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Liebeserklärung an eine Stimme

Eine Vorbemerkung

Es war zu Beginn der Achtzigerjahre, als ich in Berlin eine Aufführung von Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe hörte – ein Werk, von dem ich jede Note zu kennen meinte, weil ich es selbst oft im Chor mitgesungen hatte. Auch dass es sich um eine Aufführung in historischer Spielweise handelte, schreckte mich nicht; immerhin rechnete ich mich selbst zu denen, die an der Wiederentdeckung der Alten Musik und an ihrer Wiedergewinnung für die musikalische Praxis mitarbeiteten, als langjähriges Mitglied im Hamburger Monteverdi-Chor ebenso wie als Musikwissenschaftlerin mit einem Hang zu Monteverdi und zu der Musik seiner Zeit. An die Aufführung insgesamt erinnere ich mich kaum noch; sie mag schön gewesen sein – außergewöhnlich war sie wohl nicht. Bis das Agnus Dei begann – jenes wehmütig transzendente Alt-Solo in g-Moll mit Violinbegleitung, von dem jede Altistin träumt, es einmal singen zu können. Es war das erste Mal, dass ich das Agnus Dei von einem Mann gesungen hörte. René Jacobs war damals, vor dreißig Jahren, ein bekannter Name in der Alte-Musik-Szene, ein Altus, der so ganz anders klang als die englischen Countertenöre und der die an diesen spezifisch englischen »Sound« gewöhnte Szene durchaus spaltete. In den Kritiken, namentlich denen in Early Music, dem in London erscheinenden Zentralorgan für Alte Musik und historische Aufführungspraxis, war wiederholt von »mannerism« die Rede, ein Begriff, der sich gern auch mit dem Epitheton »continental« schmückte. Deutlicher konnten sich die Ressentiments kaum artikulieren: René Jacobs war der Erste, der die englische Deutungshoheit über das Falsettieren und die musikalische Interpretation, die daraus resultierte, durchbrach und nachdrücklich einem anderen Klangideal huldigte. Sein Gesang – insofern traf die englische Kritik, wenn man von ihrem unsachlich polemischen Unterton einmal absah, tatsächlich den Kern – war mehr von französischen Techniken und Stilvorstellungen durchdrungen als von englischen.

Mich, die ich mit meiner tiefen Altstimme im Chor für jene Mittelstimmen in Monteverdis Madrigalen zuständig war, die mal als die unterste der Oberstimmen, mal als die oberste der Unterstimmen fungierte, mal dem Frauenensemble, mal dem Männerensemble zugerechnet wurde und nirgendwo so recht Leuchtkraft entfalten konnte, traf diese Stimme mitten ins Herz. Was da erklang, war etwas, das von einer tiefen Frauenstimme, einer brustig voluminösen zumal, wie sie im Oratoriengesang damals noch üblich war, kaum weiter entfernt sein konnte. Sinnlich und dennoch wie körperlos, unleugbar männlich im Timbre und zur selben Zeit weiblich, was die Stimmlage betraf, ohne dabei in einer diffusen Androgynität zu verschwimmen, ausdrucksstark und distanziert zugleich: René Jacobs’ Interpretation des Agnus Dei eröffnete mir ein neues Verständnis von dieser Musik, die ich doch so gut zu kennen meinte, nicht nur durch den Klang seiner Stimme, sondern auch – und damit untrennbar verbunden – durch seine musikalische Darlegung des Textes, der sich nun nicht mehr dunkel und gequält, sondern licht und hoffnungsfroh artikulierte.

Damals umgab diese Stimmen, für die schon ein übergreifender Name – Countertenor, Kontratenor, Altus, Contralto, Falsett – schwer zu finden war, noch ein gewisser Ruch des Skandalösen, zumal seit man angefangen hatte, die Kastratenpartien der Barockoper mit Countertenören zu besetzen. Dass diese Besetzungspraxis von England ausging, darf nicht überraschen, denn die englischen Kathedralen waren der einzige Ort, an dem das Falsettsingen die Zeiten überdauert hatte, ohne darüber hinaus jemals mit der Kultur des Kastratengesangs einschließlich ihrer medizinischen Implikationen ernsthaft in Berührung gekommen zu sein. Auch Alfred Deller, der als Erster aus der Kirchenmusiktradition herausgetreten war und den solistischen Countergesang gleichsam neu erfunden hatte, assoziierte seine Stimmlage nicht mit der eines Kastraten. Für das Repertoire, dem er sich bevorzugt widmete, namentlich das englische Lautenlied und die englische Semi-Opera, stellte sich die Frage nach der Übertragbarkeit der historischen Kastraten- auf moderne Countertenorstimmen gar nicht, und seine einzige Einspielung einer Händel-Oper (Sosarme, 1954) blieb ein singuläres Experiment. Dellers Gesang strafte auch jene Kritiker Lügen, die in der Countertenorstimme, im Falsettieren etwas Gekünsteltes, Forciertes, Unnatürliches, Gepresstes zu hören vermeinten. In einem Gespräch mit Michael und Mollie Hardwick betonte er, dass jede Stimmlage natürlich und es Aufgabe jedes Sängers sei, die seine als gegeben hinzunehmen: »An important thing for a countertenor to bear in mind always is that there’s nothing remarkable about being able to sing high. A lot of men can sing higher than I can. What matters is what one does with the voice, how one uses it, and this is something which cannot really be taught to anyone who can’t experience it instinctively. […] The most important thing for all singers, I believe, is an understanding, and an acceptance, and a humility in the presence of what nature has given you.« (M. und M. Hardwick, Alfred Deller, A Singularity of Voice, London 1980, 188f.)

Alfred Deller war kein Opernsänger. Seine Domäne war die englische Musik des 16. und 17., nachher auch des 20. Jahrhunderts, sein Terrain der Konzertsaal. Später dann, als die Opernbühnen der Welt in der Folge des Jubiläumsjahres 1967 aus Anlass seines 400. Geburtstags den Komponisten Claudio Monteverdi entdeckten und für verschiedene männliche Rollen Altstimmen benötigten, als man darüber hinaus anfing, die Kastratenpartien in Händels Opern nicht mehr mit Frauen, sondern hier und da auch mit einem Mann zu besetzen, standen vor allem englische Countertenöre wie James Bowman oder Paul Esswood zur Verfügung; ihre spezifische Stimmqualität prägte die Vorstellung davon, wie männliche Altstimmen zu klingen hätten, nachhaltig. Und so einfach, wie es heute scheinen mag, war der Wechsel von Frauen in Männerkleidern zu Männern mit Frauenstimmen auf den Opernbühnen der Siebzigerjahre keineswegs: Zum einen gab es für den explodierenden Markt der Barockoper zunächst nicht genügend Sänger, die diese Rollen hätten singen und vor allem darstellen können, und zum anderen waren die englischen, primär an Lautenliedern und Kirchenmusik geschulten Stimmen so verschieden von den auf Kraft und Virtuosität getrimmten Opernstimmen, dass ein homogenes Ensemble auf der Bühne kaum zustande kommen konnte. Die teilweise nicht gänzlich befriedigenden musikalischen Lösungen verstärkten die Akzeptanzprobleme dieser neuen Stimmen, wobei es nicht nur um die Klanglichkeit der männlichen Altstimmen, sondern auch um das aktuelle gesellschaftliche Verständnis von Männlichkeit ging. Wie schon im 18. Jahrhundert, als die vorgeblich »echten« Männerstimmen Tenor und Bass für die Heldenpartien in der Oper gegen den vermeintlich weibischen und verweichlichten Kastratengesang in Stellung gebracht wurden, entzündete sich auch zweihundert Jahre später an den Countertenören auf der Opernbühne erneut eine hitzige Diskussion um männliches Rollenverständnis – so als ob die Stimmlage einer Opernfigur Rückschlüsse über die Person des Sängers erlaubte.

Dass die Situation heute, nur eine Generation später, mit der damaligen kaum mehr vergleichbar ist, dass die männlichen Altstimmen inzwischen nicht nur wie selbstverständlich auf den Opernbühnen agieren, sondern vom Publikum oftmals auch gar als die heimlichen und weniger heimlichen Stars im Sängerensemble gefeiert werden, dass sie sich auch deshalb perfekt ins Ensemble einfügen, weil ihre Gesangstechnik und Interpretationsweise sich ebenso verändert hat wie die ihrer Kolleginnen, dass es inzwischen großartige Altsänger überall auf der Welt gibt, ist nicht zuletzt jenen Musikern der ersten Stunde der Alte-Musik-Bewegung zu verdanken, die ihr musikalisches Wissen nicht nur als Künstler vor dem Publikum präsentiert, sondern auch als Lehrer an die nächsten Generationen weitergegeben haben.

René Jacobs, Jahrgang 1946, gehört in vorderster Linie dazu. Sein Werdegang vom Chorknaben zum Berufssänger und zum Dirigenten mag nicht untypisch für viele Musiker seiner Generation sein, die sich der Alten Musik verschrieben haben. Anders als jene, die, wie etwa Nikolaus Harnoncourt oder Jos van Immerseel, ihr Repertoire bis weit ins späte 19. und ins 20. Jahrhundert erweiterten, blieb Jacobs den musikalischen Jahrhunderten, die den Anfang seiner Karriere markieren, jedoch weitgehend treu; seine Art der Erweiterung richtet sich eher auf eine immer genauere Exploration der Kunst eines Monteverdi, eines Händel oder eines Mozart, eher auf den Rollenwechsel vom Sänger zum Dirigenten, eher auf die Wiederentdeckung zahlreicher Werke des 17. und 18. Jahrhunderts als auf eine Ausdehnung des musikalischen Zeitraums bis in spätere Jahrhunderte hinein. Wenn er im Gespräch darauf verweist, er sei »stolz gewesen, Alte Musik zu machen«, so wird an dieser knappen Bemerkung deutlich, worum es ihm und vielen anderen damals, als er seine Karriere begann, neben der Freude, Musik zu machen, auch noch ging: daran mitzuwirken, mit der Erschließung gänzlich unbekannten Repertoires für die musikalische Praxis einen epochalen Wandel im Musikleben des 20. Jahrhunderts einzuleiten und mit der neuen Interpretation altbekannter Werke wie etwa der h-Moll-Messe, des Messiah oder der Zauberflöte das Hören selbst vermeintlich vertrauter Musik zu erweitern. Dieser Maxime ist er bis heute treu geblieben – treu über alle Perspektivwechsel vom Sänger zum Lehrer zum Dirigenten hinweg.

Für einen Sänger seiner Generation, die selbst bei Lehrern studierte, die von Alter Musik und ihrer Aufführungsweise keinerlei Kenntnis hatten, bedeutete die Wiederentdeckung des Madrigals und der Motette, des Air de Cour und des kleinen geistlichen Konzerts, der frühen Oper und des frühen Oratoriums, der Monodie und des Kammerduetts freilich eine große Herausforderung – weit größer als für einen Instrumentalisten; denn ein Sänger konnte nicht an einem gut erhaltenen historischen Instrument im Museum Klangqualitäten studieren und Spieltechniken ausprobieren. Beim Aneignen dessen, was historisch denkbar war, leisteten dem Sänger lediglich schriftliche Sekundärquellen wie Gesangsschulen, zeitgenössische Berichte über die Kunst berühmter Sänger der Vergangenheit oder Aufführungshinweise in Vorworten der Musikdrucke Rekonstruktionshilfe – und eine hoch differenzierte Imaginationskraft, wie diese Verbalien in klingende Musik umgesetzt werden konnten. Authentizität, jene unheilvolle konzeptuelle Chimäre, die so viele Missverständnisse in die Diskussion um die historische Aufführungspraxis hineingetragen hat, war im Gesang noch weniger zu erreichen als im Instrumentenspiel, weil jede Möglichkeit einer Rekonstruktion von vornherein durch einen breiten, nicht einmal durch materielle Hinterlassenschaften vergangener Zeiten wie die alten Instrumente wenigstens ansatzweise überbrückbaren Graben verstellt war. Die Gesangskunst vergangener Zeiten ist unwiederbringlich verloren. René Jacobs hat, in seiner Eigenschaft als Sänger ebenso wie später als Lehrer und Dirigent, neue Wege gesucht und aufgezeigt, all jene Musik wieder hörbar zu machen, für die es keinerlei Aufführungstradition mehr gab, und sie nach Maßgabe dessen, was man anhand der Sekundärquellen überhaupt rekonstruieren konnte, im Sinne und nach Art ihrer eigenen Zeit aufzuführen.

Auch René Jacobs hat die männliche Altstimme noch einmal neu erfunden – auf eine ganz andere Art als Alfred Deller. Seine Virtuosität entstammt anderen technischen Quellen als Dellers elegischer Gesang. Der Klang und die Führung seiner Stimme wissen mehr von der französischen als von der englischen Tradition. Seine Artikulation ist stärker auf Pointiertheit als auf Ebenmaß ausgerichtet. Und sein dramatischer Zugriff auch auf die geistliche oder die Kammermusik lässt seine profunde Literaturkenntnis der gesangstechnischen ebenso wie der ästhetischen Schriftquellen erahnen. René Jacobs hat seine musikalischen Erfahrungen weitergegeben und als Dirigent dazu beigetragen, dass die Welt der Oper heute eine andere ist als noch vor dreißig Jahren. Die Wiederentdeckung Francesco Cavallis für die moderne Opernbühne trägt seine Handschrift, und sein Sinn für das Groteske materialisiert sich nicht nur in diesen Seicento-Opern und ihrem späten Echo in Händels Opernschaffen, sondern auch in diversen anderen Ausgrabungen wie etwa Florian Leopold Gassmanns L’opera seria, die seiner Neugier auf ungehobene Schätze in den Archiven immer wieder Nahrung geben.

Mit René Jacobs über seinen Werdegang als Sänger, als Lehrer und als Dirigent zu sprechen ist nicht nur ein intellektuelles Vergnügen besonderer Art, weil er zu den nicht allzu häufig anzutreffenden Musikern gehört, die sich skrupulöse Rechenschaft über ihr künstlerisches Tun geben; es ist auch ein Eintauchen in die Anfänge jener Alte-Musik-Bewegung, die heute, nur eine Generation später, in ihrer unbezähmbaren Neugier auf das Unbekannte, in ihrem robusten Vertrauen auf die Machbarkeit historischer Rekonstruktion vermeintlich verklungener Musik, aber auch in ihren bisweilen kleinkrämerischen Fehden um die wahre Art, den Bogen zu führen, oder in ihren nationalen Idiosynkrasien wie die Stimme aus einer anderen, längst versunkenen Welt anmutet. Auch in der Musik waren die späten Sechziger- und die Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts eine Zeit des Aufbruchs, eine Expedition in die Vergangenheit als Wegbereiter einer Zukunft der Musikpraxis, die heute so selbstverständliche Gegenwart geworden ist, dass wir uns kaum noch vorstellen können, was es um 1960 bedeutete, sich mit der Musik aus der Zeit vor Bach und Händel zu beschäftigen.

Blickt man auf das aktuelle Angebot an Einspielungen, so mutet es heute wie ein Märchen aus alten Zeiten an, dass Monteverdi außerhalb von Spezialistenkreisen ein unbekannter Name war, dass die ersten Einspielungen von Opern Händels, die dem Anspruch einer musikalischen Originalgestalt genügen wollten, kaum drei Jahrzehnte alt sind und dass Countertenöre noch lange über diese Zeit hinaus in dem Verdacht standen, vielleicht doch keine richtigen Männer zu sein. Es war die Zeit, in der die Gräben zwischen den Verfechtern der historisierenden und der traditionellen Aufführungspraxis sich auftaten, in der Freundschaften über der Frage, wie man den Triller zu spielen hätte, zerbrachen. Es war aber auch die Zeit, in der die Konzertprogramme voller unbekannter, zum ersten Mal wieder aufgeführter Kompositionen waren und die Schallplattenindustrie serienweise noch nie eingespielte Werke auf den Markt brachte.

René Jacobs hat zu dieser Entwicklung entscheidend beigetragen. Manche seiner Einspielungen von damals sind bis heute richtungweisend; vieles hat er zum ersten, teilweise bis heute zum einzigen Mal eingespielt, und zahlreiche junge Sänger, die nicht die Gelegenheit hatten, direkt bei ihm zu studieren, dürften seine Einspielungen genau angehört und ihren eigenen Stil, vor allem ihre Verzierungspraxis an der seinen geschult haben. Heute gehört Jacobs zu den bekanntesten Operndirigenten für das Repertoire des 17. und 18. Jahrhunderts; durch den Wechsel von der Bühne in den Orchestergraben hat er sein Repertoire bis in jene historischen Regionen erweitern können, in denen die hohen Männerstimmen immer seltener gefragt waren – bis hin zu Mozart und , zu Beethoven und Rossini. Und alle seine Interpretationen, auch die sinfonischer Musik, lassen in ihrem rhetorischen Zugriff deutlich hören, dass hier ein Sänger und nicht ein Instrumentalist die musikalische Leitung hat.

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Dieses Buch basiert auf Gesprächen, die ich mit René Jacobs in Paris geführt habe. Es ist ein Gang durch die Geschichte der Alte-Musik-Bewegung eines halben Jahrhunderts ebenso wie eine sehr persönliche Sicht auf die Musik, mit der Jacobs sich beschäftigt, und eine kritische Reflexion über das eigene Tun. Jacobs spricht fließend Deutsch; der lockere Gesprächston, von dem die Interviews lebten, konnte ohne größere Eingriffe beibehalten werden. Roubina Saidkhanian war immer dabei; sie hat Termine koordiniert, Tee gekocht, Dokumente herausgesucht, Fotos gemacht, Texte gescannt, Manuskripte verschickt und mit unendlicher Umsicht und Geduld dazu beigetragen, dass das Projekt seinem glücklichen Ende entgegengehen konnte. Christine Faist hat die Mitschnitte der Pariser Interviews in Heidelberg mit großer Sorgfalt transkribiert und auf diese Weise ein erstes Manuskript erstellt, das dann in die Form eines Buches gebracht werden konnte. Jutta Schmoll-Barthel und Dorothea Willerding haben alles getan, damit das Buch auch von Seiten des Verlags gebührende Aufmerksamkeit erfuhr. Ihnen allen sei für die Unermüdlichkeit ihres Einsatzes und ihres Verständnisses herzlich gedankt.

Silke Leopold

Mai 2013

René Jacobs im Gespräch mit Silke Leopold

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