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EXPECT THE UNEXPECTED (CHAPTER FIVE)

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„Ich meine schon“, antwortete mir Marlene auf meine Frage, ob der Shuttlebus zur Farm nicht schon um 9 Uhr kommen sollte. „Bissl spät, der Gute.“ Sie lachte und richtete ihre Brille. Ihr Wiener Dialekt war unüberhörbar. Georg hatte mir am Vortag auf der Autofahrt vom Flughafen schon von ihr erzählt. Sie sollte wie ich die nächsten vier Wochen am „Go Wildlife“-Projekt teilnehmen und mitten im Busch auf einer Farm leben. Sie war einige Stunden vor mir in Windhoek gelandet und in der Unterkunft eingecheckt. Unsere erste Begegnung war am Vorabend ein wenig holprig verlaufen. Nach dem Sonnenuntergang war ich an ihrem Zimmer vorbeigegangen und hatte an ihre Tür geklopft. Mit verschlafenen Augen öffnete sie mir und wusste erst gar nicht, was los war. Erst als ich meinen „Hello Roomservice“-Spruch beim Klopfen als Joke enttarnte, verstand sie, dass ich kein Mitarbeiter der Unterkunft war. Gemeinsam mit ihr und unseren Koffern saß ich jetzt auf der Veranda auf einer Bank und beobachtete den Papagei, wie er immer wieder einen Fuß durch den Käfig streckte und „Hallo“ sagte. Langsam bekam ich ernste Zweifel, dass wir heute noch abgeholt würden. Es war mittlerweile elf Uhr, und immer noch war vor dem grünen elektronischen Tor weit und breit kein Bus in Sicht.

„Where is the bus?“ Georg streckte seinen Kopf aus der Tür und wunderte sich, dass wir immer noch dasaßen. Wir hatten uns eigentlich schon vor zwei Stunden von ihm verabschiedet. Wir beide zuckten mit den Schultern.

„We do not know …“, sagte Marlene in seine Richtung.

Georg erzählte, dass zwei Stunden Warten auf den Shuttle keine Seltenheit sei. Oft musste der Fahrer mehrere Unterkünfte abklappern, um alle Volontäre einsammeln zu können. Da muss er ja dieses Mal viele einsammeln, dachte ich mir.

„Ich bin schon richtig gespannt auf die anderen Volontäre“, sagte Marlene. „Vor allem, woher die alle so kommen.“

„Ich bin auch gespannt, mit wem man so aufs Zimmer kommt.“ In der Vorbereitungsmail hatte ich bereits gelesen, dass maximal vier Personen in einer Unterkunft zusammenleben würden. Getrennt nach Jungen und Mädchen natürlich. „Und auf das Essen bin ich vielleicht gespannt. Ich hoffe, dass wir rechtzeitig zum Mittagessen auf der Farm ankommen. Ich könnte schon wieder was essen.“

„Ernsthaft?“ Marlene schaute ungläubig durch ihre großen Brillengläser. „Wir haben doch vorhin erst gefrühstückt. Hattest du nicht vier Toasts mit Spiegelei und Schinken gegessen?“ Sie lachte.

„Erstens waren es sechs und zweitens: Was verstehst du bitte unter vorhin? Vorhin ist drei Stunden her haha.“ Ich durchwühlte meine Tasche und holte einen Schokoriegel hervor. Mit diesem und mehreren Wasserflaschen hatte ich mich gestern Abend noch eingedeckt, als ich mit Georg zu einem Supermarkt fuhr. Er hatte mir angeboten, mich zu einer Pizzeria zu bringen, da es in der Unterkunft nur Frühstück gab. Zum Dank spendierte ich ihm zwei Dosen Bier, über die er sich sehr freute. Während sich die abendliche Fahrt für ihn mehr als gelohnt hatte - eine Dose trank er noch auf der Rückfahrt vom Supermarkt zur Unterkunft leer -, war meine Freude über die Pizza eher relativ. Ich hatte noch nie so viele Oliven auf einer Pizza gesehen. Ich hasste Oliven und war dementsprechend zurück auf meinem Zimmer mehr mit Olivenrauspicken als mit Essen beschäftigt. Satt wurde ich trotzdem.

Ein Hupen ertönte, gefolgt von einem weißen Bus, der vor dem Einfahrtstor hielt. Mehr enttäuscht als glücklich steckte ich den Riegel wieder in meine Tasche. Ich hatte mich schon auf ihn gefreut. Marlene und ich verabschiedeten uns von Georg und liefen mit unserem Gepäck dem Bus entgegen. Hinter dem Bus war ein kleiner Anhänger eingespannt, auf dem der Fahrer schon wartete. Er begrüßte uns und nahm uns die Koffer ab.

„What about this?“, fragte ich ihn und zeigte auf meinen Rucksack am Rücken. Ich war mir nicht sicher, ob im Bus für ihn Platz war. „You can put the bag under your seat.“ Zufrieden mit der Antwort folgte ich Marlene mit dem Rucksack in der Hand und kletterte die schmale Treppe ins Businnere hoch. Zu unserer Überraschung war der Bus komplett leer. Keine zwanzig Volontäre, die zwei Stunden Verspätung hätte begründen können. Komisch.

„Komm, wir gehen nach hinten. Da ist noch alles frei.“ Wir zwängten uns mit unserem Handgepäck durch den schmalen Gang in den hinteren Teil des Busses.

„Whaaats up, guys?“ Erschrocken schaute ich in die letzte Reihe. Der Bus war doch nicht leer. Ganz hinten links saß ein Junge, der neugierig seinen Kopf über die Kopflehne des vorderen Sitzplatzes streckte. Das glaub ich nicht. Das kann nicht wahr sein. Sofort schoss mir ein Name durch den Kopf: Harry Potter. Bis auf die fehlende Narbe auf der Stirn sah er aus wie Harry. Kurzes schwarzes Haar, Nerdbrille und englischsprachig. Er grinste uns schief an. Marlene und ich reichten ihm die Hand zur Begrüßung. „Hi, I am Marlene.“ „Nice to meet you.“ „Nice to meet you, too. My name is Silas. What is your name?“ Gespannt schaute ich ihn an. Wenn sein Name jetzt mit „H“ beginnen sollte …

„I äääääm McKäääänzie“, sagte er langsam. Er hörte sich stark nach einem Amerikaner an. Zumindest deutete sein Englisch darauf hin. Jedes „a“ hörte sich wie ein lang gezogenes „ä“ an. „Nice to meet you McHänsi. Right?“ „No, McKääääänzie …“

Ich schaute fragend zu Marlene. „Hast du seinen Namen verstanden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Mmh. Where do you come from McK äh …“ „McKäääänzie. I am McKääääänzie.“ „Äh yes.“ Ich grinste und tat so, als ob ich seinen Namen jetzt verstanden hatte. „Where are you from?“

„I ääääm McKääääänzie from the United States of Ääääämerica. I live in Määäässääächusetts.“

„Ah nice“ Ich streckte ihm den Daumen entgegen. Während Marlene in der letzten Reihe zwei Plätze neben McKenzie Platz nahm, setzte ich mich eine Reihe davor auf einen Einzelplatz. McKenzie war jetzt richtig in Redelaune. Er erzählte uns, dass er bereits zum fünften Mal in Namibia war. Er hatte sich in die Farm und die Tiere verliebt und genoss jeden seiner Aufenthalte. Diesmal wollte er insgesamt für zweieinhalb Monate bleiben. Der Bus setzte sich in Bewegung. Neugierig schaute ich mich im leeren Bus um. Die Sitze waren völlig verstaubt. Man musste nur seine Hand sanft auf den Stoff legen, um den feinen Staub zum Tanzen zu bringen. Schnell öffnete ich das Fenster, um ein wenig Fahrtwind ins Innere zu lassen. Ich vermutete, dass der Bus über keine intakte Klimaanlage verfügte. Egal. Zumindest hatte meine Hose heute die richtige Länge. Wir entfernten uns von dem gelben Gebäude und fuhren durch kleinere Nebenstraßen. Zur Hauptstraße hin wurde es immer lauter. Autos und Taxis hupten regelrecht um die Wette, während Kinder auf den Schulhöfen miteinander spielten und wild durcheinanderschrien. Sie trugen beige Uniformen und winkten uns beim Vorbeifahren neugierig zu. Unser Fahrer erzählte uns, dass wir gleich noch eine weitere Teilnehmerin am Flughafen abholen würden. Davor müsse er aber am Bahnhof noch zwei Mitarbeiter der Farm einsammeln. Eine Sache von wenigen Minuten - nicht zeitaufwendig. Sechzig wenige Minuten später fuhren wir vom Bahnhofsgelände wieder ab. Meine Uhr zeigte 12:25 an und ich freundete mich langsam mit dem Gedanken ab, dass wir es nicht mehr rechtzeitig bis zum Mittagessen schaffen würden. Vom Flughafen brauchte man in der Regel drei Stunden bis zur Farm, und der war noch lange nicht in Sicht. Es musste 1 Uhr gewesen sein, als unser Fahrer aus seiner Fahrerkabine stieg und sich mit Pappschild Richtung Ankunftshalle auf den Weg machte. Sein Schlendern verriet, dass er es nicht sonderlich eilig hatte. Zehn Minuten später tauchte er mit einem schwarz gekleideten Mädchen wieder auf. Gespannt beobachteten wir vom Bus aus, wie sich die beiden uns näherten.

„Richtiger Gentleman“, stellte Marlene fest und rückte ihre Brille zurecht.

„Wie meinst du?“

„Ja, schau doch moal. Er trägt nur das Pappschild und läuft vor dem Madl einige Meter her, während die sich dahinter mit ihrem großen Koffer abkämpft. Die Arme muss ihren schweren Koffer selber ziehen und er hat die Hand in der Hosentasche.“ Wirklich ein wahrer Gentleman …

„Hello guys. Puuh.“ Erschöpft und abgekämpft setzte sich das Mädchen auf einen Sitz. Ihre grüßende Handbewegung war alles andere als von Elan geprägt. Sie hatte dunkle Ränder unter den Augen, die durch ihren schwarzen Eyeliner noch mal verstärkt wurden. Ihr rotes Haar hatte sie sporadisch zu einem Dutt gebunden. Einzelne Haare standen wild zu Berge. Ich vermutete, dass sie auf dem Flug wie ich nach Johannesburg nicht so viel schlafen konnte. Sie wirkte gereizt und desinteressiert und schien nicht wirklich in Plauderlaune zu sein. So traf es sich gut, dass Menschenkenner McKenzie gleich den Dialog mit ihr suchte.

„Whääääts up.“ Er beugte sich neugierig nach vorne in den Gang. „I äääm McKäääänzie from the United Stätes of Ääämääääricää. I live in Määässääächusetts. Who are you?“

„Ich äh, me?“ Überrascht von McKennzies plötzlich vorgetragenem Lebenslauf schaute sie ihn an. „My name is Jessica or Jessi. I come from Züri.“

“Nice” Zufrieden lehnte sich McKenzie wieder zurück.

„Ah, aus der Schweiz. Das Alpentrio ist jetzt vollständig.“ Wieder bildeten sich in Jessicas Blick kleine Fragezeichen. „Marlene kommt aus Österreich und ich aus Deutschland. Servus Jessica.“ Ich grinste sie an. „Wir haben gewettet, dass du aus der Schweiz kommst.“

„Ahh, versteh. Und wie heißt er? Ich konnte seinen Namen nicht verstehen.“ Sie deutete mit ihren Augen in McKenzies Richtung, der mittlerweile wieder verträumt aus dem Fenster schaute. Dies hatte er auf der Fahrt zum Flughafen schon die ganze Zeit getan.

„Das wissen wir noch nicht hundertprozentig“, gab ich grinsend zu. „Vielleicht gibt es nachher eine Teilnehmerliste, auf der wir seinen Namen rausfinden können.“

„Ich hoffe es. Hoffentlich kommen wir schnell an. Bei den Temperaturen gehe ich in meiner Hose noch ein.“ Sie zupfte an ihrem schwarzen T-Shirt, sodass die vielen silbernen Armreife an ihrem Handgelenk klimperten. Erst jetzt fielen mir ihre ganzen Tattoos auf, die unter dem Schmuck ihre Arme zierten.

„Wieso hast dich nicht umgezogen?“, fragte Marlene sie. Ich schaute auf Jessis lange schwarze Hose, die an einigen Stellen Löcher hatte. Darunter trug sie eine schwarze Netzstrumpfhose. Auch wenn ich noch nie in meinem Leben eine schwarze Netzstrumpfhose getragen hatte, konnte ich bei ihrem langbeinigen Outfit gut nachempfinden, wie sie sich bei der Hitze fühlen musste. Meine Jeans war im Koffer vermutlich immer noch von der Fahrt gestern am Trocknen.

„Mein Flug war aus Dubai schon verspätet losgegangen und mir wurde gesagt, dass ich nach der Landung direkt abgeholt würde. Hätte ich gewusst, dass der Heini da vorne mir erst zwei Stunden später entgegenkommt, dann hätte ich mich umgezogen, anstatt die ganze Zeit zu warten. Ich wollte ihn nicht verpassen. Zumal ich ja selber schon zu spät gelandet war.“

„Ja wir mussten auch schon zwei Stunden auf ihn warten“, berichtete Marlene von unserem Warten in der Unterkunft.

„Plus eine Stunde warten am Bahnhof “, ergänzte ich sie. „Also bei drei Stunden Wartezeit sind wir auch schon.“ Drei Stunden - Wahnsinn. Ans Mittagessen auf der Farm dachte ich schon lange nicht mehr. Ich beschloss, heute nichts mehr zu planen und einfach alles auf mich zukommen zu lassen. Auf dem Bus stand nicht umsonst der Slogan der Farm geschrieben:

Expect the unexpected.

„Stimmt, du hast recht. Also Jessi, du bist nicht die Erste, die heute auf den Bus warten musste. Vielleicht beruhigt dich das ein wenig.“ Marlene lächelte.

„Na ja, solange wir schnell ankommen und ich meine Hose wechseln kann, ist alles gut.“ Der Fahrer startete den Motor. Er schien Jessis Appell mitbekommen zu haben. Langsam fuhren wir mit dem Bus vom Flughafengelände. Während sich ein Flugzeug im Landeanflug über unseren Köpfen seinem Ziel näherte, sollte unser nächster Halt auf dem Weg zur Farm erst in anderthalb Stunden in Gobabis stattfinden.

Endlich angekommen im Zentrum von Gobabis, hielt der Bus mit quietschenden Bremsen neben der asphaltierten Straße. Von Windhoek nach Gobabis hatte es ungefähr drei Kurven und Kreuzungen gegeben. Die ganze Zeit ging es mitten durch die Steppe geradeaus. Alle paar Kilometer sah man zwar mal ein paar Rinder, die Schatten unter Bäumen suchten und in der Nähe von Farmen lebten, jedoch bekamen wir auf der Fahrt nicht einen Menschen zu Gesicht. Hier in Gobabis änderte sich das Bild. Rinder gab es hier zwar auch und nicht gerade wenig. Sie standen eingezäunt hinter Gattern oder ließen sich in der Hitze den Wind vom Anhänger aus um die Nase wehen. Doch anders als in der Prärie lebten hier auch Menschen. Viele Menschen. Kinder spielten neben der Straße mit Flaschen und Konservendosen, Frauen trugen Wasserkanister auf ihren Köpfen durch die Gegend oder kochten am Straßenrand auf offenem Feuer. Es gab ganze Siedlungen von Blechhütten, die notdürftig zusammengeschustert waren. Anstelle von Türen und Fenster hingen Tücher und Decken vor den Eingängen, oftmals mit mehreren Löchern. Mit skeptischen Blicken beäugten uns die Einheimischen, als wir an ihnen vorbeifuhren. Wir mussten im ärmeren Teil von Gobabis gelandet sein. Häuser gab es hier auch, jedoch waren die für Geschäfte, Imbisse und Supermärkte reserviert. Wir standen direkt vor einer großen Kreuzung. Ampeln gab es keine. Direkt gegenüber von uns lag eine große Tankstelle, vor der große Geländewagen parkten. Das bunte Treiben hinter der Kreuzung deutete auf eine Einkaufsmeile hin. Ich entdeckte einen kleinen Spar zwischen zwei Boutiquen. Bisher dachte ich, dass es diesen nur in Österreich gäbe. Ich hoffte, dass der Spar ähnliche Snacks wie am Wörthersee führte. Es war mittlerweile weit nach Mittag und gute sechs Stunden her, dass ich etwas gegessen hatte. Auch Marlenes Augen leuchteten, als sie das Spar-Zeichen auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte. Wir weckten McKenzie, der die ganze Zeit mit der Stirn gegen den Haltegriff des Vorderplatzes gelehnt haben musste und jetzt einen roten Abdruck über seiner Brille trug, und stiegen aus dem Bus. Die beiden Mitarbeiter taten es uns gleich und stiegen mit aus. Nur der Fahrer blieb sitzen und kurbelte wie ein Bekloppter seine Fensterscheibe runter.

„I am back in thirty minutes. So, you have time to buy some staff in the supermarket.“ Er zeigte mit dem Finger auf den Spar, den wir ja schon entdeckt hatten. „I have to take care some things. Thirty minutes. See you“ Ohne genauer darauf einzugehen, kurbelte er die Scheibe wieder hoch, setzte den Blinker und fuhr davon. Die Staubwolke hatte sich noch nicht richtig gelegt, da war er schon hinter der Kreuzung verschwunden und nicht mehr zu sehen. Wir wechselten die Straßenseite und liefen, verfolgt von mehreren Blicken, zum Spar. Er war klimatisiert. Die Freude stand uns bei der trockenen Hitze förmlich ins Gesicht geschrieben. Die erste funktionierende Klimaanlage in Afrika, dachte ich mir und schnappte mir am belüfteten Eingang einen Einkaufskorb. Mit knurrenden Mägen liefen wir durch die Gänge. Jessi suchte direkt die Getränkeabteilung auf, während Marlene und ich umgehend zum Bäcker liefen.

„Wo ist McKenzie?“, fragte Marlene, als wir gemeinsam auf die Frau hinter der Theke warteten, die gerade noch einen anderen Kunden bediente. Ich zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Der hat am Eingang irgendwas von peanut butter genuschelt und ist dann mit seinem Korb abgebogen.“ Die Kundin neben uns bestellte noch ein paar Steaks, die direkt neben der Brottheke angeboten wurden. Richtig appetitlich sah anders aus. Die Steaks schwammen in einer roten Brühe, die ein wenig an Blut erinnerte. Ganz anders die Käsebrötchen. Goldbraun überbacken grinsten sie mich in der Vitrine an.

„Nimm mich, nimm mich!“

„Ich glaube, ich nehme zwei Käsebrötchen. Weißt du, ob Jessi auch was wollte?“

„Sie wollte eigentlich nur Zigaretten und einen Energydrink kaufen. Wir können ihr ja ein Käsebrötchen mitbringen. Ich nehme auch zwei. Frage ist, ob wir für McKenzie was mitbestellen sollen.“ Ich drehte mich um und sah McKenzie, der gerade in die Keksabteilung abbog. Von Weiten sah er mit seinem roten Balken auf der Stirn jetzt wirklich aus wie Harry Potter. In seinem Korb lagen zwei XXL-Peanut-Butter-Gläser. Ich grinste.

„Ich glaube, dass er schon selber satt wird.“ Er erfüllte wirklich alle Klischees eines Amerikaners. Der, der mit ihm auf ein Zimmer kommen sollte, tat mir jetzt schon leid. Bei den zwei großen Erdnussbuttergläsern …

„Okay, also fünf Käsebrötchen“, fasste Marlene zusammen. Mit fünf Käsebrötchen in der Tüte liefen wir Richtung Kasse weiter durch die Gänge. Neben Oreo-Keksen landeten noch zwei Cola-Flaschen und eine Wasserflasche in meinem Korb. Auch Jessi war in der Getränkeabteilung fündig geworden. Mit zwei Red Bull in der Hand, stand sie hinter der Kasse und deutete auf ihre Uhr. Sie wollte endlich eine rauchen. Eine Zigarette klemmte bereits hinter ihrem Ohr. Wir zahlten zügig unsere Einkäufe und warteten auf McKenzie. Neben den beiden XXL-Erdnussbuttergläsern, auf deren Etiketten eine Erdnuss vor einer Amerikaflagge abgebildet war, landeten noch mehrere Verpackungen mit Ingwerplätzchen und Crackern in seiner Einkaufstüte. Was eine Ausbeute.

In der Nachmittagssonne wieder angekommen, stellten wir fest, dass unser Fahrer noch nicht zurück war. Wir beschlossen, auf dem Rastplatz der Tankstelle zu warten, auf dem bereits die beiden Farmarbeiter mit ihrem vollgeladenen Einkaufswagen standen. Wir gingen zu ihnen, setzten uns auf die Bordsteinkante und verteilten die Käsebrötchen. Sie schmeckten, wie sie aussahen: goldig gut. Kauend beobachteten wir die Menschen, die an uns vorbeiliefen. Die meisten von ihnen trugen kaputte Kleidung, die von Dreck, Schmutz und Staub überzogen war. Oft hingen sie wie Lappen über der Haut oder schleiften über den Boden. Passende Kleidung konnten sich wahrscheinlich nur die wenigsten leisten. Es herrschte in dieser Gegend wirklich viel Armut. Die vielen neidischen Blicke der Menschen beim Vorbeigehen auf unsere Einkaufstüten und Klamotten sorgten dafür, dass wir uns mit jeder Minute mehr schämten und fehl am Platz fühlten. Mit jeder Minute, die verging, sehnten wir uns mehr nach unserem Fahrer, von dem weit und breit noch immer nichts zu sehen war. Die halbe Stunde war bei Weitem schon vorbei. Wir waren mittlerweile bei einer Stunde.

„Alda, wo bleibt der Typ?“, sagte Jessi und tigerte genervt in ihrer schwarzen Hose auf und ab. „Halbe Stunde hat er gesagt. Halbe Stunde.“ Sie schüttelte den Kopf. In der letzten Stunde hatte sie bestimmt fünf bis sechs Zigaretten bis auf den Stängel niedergequalmt und aufgeraucht. Auch die zweite Red-Bull-Dose hatte sie längst geöffnet. Ein wenig erinnerte sie mich mit ihrer Nikotin-Koffein-Ernährung an meinen Kumpel Luis in Deutschland, mit dem ich zusammen die Bankausbildung gemacht hatte. Sein täglicher Brunch bestand nach dem Aufstehen aus Kippe und Kaffee, und Kippe und Red Bull auf dem Weg zur Arbeit. Und das als Landesligafußballprofi.

„So eine Kacke.“ Doch anders als er hatte Jessi gerade keine gute Laune und kein breites Lachen drauf. Erschöpft und angepisst von der Gesamtsituation kniete sie sich neben dem Einkaufswagen in die Hocke.

„Der kommt schon gleich“, versuchte Marlene sie zu besänftigen. Doch so sicher war sie sich auch nicht mehr. Diese ganze Warterei hinterließ bei jedem so seine Spuren. Während mir eigentlich nur warm war, konnte Jessi einem nur leidtun. Schlafmangel, lange Klamotten, die Hitze … Wie ein Häufchen Elend starrte sie auf den staubigen Boden. Ihren Aufenthalt in Afrika hatte sie sich bis jetzt bestimmt auch anders vorgestellt.

„Hey Jacqueline, äh Jessica …“ Ich biss mir auf die Lippen. Ich hatte sie jetzt nicht wirklich mit Jacqueline angesprochen, oder? Langsam hob sie ihren Kopf vom Boden. Sie schaute aus wie ein angeschlagener Boxer, der gerade auf die Bretter gegangen war und noch mal die zweite Luft bekam.

„Ey Alda.“ In ihrem Blick loderte das Feuer. Ich ahnte Böses.

„Alda, du hast mich nicht ernsthaft Jacqueline genannt, oder?“ Entsetzt schaute sie mich an. Entschuldigend formte ich meine Hände so, als ob ich beten wollte. Ich überlegte, ob ich nicht doch besser wegrennen sollte.

„Sorry, ich meine natürlich Jessica. Bin nicht so mit Namen hehe“

„Pass gut auf, Zilas“, sagte sie und hob lachend den mahnenden Finger in die Luft. Erleichtert pustete ich durch. Wenigstens lachte sie jetzt wieder. „Wie alt seid ihr eigentlich?“

„Ich bin 20, Marlene ist, glaube ich, 18 Jahre …“

„Was ist mit mir?“

„Du bist 18, oder?“ Sie nickte und schaute wieder auf ihr Handy. „Genau, Marlene ist 18 und er ist …?“ Fragend schaute ich zu McKenzie, der gerade seine Brille putzte und polierte.

„Hey McHänsi …“

„McKäääääänzie. My name is McKäääänzie.“

„Oh ja, stimmt, sorry McHääänsi. How old are you?“

„Twenty-four“ Er war nicht so der große Redner und saß wie im Bus die meiste Zeit eher still da. Er wunderte sich nicht, dass der Fahrer noch nicht zurück war. Im letzten Jahr war es genauso abgelaufen. Pause in Gobabis, Fahrer fährt weg, um Erledigungen zu machen, und taucht Stunden später wieder auf.

„Dreiunddreißig? Dreiunddreißig? Drei und drei?“ Schockiert schaute ich Jessi an. „Du bist niemals 33 Jahre alt.“

„Doch, doch, glaubt mir.“ Sie grinste.

„Beweis es!“, forderte ich sie auf. „Personalausweis, Reisepass oder Familien-Stammbaum- Egal.“

„Ist im Bus und Koffer. Kann ich dir nachher zeigen.“ Sie holte ihr Feuerzeug aus der Hosentasche und steckte sich eine neue Zigarette in den Mund. „Aber danke für das Kompliment.“ Sie pustete eine große Rauchwolke in die Luft und lächelte.

„Ich hätte dich auf 25, 26 geschätzt.“

„Ja ich auch“, sagte Marlene. „Du siehst nicht aus wie 33.“

„Nach diesem Urlaub schon. Ich bin, glaube ich, in den letzten Stunden schon um drei Jahre gealtert. Weiß gar nicht, wie ich die nächsten sechs Wochen schaffen soll. Ich bin jetzt schon fix und fertig.“ Ich schaute wieder Richtung Kreuzung. Immer wieder kamen weiße Busse vorbei, die unserem Bus vom Aussehen ziemlich nahekamen. Leider hatte jedoch keiner von ihnen einen Anhänger geladen. Die Chancen standen also nicht schlecht, dass wir die nächsten sechs Wochen hier verbringen mussten. Ohne Koffer und Wechselsachen, dafür aber mit reichlich Peanut-Butter, Ingwerkeksen und umgeben von wildfremden Menschen. Letztere näherten sich immer mehr unseren Sachen. Wir waren mit unseren vollen Einkaufstaschen das Thema in der Gegend. Auch jetzt kamen wieder drei Menschen auf uns zu und deuteten auf unsere Einkäufe.

„Go away!“, schrie der eine Farmarbeiter in ihre Richtung, um sie zu verscheuchen. Doch sie wollten nicht gehen. Erst als er vom Bürgersteig aufstand und mit Plastikflasche auf sie zuging, drehten sie sich von uns weg und suchten schnell das Weite. Kopfschüttelnd setzte sich der Farmarbeiter zurück auf den Bürgersteig und hob seine Zigarette vom Boden auf, die ihm durch das ruckartige plötzliche Aufspringen aus der Hand gefallen war. Er murmelte irgendwas vor sich hin und zündete sich die Zigarette wieder an.

„Also, ich hätte nichts dagegen, wenn der Fahrer jetzt langsam mal käme“, sagte Marlene. „Ich fühle mich richtig unwohl mit den ganzen Tüten. Wie auf dem Präsentierteller.“ Sie sprach aus, was jeder von uns dachte. Es reichte langsam. Auch wenn der Farmarbeiter sehr unfreundlich und unhöflich reagiert hatte, waren wir froh, dass wir nicht allein hier herumsaßen. Ich wollte nicht rausfinden, ob die drei Männer auch abgehauen wären, wenn McKenzie und ich mit einem Kampfgewicht von vielleicht 140 Kilogramm sie angeschrien hätten. Da hätte wohl Jessi allein mit ihren Augenringen schon mehr Erfolg gehabt.

„Go, go. Come on. Go away.“ Erneut hörte ich den Farmarbeiter rufen. Ich schaute zu ihm, um zu sehen, wenn er meinte. Er meinte nicht die drei Männer. Diese waren über alle Berge verschwunden. Ich entdeckte einen kleinen Jungen, der sich uns vorsichtig von der Seite näherte. Schüchtern zeigte er auf unsere Taschen. Seine Hose war an einem Bein komplett zerrissen, sein T-Shirt mindestens zwei Größen zu groß. Seine Füße waren vom hellen Staub ganz weiß gefärbt. Verzweifelt schaute er jeden von uns in die Augen und formte seine Lippen zu Wörtern.

„Go, go“, schrie der Farmarbeiter und warf einen kleinen Stein in seine Richtung. Der Junge wich reaktionsschnell aus. Ich merkte, wie er auf meine Cola-Dose schaute. Diese hatte ich in meiner Hand fast ganz vergessen. Sie war noch halb voll.

„Leute, ich glaube, der Junge hat Durst und möchte was trinken. Was soll ich machen?“ Hin und hergerissen schaute ich die Gesichter der anderen. Das Betteln des Jungen konnte ich nicht einfach ignorieren. Er musste ungefähr so alt sein wie mein Bruder.

„Musst du wissen“, sagte Jessica. „Wenn du möchtest, dann gib ihm was. Pass aber auf, dass das kein anderer mitbekommt. Dann wollen alle was haben.“ Ich schaute zum Jungen. Er machte eine trinkende Geste und zeigte dabei auf meine Flasche. Ich überlegte. Jessi hatte recht. Wenn die anderen Menschen mitbekommen würden, wie ich dem Jungen etwas abgab, dann sollte uns der Bus besser jetzt als gleich einsammeln. Mein Blick fiel auf einen Busch, der links von mir gute drei Meter entfernt war und mit ein paar Ästen zusammen wahrscheinlich so etwas wie ein Beet darstellen sollte. Ohne weiter unnötig nachzudenken, ging ich langsam Richtung Beet und machte beim Gehen mit der Cola ein paar Trinkbewegungen. Jeder, der mich jetzt beobachtete, sollte denken, dass ich gerade meine Flasche leer trank und wegschmeißen wollte. Langsam und vorsichtig, um nichts umzustoßen, stellte ich die halb volle Cola auf den Boden ab und ging wieder zurück zu den anderen. Sie hatten mir die ganze Zeit nachgeschaut. Ich setzte mich zu ihnen auf den Boden und machte eine leichte Kopfbewegung nach links zum Jungen. Er schaute mich abwartend an. Ich deutete auf die Dose und nickte. Er verstand und lächelte. Mit schnellen Schritten lief er zum Beet und hob die Cola vom Boden auf. Gierig trank er ein paar Schlucke und schaute sich dabei um. Keiner hatte ihn beim Trinken bemerkt. Er nickte mir zu und lief eilig davon. So schnell, wie er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Ich schaute ihm noch eine Weile nachdenklich nach.

„Hast du gut gemacht, Zilas.“ Jessi klopfte mir auf die Schulter. „Hast dem Kleinen eine Freude gemacht. Sehr gut.“

„Ich hoffe.“ Ich lächelte ihr zu. „Ich hoffe …“


„1080 Eier. 1080. Ernsthaft?“ Kopfschüttelnd zählte Jessi die Pakete noch mal nach, die im Bus zwischen den Sitzreihen auf dem Boden standen und den Durchgang versperrten. „Rechnet mal bitte mit, Freunde. Ich glaub das einfach nicht.“ Ich lehnte mich in den Gang, um besser zählen zu können.

„Wir haben sechs Pakete. Jedes Paket hat sechs Paletten. Jede Platte hat eins, zwei, drei … jede Platte hat fünfundzwanzig, ne, Quatsch, sind sechs Reihen, dreißig Eier. 30 Eier mal 6 Paletten mal 6 Pakete sind?“

„1080“, sagte ich. „180 mal 6. 100 mal sechs ist 600. 80 mal 6 sind 480. 600 plus 480 macht 1080.“ Ich lachte.

„Ja, 1080 ist richtig.“ Marlene kam mit anderer Formel und Rechnung auf das gleiche Ergebnis. Jessi schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

„Sagt mir bitte nicht, dass ich mir wegen 1080 Eiern zwei Stunden lang in der Hitze einen weggeschwitzt habe in der Hose? Bitte nicht.“ Ich hätte ihr gerne etwas anderes gesagt. Doch es war wahr. Wir hatten zwei Stunden auf dem Parkplatz gewartet. Wegen 1080 Eiern. Es macht einfach keinen Sinn. Als ich die ersten Eier-Kartons zum ersten Mal im Gang sah, schossen mir gleich mehrere Fragen durch den Kopf:

Warum 1080 Eier? Warum? Verstehen sie Spaß? Hier in Namibia? Quatsch. Wo soll denn bitte die versteckte Kamera sein? Könnte das da eine sein? Expect the unexpected. Als ob 1080 Eier wirklich für unexpected stehen? Niemals. Und wieso lacht McHänsi gerade so dreckig hinter mir? Hat er was damit zu tun? Wusste er davon? Heißt er jetzt eigentlich McHänsi oder McKäääänzie? Und warum kauft er bitte zwei große Gläser Erdnussbutter und kein Brot dazu? Silas, du schweifst ab ...

Ich schüttelte den Kopf. Auf all die vielen Fragen fand ich spontan keine Antworten, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als mit großen Schritten vorsichtig über die Pakete zu steigen und mich auf meinen Platz zu schwingen. Die anderen taten es mir gleich und stolperten ebenfalls über die Pakete zu ihren Plätzen. So verrückt diese ganze Geschichte mit den Eiern auch war, irgendwie war es auch witzig. Ich schaute von meinem Platz zurück zu Jessi. Seufzend ließ sie sich in ihren Sitz fallen und blickte erschöpft aus dem Fenster. Mit ein bisschen Abstand und einer kurzen Hose würde hoffentlich auch sie bald über die Zahl 1080 lachen können …


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