hohes Tier in irgend so einem Amt war.
Er ging als Letzter an seinen Platz, bevor die nächste Stunde begann. Meldete sich dann aber gleich und fragte Frau Becker, ob er nicht neben mir sitzen könne, wo der Platz ja frei war und außerdem war ich doch noch neu.
Ich erschrak. Sah, wie Frau Becker sich nachdenklich das Kinn rieb und dann sagte: »Fragen wir doch mal Mika, was er davon hält.«
Alle aus der Klasse drehten sich zu mir um. Auch Tony und Jack. Und es kam mir vor, als grinsten sie wieder so.
Zu allem Überfluss wurde ich wahrscheinlich jetzt auch noch rot. Ich zuckte die Achseln. »Klar«, murmelte ich, weil mir so schnell gar nichts anderes einfiel und ich ja schlecht sagen konnte, dass ich zwar gern jemanden neben mir sitzen hätte, aber nicht unbedingt ihn. »Mein Platz ist noch frei.« In meiner Brust stach es. Und in meinem Bauch zog sich alles zusammen.
Arvid kam mit all seinen Sachen gleich rüber zu mir.
Ich saß stocksteif da, während ich das unterdrückte Kichern und Flüstern der anderen hörte. Zu Tony und Jack guckte ich nicht noch mal hin. Vielleicht, sagte ich mir, blieb ich mit Paul auch diesmal nicht lang, weil er sich mit Greta schon bald nicht mehr verstand. Das konnte doch sein. Die Zeit bis dahin bekam ich schon irgendwie rum. Auch wenn ich ganz bestimmt keine Lakritze mehr von Arvid nahm und mich auch nicht wieder von ihm vollquatschen ließ.
Immer wieder stieß er mich an. Grinste. Zeigte schließlich auf den Umschlag seines Hefts, der mit lauter Sternchen verziert war. Mittendrin stand in großen Buchstaben ARVID.
»Heißt übrigens der Adler«, seufzte er jetzt.
»Was?«, fragte ich.
»Mein Name«, sagte er stolz.
Ich beugte mich wieder über mein Heft.
Vielleicht gab es woanders ja auch noch eine wie Greta, sagte ich mir. Arbeit fand Paul sowieso überall. Und dann zogen wir eben weiter. Wo es so einen Freund wie Thies wahrscheinlich nirgendwo mehr für mich gab. Ich vermisste ihn wie verrückt. Erst recht an diesem Vormittag, der gar nicht mehr vorbeigehen wollte, auch wenn ich mir Mühe gab und mich nicht mehr ablenken ließ.
Die Bücher, die wir aufschlagen sollten, hatte ich alle dabei. Hefte und Stifte. Die Blätter, die Jack für mich abgezählt hatte, schob ich unter mein Pult. Vielleicht brauchte ich sie gar nicht.