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ОглавлениеIm Amtsgericht spielten sich an diesem Morgen der Räumung der Stadt dramatische Szenen ab. Viele Mütter standen mit ihren Kindern zu Fuß zur Flucht bereit und wussten nicht wohin mit sich und den Kindern. Meine Schwester Hilde behielt die Nerven und verhandelte geschickt mit dem Vorgesetzten der im Amtsgericht noch anwesenden Stabssoldaten, dass zumindest die kleineren Kinder mit den Kraftfahrzeugen der abziehenden Soldaten mitfahren dürfen, um wenigstens sie vor den zu erwartenden Fronteinwirkungen zu retten.
Glücklicherweise gab der Kommandeur sodann Befehl, die restlichen im Amtsgericht noch anwesenden Frauen und Kinder auf die noch verbliebenen Fahrzeuge zu verladen und sofort die militärisch nicht zu haltende Stadt zu verlassen. Bei Vollzugsmeldung der Verlegungsbereitschaft der Einheit an den Kommandeur wurde ihm gemeldet, dass zwei meiner älteren Brüder, Gerhard und Otto, fehlten. Gerhard 15 Jahre alt und strammer Pimpf, Otto bereits 17, aber nicht wehrdiensttauglich. Höchstwahrscheinlich hatten sie sich entgegen der Weisung unserer Mutter auf die Straße begeben und wurden dort von Feldgendarmen, die im Volksmund auch die »Kettenhunde« genannt wurden, aufgegriffen und zum Volkssturm eingeteilt, um die Stadt vor den einfallenden Russen zu verteidigen.
Mutter drehte regelrecht durch und bekam einen Nervenzusammenbruch, denn sie wollte verständlicher Weise ohne die beiden nicht aus Massow abreisen. Ich weiß es heute noch wie damals: Es war der Stabsoffizier Hans Rabauer, der meine Mutter, mit welchen Worten auch immer, beruhigte und sie in den PKW des Kommandeurs komplimentierte und der Konvoi sich endlich stadtauswärts in Bewegung setzen konnte.
Schon nach kurzer Zeit musste der Konvoi auf der verstopften und durch Panzersperren verengten Straßenkreuzung in Fahrtrichtung Naugard halten. Plötzlich wurde die Tür des Fahrzeuges, in dem ich mit weiteren Geschwistern saß, aufgerissen und mein Bruder Gerhard sprang atemlos und keuchend in das Auto. »Mensch Junge, wo kommst du denn her«? fragte ihn einer der Soldaten. Wie bereits vermutet wurde, sollten meine Brüder mit anderen jungen Pimpfen und alten Volkssturmmännern auf Weisung der Feldjäger unsere Stadt mit einem Arm voll Panzerfäusten und eingesammelten Jagdgewehren vor den anstürmenden Russen verteidigen. Ältere Volkssturmmänner hatten den Pimpfen jedoch geraten: »Jungens, nehmt eure Beine in die Hand und haut ab, bevor die Russen euch massakrieren«.
Bruder Gerhard befolgte diesen Rat und konnte sich im letzten Augenblick zu uns flüchten und so sein Leben retten. Andere sowie mein Bruder Otto leider nicht. Dreizehn Pimpfe aus Massow haben an diesem Tage ihr junges Leben für Führer, Volk und Vaterland gelassen, wie wir Jahre später von unserem Frisör, Kalli Weidemann, erfahren haben. Sie fanden Ihre letzte Ruhe im kühlen Wiesengrunde hinter dem Mühlenrad der Massower Mühle direkt gegenüber dem Massower See; heute polnisch Maszewo.
Er und seine Familie haben die Flucht aus Massow 1945 vor den anstürmenden russischen Soldaten nicht mehr geschafft. Sie haben bei den Kämpfen um unsere Stadt und nach ihrer Besetzung durch die Russen Grauenhaftes erlebt und gesehen, worüber seine liebe Mutter verrückt geworden ist.
Kalli Weidemann berichtete meinen Eltern auch, er habe versucht, die jungen Mädchen und Frauen von Massow vor der russischen Soldateska dadurch zu schützen, indem er ihnen einen Herrenhaarschnitt frisierte und sie sich sodann wie Jungen kleideten. Aber einige Tage später wussten die Russen, von wem auch immer, welche »Jungen« sie sich greifen mussten, um ihre sexuellen Gelüste an diesen gewaltsam auszuleben. Und die Gewaltorgien der russischen Soldateska wirken bis heute nach wie man von einem missbrauchten, zwischenzeitlich dreiundsiebzigjährigen »weißhaarigen Mädchen« anlässlich der TV-Diskussion bei Reinhard Beckmann am 18. Mai 2009 erfahren hat; missbrauchte Kriegskinder bleiben traumatisiert.
Die Familie Weidemann sowie alle restlichen Einwohner von Massow, die im Frühjahr 1945 von der russischen Front überrollt und in Massow das Kriegsende erlebt hatten, wurden 1946 von den neuen Machthabern, den Polen vertrieben.
Mein Bruder Otto wird seit unserer Flucht und ein weiterer meiner Brüder, Alfred, er meldete sich 1944 freiwillig zur Front, werden bis heute vermisst. Ein Schicksal, das hunderttausende deutscher Männer und Frauen während und nach den Kriegswirren getroffen hat. Tausende Frauen, Mädchen und Jungen wurden von der russischen Siegermacht nach der Kapitulation 1945 nach Sibirien deportiert.
Die Flucht ging weiter und es klingt verrückt, aber der Militärkonvoi fuhr mit uns auf Schleichwegen direkt durch die Hauptkampflinie in Richtung Naugard, Stettin, Berlin. Ringsherum brennende Dörfer und fliehende Menschen. Das reinste Inferno.
Abends erreichten wir ein brennendes Dorf, in dem wir in einem der wenigen unbeschädigten Häuser übernachteten. Mit dem ersten Tageslicht setzte sich der Fahrzeugkonvoi wieder in Richtung Stettin/Berlin in Bewegung. Irgendwann erreichte der Militärkonvoi im Laufe des frühen Vormittags die Autobahn auf der sich an diesem Tage noch grausame Dramen abspielen sollten, die bis heute unauslöschlich in meinem Gedächtnis geblieben sind. Auf der rechten Fahrbahnspur, so weit das Auge sehen konnte, ein langer Flüchtlingstreck, der kurz vor Eintreffen unseres Militärkonvois von russischen Tieffliegern mit Bomben beworfen und danach im Tiefflug zusammengeschossen worden war.
Aus dem Auto heraus sah ich Entsetzliches: Zerstörte, brennende Planwagen, verletzte, vor Schmerzen schreiende Menschen und wimmernde Kinder, die ihre Mütter suchten. Verletzte, wiehernde Pferde mit aufgerissenen Bäuchen, die sich wild windend aus ihrem Geschirr zu befreien versuchten und andere Pferde, die wild und irr über die Autobahn galoppierten, teilweise noch das restliche Pferdegespann hinter sich herziehend und alles niedertretend, was ihnen im Wege war. Ein höllisches, grauenhaftes Inferno.
Damals waren die Autobahnen noch nicht durch Leitplanken geteilt und von Autos kaum frequentiert. Der Militärkonvoi wich auf die verkehrsfreie Gegenfahrbahn aus und fuhr dort in Richtung Berlin weiter. Beim nächsten Halt des Konvois ereilte uns alle ein fürchterlicher Schock. Der PKW des Kommandeurs, in dem auch Mutter saß, war bei dem Ausweichmanöver im Autobahninferno irgendwo auf der Autobahn liegen geblieben, ohne das jemand der anderen Fahrzeugführer das Zurückbleiben bemerkt hatte. Hinter uns und links von der Autobahn auf den freien Feldern sah man bereits die aufmarschierenden russischen Soldaten. Was konnte man tun? Eine dramatische Situation. Es war Stabsoffizier Hans Rabauer, der die Übersicht behielt und sich anbot, mit einem anderen Fahrzeug und zusätzlich mit einem bewaffneten MG-Schützen auf der Autobahn zurückzufahren, um nach den Vermissten zu suchen.
Sollten sie wider Erwarten nicht innerhalb einer Stunde zurück sein, möge der ganze Tross ohne sie und den vermissten Kommandeur weiter fahren. Der wartende Konvoi fuhr von der Autobahn seitwärts in die Deckung eines Kiefernwaldes. Höchste militärische Sicherung nach allen Seiten der Deckung sowie banges ängstliches Warten. Würden wir Mutter und die vermissten Soldaten jemals wiedersehen?
Nach einer von allen empfundenen Zeit der Ewigkeit kam Stabssoldat Rabauer mit meiner lieben Mutter, dem vermissten Kommandeur und seinem defekten PKW im Schlepptau zurück. Der Fahrzeugkonvoi fuhr aus der Deckung des Waldes heraus, weiter auf der Autobahn mit neuem Aufmarschziel: Oderbruch, Seelower Berge.
Irgendwann im Laufe des Tages war für uns der Schutz und die Fürsorge durch die Kurlandsoldaten für immer zu Ende. Die Soldaten verfrachteten uns in Eberswalde auf einen dort abfahrbereiten offenen Güterzug, der von dort nach Stralsund fahren sollte. Es folgte ein tränenreicher Dank und Abschied von den uns so lieb gewonnenen Kurland-Soldaten, die sich in dieser Gegend den russischen Soldaten zum letzten Kampf stellen mussten.
Den ganzen Tag und die folgende Nacht fuhren wir in einem offenen Waggon eines Güterzugs kreuz und quer durch das zerbombte Schienennetz über viele Umwege durch die vorpommersche Landschaft in Richtung Stralsund. Es war Anfang März und noch empfindlich kalt, besonders in der Nacht. Toiletten hatte ein offener Güterwaggon der Deutschen Reichsbahn natürlich nicht. Ob sie wollten oder nicht; Frauen, Kinder und alte Männer waren gezwungen, menschenunwürdig, ihre Notdurft in einer Ecke des Waggons zu verrichten, denn einen Aborteimer gab es nicht.
Irgendwann am frühen Morgen, es war noch dunkel, fuhr der Güterzug in den Bahnhof der nach einem Bombenangriff noch brennenden Stadt Stralsund ein. Hier kamen wir nach allen überstandenen Strapazen für ein paar Wochen zu einer wohlverdienten Ruhe. Vielleicht kam hier erstmals unser allgemein gepflegtes Erscheinungsbild zur Geltung, vielleicht auch Mutters Silbernes und Goldenes Mutterkreuz, die sie sichtbar trug, denn ohne andere Flüchtlinge wurden nur wir Krögers in einer wunderschönen Villa in der Nähe des Stralsunder Hafens einquartiert.
Die Hausherrin, eine Frau von Hela, lebte mit einem deportierten, zwangsverpflichteten polnischen Dienstmädchen ganz alleine in dieser großen Villa. Sie war Offizierswitwe und eine attraktive, feine, vornehme Dame, die sich rührend um uns Krögers kümmerte. Es gab Kakao mit feinstem Gebäck und für meine Mutter servierte sie echten Bohnenkaffee aus Bremen. Meine Mutter als »alte Kaffeetante« war hin und weg vor Freude und rief euphorisch: »Mein Gott, echter Bohnenkaffee aus Bremen, wo es doch in dieser Zeit an allem mangelt«. Und dann fragte sie sich, ob sie wohl jemals in ihrem Leben wohl noch einmal nach Bremen kommen würde?
Allerdings glaubte Mutter vorerst fest daran, die in Hinterpommern eingedrungene russische Armee würde schnellstmöglich wieder nach Russland zurückgedrängt und wir könnten danach baldmöglichst wieder nach Massow zurückkehren.
Aber ein altes Sprichwort traf seinerzeit auf alle Deutschen zu: »Hoffen und Harren, hält manchen zum Narren«. Denn die einen hofften auf die »Wunderwaffe« und die anderen hofften auf die Wendung des Krieges zum Guten.
Beides traf nicht ein. Frau von Hela war über die damalige allgemeine Kriegslage sehr gut informiert. Sie bezog ihre Informationen aus ihren offensichtlich sehr guten Verbindungen nach Schweden und versuchte unsere Mutter bei Kaffee und Konfekt schonend auf das nahe Ende des (Tausendjährigen) Deutschen Reiches, die bedingungslose Kapitulation, und die folgende Not und das Elend, das über die überlebende Zivilbevölkerung hereinbrechen würde, den Verlust der Heimat und der deutschen Ostgebiete, vorzubereiten.
Zwischen den beiden Frauen entspann sich während diesen Kaffeestunden immer wieder eine heiße Diskussion über die Frage, wer der Schuldige am zweiten Weltkrieg und dem früh erkennbaren Untergang Großdeutschlands sei. Mutter behauptete, mein Ehrenpate, der dilettantische Gefreite, Adolf Hitler und seine ihm opportunistisch ergebenen Offiziere hätten alles Leid sowie den Untergang des deutschen Reiches in Folge des zweiten Weltkriegs zu verantworten.
Frau von Hela verwies auf die, ihrer Ansicht nach ebenfalls stets opportunistische, deutsche Beamtenschaft bei der Übernahme der Staatsgewalt durch die Nazis und betonte dann mit besonders erhobener Stimme: »zu der letztendlich, liebe Frau Kröger, auch ihr Ehemann als Justizbeamter gehört, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht«!
Mutter war über diese bei Frau von Hela vorherrschenden Meinung, sehr erbost. Heute weiß der einst junge und jetzt alte Knabe, beide Frauen hatten auf ihre Weise Recht, denn die Schwäche der preußischen Offiziere resultierte auch aus der Schwäche und dem Ende der Weimarer Verfassung sowie die Entmündigung seiner Beamten durch das Hitlerregime.
Wie ich später als erwachsener junger Mann während meines Studiums beim Verfassungsunterricht gelernt habe, war die erste demokratische Verfassung Deutschlands keine reine Neuschöpfung, sondern knüpfte in ihren Kerngedanken und in der Verteilung der Zuständigkeiten an die Traditionen früherer deutscher Verfassungen an. Ihr geistiger Urheber, Prof. Hugo Preuß und ihr endgültiger Schöpfer, die deutsche Nationalversammlung, fühlten sich als Vollender der in der deutschen Nationalversammlung von 1848/49 konzipierten Ideen der Freiheit und Gleichheit. Aber auch die Deutsche Nationalversammlung konnte sich leider nicht der Prägung durch den deutschen Obrigkeitsstaat entziehen.
Und so spiegeln sich monarchische Elemente deutscher Verfassungsüberlieferung in der seinerzeit starken Stellung des Reichspräsidenten als Inhaber einer außerordentlichen, fast diktatorischen Regierungsform wider, die später Hitlers Regierungsform sehr entgegenkam.
Abgesehen von aller weltanschaulichen Verschiedenheit mag in der Einschränkung letzter Eigenverantwortlichkeit ein Grund dafür liegen, dass die Parteien der Mitte bald auseinander drifteten. Behaftet mit dem Makel des angeblichen »Verrates und der Dolchstoßlegende«, beschwert mit der Bürde einen verlorenen Weltkrieg ausbaden zu müssen, hat die Weimarer Republik am Ende auch ihren Halt an ihrer Verfassung verloren – und wir, die »Weiße Generation« sollten aufpassen, dass wir vor lauter »Terrorismushysterie«, nicht auch den Halt an unserer Verfassung, dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verlieren!
Obwohl der Hitlerjunge Sigurd Adolf Kröger kein Historiker wurde, ist er sich heute ganz sicher, dass das Ende der Weimarer Republik auch in der nicht ausgelebten und unterdrückten November Revolution von 1918 gesehen werden muss. Angesichts der Massenbewegung Anfang November 1918 forderten die führenden Männer der SPD zwar die Abdankung des Kaisers, um den Kontakt zur Basis nicht ganz zu verlieren, nicht aber die Abschaffung der Monarchie mit ihrer monarchistischen Bürokratie und Justiz; ein schwerer politischer Sündenfall, wie sich noch zeigen sollte.
Und Friedrich Ebert als richtungsweisender Mann innerhalb der SPD, soll gesagt haben, bevor ihm Max von Baden das Reichskanzleramt übertrug, er hasse die Revolution wie die Sünde – mein Gott; was wäre Deutschland, Europa und der Welt erspart geblieben, wenn dieser „richtungweisende Sozialdemokrat“ den Mut aufgebracht hätte, in Zusammenarbeit mit den Kommunisten, zur Revolution aufzurufen.
Als der Sozialdemokrat Philip Scheidemann am 09. November 1918 die Republik ausrief, weil er meinte, mindestens dies müsse man den Hunderttausenden auf den Straßen Berlins anbieten, damit die Bürger nicht scharenweise zu den radikalen Linken überliefen, soll er von Ebert heftig kritisiert worden sein. Die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung war in dieser Situation für Ebert vorrangiges Ziel.
Heute im 21. Jahrhundert; in der Weltwirtschaftskrise des Jahres 2009 heißt das vorrangige Ziel: Erhaltung des sozialen Friedens, damit das neue Prekariat, die verarmten Wähler, nicht in Scharen zur »Neuen Linken« überlaufen.
Als machtbewusster und tonangebender Mann im Rat der Volksbeauftragten sorgte Ebert dafür, dass die Verwaltung und Justiz »im Namen des Volkes« ungehindert weiterarbeiten konnten. Denn Ebert baute auf die Macht des Militärs und der Verwaltung, um eine Ausbreitung der Revolution zu verhindern und möglichst rasch wieder zu geordneten Verhältnissen zu kommen. Dagegen strebte der Rätekongress die Entmachtung der alten Eliten, der Militärs und Junker, der Kohle- und Stahlbarone, der monarchistischen Bürokratie und Justiz, wie aber auch die Entscheidung für eine parlamentarische Regierungsform an. Wohl war Ebert für die parlamentarische Regierungsform, er versuchte jedoch nicht, die Macht der Eliten zu schmälern, auf deren Unterstützung er angewiesen zu sein glaubte. In der Linken machte sich Wut und Enttäuschung breit – damals so wie heute. Ende Dezember 1918 schieden die unabhängigen Sozialdemokraten aus. Gestützt auf bürgerliche Minister, regierten die Sozialdemokraten nun allein.
Die Gegensätze wurden schärfer, die Unruhen nahmen zu, auch das Misstrauen vieler Arbeiter gegenüber der sozialdemokratisch geführten Regierung (damals so wie heute).
Am 05. Januar 1919 folgten Hunderttausende von Berlinern einem Aufruf zur Demonstration. Überwältigt von diesem Erfolg beschlossen die Berliner oppositionellen Sozialisten, auf den Sturz der Regierung zu drängen. Spontan, aber auch reichlich dilettantisch, wurden Verlagsgebäude besetzt, aber nicht strategische wichtige Positionen. Noch heute ist in diesem Zusammenhang vom »Spartakusaufstand« die Rede. Es lag allerdings schon damals im Interesse der SPD-Regierung, die Aktionen als gefährlichen Umsturzversuch darzustellen und dafür den Spartakusbund verantwortlich zu machen.
Nur so war gegenüber der eigenen Anhängerschaft einigermaßen plausibel zu begründen, warum die Regierung extrem national orientierte Freikorpsverbände nach Berlin beorderte und militärisch mit Waffengewalt gegen die Aufständischen vorging. Die Regierung nutzte diese trügerisch günstige Chance, die Machtfrage ein für alle Mal zu ihren Gunsten zu entscheiden. Wenige Tage danach, am 19. Januar 1919 wurde gewählt - und diese Wahl zur Nationalversammlung bescherte den sozialistischen und bürgerlichen Parteien einen großen Erfolg.
Während die Nationalversammlung sich an die Ausarbeitung einer Verfassung machte, regierte nun eine nach parlamentarischen Grundsätzen gewählte Regierung aus SPD, Deutscher Demokratischer Partei (DDP) und katholischem Zentrum, eine Regierung der linken Mitte. Gleichzeitig kristallisierte sich heraus, dass aus den angestrebten Reformen wohl nichts werden würde, denn die alten Eliten des Kaiserreichs blieben weiter an der Macht. Jedoch die Arbeiter in den industriellen Kerngebieten waren nicht mehr bereit, dies hinzunehmen. Es kam zu großen Streiks an der Ruhr, in Sachsen und Berlin. In Bremen und München entstanden kurzlebige Räterepubliken.
Wieder setzte die Regierung Freikorpsverbände gegen die Aufständischen ein. Wieder gab es zahlreiche Tote. Im Mai waren schließlich alle revolutionären Unruhen mit Waffengewalt niedergeschlagen. Somit war auch die zweite Phase der Revolution gescheitert, in der es, radikaler als zuvor, vor allem auch um ökonomische Fragen gegangen war.
Ein positives Verhältnis zur Revolution von 1918/19 hat die SPD während der Weimarer Republik nicht gewonnen - genau so wenig wie nach dem Mauerfall 1989. Das hat sich schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten klar abgezeichnet und später bitter gerächt. Denn Eberts Aversion gegen Streik, insbesondere den politischen, war für die Nazis von großem Nutzen und endete für die SPD, ihre Mitglieder und Sympathisanten sowie anderen demokratischen Parteien in Verboten und Verfolgung. Von lebendiger, revolutionärer Tradition konnte keine Rede sein. Die Weimarer Demokratische Republik gründete ihr Selbstverständnis nicht auf die Revolution, sondern allenfalls auf deren Überwindung.
Aber nicht die Verfassungskonstruktion war Schuld daran sondern vor allem diejenigen, die nicht zu ihrer Republik standen und sie bekämpften. Eher den Eigennutz als den Gemeinwillen verwirklichten und die in der Weimarer Verfassung vorausgesetzte Kompromissbereitschaft und Achtung Andersdenkender in ein klein kariertes Freund/Feind - Verhältnis auflösten - damals so wie heute.
Zu optimistisch hatten die Verfassungsgeber geglaubt, mit dem Wechsel von der Monarchie zur Demokratie seien auch die Bürger und ihre Vertretungen befreit von obrigkeitsstaatlicher Bevormundung, mündig und reif, die eigene Souveränität anzunehmen und auszuüben.
Spätesten am 24. März 1933 stellte sich diese Hoffnung als fatal heraus als zwei Drittel der Parlamentarier des Deutschen Reichstages zu »Nickeseln« mutierten und sich selbst entmachteten! Einer dieser Nickesel wurde sodann im ersten Nachkriegsparlament 1949 unser erster Bundespräsident; Theodor Heuß.
An diesem Tag hat das vom neu gewählten Reichstag beschlossene »Ermächtigungsgesetz« die Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt und die Weimarer Republik zerstört. Die Folge dieser Zerstörung war der Aufstieg und spätere Fall von Adolf Hitler und damit einhergehend der Zweite Weltkrieg, die Zerstörung großer Teile von Europa und die totale Zerstörung von Großdeutschland.
Aber bis zum Tode meines »Ehrenpaten Adolf« verbrachten wir noch eine friedliche Zeit in dieser schönen hanseatischen Villa in Stralsund mit ihrem imposanten Marmortreppenaufgang, den großen, hohen und lichtdurchfluteten Zimmern mit den wunderschönen Stuckornamenten an der Decke, der Frau von Hela in Stralsund. Und aus jeder Deckenecke lächelte huldvoll ein pausbäckiges Puttengesicht auf den stets verträumten Knaben Sigurd Adolf hinab, der sich nach Hause, nach seinem Freund Eberhard Pommerenke und seiner heimlichen Liebe Inge Losigkeit sehnte.
In dieser Villa hat der Knabe erstmals in seinem jungen Leben nicht nur konspirativen Gesprächen zuhören dürfen, was zu damaliger Zeit bei bekanntwerden die Todesstrafe zur Folge gehabt hätte sondern erstmalig auch in einem mit Marmor gekachelten Bad in einer weißen Badewanne gebadet. Zu Hause fand diese Art der wöchentlichen Waschzeremonie immer nur in einem großen Holzzuber in der Waschküche des Amtsgerichts statt.
Auch Stralsund war im März 1945 mit Flüchtlingen überfüllt. Verpflegt wurden wir mit vielen anderen Flüchtlingen in einer Gemeinschaftsküche. Zum Schulunterricht brauchten sich die Schüler seinerzeit auch nicht mehr einzufinden, weil natürlich die noch wenigen intakten Schulgebäude als Notunterkünfte für Flüchtlinge benutzt wurden.
Für uns Schüler begann eine abenteuerliche Zeit. Ich machte die Bekanntschaft weiterer Flüchtlingskameraden. Wir spielten im Hafen und in zerbombten Häuserruinen, die noch nach Brand rochen. Krochen in die Keller der Ruinen und suchten in den Trümmern unter anderem auch nach Bombensplittern und nicht gezündeten Brandbomben. Gott sei Dank, haben wir nie eine Brandbombe gefunden. Denn was hätte uns in unserem jugendlichen Leichtsinn mit so einem gefährlichen Fund nicht alles passieren können? Sehr viele Kinder sind nach dem Kriege beim Spielen und Hantieren mit herumliegender Munition durch Explosionen schwer verletzt, viele sogar getötet worden.
Frau von Hela sollte Recht behalten, denn auch Stralsund blieb vom Vormarsch der russischen Armee nicht verschont. Die Russen rückten auf breiter Front näher und Frau von Hela war schon Tage vorher, ohne uns Adieu zu sagen, verschwunden.
Es war in der Karfreitagwoche 1945, als unsere Mutter aufgefordert wurde sofort mit uns Kindern und nur mit dem nötigsten Handgepäck Stralsund mit dem nächsten Zug zu verlassen.
Auf dem Bahnhof herrschte das reinste Chaos. Fast jede der zu evakuierenden Familien glaubte für sich und ihrem mitgenommen Gepäck ein Anrecht auf ein eigenes Abteil zu haben. In Anbetracht der massenhaft zu evakuierenden Flüchtlinge ein absolutes Unding. Polizei und Feldgendarmerie mussten energisch durchgreifen und die größeren Gepäckstücke mit Brachialgewalt aus den Abteilen entfernen. Das überflüssige Gepäck wurde durch die geöffneten Fenster auf die Gleise und den Bahnsteig geworfen, umso weiteren Flüchtlingen Mitfahrgelegenheit nach Westen zu verschaffen.
Die Feldgendarmerie kontrollierte bis zur Abfahrt des Zuges ständig sämtliche Abteile, um ältere wehrfähige Männer und junge Pimpfe herauszuholen und diese sodann zum letzten Kriegseinsatz zu verpflichten, um in Stralsund für Führer, Volk und Vaterland bis zur letzten Patrone zu kämpfen - ihr Ende ist hinreichend bekannt, denn die Russen kannten kein Erbarmen mit den so genannten jungen »Wehrwölfen«.
Dieser mit Flüchtlingen überfüllte Eisenbahnzug fuhr sodann eine Woche lang kreuz und quer, hin und her, immer nach einem offenen Schienenweg in den Westen Deutschlands suchend.