Читать книгу Der Schrei des Maikäfers - Sigurd Marx - Страница 1
1
Оглавление1933 zweiter Mai, fünf Uhr morgens. Ein Freudenschrei hallt durch das Amtsgericht in Massow. Anna! Ein Maikäfer! Es ist ein Junge; ein Junge für Führer, Volk und Vaterland!
Ich hab´s geschafft und Mutter ist von mir befreit. Noch an der Nabelschur hängend begrüße ich diese Welt mit kräftigem Geschrei. Meine große Schwester Hildegard erzählte mir später einmal, mein Geplärre hätte sich angehört wie Hurraaa! Hurraaa! Hurraaa! Kein Wunder meiner späteren Affinität für das Soldatentum. Ich persönlich meine aber mein Geschrei klang mehr nach Hungerrr! Hungerrr! Hungerrr! Nachdem die Hebamme mich abgenabelt, gewaschen und danach an Mutters Brust zum Stillen angelegt hatte schlief ich satt und vor Erschöpfung ein. Vater begrüßte mich mit einem obligatorischen kräftigen Schluck aus seiner Cognacflasche und danach trat erst mal Ruhe ein im Amtsgericht; denn von nun an ging´s bergab mit mir, uns Krögers und den Deutschen im Besonderen. Denn dieser Schlamassel fing lange vor mir, vor mehr als hundertdreiundneunzig Jahren an, und zwar mal wieder in Berlin, als Friedrich der Große den Thron übernahm.
Pommern auch das Land der Tausend Seen genannt, wurde 1814/15 auf dem Wiener Kongress unter preußischer Verwaltung gestellt.
Preußen, ein ehemaliges Königreich und Land im Deutschen Reich. Ende des 19. Jahrhunderts, zurzeit seiner größten Ausdehnung, erstreckte sich Preußen von den Küsten der Nord- und Ostsee im Norden bis zur Schweiz im Süden und Österreich. Ungarn im Süden und Südosten, von Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Luxemburg im Westen bis zum russischen Reich im Osten. Das moderne Preußen war mit großen territorialen Veränderungen nacheinander ein souveränes Königreich (1701 - 1888), das größte Königreich innerhalb des Deutschen Reiches (1888 - 1918), ein Bundesstaat in der Weimarer Republik (1919 - 1933) und eine Verwaltungseinheit mit dreizehn Provinzen im Nazi-Reich (1933 - 1945).
Preußen, das war 1933 auch Hinterpommern, mein Heimatland mit meiner Geburtsstadt Massow (heute Maszewo) am Warsower See gelegen mit seinem im hanseatisch gotischen Backsteinbaustil errichtetem großen Amtgericht auf Postkarten ausgewiesen und über die Kriege hinweg bis 1945 äußerlich heil geblieben im Dreieck der bekannteren Städte Stargard, Naugard und Gollnow gelegen. Im Sommer von weiten goldenen Kornfeldern und im Herbst von braunen Kartoffelfeldern umgeben. Pommern, das war damals die Kornkammer Deutschlands mit dem Armenhaus Hinterpommern. Hier hatten die Junker, die Steigbügelhalter meines Ehrenpaten Adolf Hitler überwiegend ihre Güter, die sie von armen, devoten Deputatarbeitern, darunter auch sehr viele Polen, bewirtschaften ließen. Und der ehemalige Landesfürst soll zu seinem Bischof seinerzeit gesagt haben: Ich halte sie (das Volk) arm und du hältst sie dumm!
»Ein Ochs vor dem Pflug, zwei dahinter«; hieß es damals im Volksmund. Das sollte sich ab dem drittem März 1944 für die meisten Pommern ändern. Aber bis dahin floss noch viel Wasser die Oder hinab.
Und obwohl nach der Geburt eines gesunden Kindes bei dem Vater Freude aufkommen sollte, soll mein Vater an diesem zweiten Mai 1933 auf dem Standesamt lauthals über meinen Ehrenpaten, Adolf Hitler, geflucht haben. Und obwohl von jung auf an Sozialdemokrat, wurde mein Vater wie die meisten preußischen Beamten nach 1933 ein angepasster Opportunist, der sich aus welchen Gründen auch immer, bei meiner Namensgebung dem Standesbeamten gegenüber dazu hinreißen ließ, den glorreichen Führer Adolf Hitler als meinen Ehrenpaten zu benennen, weil es dafür ein Patengeld von einhundert Reichsmark vom Führer gegeben hat. Und so wurde jener bares Geld werte Name hinter meinem ersten gepackt, und ich hieß von nun an Sigurd Adolf.
Doch war ich nicht der einzige, der der Familie ein gutes »Patengeld« einbrachte. Vierzehn Monate später wurde mein Bruder Siegmund Herrmann nach Hermann Göring benannt; denn Hermann brachte ebenfalls entsprechendes Patengeld, welches den »Neuangekömmlingen« im Dritten Reich zu Verfügung gestellt wurde, wenn man Hermann Göring zum Ehrenpaten erkor. Ein Glück das der ganze Nazispuk am achten Mai 1945 vorbei war, denn sonst hätte Mutter bestimmt noch das Goldene Mutterkreuz mit »Schwertern und Brillianten« erhalten.
Bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme durch meinen Ehrenpaten, ließ dieser die Gewerkschaften auflösen und just am Tage meiner Geburt am 02. Mai 1933 wurde das Berliner Gewerkschaftshaus am Engelufer von der SA besetzt. Gewerkschafter und mein parteipolitisch tätiger Vater wurden ihrer politischen Einflussmöglichkeiten beraubt. Alles Schnee von gestern; vergangen, verweht.
Wer weiß denn heute noch, wie dazumal der Leiter der Deutschen Arbeitsfront – Hitlers Gewerkschaft – geheißen hat? Heute werden neben Hitler als einst allmächtige Nazi-Größen vielleicht noch Göring oder Goebbels genannt.
Und sollte im ARD-Fernsehquiz »Das Quiz« nach der Nazi-Größe gefragt werden, der »Meier« heißen wollte, wenn je ein feindliches Flugzeug über Deutschland erscheint oder nach Bormann, Himmler oder Eichmann gefragt werden, kann mit teils richtiger Antwort, aber auch mit ratloser Geschichtsferne gerechnet werden und schon gäbe es für den smarten Quizmaster Anlass, den Verlust von soundsoviel tausend Euro und das Ende des Fernsehauftritts mit einem mitleidigem Lächeln zu quittieren.
Doch wer, außer den alten Geschichtsprofessoren, kennt heutzutage Robert Ley? Dabei war er es gewesen, der gleich nach der Machtergreifung meines Ehrenpaten alle Gewerkschaften aufgelöst, deren Kassen geleert, deren Häuser mit SA-Räumkommandos besetzt und deren Mitglieder – Millionen an der Zahl – in der Deutschen Arbeitsfront zwangsorganisiert hat. Ihm, dem Homo sapiens mit Mondgesicht und Hitler-Scheitel, fiel es ein, allen Staatsbeamten, danach allen Lehrern und Schülern, schließlich den Arbeitern aller Betriebe die erhobene Hand und den Ruf »Heil Hitler« als Tagesgruß zu befehlen. Er war es, der von meinem Ehrenpaten den Auftrag erhielt, einen Standort zu suchen, in dem der von den Nationalsozialisten propagierte Volks-Wagen, das Automobil für das Volk, produziert werden konnte. Weil die damalige Automobilindustrie an eine Subventionierung eines Volkswagens kein Interesse hatte – im Gegensatz zu heute - beauftragte Hitler – mein Ehrenpate als »homunkulusischer« VW-Visionär - die Deutsche Arbeitsfront (DAF) mit dem Bau der größten Automobilfabrik Europas. Am 28. Mai 1937 wurde unter Aufsicht von Robert Ley, dem Leiter der DAF, die »Gesellschaft zur Vorbereitung des Deutschen Volkswagens mbH« (GezuVor) gegründet. Ihr erstes und einziges Produkt sollte der »KdF-Wagen«(Kraft durch Freude für alle Auto-Raser) werden. Die DAF finanzierte den Werksaufbau in der neu gegründeten »Stadt des KdF-Wagens«, dem heutigen Wolfsburg vor allem aus dem Verkauf des 1933 beschlagnahmten Gewerkschaftsvermögens. Des Weiteren ist Robert Ley die Idee gekommen, auch den Urlaub der Arbeiter und Angestellten zu organisieren – die SED im »Neuen Deutschland« hat nach ihrer Gründung 1946 im Gedenken an die NAZI - Geschichte daran partipiziert – den Arbeitern unter dem Motto »Kraft durch Freude« billige Reisen in die bayrischen Alpen und ins Erzgebirge sowie Urlaub an der Ostseeküste und am Wattenmeer, zu ermöglichen. Da kam Freude auf in der damaligen Arbeiterschaft der »Deutschen Arbeitsfront«.
Heute; siebzig Jahre nach Gründung von VW hat die »Deutsche Arbeitsfront« weniger Freude an VW. Im Wirtschaftsteil des Wiesbadener Kurier vom 18. September 2007 stand zu lesen, der Mitbestimmungsstreit mit Porsche spitzt sich weiter zu: VW-Betriebsrat reicht Klage ein, weil der Betriebsrat glaubt…, dass die bei Porsche getroffene Mitbestimmungsvereinbarung nichtig ist... mit Blick auf die Mitbestimmungsvereinbarung der neuen Porsche-Holding… Porsche hält knapp 31 Prozent Anteil an Volkswagen, hat sich aber bereits Optionen für weitere VW-Aktien gesichert. Quintessenz: Der alte Henry Ford hat geirrt: »Autos kaufen sehr wohl Autos«! Und die »Deutsche VW-Arbeitsfront« sollte aufpassen, dass sie nicht zum zweiten Mal abgezockt wird.
Mein Vater war im Amtsgericht als Justizbeamter beschäftigt und hatte dort eine Dienstwohnung zu der ein großer Garten gehörte. Dieser Garten war das »KdF-Hobby« meines Vaters und zugleich der Gemüselieferant für die Großfamilie. Meine größeren Geschwister verfluchten diesen Garten als »Strafkolonie«, weil die Aufzucht des Gemüses sowie die Pflege der Gartenpflanzen meinen großen Geschwistern oblag.
Wenn die Freunde meiner größeren Geschwister nach der Schule Ball spielten, mussten meine großen Geschwister jäten, kompostieren, die Beete hacken, die Pflanzen wässern und alle die Dinge unter der strengen Knute des Vaters erledigen, die in einem großen Garten anfallen. Dazu beackerte unser Vater ein großes Tabakfeld hinter dem Bahnhof, das natürlich zur Tabakernte sehr arbeitsintensiv war, denn der Tabak wurde nicht nur für den Eigenbedarf, bis hin zur Zigarre, aufwändig weiterverarbeitet. Verständlich, dass sich die größeren Geschwister diesem, von ihnen ungeliebten familiären Arbeitseinsatz manchmal durch unerlaubtes Entfernen von der »Arbeitstruppe« entzogen und sich sodann zusätzlichen »Arbeitskarzer« einhandelten. Das führte zu großen Spannungen zwischen ihnen und Vater, denn der scheute sich nicht, die Proteste und Aufsässigkeit meiner größeren Geschwister mit Brachialgewalt zu brechen.
Ich selbst war von diesem Reglement bis zu meiner Einschulung befreit und hatte bis dahin nur zu gehorchen, zu essen was auf den Tisch kam und zu wachsen. Keines meiner ausgewachsenen Geschwister ist unter Einmeterachtzig. In der Schule war ich sodann der lange Lulatsch und wurde deswegen oft gehänselt - später bei der Bundeswehr mit Einmeterneunzig rechter Flügelmann, hatte ich auch dort zu leiden.
Vater und Mutter wuchsen in Schneidemühl auf und hatten dort, wie ich später aus ihren Erzählungen erfuhr, eine schwere Jugendzeit. Mutter erzählte oft, dass sie bereits als dreizehnjährige Zigarrendreherin zum Unterhalt ihrer Familie beitragen musste. Mein Vater war aktiver Soldat im ersten und spät im zweiten Weltkrieg »Volkssturmmann«. In jungen Jahren den Spartakusbund hofierend sowie eingeschriebenes SPD-Parteimitglied der ersten Stunde, machte er auch im Dritten Reich aus seiner sozialistischen Gesinnung nie einen Hehl.
Mutter behauptete später immer: „Dass euer Vater nicht in eines der damaligen Konzentrationslager wegen seiner sozialistischen Gesinnung eingesperrt wurde, hat er nur mir, meinem »Goldenen Mutterkreuz« und euch vielen Kindern zu verdanken“.
Bis hierhin ergeben die Fakten das Bild eines preußisch, bürgerlich gefestigten Ehepaares, das aber, wie sich noch zeigen wird, seine dem Nationalismus angepasste opportunistische Lebensart nur vortäuschte; denn Anfangs unterschwellig, später offen heraus - aber nur wenn Vater angesäuselt war - und lange geduldet von seinem Dienstvorgesetzten, Amtsgerichtsrat Dr. Funk, nutzte der Justizhauptsekretär seinen angeborenen Mutterwitz und seinen »Pommerschen Dickschädel« erfolgreich, um sich den ständigen Forderungen des Ortsgruppenleiters nach Beitritt in die NSDAP zu entziehen, ließ sich aber auf den vereidigen, den die Vorsehung als Führer auserkoren hatte.
Heute weiß man, es war ein schwerer Geburtsfehler der Weimarer Republik gewesen, dass die Revolutionsbewegung niedergeschlagen wurde, dass grundlegende Reformen unterblieben. Von Anfang an habe die Weimarer Republik kaum eine Überlebenschance gehabt, sagen die Historiker. Wer einmal in Frankreich den Nationalfeiertag via Fernsehen oder direkt erlebt hat, der weiß, was historisch gewachsenes bürgerliches Selbstbewusstsein ist, was es heißt, Identität aus selbstverständlichen revolutionären Traditionen zu beziehen. Natürlich erstürmen die Franzosen die Bastille nicht jedes Jahr aufs Neue aber sie feiern das Ereignis, doch ist das Bewusstsein von Macht und Stärke des französischen Volkes lebendig bis ins kleinste Dorf. Und bei uns? Bei uns ist alles anders, wie man heute weiß. Somit darf festgestellt werden, der deutsche Nationalstaat wurde nicht in der Frankfurter Paulskirche geschaffen, sondern von Bismarck als kleindeutsche Lösung mit »Blut und Eisen«.
Dass danach irgendwann eine Revolution gewesen sein soll, würden die meisten Bundesbürger, das ist des nunmehr alten Knaben feste Überzeugung, bestreiten – jedenfalls im Westen Deutschlands. Die Novemberrevolution 1918 ist in des Deutschen Geschichtsbewusstseins genau so lebendig wie die Geschichte von 1933 - 1945. Denn in der Nachkriegsschulzeit war das Thema Hitler und die Nazizeit tabu. Warum eigentlich? Man kann sich aus seiner Geschichte nicht einfach davonstehlen und im Übrigen; Wahrheit befreit. Und der späte Knabe Sigurd Adolf ward ein wenig traurig und missmutig über die scheinheilige Geschichtsbetrachtung der damaligen Erwachsenen. Aber noch bestand meine Geschichtsbetrachtung und Lebensauffassung aus der Massower Schulzeit, meinem älteren Schulfreund Eberhard und der Hitlerjugend.
Die Schule war aus. Über dem mit weißen Kalksteinen und einem großen roten Kreuz gepflasterten Hof - die Schule war als Reservelazarett vorbereitet - strömten die Scharen der vom Unterricht Gestressten heraus aus der Schulhofpforte, teilten sich und eilten nach rechts und links. Die großen Schüler trugen mit Würde ihre Büchertasche unter dem linken Arm geklemmt, indem sie mit dem rechten Arm wider den Wind dem Mittagessen entgegen ruderten. Das Jungvolk setzte sich lustig in Trab, die Arme ausgebreitet, Flugzeuggebrumm und Stukaflieger imitierend – denn einer unserer ehemaligen Mitschüler war inzwischen Träger des Ritterkreuzes mit Eichenlaub und Schwertern und damit einer der hoch dekorierten jungen Kampfflieger bei Reichsmarschall Hermann Göring und das spornte das Jungvolk an, es ihm gleichtun zu wollen, wobei die sieben Sachen der Pädagogik in den Schultornistern klapperten. Und hier und da rissen einige der Schüler mit glühenden Augen den rechten Arm, die rechte Hand gestreckt zum Hitlergruß empor und riefen dem mit Hut, steifem weißen Kragen und Führerbart gemessen nach Hause schreitenden Rektor zu: „Heil Hitler“!
„Kommst du endlich?“ sagte ich zu meinem besten Schulfreund, denn ich hatte lange auf dem Bürgersteig vor der Schule auf ihn gewartet; lächelnd trat ich meinem Freund Eberhard Pommerenke entgegen, der im Gespräch mit anderen Schulkameraden aus der Pforte kam und schon im Begriff war, mit ihnen davon zu gehen.
„Wieso, fragte er und sah mich fragend an“. Ach, ja, eben fällt es mir wieder ein! Nun gehen wir noch ein bisschen zusammen. Ich blieb stumm und ertappte mich dabei, wie sich meine Augen trübten. Hatte Eberhard es vergessen, fiel es ihm jetzt erst wieder ein, dass wir vor dem Mittagessen ein wenig zusammen spazieren gehen wollten? Und ich selbst hatte mich seit unserer Verabredung beinahe unausgesetzt darauf gefreut!
„Ja, machst gut ihr“! sagte Eberhard Pommerenke zu seinen Klassenkameraden.
„Ich gehe noch ein bisschen mit Sigurd Kröger“.
Und wir beide hatten Zeit spazieren zu gehen, weil wir Familien angehörten, in denen erst um zwei Uhr zu Mittag gegessen wurde; weil dadurch die Kaffezeit eingespart wurde. Unsere Väter waren Honoratioren, die öffentliche Ämter bekleideten und geachtet waren in der Stadt. Den Pommerenkens gehörte schon seit Menschengedenken die Gärtnerei mit dem Saatzucht-Betrieb unten am Massower See sowie das Wein-Kontor in der Stadt und ihren Lieferwagen mit dem breiten schwarzen Firmenaufdruck konnte man Tag für Tag durch die Straßen kutschieren sehen; und ihr großes altes Haus war das herrschaftlichste in der Stadt. Meine Eltern lebten in einer großen, schönen Dienstwohnung im größten und imposantesten Haus der Stadt, dem Amtsgericht, wo mein Vater als Gerichtsvollzieher - bei den Wohlhabenden anerkannt, bei den Armen gehasst und deshalb im Volksmund »Der Vollstrecker« genannt – sowie als Urkundsbeamter und Bürovorsteher tätig war. Beständig mussten wir beide der vielen Bekannten wegen, unsere Mützen vom Kopf ziehen und von manchen Leuten wurden wir Buben sogar zuerst gegrüßt. Wir hatten unsere Schultaschen über die Schulter gehängt, und waren stets gut gekleidet, denn Kleider machen Leute, wie unsere Eltern immer sagten. Eberhard Pommerenke in einem grauen, feinem Mantel, ich in einer kurzen Jacke. Auf dem Kopf trug Eberhard eine große Marinemütze mit kurzen Bändern, unter denen der Schopf seines blonden Haares herausquoll. Er war von auffallender Statur, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, mit frei liegenden und scharf blickenden strahlenden, blauen Augen. Ich sagte nichts; weil ich Wut empfand und deshalb meine buschigen Brauen zusammenzog und meine Lippen zum Pfeifen gerundet hielt, blickte ich seitwärts geneigten Kopfes beleidigt in die Weite. Dies war meine Haltung, wenn mir etwas gegen den Strich ging. Und Eberhard ging mir heute gewaltig gegen den Strich, denn er hatte mich offensichtlich vergessen.
Plötzlich schob Eberhard seinen Arm unter dem meinen und sah mich dabei von der Seite an, denn er ahnte sehr wohl, was in mir vorging. Und obgleich ich auch bei den nächsten Schritten noch schwieg, war ich auf einmal sehr versönlich gestimmt.
„Ich hatte unsere Verabredung nicht vergessen, Sigurd, sagte Eberhard verlegen und blickte vor sich nieder auf den Bürgersteig, sondern ich dachte nur, dass heute doch wohl nichts daraus werden könnte, weil es ja so heiß und schwül ist“. Aber mir macht das nichts aus, und ich finde es prima, dass du trotzdem auf mich gewartet hast. Ich glaubte auch schon, du seiest nach Hause gegangen und ärgerte mich bereits. Ich geriet innerlich vor Zorn in Wallung bei dieser scheinheiligen Ausrede.
„Ja, lass uns jetzt gehen! Sagte ich mit bewegter Stimme; über die alten Wallanlagen in Richtung Bahnhof bringe ich dich nach Hause, Eberhard, Gott und Führer mit uns - es schadet gar nichts, dass ich dann meinen Heimweg allein mache; das nächste Mal begleitest du mich nach Hause; ist doch klar, manich“?
Im Grunde glaubte ich nicht allzu sehr an das was Eberhard gesagt hatte und fühlte genau, das er nur halb so viel Gewicht auf diesen Spaziergang legte, wie ich.
Wiederum bemerkte ich doch, dass Eberhard seine Vergesslichkeit bereute und bemüht war, mich zu versöhnen. Und ich war weit von der Absicht entfernt, diese Versöhnung zu ignorieren.
Im Grunde war es doch so das ich Eberhard Pommerenke zutiefst mochte; ja, ihn besonders gerne mochte, so wie meine Schwestern. Wer am intensivsten liebt ist oft der Unterlegene und muss leiden. Diese schlichte und harte Lehre hatte ich als fast zwölfjährige Seele bereits vom Leben zur Kenntnis genommen; und ich war so gestrickt, dass ich solche Erfahrungen in früher Jugend bemerkte und sie gleichsam innerlich speicherte und gewissermaßen meine Freude daran hatte, ohne mich freilich für meine Person danach zu richten oder gar im späteren Leben praktischen Nutzen daraus zu ziehen. Auch war es so um mich bestellt, dass ich solche Lehren weit wichtiger und interessanter erachtete als die Kenntnisse, die man mir in der Schule versuchte beizubringen, ja das ich mich während der Unterrichtsstunden in den alten Klassengemäuern oftmals damit abgab, solche Einsichten aus tiefstem Grunde meiner Seele zu empfinden oder sie mir auch grübelnd völlig neu auszudenken. Und diese Beschäftigung bereitete mir eine ganz ähnliche Genugtuung wie die, als wenn ich in meinem Zimmer mit meiner Mundharmonika umhergehend experimentierende Töne so weich und so leise wie nur möglich hervorspielte und diese sich danach mit dem Rauschen des alten Kastanienbaumes vereinigten, der drunten im Vorgarten des Amtsgerichtes stand. Der alte Kastanienbaum, meine Mundharmonika, der Massower See und in der Ferne das Stettiner Haff, die Ostsee, deren sommerlichen Traumgespinste ich mich ganz besonders gerne in den Ferien hingab, sie waren der Stoff meiner Träume, die ich liebte, mit denen ich mich gleichsam umgab und zwischen denen sich mein inneres junges Leben damals abspielte.
Weil ich daheim meine Zeit verplemperte, beim Unterricht oft träumte und geistesabwesend war und bei den Lehrern schlecht angesehen war, brachte ich meistens schlechte Zensuren nach Hause, worüber mein Vater, der immer eine akkurate Bügelfalte in seinem Dienstanzug trug, sich sehr zornig und betroffen zeigte. Manchmal dachte ich etwa so:
Es ist schon richtig, dass ich bin, wie ich bin und mich auch nicht ändern will und kann, nachlässig, verträumt, widerspenstig und auf die Dinge bedacht, an die sonst niemand denkt. Wir sind doch keine Deputatarbeiter im grünen Zigeunerwagen, sondern anständige preußische Bürgersleute, der Gerichtsvollzieher, Urkundsbeamte und Bürovorsteher Joseph Kröger, die Familie derer von Krögers... mit meinen schon erwachsenen Geschwistern, wovon vier Brüder schon dem Führer, meinem Ehrenpaten, dienten. Nicht selten dachte ich auch: Warum bin ich nur so anders und in Widerstreit mit allem, unbeliebt bei den Lehrern und von den anderen Jungen nicht angenommen? Siehe sie dir an, die guten Schüler und die von solider Mittelmäßigkeit. Sie finden die Lehrer nicht komisch, sie versuchen sich nicht in Versen und denken nur an Dinge, an die man eben denkt oder zu denken hat und die man laut aussprechen kann und dienten bereitwillig, im Gegensatz zu mir, in der Hitlerjugend. Wie ordentlich und einverstanden mit allen und jedermann sie sich fühlen müssen! So sollte es sein... Was aber ist mit mir und wie wird dies alles noch enden? Diese Art und Weise mich selbst und mein Verhältnis zum Leben zu betrachten, spielte eine wichtige Rolle in meiner treu ergebenen Zuneigung zu Eberhard Pommerenke.
Eberhard war ein guter Schüler und strammer Hitlerjunge, wie ihn sich der Führer wünschte; der ritt und turnte, beim Laufen schnell wie ein Windhund, beim Schwimmen schnell wie ein Delfin, schlank und rank wie eine Tanne war und sich der allgemeinen Beliebtheit der ganzen Stadt erfreute. Die Kameraden waren auf seine Gunst bedacht, denn er war auch HJ-Jungscharführer und auf der Straße hielten ihn die Honoratioren und Frauen an, tätschelten seinen Kopf und fassten ihn an dem Schopfe seines lockigen blonden Haares und sagten: „Grüß mir deine lieben Eltern!“ Das war mein Schulfreund Eberhardt.
So war Eberhard Pommerenke, und seit ich ihn kannte, empfand ich Sehnsucht, sobald ich ihn erblickte; eine neidische Sehnsucht, die oben in der Brust saß und zuweilen brannte.
Wer so blaue Augen hatte, dachte ich, und so in Ordnung und in glücklicher Gemeinschaft mit allen in der Stadt lebt, wie du! Stets bist du auf eine wohlanständige und allgemein respektierte Weise beschäftigt. Wenn du die Schulaufgaben erledigt hast, dann nimmst du Reitstunden oder arbeitest mit dem Zeichenstift und selbst in den Ferien am Stettiner Haff, an der Ostsee oder am Massower See, frönst du dem Rudern, Segeln und Schwimmen, indes ich müßiggängerisch und verloren am Ufer liege und auf die geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele starre, die über des stillen Sees glattes Antlitz huschen. Aber gerade darum sind deine Augen ja so klar. Zu sein wie du... Obwohl ich den Wunsch hatte, machte ich nicht den Versuch, zu werden wie Eberhard Pommerenke und im Grunde war es mir, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, nicht einmal sehr ernst mit diesem Wunsch.
Eberhard, der übrigens eine gewisse Überlegenheit meinerseits ihm gegenüber achtete, nämlich die Gewandtheit meines Mundes, die mich befähigte, schwierige Dinge auszusprechen und nieder zu schreiben, begriff wohlwollend, dass hier eine ungewöhnlich starke kameradschaftliche Empfindung für ihn lebendig sei. Er erwies sich dankbar und bereitete mir manches Glück bereits durch seine freundlichen Blicke - aber auch manche Pein der Enttäuschung und der vergeblichen Mühe, eine gemeinsame geistige Gemeinschaft zu etablieren. Es war schon merkwürdig, das ich, der Knabe Sigurd Adolf, der Eberhard Pommerenke wiederum um seine Wesensart beneidete, ständig versuchte, ihn zu meiner eigenen herüberzuziehen, was mir teilweise für Augenblicke und auch dann nur scheinbar gelang...
„Du, Eberhard, ich habe kürzlich etwas Tolles gelesen, etwas Heroisches“, sagte ich zu ihm. Wir gingen und aßen gemeinsam aus einer spitzen Tüte Sahnebonbons, die wir beim Kaufmann Rabe in der Naugarder Straße für zwanzig Pfennige gekauft hatten. „Musst du unbedingt lesen, Eberhard, es ist nämlich »Mein Kampf« vom Führer… ich leihe es dir, wenn du willst“…
„Ach nein, sagte er,“ lass man, Sigurd, das ist nichts für mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du… famose Abbildungen sind darin, sage ich dir. Wenn du mal wieder bei mir zu Hause bist, zeig ich sie dir. Es sind Augenblicksfotografien, und man sieht die Gäule im Trab, im Galopp und im Sprung, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar nicht zu sehen bekommt, weil es so schnell geht“…
„In allen Stellungen“? fragte ich höflich. Ja, stell dir vor, sogar beim Beschälen der Stuten. Oh, das muss toll sein in Wirklichkeit. Was aber »Mein Kampf« betrifft, so geht das über alles Begreifliche. Es sind Stellen darin, du wirst sehen, die so toll sind, dass es einem innerlich einen Ruck gibt, als wenn es gleichsam knallt“…
A propus, knallt! Hörst du in letzter Zeit nicht auch das unheimliche Grollen, das Grummeln in der Ferne?
„Knallt es“? fragte Eberhard schelmisch… Wieso? Nö, ich höre nichts!
Du Eberhard, da ist zum Beispiel eine Stelle in »Mein Kampf«, wo der Führer das Recht des Stärkeren postuliert und die »Gewinnung von neuem Lebensraum im Osten« zur entscheidenden Existenzfrage des deutschen Volkes erklärt. Bedenke: Existenz! Bestehen! Vorhandensein! Sein oder nicht sein; das ist hier die Frage und welch eine Zukunft für uns junge Deutschen, denn wir werden für die Germanisierung und für die Festigung deutschen Volkstums in diesen neuen Lebensräumen unabkömmlich sein, sagt mein Vater…
Eberhard sah mich von der Seite her an, und irgendetwas in meinem Gesicht musste ihn wohl dem Grunde nach gewonnen haben, denn er schob plötzlich wieder seinen Arm unter meinem und fragte: Sind wir denn dort auch willkommen, Sigurd“? Ich geriet in Erregung. „Ja, die Sache ist… fing ich an zu erklären“…
Da! „Schau doch mal, wer da kommt; da kommt Erwin Silbermann“ sagte Eberhard. Ich verstummte. Möchte ihn doch, dachte ich, der Teufel holen, diesen „Silberling“! Warum muss der gerade jetzt erscheinen und uns stören! Wenn er nur nicht mit uns geht und den ganzen Weg von den Reitstunden spricht… denn Erwin Silbermann hatte ebenfalls Reitstunden und war in meinen Augen ein Schleimer und Streber. Er war der Sohn des Sparkassendirektors und wohnte draußen in einem schönen Haus am Seegrund. Mit seinen krummen Beinen und Schlitzaugen kam er uns bereits ohne Schulmappe, durch die Allee entgegen.
„Tag, Silbermann“, sagte Eberhard. „Ich gehe ein bisschen mit Kröger“…
„Ich muss zur Stadtapotheke“, sagte Silbermann und etwas besorgen. Aber ich gehe noch ein Stück mit euch… Sind das Sahnebonbons, die ihr da habt? Ja, danke, lutsche gerne ein paar mit euch. Morgen haben wir wieder Stunde, Eberhard. Es war die Reitstunde gemeint. „Famos“! antwortete Eberhard. „Du, ich bekomme jetzt lederne Reitstiefel, weil ich neulich wieder ne Eins in der Klausur hatte“…
„Du hast ja wohl keine Reitstunden, Kröger“? fragte Silbermann, und seine Augen waren ein paar blanke hämische Ritzen… „Nein“… antwortete ich mit undeutlicher Betonung.
„Du solltest, bemerkte Eberhard Pommerenke, deinen Vater bitten, dass du auch Reitstunde bekommst, Kröger“.
„Ja, ja“ sagte ich hastig und gleichgültig. Einen Augenblick schnürte es mir die Kehle zusammen, weil Eberhard mich mit Nachnamen angeredet hatte; und Eberhard schien dies auch zu spüren, denn er sagte erläuternd: „Weißt du, ich nenne dich Kröger, weil dein Vorname so altertümlich klingt, du, entschuldige, aber ich mag ihn nicht. Sigurd Adolf… Das sind doch überhaupt keine schönen Vornamen. Aber du kannst ja nichts dafür, manich“!
„Nein, du heißt wohl so, weil er schön nordisch altdeutsch klingt und trotzdem etwas Besonderes ist… Sigurd; besser wäre Sigurd der Drachentöter“, sagte Silbermann anzüglich - in der Stadt munkelte man, seine Urgroßeltern könnten Juden gewesen sein; was nicht stimmen konnte, denn als Bankdirektor musste sein Vater Arier sein! - und tat, als ob er es zum Guten reden wollte. Mein Mund zuckte und ich hätte beiden am liebsten eine Mauschelle verpasst! Ich nahm mich jedoch zusammen und sagte: „Ja, es sind halt Namen, die in die neue Zeit und zum Führer passen wie meine Mutter mir erklärte; aber glaubt mir, ich möchte, weiß Gott, auch lieber Bernhard oder Erwin heißen, das könnt ihr mir glauben“. Dann schwieg ich und ließ die beiden von Pferden und Sattelzeug sprechen. Eberhard hatte Silbermann untergefasst und redete mit einer belanglosen Teilnahme, die mit »Mein Kampf« niemals in ihm zu erwecken gewesen wäre… Und nach und nach fühlte ich, wie der Drang zu weinen mir prickelnd in die Nase stieg; auch hatte ich Mühe, mein Kinn in der Gewalt zu behalten, das beständig vor innerer Wut ins Zittern geriet…
Ich konnte meinen Vornamen auch nicht leiden, - was war dagegen zu tun? Nichst! Pommerenke selbst hieß Eberhard, und Silbermann Erwin, gut, das waren allgemein anerkannte Namen, die niemand befremdeten. Aber »Sigurd« der nordische Rächer – hatte für mich etwas Schauerliches; ich wollte nie irgendwen rächen oder etwas Anderes zugleich. Wiederum alles altnordisch Germanische war in der Hitlerjugend besonders willkommen und Sigurd ist ein Held in der nordischen Mythologie. Ja, es war in allen Teilen etwas Besonderes mit mir, ob ich wollte oder nicht. Und trotzdem fühlte ich mich allein und ausgeschlossen von den Ordentlichen, von den herausgehobenen Hitlerjungen. Obgleich ich doch kein Kind im grünen Wagen war sondern ein Arier, ein Sohn des preußischen Gerichtsvollziehers Kröger, aus der Familie der Krögers, von denen schon drei meiner Brüder dem Führer dienten…
Aber warum nannte Eberhard mich Sigurd, solange wir allein waren, kam ein Dritter hinzu, nannte er mich Kröger, fing er an, sich meiner zu schämen? Zuweilen war ich ihm nahe und zugetan, ja. Auf welche Weise verrät er mich denn, fragte ich mich? Und er hatte meinen linken Arm untergefasst. Aber als dann Silbermann dazu gekommen war, hatte er dennoch erleichtert aufgeatmet, hatte mich, der ich ihn doch so mochte, verlassen und mir ohne Not meine eigenartigen Rufnamen vorgeworfen? Wie weh das tat, dies alles durchschauen zu müssen!
…Eberhard hatte mich im Grunde schon ein wenig gern, wenn wir unter uns waren, ich wusste es. Aber kam ein dritter dazu, so schämte er sich offensichtlich meiner und opferte mich manchmal auf den Altar des Gespötts. Und dann fühlte ich mich allein gelassen und einsam.
Ich dachte an den Führer. Der war in seiner Festungshaft auch allein; und die machte ihn für mich heroisch…
„Oh, je mi ne“, sagte Erwin Silbermann, nun muss ich aber wirklich zur Stadtapotheke. Macht´s gut, ihr beiden und Dank für die Sahnebonbons und hüpfte auf seinen O-Beinen davon.
„Silbermann kann ich gut leiden“; sagte Eberhard mit Nachdruck. Er hatte eine verdammt verwöhnte und selbstbewusste Art, seine Sympathien und Abneigungen kundzutun, sie gleichsam gnädig zu verteilen… Und dann fuhr er fort von seiner Reitstunde zu erzählen, weil er nunmehr am Zuge war. Es war auch nicht mehr so weit bis zu Pommerenkes Wohnhaus; der Weg über den alten Stadtwall nahm nicht so viel Zeit in Anspruch. Und Eberhard Pommerenke sprach, während ich nur dann und wann ein künstliches ach und ja, ja, einfließen ließ, ohne Freude darüber, dass Eberhard mich im Eifer des Gesprächs wieder untergefasst hatte, denn das war nur eine scheinbare Annäherung ohne Bedeutung.
Dann verließen wir die alten Wallanlagen nahe dem Bahnhof, sahen den Zug von Massow mit dampfender Eilfertigkeit nach Gollnow vorüberschnaufen, zählten zum Zeitvertreib die Wagons und winkten dem Manne zu, der auf der Plattform des letzten Abteils des Personenzuges stand und seine Pfeife rauchte. Und am Wiesengrund, vor Großhändler Pommerenkes Villa, blieben wir stehen, und Eberhard zeigte ausführlich, wie amüsant es sei, sich auf die große Gartenpforte zu stellen und sich in deren Angeln hin und her zu schlenkern, dass es nur so quietschte. Und hierauf verabschiedete er sich.
„Ja, nun muss ich“, sagte er. „Tschüss, Sigurd! Das nächste Mal begleite ich dich nach Hause, darauf kannst du wetten“.
„Auf Wiedersehen, Eberhard, sagte ich, „es war nett mit dir spazieren zu gehen, im übrigen; wir sollten uns mal wieder mit den anderen Kameraden zum Hockeyspielen auf den Kälberwiesen treffen, noch sind die trocken; denn du weißt ja, mit Beginn des Herbstes werden sie wieder überschwemmt! Meinst du nicht auch“? „Mal sehen, antwortete Eberhard Pommerenke“.
Als Eberhard in meine Augen sah, glaubte ich, so etwas wie ein reumütiges Besinnen in seinem Gesicht zu sehen.
„Übrigens Sigurd, auch ich werde demnächst des Führers »Mein Kampf« lesen, wetten das? sagte er zum Abschied. Dann nahm er seine Schulmappe unter dem Arm und lief durch den Vorgarten. Bevor er im Hause verschwand nickte er noch einmal lächelnd zurück.
Eberhard würde »Mein Kampf« lesen und dann würden wir etwas Gemeinsames haben, worüber weder Erwin Silbermann noch irgendeiner der anderen Mitschüler mitreden konnte! Denn in unserer Schule waren immer noch »Die Räuber« der Klassiker. Wie gut wir uns doch miteinander verstanden! Wer weiss, - vielleicht brachte ich ihn doch noch dazu, ebenfalls heroische Verse über den Führer zu schreiben?
Nein, nein, das wollte ich nicht! Eberhard sollte nicht werden wie ich, sondern bleiben, wie er war, ein schöner Adonis und stark wie alle ihn mochten und ich, »Sigurd Adolf« am meisten! Aber wenn er »Mein Kampf« lesen sollte, würde es ihm trotzdem nicht schaden; im Gegenteil, dann hätten wir etwas Gemeinsames.
Und ich ging weiter durch das alte gotische Stadttor über den Wall zurück; die Naugarder Straße mit den schönen alten Kastanienbäumen entlang zum Amtsgericht, zum Haus meiner Eltern als ich plötzlich Marschgesang vernahm. Vom Bahnhof kommend marschierte eine Vorhut von Soldaten der Kurland-Division in unsere Stadt. Ich lief freudig nach Hause und noch im Flur rief ich: „Mutti! Mama! Soldaten sind in unserer Stadt“!
Massow war mit dem Einmarsch der singenden Kurlandtruppe ab sofort Garnisonsstadt und Teile des Divisionsstabes nahmen bei uns im Amtsgericht Quartier. Welch ein Leben, welch ein Treiben war ab diesem Tage in dieser bisher langweiligen pommerschen Kleinstadt. Was ich nicht wusste, Teile des Divisionsstabes der Kurland – Division hatten bereits im Laufe des Vormittags, während ich noch in der Schule war, Quartier bei uns im Amtsgericht bezogen. Welch ein Leben, welch ein Treiben war ab diesem Spätsommertag 1944 in dieser so langweiligen Kleinstadt in Hinterpommern, denn die meisten Soldaten wurden privat einquartiert.
Unserem Amtsgericht gegenüber lag die Bäckerei und das einzige Café der Stadt, das Café Plathe. An dem Café Plathe grenzte der Frisiersalon Weidemann. Ab sofort waren, so mein Eindruck, erst der Frisörsalon Weidemann und danach das Café von allen allein stehenden Jungfrauen der Stadt zwischen 16 und 60 Jahren und den Soldaten frequentiert. Auch von meiner älteren Schwester Hildegard, Hilde genannt. Sie war vom Ortsgruppenleiter als Hilfspostzustellerin verpflichtet worden und war das von Nachbar zu Nachbar wandelnde tönende Nachrichtenmagazin. Denn die jungen BDM-Mädchen und Lazarettschwestern sahen es unter anderem wohl auch als eine weitere Kriegspflicht an, die für den Fronteinsatz vorgesehenen jungen Soldaten nicht nur beim Tanzkaffee bei guter Laune zu halten, sondern sich selbstverständlich auch in sie zu verlieben. Das soll bei der einen und anderen pommerschen Jungfrau zur ungewollten Schwangerschaft und neun Monate später, 1945 in den entbehrungsreichen Nachkriegstagen, zu schwierigen und notvollen Entbindungen geführt haben. Aber noch war es friedlich und in der Stadt wurde gelacht, getanzt und gesungen.
Und auch ich wurde von dieser allgemeinen »Kriegsbals« erstmalig in meinem jungen Leben erfasst, nämlich von der blonden Inge; Inge Losigkeit, Doktor Losigkeits Tochter, der am Marktplatz seine Praxis hatte, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rathaus, sie war’s, die mich, den Hitlerjungen Sigurd Adolf Kröger in diesen chaotischen Spätsommertagen verwirrte.
Was war geschehen? Ich hatte sie bereits tausendmal gesehen; an einem frühen Abend jedoch sah ich sie in der anheimelnden Beleuchtung vor dem Café Plathe, sah, wie sie im Gespräch mit einer BDM (Bund deutscher Mädchen, Teilorganisation der Hitlerjugend) Kameradin auf eine gewisse übermütige Art lachend ihren Kopf zur Seite warf, auf eine gewisse Art ihre schmale, schöne feine Mädchenhand, zum Hinterkopf führte. Hörte, wie sie ein ganz banales Wort, auf eine Art und Weise betonte, wobei ein warmes Klingen in ihrer Stimme war, das so ähnlich klang, wie die warmen Töne aus meiner Mundharmonika, die in den Ästen des alten Kastanienbaumes im Vorgarten des Amtsgerichts verhalten und ein Entzücken ergriff mein Herz, weit stärker als jenes, das ich empfand, wenn ich Eberhard Pommerenke begegnete.
An diesem Spätsommerabend nahm ich ihre Erscheinung, ihr Bild auf einmal ganz anders wahr als bisher in den Pausen auf dem Schulhof und mit fort in meinen Tagträumen - mit ihren dicken, blonden Zöpfen, den lachenden blauen Augen und die leichte Anhäufung von Sommersprossen auf ihren Wangen, Stirne und über ihrer Nase. Ich konnte mir auf einmal sogar vorstellen, alle ihre Sommersprossen wegzuküssen, obwohl ich noch nie ein Mädchen geküsst hatte, konnte nicht einschlafen, weil ich das Klingen ihrer Stimme in Gedanken hörte; ich erschauerte dabei. Die Erlebnisse mit Eberhard lehrten mich instinktiv, dass dies die richtige, große Liebe sein musste. Aber, obgleich ich genau wusste, dass diese Liebe mir viel Schmerz, Leiden und Demütigung bringen würde, das sie überdies meinen inneren Frieden zerstören könnte und mein Herz mit Melodien überfüllt werden würde, ohne dass man die Ruhe fand, um eine Aufgabe in Ruhe zu Ende zu denken, in Gedanken zu formen, um in Gelassenheit etwas Neues daraus zu schmieden; so nahm ich sie doch mit Freuden auf, überließ mich ganz meinen neuen Gefühlen und pflegte diese mit den Kräften meines jugendlichen Gemüts, denn ich ahnte, dass sie mich innerlich reich und lebendig machen würden und ich sehnte mich auf einmal danach, reich und lebendig zu sein, anstatt mehr Gelassenheit an den Tag zu legen und sich auf den Schulunterricht zu konzentrieren. Das ich mich erstmals in ein Mädchen, die lustige Inge Losigkeit verliebte, ereignete sich vor dem Tanz-Café Plathe. Und weil ich wusste, meine Liebe zu ihr würde nicht erwidert werden, denn die jungen BDM-Mädchen pflegten nach der Schule lieber den Kontakt mit den schneidigen jungen Soldaten als mit ihren HJ-Schulkameraden, ging ich traurig nach Hause und ich nahm mir vor, weiterhin den Kontakt zu meinem einzigen Freund Eberhard Pmmerenke aber nunmehr auch verstärkt zu den jungen Offizieren im Amtsgericht zu halten.
Das Jahr 1944 neigte sich dem Ende entgegen. Die Felder um Massow waren abgeerntet, die Kartoffeln eingekellert und über unserer kleinen Stadt legte sich eine dicke weiße Schneedecke und auf den gefrorenen Fensterscheiben konnte man wunderschöne Eisblumen mit seinem heißen jugendlichen Atem pusten.
Die Stadt wurde in den Wintermonaten 1944, Anfang 1945 zunehmend von durchziehenden Flüchtlingstrecks geradezu überflutet. Die Flüchtlinge mussten untergebracht und versorgt werden. Die zwei Verhandlungssäle des Amtsgerichtes waren ständig mit notdürftig untergebrachten Flüchtlingen belegt, die auf Strohsäcken schlafen mussten. Die einquartierten Flüchtlinge versorgten sich überwiegend selbständig in Mutters großer Küche in Zusammenarbeit mit den Soldaten des Divisionsstabes. Von morgens bis abends wurde gebrutzelt und gebraten.
Für mich war dieses Zigeunerleben schrecklich aufregend und abwechselungsreich, denn abends war mit den Soldaten in allen Räumen des Amtsgerichtes immer »Halligalli«. Das sprach sich in der Nachbarschaft schnell herum. Und selbst die Frau des Ortsgruppenleiters, eine kleine, hübsche lebensfrohe Mittvierzigerin, die sich abends oftmals einsam fühlte, kümmerte sich auf einmal verstärkt um das Wohlbefinden unserer Mutter, indem sie mittags häufig bei uns zu Hause hereinschneite. Ihre obligatorische Frage lautete, was es so Neues gäbe und ob sie abends mal kurz vorbeischauen dürfe? Jetzt, wo doch ihr Gatte wegen der angespannten Kriegslage nur noch ganz selten zu Hause schläft.
Meine bereits erwachsene Schwester Hilde flachste sodann mit Muttern und sagte: „Mama, lade Ortsgruppenleiters »Madam« endlich einmal zum Abendessen ein und ein paar Offiziere dazu; Madam scheint auf schneidige Soldaten zu stehen, und vielleicht kann ihr ja der eine oder andere zackige Offizier zu einem zackigen, entspannten Schlaf verhelfen“?
Es war Anfang Februar 1945, als aus der Ferne immer öfter ein unheimliche Grollen und Grummeln zu hören war. Ein herannahendes Gewitter kannte ich, das konnte es nicht sein. Mich beschlich ein ängstliches Gefühl und schon deshalb konnte ich mit Eberhard Pommerenke hierüber nicht sprechen.
Ich lief zu Muttern und fragte sie, was das in der Ferne für ein brummelndes Geräusch sei. Mutter behauptete allen Ernstes, es seien Detonationen von Übungsgranaten aus Geschützen, mit denen unsere Soldaten übten. Von nun an hörte ich dieses dumpfe explosionsartige Geräusch Tag und Nacht, mal näher, mal weiter entfernt. Und was geschah in jener Zeit noch in der der Untergang des Großdeutschen Reiches für jedermann erkennbar eingeläutet mit Kanonendonner und die angekündigten Wunderwaffen ausblieben?
Divisionen der Briten und Amerikaner standen im Raum Aachen. An der Rheinfront nahm der Druck auf Colmar zu. Auf dem Balkan steigerte sich der Partisanenkampf. Vom dänischen Jütland wurde die 2. Gebirgsjägerdivision zur Verstärkung der Ostfront abgezogen. Die Russen drangen in Ostpreußen bis in die Nähe von Zinten vor. All das nagt an dem inzwischen alten Knaben, der sich langsam müde schreibt. Eigentlich denkt er, wäre es doch Aufgabe unserer Eltern gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben; den winterlichen Trecks nach Westen über endlose Schneeflächen, die zuletzt von Rosenberg bis nach Heiligenbeil standen, um mit der letzten Fähre nach Pillau überzusetzen, aus Furcht vor der russischen Rache; dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken in Straßengräben und in Eislöchern, sobald das zugefrorene Frische Haff nach Bombenabwürfen der russischen Flieger und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, der weiße Tod lauerte überall, wie mir Elisa, die aus Heiligenbeil stammt, noch heute oft erzählt.
Von Pillau aus war es gelungen, bis die Russen Heiligenbeil einkesselten, fünfundsechzigtausend zivile und militärische Personen einzuschiffen, darunter Gott sei Dank auch die Familie meiner Frau, und sie vor den Russen zu retten; während die Wilhelm Gustloff sich auf ihrem Kurs nach Westen der Stolpebank näherte, hatte der amerikanische Präsident Roosevelt die USA bereits verlassen und war auf dem Weg zum Konferenzort Jalta auf der Halbinsel Krim, wo sich der kranke Mann mit Churchill und Stalin treffen wollte, um durch das Ziehen neuer Grenzen den Frieden vorzubereiten. Über diese Konferenz und die spätere in Potsdam, als Roosevelt tot und Trumann Präsident war, wird in Deutschland noch in fünfhundert Jahren gesprochen werden, hat man doch Deutschland, mein Heimatland Pommern, Ostpreußen und Schlesien zerstückelt. Um diese Zeit waren alle Städte entlang der pommerschen Küste entwerder vom Feind besetzt oder gefährdet: Stettin bereits eingeschlossen, denn die Russen mussten über die Oder, weil sie Berlin einnehmen wollten. Weiter östlich waren Danzig, Zoppot, Gotenhafen gefallen. Zur Küste hin hatten Einheiten der 2. Sowjetischen Armee bei Putzig die Halbinsel Hela abgeriegelt und weiter westlich, an der Oder, war bereits Küstrin umkämpft. Und überall hin, mit Drang von Ost nach West, zogen Flüchtlinge und wussten nicht wo sie bleiben sollten.
Überall blieben beiderseits Tote zurück, wurden Erkennungsmarken eingesammelt und Orden an Hitlerjungen und alte Volkssturmmänner verteilt; im Heldenkampf gegen die Übermacht.
Spätesten Anfang März 1945 hatte auch ich als »junger Pimpf« begriffen, wer dieses unheimliche, mich ängstigende Grollen verursachte; die auf unsere Stadt zurollende deutsch-russische Kriegsfront.
Die Ereignisse überschlugen sich von nun an.
Mutter muss wohl irgendwie die Evakuierung der Einwohner unserer Stadt geahnt haben. Wir Kinder wurden ab sofort nur noch in unserem besten Sonntagsstaat gekleidet und durften nur noch halb ausgezogen im Bett schlafen. Unter Strafandrohung wurde uns in den noch verbleibenden Stunden verboten, das Haus zu verlassen. Jedoch aus dem Vorgarten des Amtsgerichtes konnte ich das Treiben auf der Hauptstraße gut beobachten. Gegenüber lag ja die Schule, das Lazarett, in dem ständig verwundete Soldaten eingeliefert wurden. Selbstverständlich verfügte das Amtsgericht auch über einige Häftlingszellen, in denen nach Einquartierung der Kurlandsoldaten bis zu unserer Flucht immer wieder blutjunge Soldaten arretiert wurden, denen im Amtsgericht wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe durch ein Militärstandgericht der Prozess gemacht wurde.
Davor hatten die Zellen des Amtsgerichtes eigentlich nur noch zur Züchtigung der Geschwister gedient, die Mutter oder Vater gegenüber aufsässig und unfolgsam waren. Wenn meine Eltern eines nicht mochten, dann waren das Widerworte, quengelnde Kinder und Buben, die heulten. Schon früh wurde mir beigebracht: Der Junge eines preußischen Beamten wehrt sich und weint nie.
Als ich doch einmal aus der Schule weinend nach Hause kam, ich hatte mit anderen Schülern Streit und mir eine Tracht Prügel von ihnen eingefangen, erhielt ich daraufhin einige Stunden Karzer. Bei gröberen Verstößen gegen den elterlichen Gehorsam tagte sodann das Familiengericht mit dem ehrenwerten vorsitzenden Richter, meinem strengen Herrn Vater und der ehrenwerten Beisitzerin, meiner lieben Mutter.
Es wurde verhandelt, ob eine Tracht Prügel zu verabreichen sei oder stundenweise Karzer inklusive Essenentzug genügt. Nach der »Haftentlassung« gab es von Muttern als erste Versöhnungsmaßnahme immer eine deftige Mahlzeit.
Im Falle der arretierten Soldaten gab es zum Schluss sogar eine Mahlzeit nach »Wunsch«. Denn das Kriegsurteil lautete immer: Tod durch den Strang, wegen Feigheit vor dem Feind! Da half auch nicht der tränenreiche Protest zahlreicher Massower Mütter beim »Vorsitzenden Militärrichter«. Das Urteil wurde meistens im Morgengrauen vollstreckt!
Seitwärts vor dem Gefängnishof des Amtsgerichts waren drei Tigerpanzer abgestellt. Sie wirkten auf mich wie riesige Ungeheuer. Diese Panzer besaßen zu jener Zeit den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Viele Neugierige standen ständig mit bewundernden Blicken vor diesen 45 Tonnen schweren stählernen Ungetümen, die den bereits bis nach Pommern eingedrungenen Russen den Garaus machen sollten. Mich erfasste ein unbeschreibliches Entzücken, als mich eines Tages einer der Panzerführer auf einen der Panzer hob und von oben durch die geöffnete Turmluke in das Innere dieser Kampfmaschine setzte und so meine jugendliche Neugier auf dieses riesige »Kriegsspielzeug« befriedigte.
Daraufhin fasste der Knabe Sigurd Adolf einen neuen unumstößlichen Entschluss: Wenn er groß und wehrfähig sein würde, würde er doch nicht Beamter wie sein Vater oder »Kulturattache im Osten« werden wollen sondern Soldat und Panzerführer.
Mit donnerndem Motorgetöse und Kettengerassel setzten sich eines späten Nachmittags die drei Tigerpanzer in Bewegung und fuhren aus der Stadt hinaus. Spät am Abend kamen sie dann mit lautem Gerumpel von ihrem Fronteinsatz zurück und fuhren direkt zum Bahnhof weiter, um von dort per Eisenbahn nach Gollnow transportiert zu werden, weil in der Stadt angeblich nicht genügend Sprit zum Auftanken der Panzer vorrätig war - in Wirklichkeit war ihnen nicht nur der Sprit sondern auch die Munition ausgegangen und nicht nur den »Massower Tigerpanzern« sondern der gesamten Deutschen Wehrmacht.
Spätestens an diesem Abend, dem 02. März 1945 hätte die Deutsche Heeresleitung kapitulieren sollen; aber der Krieg und die Flucht gingen weiter und noch einmal stellten sich deutsche Soldaten im Winter und Frühjahr 1945 den übermächtigen Sowjetsoldaten entgegen und bei den Kämpfen um die Brückenküpfe an der Oder und der »Schlacht um die Seelower Höhen« starben sinnlos mehr als 100.000 deutsche und russische Soldaten - denn aufgrund der Propagandarede Joseph Göbbels im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 wollte das Deutsche Volk den totalen Krieg – totaler als total! Und die »totale Schlacht« um die Seelower Höhen forderte nicht nur bei den Soldaten sondern auch bei der märkischen Bevölkerung viele Opfer und Entbehrungen. Als Marschall Shukows Soldaten Berlin erreichten, war eine einzigartige Kulturlandschaft zerstört und die Herzen vieler Menschen gebrochen. Noch heute erinnern sterbliche Überreste von ehemaligen Soldaten sowie Munitions- und Waffenfunde an die Sinnlosigkeit und Unmenschlichkeit dieser Kämpfe.
Es lag von nun an eine hektische, unheilvolle Aufbruchsstimmung in der Luft. Die Soldaten im Amtsgericht packten bald danach ihre Utensilien zusammen und im Gefängnishof wurden stapelweise Dokumente verbrannt. Zeitgleich dazu sind im Innenhof sämtliche inhaftierten Deserteure standrechtlich erschossen worden. Gnade ist diesen armen vom Krieg gepeinigten kriegsmüden Männern nie gewährt worden.
Danach wurde im Amtsgericht eine Abschiedsparty von den restlichen Soldaten des Stabes für die noch im Hause verbliebenen Flüchtlingsfrauen zelebriert. Es wurde übermäßig viel getrunken, gegessen und getanzt. Aus dem Herrenzimmer, dem »Gralsheiligtum« meines Vaters, er war zwischenzeitlich zum Volkssturm eingezogen worden, das wir Kinder niemals betreten durften, tönte vom Grammofon zum wiederholten Male das Lied:
»Davon geht die Welt nicht unter«…
von der seinerzeit weltberühmten Sängerin Zarah Leander mit ihrer so herrlichen, für mich unvergesslichen rauchigen Stimme gesungen. Die verbliebenen Frauen, mit den in ihren Armen liegenden trunkenen Soldaten, sangen immer wieder den Refrain mit und suhlten sich dabei in der extra für meinen Vater vom königlich preußischen Sattler & Polsterer Ramtun angefertigten englischen Polstergarnitur.
Einigen Soldaten hingen die Hosenträger ihrer Uniformhose lose herunter und nicht nur der Zugang zu ihrem »Johannes« stand bei einigen Männern im wahrsten Sinne des Wortes offen. Auch bei den sich an ihnen anschmusenden Frauen waren die Blusen weit geöffnet und der HJ-Pimpf hat sich sehr gewundert, erwachsene Soldaten nuckelnd an den Brüsten einiger Frauen liegen zu sehen. Glaubte er doch bis dato, dass die Brüste der Frauen nur für die neu geborenen Babys da waren, um daran ihren Hunger zu stillen.
Und ich dachte an meinen strengen Herrn Vater, wenn der noch zu Hause gewesen wäre. Er hätte, so wie Jesus die Pharisäer aus dem Tempel, die ganze lüsterne Gesellschaft aus dem Amtsgericht hinaus gejagt.
Die perverse Aufforderung eines trunkenen Offiziers an die Frauen: „Heiliger Strohsack, die Russen sind da! Mädels lasst uns die letzten Stunden dieses Krieges feiern, denn der Friede wird grausam sein“, hat der Knabe Sigurd Adolf verständlicher Weise erst später als Erwachsener so richtig verstanden.
Und trotzdem, das Geschehen wirkte auf mich belustigend. Zugleich aber schämte ich mich ob meiner jugendlichen Neugier. Das, was ich sah, war keine Abschiedsparty, es war eine »Weltuntergangsorgie«, die stattfand als Tanz auf dem Vulkan, weil ein russischer Stoßtrupp unmittelbar vor der Stadt gestellt worden war, der erst nach Einsatz der drei Tigerpanzer zurückgeschlagen werden konnte. Unsere kleine pommersche Stadt wurde zur Festung erklärt.
Früh am Morgen kam der Befehl, alle Einwohner haben sofort die Stadt zu verlassen und die restlichen Soldaten ihre vorgegebenen Stellungen einzunehmen. Danach war die ganze Stadt in Aufruhr.