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»René, weiterspielen, weiterspielen!«

Stationen einer Karriere

Belgien ist ein kleines Land, aber eines mit einer großen Musiktradition. Schon im Mittelalter prägten Musiker aus dem franko-flämischen Raum das europäische Musikleben. Margarethe von Österreich, zwischen 1507 und 1530 Statthalterin der Niederlande, machte Brüssel und Mecheln zu wichtigen Zentren der Musikpflege. Antwerpen gehörte seit dem 16. Jahrhundert zu den bedeutendsten Publikationsorten für Musikdrucke. Belgien ist wohl auch die einzige Nation der Welt, die ihre Entstehung einer Opernaufführung verdankt: 1830 sorgte ein Abend im Brüsseler Théâtre La Monnaie mit Daniel-François-Esprit Aubers La Muette de Portici, in der ein Aufstand der neapolitanischen Fischer gegen den spanischen Vizekönig aus dem Jahre 1647 verherrlicht wird, nach der Aufführung für einen Volksaufstand, in dessen Folge der unabhängige Staat Belgien begründet wurde. Belgische Musikforscher wie François-Joseph Fétis, Herausgeber eines umfassenden Musiker-Lexikons, oder Alfred Wotquenne, dessen Name in dem von ihm erstellten Werkverzeichnis Carl Philipp Emanuel Bachs weiterlebt, sorgten seit dem 19. Jahrhundert für die herausragende Bedeutung, die das Brüsseler Konservatorium und namentlich die reiche Musikaliensammlung mit unzähligen Handschriften und Drucken besonders aus dem 17. und 18. Jahrhundert bis heute hat.

Als in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die historische Aufführungspraxis Fahrt aufnahm und sich von einer eher randständigen, nur an einigen Orten und mehr unter Ausschluss als im Lichte der musikalischen Öffentlichkeit gepflegten Musizierweise zu einem Phänomen mit großer Breitenwirkung entwickelte, übernahm Belgien in Gestalt der Familie Kuijken zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine wichtige Rolle. Die Brüder Wieland (* 1938), Sigiswald (* 1944) und Barthold (* 1949) Kuijken, traditionell und klassisch ausgebildet, waren auf der Viola da Gamba, der Barockvioline und der Traversflöte zunächst Autodidakten, nahmen aber schon bald durch ihre eigenen Erfahrungen mit den alten Instrumenten und Spielweisen als Lehrer großen Einfluss auf die nachfolgende Generation. 1972 gründete Sigiswald Kuijken das Orchester La Petite Bande, dessen Einspielungen von Opern, Oratorien und sinfonischer Musik hauptsächlich des 18. Jahrhunderts für Jahre stilbildend waren.

René Jacobs, am 30. Oktober 1946 geboren, stammt aus Gent, der drittgrößten Stadt Belgiens, einer Stadt, die ihrerseits mit einer reichen Musiktradition gesegnet ist. Ruft man etwa in Wikipedia die Seite »Liste von Söhnen und Töchtern der Stadt Gent« auf, so stellt man fest, dass in den 1940er-Jahren dort drei Knaben geboren wurden, die heute für das europäische Musikleben große Bedeutung haben. Sie wuchsen nebeneinander auf, ohne miteinander zu tun zu haben, weil sie auf unterschiedliche Schulen gingen oder unterschiedlichen Jahrgängen entstammten: Gerard Mortier (* 1943), Intendant verschiedener Opernhäuser wie zum Beispiel des Théâtre La Monnaie in Brüssel, der Opéra national de Paris oder des Teatro Real Madrid und Festivals wie den Salzburger Festspielen oder der Ruhrtriennale, Philippe Herreweghe (* 1947), nicht nur im Bereich der Alten Musik, sondern auch für das Repertoire des 19. Jahrhunderts hoch geschätzter Chorleiter und Orchesterdirigent, und René Jacobs, der als Sänger begann und nun mit seinen Operndirigaten und -einspielungen Furore macht.

René Jacobs gehört zur ersten Generation von männlichen Altstimmen, die seit den 1970er-Jahren unsere Vorstellung, wie die Gesangskunst des 17. und 18. Jahrhunderts geklungen haben könnte, revolutionierten. Gemeinsam mit dem gleichaltrigen und früh verstorbenen Henri Ledroit huldigte er einem Klangideal, das sich aus der französischen Haute-Contre-Stimme als einer hohen männlichen Stimme eher speiste als aus der englischen Kirchentradition mit ihren gleichsam entrückten, auf pure Klangschönheit eher denn auf emotionalen Ausdruck hin ausgebildeten Countertenören. Diese erste Generation hatte keine wirklichen Lehrer und keine Vorbilder, an denen sie ihr Tun orientieren konnte; sie musste – oder durfte? – ihren Weg selbst finden.

Künstlerbiografien beginnen zumeist unterhaltsam mit zahlreichen Geschichten und Anekdoten aus Kindheit und Jugend. Auch Jacobs’ Biografie ist voll davon. Aber sie zeigt, dass sich sein Weg als Sänger schon früh abzuzeichnen begann, obwohl ihn die Pflicht zunächst auf andere berufliche Wege schickte, und sie macht deutlich, wie wichtig der Kontakt mit den belgischen und den niederländischen Weggefährten sowie auch die Erkenntnis war, dass seine Altstimme – um es in den Worten Alfred Dellers zu sagen – ein Geschenk der Natur darstellte, mit allen Konsequenzen für das, was mit dieser Stimme anzufangen war.

»Ich wollte das können«

Der Schüler

Als wir gestern, bevor das Mikrofon eingeschaltet war, über deine Anfänge geredet haben, sprach ich von deinen zwei Leben, als Sänger und als Dirigent. Da hast du mich verbessert, du habest eigentlich drei Leben, weil du, bevor du Sänger wurdest, auch Lehrer für alte Sprachen warst. Was ist deine Herkunft? Wie bist du aufgewachsen? Was hat dich zur Musik gebracht?

Ich komme nicht aus einer musikalischen Familie. Von meiner Mutter weiß ich, dass ihr Vater ein guter Geiger war. Ich habe ihn nicht gekannt, weil er zu früh gestorben ist. Aber ich habe immer gespürt, dass Musik und die Aussicht, einen Sohn zu haben, der Berufsmusiker werden würde, für meine Mutter etwas Gefährliches bedeutete. Sie hat sehr wenig über ihren Vater verraten, außer dass er Alkoholiker war, und vielleicht hat sie einen Zusammenhang zwischen Alkohol und Musik vermutet … Ich habe mich aber schon früh für Musik begeistert. Als ich mit siebzehn Jahren anfing zu überlegen, was aus mir werden solle, habe ich ihr gesagt, dass ich Musik studieren wollte. Da hat meine Mutter geantwortet – sie war eine sehr dominante Lady: »Das kannst du tun, aber du musst vorher erst ein richtiges Diplom in der Tasche haben.« Und ich habe beschlossen, Altphilologie zu studieren, weil es das am meisten allgemeinbildende Fach ist und weil ich sicher war, dass ich es auch als Musiker gut gebrauchen konnte.

Mit Musik habe ich zu tun, seit ich im Knabenchor der Genter Kathedrale singen durfte. Ich war Schüler der Kathedralschule, und dort gab es zwei Knabenchöre, einen großen und einen kleinen. Zunächst wurde ich in den großen aufgenommen, später dann in den kleinen, spezialisierten, der für die Gregorianik zuständig war und für die mehrstimmigen Messen an den kirchlichen Feiertagen. Gregorianik habe ich immer sehr gerne gesungen, und ich finde noch immer, dass man die gregorianischen Choräle für das Gesangsstudium, als Gesangsübung verwenden könnte. Denn sie haben einen kleinen Umfang, sind sehr wendig und gut für die Stimme geschrieben.


René Jacobs (rechts) als Sängerknabe im Kinderchor der St.-Bavo-Kathedrale in Gent Anfang der 1950er-Jahre © Privat

Aber das Erste, was ich in der Kathedrale von Gent gesungen habe, war die alljährliche Matthäus-Passion von Bach, eine riesige romantische Aufführung, ganz im Stil Willem Mengelbergs. Für den Choral »O Lamm Gottes, unschuldig«, der im Eröffnungschor über einem riesigen Doppelchor und Orchester erklingen sollte, wurde ein Knabenchor gebraucht, am liebsten ein sehr großer.

Bach in der katholischen Kathedrale?

Die Matthäus-Passion, ja! Es gab zwei katholische Schulen in Gent. Die andere war eine Jesuitenschule, von der Gerard Mortier und Philippe Herreweghe kamen. Obwohl sie ungefähr in meinem Alter sind, habe ich sie nicht direkt gekannt. Diese Matthäus-Passion war für mich ein derart einprägsames Erlebnis, dass ich sie heute noch im Ohr habe. Und der Traum, Sänger zu werden, war eigentlich schon sehr früh da. Ganz besonders habe ich die Altistin Aafje Heynis bewundert, die so etwas wie eine zweite Kathleen Ferrier in Holland war. Ich habe nie davon geträumt, Dirigent zu werden.

Hast du als Kind nur gesungen? Oder hast du auch ein Instrument gelernt?

Der Dirigent des Knabenchors war Priester. Wir wohnten fast neben der Schule, und er kam sehr oft zu uns nach Hause. Er war ein guter Pianist und wurde so etwas wie mein musikalischer Vater. Mit ihm habe ich spielend Musik gelernt. Wir haben gemeinsam Klavier gespielt, auch schwierige Sachen wie die Beethoven-Sinfonien für Klavier vierhändig bearbeitet. Wenn ich aufgeben wollte, weil es zu kompliziert wurde, hat er immer gesagt: »René, weiterspielen, weiterspielen!« Durch ihn habe ich gelernt, Musik schnell zu lesen. Und er hat vor allem gehört, dass ich eine gute, auch solistisch einsetzbare Knabenstimme hatte. Ich war kein Sopran, aber ein Mezzosopran. Und so kam er mit Schubert-Liedern in Transpositionen für mittlere Stimme zu uns nach Hause, und mehr als das: Eines Tages brachte er Mussorgskys Liederzyklus Kinderstube mit. Ich sang alles vom Blatt, und einiges im Konzert.

Wie alt warst du da?

Zehn oder elf. Ich habe alles auf Deutsch gesungen, auch Mussorgsky. Durch Schubert und Mozart habe ich die deutsche Sprache lieben gelernt. Am meisten liebte ich die melancholischen Lieder, zum Beispiel Mozarts Abendempfindung. Ein Kind kann die Melancholie der Musik fühlen, versucht sie aber nicht zu erklären. Einmal kam mein Lehrer mit einer Aufnahme von Dietrich Fischer-Dieskau zu uns. Es war seine erste Aufnahme der Schönen Müllerin mit Gerald Moore. Da tat sich mir eine ganze Welt auf, weil ich hören konnte, wie plastisch dieser König der Liedsänger den Text im Gesang gestaltete. Das war für mich als Sänger und auch als Dirigent der Keim meiner Liebe zum Text.

Wie lange konntest du als Knabe singen?

Ziemlich lange, so wie zu Bachs Zeiten, als die Knaben erst mit etwa fünfzehn Jahren in den Stimmbruch kamen. Aber irgendwann war es dann vorbei, ich hatte einen typischen langsamen Stimmbruch von Alt nach Tenor. Die Stimme ist eigentlich gar nicht gebrochen. Was ein Countertenor ist, wusste ich damals überhaupt noch nicht. Für mich war es das Natürlichste auf der Welt, ungefähr ein Jahr lang zu schweigen und dann mit meiner »neuen« Stimme weiter in einem Chor zu singen, nebenbei aber auch Gesang zu studieren. Ich habe angefangen, als Tenor Unterricht zu nehmen. Ich hatte von Natur aus eine hohe, leichtsitzende Tenorstimme, die ich ohne Probleme mit meinem Falsettregister verbinden konnte, ohne dass ich wusste, was Falsett eigentlich ist. Mein Traum war immer gewesen, den Evangelisten zu singen, und in dieser Zeit habe ich als sehr junger Sänger beim Festival van Vlaanderen sogar an einem Wettbewerb für Liedgesang in Gent teilgenommen und den dritten Preis gewonnen. Christa Ludwig und Walter Berry, die in der Jury saßen, sagten mir damals: »Eigentlich hast du keine Stimme für Lieder, weil Lieder meistens für eine mittlere Lage geschrieben sind, du aber eine ausgesprochen hohe Stimme hast.« Die Literatur, die sie mir empfahlen, habe ich dann auch zu singen versucht – den Krämerspiegel von Richard Strauss oder Paul Hindemiths Motetten mit Klavierbegleitung. Aber ich wollte doch eigentlich lieber Schubert singen – er war und ist einer meiner Lieblingskomponisten.

Mitte der Sechzigerjahre habe ich angefangen, bei Louis Devos zu studieren, einem sehr bedeutenden, damals weltberühmten belgischen Sänger und einem ausgezeichneten Pädagogen, der auch ein sehr unkonventioneller Mensch war – Spezialist für moderne Musik, Leiter eines Ensembles für Alte Musik, etwas großsprecherisch, aber ein außerordentlich guter Musiker. Devos war der festen Überzeugung, dass ein Tenor die Möglichkeit, im Falsettregister höher als eine normale Tenorpartie zu singen, nicht nutzen solle. Als ich einmal im Unterricht Ferrandos »Un’aura amorosa« aus Mozarts Così fan tutte sang und, auf »un dolce ristoro« die Orchesterbegleitung mitsingend, über das a2 hinaus bis zum h2 sang und dabei ins Falsett wechselte, schimpfte er: »Was machst du da?! Das ist eine »falsche« Stimme. Eines Tenors ist es nicht würdig, sie zu benutzen.«

Zu diesem Zeitpunkt hat dann aber die Begegnung stattgefunden, die alles verändert hat. Alfred Deller kam nach Gent. Wir traten beide in Purcells The Fairy Queen auf, er als Solist, ich im Chor. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich einen Countertenor. Ich erkannte in dieser Stimme das Register, das auch in meiner Stimme deutlich präsent und entwicklungsfähig war, das ich aber kaum einsetzen durfte oder konnte. Ich habe dann angefangen, mich mit dem Repertoire zu beschäftigen, das Deller sang, das heißt vor allem englische Musik, elisabethanische Lautenlieder, Purcell. Zweimal habe ich in Südfrankreich, in Sénanque, an seinen Sommerkursen teilgenommen. Sehr beeindruckt hat mich eine Aufnahme von Händels Sosarme, in der Deller die Titelrolle sang.

Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1954. Sie ist inzwischen so etwas wie ein Klassiker und auch auf CD veröffentlich worden.

Sie ist wohl die erste Aufnahme einer Händel-Oper mit einem Countertenor in der Titelrolle. Die herrlichen Arien und das Duett am Ende des zweiten Aktes von Sosarme …

»Per le porte del tormento«, mit einem unverkennbar britischen Akzent …

… haben mich dazu gebracht nachzuforschen, welches Repertoire für Countertenor neben dem englischen noch existiert. In der Genter Konservatoriumsbibliothek bin ich die Chrysander-Ausgabe von Händels Opern systematisch durchgegangen, ohne an diesen Opern insgesamt interessiert gewesen zu sein, wie die jungen Countertenöre heute. Ich habe mir lediglich »meine« Arien herausgesucht.

Ebenso wichtig wurde mir dann noch eine andere Ausweitung des Repertoires, deren Möglichkeiten ich bis dahin nicht ahnte: Bach. Nach meiner Begegnung mit Alfred Deller war es dann noch einmal die Matthäus-Passion, die ich so oft mitgesungen hatte, die mir jetzt eine völlig neue Richtung wies. Während meiner Militärzeit kam 1971 – ich war 24 Jahre alt – die Aufnahme der Matthäus-Passion unter Leitung von Nikolaus Harnoncourt heraus, die erste Einspielung überhaupt in historischer Aufführungspraxis und mit Paul Esswood und James Bowman, die dort die beiden Altpartien sangen. In Bachs Musik den Alt zu singen, konnte ich mit meiner hohen Tenorstimme noch nicht nachempfinden, weil die Altarien der Matthäus-Passion zu hoch für mich lagen. Aber ich wollte können, was Paul Esswood und James Bowman konnten, und so habe ich mich eine Zeit lang zwischen die Stühle gesetzt. Der Evangelist war weiterhin mein Ziel. Ich habe zunächst Solokantaten gesungen, die irgendwo zwischen hohem Tenor und tiefem Altus liegen, zum Beispiel Ich armer Mensch, ich Sündenknecht für Tenor und Widerstehe doch der Sünde für Altus. Der Stimmumfang dieser beiden Kantaten ist eigentlich etwa der gleiche, aber in zwei verschiedenen Schlüsseln notiert. Später habe ich dann eingesehen, dass die beiden Kantaten in ihrer Stimmlage doch weiter auseinanderliegen als ich erst gedacht hatte. Das hat mit den unterschiedlich hohen Stimmtönen in Leipzig und Köthen zu tun. In meiner neuen Stimmlage habe ich dann mit Lucie Frateur, einer Sopranistin, in Den Haag weiterstudiert. Technisch war ihr Unterricht für mich brauchbar, weil der Mechanismus der Countertenorstimme der Technik einer Frauenstimme näher ist als der eines Tenors. Allerdings habe ich auch sehr viel selber ausprobiert; die meisten Countertenöre sind Autodidakten. Ich habe sozusagen noch eine Etage auf das Haus oben drauf gebaut. Schließlich konnte ich mich sogar an die Arie »Erbarme dich« aus der Matthäus-Passion wagen. Es gibt zwei Aufnahmen der Matthäus-Passion unter der Leitung von Herreweghe (1984) und Leonhardt (1990), in denen ich diese für Countertenor heikle Arie singe – und nicht schlecht!

Heute bin ich mir bewusst, dass ich doch irgendwie für diesen Überbau bestraft worden bin. Ich konnte jetzt auch in den höheren Lagen singen, aber die Mühelosigkeit in der Tiefe, das problemlose Umschalten von Tenor in eine tiefere Altus-Lage wurde weniger leicht. Es wäre eine Möglichkeit gewesen, bei der hohen Tenorlage zu bleiben und zum Beispiel französische Haute-Contre-Partien zu singen, aber die höhere Musik hat mich letztendlich mehr gelockt. Dass die tiefe Lage vielleicht doch meiner natürlichen Stimme entsprach, merke ich jetzt, da ich meine Stimme nicht mehr trainiere: Am natürlichsten kommt heute diese tiefe Lage zurück und nicht die hohe.

Ich würde gerne noch einmal auf die englischen Countertenöre zurückkommen, weil du neben Alfred Deller auch James Bowman und Paul Esswood als Modelle erwähnt hast. Die Stimmqualität dieser drei Sänger ist ja sehr unterschiedlich. Ist dir das damals schon irgendwie bewusst gewesen? Was war es, was du an Deller so geschätzt hast? Die Technik? Die Stimme? Die Interpretation?

Es war nicht nur die Stimme – es war seine intuitive Interpretationskunst, wie er zum Beispiel die erste Phrase von »Per le porte del tormento« wie ein Bildhauer »modelliert« hat. Diese erste Phrase – die möchte ich an dem letzten Tag meines Lebens noch einmal hören. Was ich genauso sehr geliebt habe, ist eine sehr alte Aufnahme von zwei Bach-Kantaten für Alt in sehr unterschiedlichen Lagen: Widerstehe doch der Sünde und Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust. Beide Lagen bewältigte er gleich meisterhaft – sowohl die irdisch tiefe in der einen als auch die himmlisch hohe in der anderen Kantate. Als zutiefst expressive »Zugabe« folgt auf der Schallplatte dann noch das Agnus Dei aus der h-Moll-Messe.

Die Aufnahme entstand 1954, wie Sosarme, und es ist die erste Einspielung der Kantaten und des Agnus Dei mit Originalinstrumenten.

Es ist eine im vollsten Sinne des Wortes »historische« Aufnahme mit einem Ensemble von Pionieren: neben Alfred Deller Nikolaus und Alice Harnoncourt, Gustav und Marie Leonhardt und Eduard Melkus. Nicht alles ist da sauber gespielt und gesungen, und Dellers Deutsch ist reichlich unidiomatisch, aber er hat den Text sehr gut verstanden und mit den Farben seiner Stimme umgesetzt. Er hatte auch Manierismen, die die Kritiker damals »Dellerismen« genannt haben, ein feines Pianissimo in der hohen Lage und eine deutlich vollere Stimme in den mittleren Lagen etc. Das Entscheidende war aber, was er mit seinem unverwechselbaren Stil gemacht hat. Ich finde, es gibt wenige Countertenöre heute, die so ausdrucksvoll singen wie er, der Bahnbrecher. Bowman und Esswood waren viel weniger expressiv, und beide waren sehr unterschiedlich. Im Timbre war Bowman deutlich maskuliner, während Esswood femininer klang. Dabei habe ich Esswoods Technik sehr bewundert. Mit Bowman habe ich eine meiner ersten Aufnahmen gemacht. Leonhardt holte uns beide nach Amsterdam für John Blows Ode on the Death of Mr. Henry Purcell.

Wir sprechen jetzt gerade über die späten Sechziger- und die frühen Siebzigerjahre. Du hast in dieser Zeit ja nicht nur Gesang studiert, sondern auch, wie es deine Mutter verlangt hatte, Altphilologie an der Genter Universität. Wie ließen sich diese beiden Leben denn in Einklang bringen?

Schon während meines Philologiestudiums habe ich die Kuijkens kennen gelernt, Gustav Leonhardt, Ton Koopman und Jos van Immerseel. Ich wollte weitermachen mit der Alten Musik. Es herrschte eine richtige Aufbruchstimmung damals. Bei den Bach-Konzerten, den Kantaten und Passionen, die Koopman und Herreweghe zusammen dirigierten – Herreweghe war für die Chöre zuständig, Koopman für die Arien –, wurde ich so etwas wie der Countertenor vom Dienst. Mit den Kuijkens, deren Ensemble damals noch »Alarius-Ensemble« hieß, habe ich viel französische Musik gesungen, vor allem die wunderbaren Kantaten von Clérambault und Boismortier für Haute-Contre, in höherer Tenorlage also.

Barthold Kuijken führte mich in die Musikwissenschaft ein. Wir sind zusammen nach Paris gefahren, wo er in der Bibliothèque nationale arbeiten wollte. Ich weiß nicht, was mich tiefer beeindruckt hat – die ehrwürdige Musiksammlung oder das billige, schmutzige Hotel, in dem wir wohnten. Ein paar Tage lang habe ich mir in der Bibliothek meist französische Musik angeschaut und sie fotokopieren lassen. Das waren die Anfänge. Drei Jahre lang war ich Griechisch- und Lateinlehrer und gab daneben immer mehr Liederabende mit einem belgischen Lautenisten zusammen. Für eine zehntägige Tournee nach Spanien mitten im Schuljahr bekam ich sogar unbezahlten Urlaub. Aber dann kam das Angebot von Leonhardt, unter seiner Leitung Jean-Baptiste Lullys Le Bourgeois gentilhomme mit dem gerade gegründeten Orchester La Petite Bande aufzunehmen. Das war im September 1972. September aber war der Beginn des Schuljahres, und die Schulleitung hat mir deshalb den Urlaub verweigert. Da habe ich geantwortet: »Dann komme ich morgen nicht mehr!«

Ein spontaner Entschluss?

Ja, sehr spontan. Ein Sprung ins kalte Wasser.

»Ich war ein richtiger musikalischer Vielfraß«

Der Sänger

Es war keine leichte Zeit nach dieser Entscheidung, die Schule zu verlassen. Ich habe anfangs viel in Holland gesungen, oft in der Waalse Kerk in Amsterdam mit Leonhardt und Koopman. Das waren Konzerte mit sehr viel Atmosphäre, von denen aber ein junger Sänger, inzwischen verheiratet und Vater geworden, nur mit Mühe leben konnte.

Und noch ein weiteres Mal hat die Matthäus-Passion meinen Weg geleitet. In Groningen fand die erste holländische Aufführung der Matthäus-Passion mit historischen Instrumenten und einem Countertenor für die Altpartie statt.

Die Niederländer haben ja ein ganz besonderes Verhältnis zur Matthäus-Passion. Es gibt dort feste Aufführungstraditionen dieses Werkes, mit festen Terminen und festen Örtlichkeiten, etwa im Concertgebouw in Amsterdam oder in der kleinen Stadt Naarden, wo dieses Werk seit 1922 jedes Jahr aufgeführt wird und Scharen von Zuhörern aus ganz Holland anzieht, mit langen Pausen zwischen den Teilen, sodass man essen gehen und mit der Matthäus-Passion den ganzen Tag verbringen kann. In den Niederlanden gibt es bis heute einen regelrechten Kult um die Matthäus-Passion. Was war an dieser Groninger Aufführung so besonders?

Es war ein Wendepunkt für die niederländische Aufführungstradition – ein Bruch mit den romantisierenden Aufführungen im Geiste Mengelbergs, der bis dahin sehr lebendig war. Das Publikum hatte offensichtlich Probleme damit, in den vertrauten Alt-Arien einen männlichen Altisten zu hören; die Zuhörer waren an die Stimmen von Aafje Heynis und anderen Altistinnen gewöhnt, und deshalb wurde im Vorfeld schon viel über den Countertenor gesprochen. Wenn ich zu singen begann, gingen die Köpfe hoch, was mich etwas aus der Fassung brachte, denn die Leute hörten ja gar nicht auf die Musik, sondern nur auf die Stimme. Das hat sich ja heute geändert. Alfred Deller hat schreckliche Geschichten von gewissen Damen im Publikum erzählt, die, wenn er anfing zu singen, zu lachen begannen. Aber wie Gustav Leonhardt und Ton Koopman dort in Groningen nebeneinander Continuo gespielt haben, werde ich nie vergessen.

Gustav Leonhardt war nicht nur der Auslöser für deine Entscheidung, das Singen zum alleinigen Beruf zu machen, sondern auch musikalisch eine wichtige Person in deiner künstlerischen Biografie. Es scheint, als sei er derjenige gewesen, der dich zur Alten Musik auch jenseits von Bach gebracht hat. Was hast du von ihm gelernt?

Leonhardt hat mich vieles gelehrt. Er hat immer sehr kritisch auf meine Stimme gehört und war oft unbarmherzig mit mir, wenn ich fand, dass ich gut gesungen hatte. Hierauf kam dann beispielsweise folgender nüchterner Kommentar: »Ja, aber ich habe zu wenig Text verstanden.« Für unsere gemeinsamen Recitals – halb Cembalo-, halb Vokalmusik – probten wir sehr wenig. Er wollte nur, dass ich ihm die Noten schickte, weil er sie beziffern wollte. Am Tag des Konzerts wurden die Stücke dann einmal »durchgelesen«; in den Konzerten selber fühlte ich mich bei Leonhardt in den allerbesten Händen. Bei Bach, der h-Moll-Messe, der Matthäus-Passion, war er wie transfiguriert. Er war ein Bach-Fanatiker. »Händel«, so hat er einmal zu mir gesagt, »ist ein drittrangiger Komponist.« Er hat immer ein bisschen übertrieben – und ich auch: Wir waren Dialektiker. Sein Tod hat für mich eine große Lücke gerissen.

Hast du damals auch schon Opern gesungen? Hast du viel auf der Bühne gestanden?

Ich glaube, ich war als Sänger nicht für die Bühne geschaffen. Wenn ich sehe, was die Sänger heute in der Oper alles tun müssen und können, dann bewundere ich sie sehr. Ich fand schon Make-up unangenehm; außerdem hatte ich bereits damals schlechte Augen und konnte keine Kontaktlinsen tragen. Meine erste Bühnenrolle, noch vor der Speranza in Monteverdis Orfeo, war der Clerio in Francesco Cavallis Erismena in Amsterdam und Brüssel 1974, mit vier Countertenören. Alan Curtis dirigierte, und Filippo Sanjust war für die Inszenierung zuständig. Ich sah fast nichts, war fast blind auf der Bühne. Aber wenigstens war es eine halb komische Rolle. Das fand ich leichter als die ausschließlich tragischen Rollen.

Wenn nicht über die Bühnenerfahrung – wie bist du dann zur Oper gekommen?

Als Kind habe ich Oper gehasst. Mein Vater interessierte sich überhaupt nicht dafür. Meine Mutter aber hatte ein Opernabonnement in Gent. Zweimal hat sie mich mitgeschleppt, beim dritten Mal habe ich revoltiert: »Oper liebe ich nicht!« Die erste war Cavalleria rusticana, und ich fand es entsetzlich; die zweite Don Carlos, schon besser, aber immer noch zum Abgewöhnen. Es war schon die Zeit, in der ich Aufnahmen mit Fischer-Dieskau hörte und manchmal auch in Liederabende gegangen bin. Aber diese pompösen Opernsänger und diese statischen Inszenierungen damals – das fand ich schrecklich. Es war dann erst einmal aus mit meiner Liebe zur Oper.

Und wann ist die zurückgekommen?

Durch Schallplattenaufnahmen von Mozart-Opern, den alten Böhm- und Karajan-Aufnahmen aus den 1950er-Jahren. Die haben mich mit der Oper versöhnt. Aber ich mochte nicht in die Oper gehen und zuschauen. Ich habe sie nur gehört und dabei das Libretto gelesen.

Trotzdem ist dein Theaterinstinkt ja schon in deiner Kindheit geweckt worden – dein Vater hat dir sehr früh ein Marionettentheater geschenkt.

Mein Vater war handwerklich sehr geschickt. Er hat mir tatsächlich ein Marionettentheater gebaut und die Marionetten dazu in einem Spielzeugladen gekauft. Ich bekam so eine Dose mit verschiedenen Marionetten und kleinen Stücken mit Dialogen, die ein Kind allein mit zwei Handpuppen sprechen und spielen konnte. Das fand ich allerdings sehr schnell langweilig, und so habe ich angefangen, die Stücke auszuweiten. Meine Schwester wollte auch mitmachen, und es gab ja auch noch andere Puppen zu kaufen. Also habe ich in den Stücken mehr Konflikte eingebaut. Ich brauchte mindestens eine dritte Person, damit es eine Intrige gab.

Habt ihr Opern gespielt mit diesen Marionetten oder einfach Sprechtheater?

Nur Sprechtheater. Ich würde jetzt gerne mal hören, wie wir die Dialoge damals deklamiert haben, wahrscheinlich sehr übertrieben …

Opernhaft?

Möglicherweise. Später haben mich verschiedene Wege zur Oper geführt. Durch Alan Curtis habe ich die Barockoper entdeckt. Erismena war etwas gänzlich Neues für mich. Alan, der damals in Amsterdam lebte, war – als Leonhardt-Schüler – nicht nur ein großartiger Cembalist, sondern auch ein gewissenhafter Musikologe und auf Barockoper spezialisiert. Ich sehe noch immer seine Ausgaben vor mir, präzise beziffert, wobei er die originalen Generalbassziffern einkreiste, damit man sehen konnte, was im Manuskript steht und was nicht. Mit Curtis und seinem Complesso Barocco habe ich 1977 auch meine erste Händel-Oper als Sänger eingespielt: Admeto. Insgesamt sind es dann vier geworden: 1979 Partenope und 1984 Alessandro mit Sigiswald Kuijken und La Petite Bande, und dazwischen 1983 Tamerlano mit Jean-Claude Malgoire und La Grande Écurie et la Chambre du Roi. Diese Erfahrungen haben mich endgültig geprägt – und es waren nicht immer gute Erfahrungen. Aber ich habe dabei auch gelernt, wie man einiges vielleicht besser machen könnte. Wir hatten zum Beispiel immer sehr wenige Proben. Es gab überhaupt kein Gefühl für die Dramaturgie des Stücks. Es wurde ohne Sprachcoach geprobt. Und wie die Barockorchester damals spielten! Das Niveau hat sich inzwischen deutlich gesteigert, die heutigen Barockorchester sind vor allem technisch viel besser geworden. Während der Aufnahmen damals wurde ich oft stimmlich zunehmend müde, weil die Orchester so lange brauchten, bis sie wirklich sauber spielten. Und dann natürlich die Rezitative – ich kann es heute kaum noch hören, wie ausdruckslos die Rezitative damals erledigt wurden.

Wir haben bisher von den Sechziger- und Siebzigerjahren gesprochen, also von der Pionierzeit der historischen Aufführungspraxis. Vieles von dem, was du aufgenommen hast, sind Ersteinspielungen. Wie war damals dieses Gefühl, Neuland zu betreten?

Der Pioniergeist ist heute tatsächlich seltener geworden. Barthold Kuijken hat mich als Erster auf die Traktate aus dem 18. Jahrhundert angesprochen, zum Beispiel – er war ja Flötist – auf Johann Joachim Quantz’ Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen. Dadurch hat er mein Interesse geweckt, mich meinerseits mit den Gesangstraktaten zu beschäftigen. Heute befassen sich die Musiker wohl zu wenig ernsthaft mit den theoretischen Grundlagen. Es gibt viel mehr Aufnahmen, es gibt viel mehr Musiker, aber die meisten imitieren sich nur irgendwie gekonnt, aber ohne wirklich Bescheid zu wissen.

Inzwischen gibt es eben auch schon eine Tradition der historischen Aufführungspraxis. Und Tradition ist bekanntlich, um es in Gustav Mahlers Worten zu sagen, Schlamperei.Du hast zunächst einmal eine ganz traditionelle Gesangsausbildung durchlaufen. Hat dieses Studium der Quellen deinen eigenen Gesangsstil verändert? Hast du trainiert anhand der schriftlichen Quellen? Oder hast du sie gelesen und dann versucht, das Gelesene nach deinen eigenen Möglichkeiten umzusetzen?

Du weißt, dass die Gesangstraktate des 17. und 18. Jahrhunderts eigentlich sehr wenig über Technik sprechen. Meist geht es zunächst um Allgemeines, ab dem zweiten Hauptteil dann um präzise Angaben zu Verzierungen, den richtigen Vortrag von Rezitativen und Ähnliches. Am Anfang steht meistens etwas über die Stimmregister, also über Brust-, Kopf- und Falsettstimme und wie man diese miteinander verbindet. Das fand ich immer sehr spannend, aber auch sehr verwirrend wegen der Terminologie. Am deutlichsten werden die Register eigentlich nicht im Barock beschrieben, sondern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, von Manuel García, der seine Gesangslehre auf den älteren aufbaut. Sein Vater hatte noch bei einem Kastraten studiert! Dabei ist es besonders interessant, wie er die Haute-Contre-Stimme oder Contraltino, wie er sie auch nennt, beschreibt. Aufschlussreich ist auch, wie er noch im Geist des 18. Jahrhunderts und des Kastratengesangs denkt. Für ihn gilt noch nicht die uns vertraute Einteilung der menschlichen Stimmen in hohe, das heißt Sopran und Tenor, und tiefe Stimmen, das heißt Alt und Bass, sondern eine ganz andere Betrachtungsweise: Soprane beider Geschlechter, also Frauen und Kastraten, haben die höchsten Stimmen, Mezzosopran und Alt beider Geschlechter die weniger hohen, und erst dann kommen Tenor und Bass als unterschiedlich tiefe Stimmen.

Besonders wichtig finde ich aber, wie er über »fausset« spricht, das französische Wort für »falsetto«, denn bei ihm hat dieser Begriff etymologisch nichts zu tun mit »falso« (italienisch für »falsch«), sondern mit »fauces« (lateinisch für »Schlund«, »Kehle«), das heißt mit der Resonanz im Kehlraum. García liefert Übungen für das Wechseln von der Bruststimme (»voix de poitrine«) in die »fausset«-Stimme. Für ihn gibt es drei Register: die Bruststimme, den »fausset« als mittleres Register und darüber noch die Kopfstimme (»voix de tête«). Seine Übungen erwiesen sich für mich als sehr brauchbar, und zwar in der Zeit, als ich schon die höhere Lage erobert und Probleme hatte, so natürlich wie früher die Bruststimme mit dem Falsettregister zu verbinden.

Aber Gesangstechnik kann man nicht aus Büchern lernen. Man braucht einen Lehrer und vor allem Kontrolle von außerhalb. Von den ganzen aufführungspraktischen und stilistischen Teilen dieser Gesangstraktate kann ein neugieriger Sänger jedoch viel übernehmen. Allerdings sollte man die vielen Arien mit ausgeschriebenen Da-capo-Variationen, die überliefert sind, eher mit Vorsicht betrachten. Ich glaube nicht, dass sie uns sagen, wie diese Arien gesungen werden sollten. Ohne dass ich es theoretisch belegen kann, glaube ich eher, dass da alles ausgeschrieben wird, was an »willkürlichen Veränderungen«, wie es damals hieß, möglich ist, aber dass der Sänger daraus frei wählen kann, was ihm besonders liegt oder gefällt.

Jetzt warst du also eine ganze Zeit lang freiberuflicher Sänger. Hast du dir eine Strategie zurechtgelegt, welche Konzerte du geben wolltest, oder hast du dich von dem Angebot leiten lassen?

Meistens Letzteres. Die großen Gattungen wie zum Beispiel Oratorien oder konzertante Opernaufführungen habe ich nie abgewiesen, aber Kammermusik, solistisch oder mit anderen Sängern, mit Continuo oder einem kleinen Instrumentalensemble, war mir lieber. Meine größte Liebe waren Lautenlieder, vor allem seit ich Konrad Junghänel kennengelernt hatte, der ein guter Freund wurde. Als Continuo-Spieler war er immer sehr präzise und, was eine Seltenheit bei Lautenisten ist, und laut genug – einer, den man hört. Konrad ist einer von denen, die nach draußen spielen und nicht nur in ihr Instrument selber schauen. Wir haben uns immer sehr schnell verstanden und musikalisch gegenseitig inspiriert; nach kurzem Durchspielen waren wir uns meistens einig. Später hatte er eine zentrale Rolle bei der Realisierung vieler meiner Barockoper-Produktionen inne. Er hat das Continuo-Ensemble immer mit nicht nachlassendem positivem Geist geführt.

Inzwischen dirigiert er selber Opern …

… mit großer Begeisterung und Genauigkeit. Was mir von meinem Leben als Sänger am meisten fehlt, sind die Konzerte, die wir gemeinsam gemacht haben. Es hat mir bei diesen Konzerten auch Spaß gemacht, dem Publikum etwas über den Inhalt der gesungenen Texte zu erzählen. Dabei habe ich nie auswendig gesungen; ich wollte mich so weit wie möglich von der Idee des »romantischen« Liederabends entfernen. Und ich habe mir gesagt: »Im 17. und 18. Jahrhundert haben die Kammersänger in den Salons auch nie auswendig gesungen. Was hätten sie ohne Noten gemacht, wenn sie eine bekannte Arie mit neuen, spontan improvisierten Änderungen hätten bereichern wollen?«

Sehr vieles, was ich damals für Harmonia Mundi aufgenommen habe, ist eigentlich Sopran-Repertoire, in Altus-Lage transponiert. Zu Hause habe ich noch einen ganzen Laden voll mit transponierten barocken Gesangsstücken aus Italien und Frankreich. Junge Countertenöre oder Altistinnen auf der Suche nach Barockrepertoire, die mein Regal »ausplündern« möchten, würden feststellen, dass ich damals ein richtiger musikalischer Vielfraß war. Sehr angenehm war bei den frühen Aufnahmen für Harmonia Mundi auch, dass wir so gut wie immer in Südfrankreich waren. Damals residierte Harmonia Mundi noch nicht in Arles, sondern in den Alpes-de-Haute-Provence bei Forcalquier mitten auf dem Land. Es waren schöne Tage dort. Die dunklen, ruhigen Kirchen auf dem Lande, die strahlende Sonne draußen und die Musik, die wir in den Kirchen aufgenommen haben – das sind jetzt ineinanderfließende, unauslöschliche Erinnerungen.

Bernard Coutaz, der Harmonia Mundi 1958 gegründet und gemeinsam mit seiner Frau Eva bis zu seinem Tod 2010 geführt hat, ist ja für die historische Aufführungspraxis eine der wichtigsten Persönlichkeiten überhaupt gewesen. Mir fällt kein Plattenlabel ein, das so viele Ersteinspielungen von unbekannten Werken vorweisen kann wie Harmonia Mundi. Es gab eine außerordentlich produktive Zusammenarbeit mit dem WDR – Aufnahmen, die in WDR-Studios produziert und dann von Harmonia Mundi vermarktet wurden. Leider ist der Bereich der Alten Musik im WDR ja weitgehend eingespart worden. Aber neben den Solorecitals hast du in dieser Zeit auch viel im Ensemble gesungen und sogar ein eigenes Ensemble mit dem Namen »Concerto Vocale« gegründet.

Nein, ich habe Concerto Vocale nicht gegründet, und es war auch nicht einmal ein Ensemble. »Concerto Vocale« war ursprünglich nur ein Titel für eine Reihe von Aufnahmen für Harmonia Mundi, aber nachträglich haben wir unter diesem Namen auch außerhalb von Europa, in den USA und in Mexiko, konzertiert. Wir, das waren unter anderem Judith Nelson, Wieland Kuijken und William Christie. In Amerika und Kanada war ich vor allem als Händel-Sänger bekannt. Ein Messiah-Event im New Yorker Lincoln Center war ein total neues und erfrischendes Erlebnis für mich. Er bestand aus zwei Konzerten: zunächst einer Aufführung des Werks, bei der ich als Altsolist beteiligt war, und danach dem »Messiah Sing-In«, bei dem ein sozusagen »auserwählter« Teil des Publikums beim »Halleluja« und bei anderen Chören mitsingen durfte – natürlich in viel zu langsamem Tempo.

Bist du auch in Asien aufgetreten?

Ich bin fünfmal in Japan gewesen, zweimal als Sänger mit Konrad Junghänel auf Einladung des Goethe-Instituts und dreimal zum Dirigieren. Ein besonderes Erlebnis war das Gastspiel einer Produktion von Monteverdis Ritorno d’Ulisse in patria aus Montpellier in Tokio. Die Japaner haben ein Ohr für diese Musik. Zusammen mit dem Regisseur Gilbert Deflo hatte ich dann das Glück, an einem der freien Tage zwischen den Aufführungen ein Kabuki-Stück zu sehen, das eine ähnliche, dem Ritorno d’Ulisse sehr ähnliche Heimkehrgeschichte erzählte.

Das finde ich auch deshalb spannend, weil es zwischen dem Kabuki-Theater und der Oper ja ohnedies einige erstaunliche Parallelen gibt, obwohl die beiden Theaterformen voneinander nichts wussten: Wie die Oper ist das Kabuki-Theater zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden, als eine gegenüber den etablierten Theaterformen weniger regulierte Art des Schauspiels, und auch Kabuki ist voll von Musik – Gesang, Tanz, Pantomime. Interessant ist auch, dass die Falsettstimme im Kabuki eine wichtige Rolle spielt. In Japan gibt es ja auch eine sehr lebendige Alte-Musik-Szene. Hast du Kontakte dorthin?

Zunächst gab es ein zweites Gastspiel in Tokio mit Monteverdis Marienvesper, und dann folgte das bis jetzt interessanteste Erlebnis: Bachs h-Moll-Messe mit einem sehr guten japanischen Ensemble.

Mit Concerto Vocale hast du Musik aufgenommen, die man heute so gar nicht mehr mit deiner Person assoziieren würde, die aber für dich eine große Rolle gespielt hat: Madrigale und geistliche Konzerte von Claudio Monteverdi, deutsches Repertoire wie zum Beispiel Dietrich Buxtehudes Membra Jesu nostri oder Heinrich Schütz’ Kleine geistliche Konzerte, Kantaten und Duette von Antonio Cesti oder von Alessandro Scarlatti. Vieles davon waren Ersteinspielungen, wie zum Beispiel die Leçons de Ténèbres von Marc-Antoine Charpentier 1977.

Diese Aufnahme der Leçons de Ténèbres war ein ganz besonderes Erlebnis. Ich weiß nicht mehr, wie ich zu den Noten gekommen bin. Plötzlich waren da irgendwelche Transkriptionen im Umlauf, und ich habe mich sofort in die Musik verliebt. Von Alfred Deller hatte ich die Leçons de Ténèbres von Couperin kennengelernt. Aber in Charpentiers Vertonung sind die langen Melismen auf den hebräischen Buchstaben, mit denen jeder einzelne Abschnitt der Lamentationen beginnt, noch weit ausdrucksstärker – beschwörender, prophetischer.

Gibt es einen Zeitpunkt, zu dem du beschlossen hast, mit dem Singen aufzuhören?

Nein, das hat sich so ergeben. Ich habe fast zehn Jahre lang beides parallel gemacht, das heißt dirigiert und gesungen, und irgendwann hat das Dirigieren die Oberhand gewonnen. Vielleicht ist es auch gut so.

Wann hast du zuletzt gesungen? Gibt es irgendeinen Punkt, an dem du gesagt hast: »So, das war’s jetzt?«

Ich habe nie gesagt: »Das war’s.« Meine letzte Konzerttour, bei der ich fast jeden Tag singen musste, war in Australien, sehr weit weg und schon in einer Zeit, in der ich mehr dirigierte als sang. Während dieser Tournee habe ich gespürt, dass es zu anstrengend wurde, jeden Tag zu singen, dass ich nicht mehr das nötige Stehvermögen dafür aufbringen konnte, weil ich einfach zu wenig Zeit zum Üben hatte. Sänger sind wie Athleten: Sie müssen regelmäßig trainieren. Der letzte Konzertauftritt als Sänger war 1996 mit Bernard Foccroulle an der Ebert-Orgel in Innsbruck.

War das ein Abschiedskonzert? Eines, das du selbst als dein letztes deklariert hast?

Nein, im Aufnahmestudio habe ich auch nachher noch gesungen, zum Beispiel in meiner Einspielung von Alessandro Scarlattis Il primo omicidio, einer Aufnahme von 1997. Da singt Gott selbst eine Arie, die Rolle heißt »Voce di Dio«.

Die hast du gesungen?

Ja, in aller Demut.

Schön.

»Ein gutes Aufnahmestudio kann der Himmel auf Erden sein«

Über Schallplattenproduktionen

Der Schallplattenindustrie wird ja eine entscheidende Rolle bei der Wiederentdeckung der Alten Musik und der Etablierung der historischen Aufführungspraxis im Musikleben beigemessen. Spezialisierte Labels großer Plattenfirmen wie Archiv Produktion bei der DGG oder Reflexe bei EMI erlebten in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts einen großen Aufschwung, und andere Firmen wie zum Beispiel Harmonia Mundi France, die Deutsche Harmonia Mundi, Accent oder Opus 111 haben sich überhaupt erst einmal nur in der Alte-Musik-Nische eingerichtet. Welche Rolle spielen die technischen Medien für dich?

Ein gutes Aufnahmestudio kann der Himmel auf Erden sein. Es gibt Musiker, die sehr ungern aufnehmen, weil sie sich im Studio unwohl fühlen und den Kontakt mit dem Publikum brauchen. Das war für mich nie so – ganz im Gegenteil: Ich finde, Aufnahmen sind etwas völlig anderes, aber sehr Spannendes. Viele Menschen meinen zum Beispiel, dass eine Opernaufführung nur live sinnvoll ist. Ich bin da ganz anderer Ansicht. Eine Aufnahme von einer Oper zu machen, kann so aufregend sein wie eine Live-Aufführung. Der Opernsänger ist im Aufnahmestudio kein Theaterschauspieler mehr; er ist viel eher mit einem Filmschauspieler zu vergleichen, der seine Rolle in kleinen Abschnitten aufnimmt. Ich finde es außerordentlich spannend, zu versuchen, im Studio die Oper für die Ohren so lebendig zu machen, dass das Publikum das Drama durch die Musik innerlich visualisieren kann. Diese Konzentration auf das Hören betrifft aber nicht nur die magischen Klänge von schönen Stimmen und einem brillanten Orchester – auch die Kraft des Wortes will das Ohr erreichen! Deshalb sind die Rezitative so wichtig. Man hat dann fast das Gefühl, Theater für Blinde zu machen – musikalisch intensiver als Theater für Sehende. Ein Blinder kann das Theater auf der Bühne nicht sehen, aber er kann es sich vielleicht bei einer Aufnahme einer Oper, wenn sie gut gemacht ist, vor seinem geistigen Auge vorstellen.

Und ich liebe die Atmosphäre bei Studioaufnahmen, vor allem wenn man die Leute, die dort mitarbeiten, so gut kennt wie ich seit so vielen Jahren Martin Sauer, den Aufnahmeleiter bei Harmonia Mundi – und er mich. Wenn ich das Gefühl habe, dass die Technik weiß und spürt, wie ich mir die Musik vorstelle, dann ist das für mich eine wunderbare Befriedigung, anders, aber genauso groß wie ein gutes Konzert.

Und worin besteht der Unterschied? Was beglückt dich im Konzert?

Die Befriedigung besteht im Kontakt zu einem Publikum, das auf meine Musik reagiert. Das hat man bei einer Aufnahme nicht. Kritiken und Verkaufszahlen sagen wenig über irgendwelche Publikumsreaktionen als vereinzelt mal ein begeisterter Brief oder eine persönliche Mitteilung nach einem Konzert. Die Studioaufnahme einer Oper hat aber einiges zu bieten, was eine szenische Aufnahme nicht kann: Es ist möglich, mehr ins Detail zu gehen und vieles differenzierter auszuarbeiten, was auf der Bühne zunächst einmal gar nicht möglich ist. Nach einer szenischen Produktion wird im Aufnahmestudio noch so viel geändert! Gerade diese Änderungen sind die interessantesten. Ein Orchester hört sofort, dass es in einem Studio anders spielen muss als im Orchestergraben. Und nach der Abhörfassung eines Secco-Rezitativs kommen immer auch noch neue Ideen für eine noch fantasievollere Continuo-Begleitung dazu. Vor allem aber hören die Sänger dann auch selbst, was sie vorher nicht hören konnten – oder wollten. Störende Angewohnheiten wie zum Beispiel das übertriebene Abdunkeln der Vokale oder eine fehlerhafte Aussprache können sie dann quasi automatisch korrigieren, weil sie sich selbst gehört haben.


René Jacobs beim Abhören einer Aufnahme im Tonstudio © Annelies van der Vegt

Für Opern hat die Studioaufnahme aber auch deshalb Vorteile, weil sie hörbar macht, was ein Komponist bildlich mit seiner Musik ausdrückt. Dasselbe gilt übrigens auch für konzertante Opernaufführungen. Oft geht die Bildhaftigkeit der Musik verloren, wenn ein Regisseur mit seinen eigenen Bildern von den musikalischen Bildern ablenkt. Ich finde in diesem Zusammenhang die sogenannten dramatischen Oratorien von Händel sehr interessant, die nicht für eine Bühneninszenierung vorgesehen waren. Händel hat sie so komponiert, dass man keine Inszenierung braucht, weil das, was im Orchester ausgedrückt wird, viel bildhafter ist als in seinen Opern. Wenn in der Barockoper etwa ein Duell stattfindet, wird es ohne irgendwelche musikalische Illustration gezeigt. Aber im Oratorium, wo das Duell nicht gezeigt werden kann, erklingt dann eine Kampfmusik.

Du hast praktisch mit allen großen Rundfunkanstalten und CD-Firmen Aufnahmen gemacht.

Am Anfang war Harmonia Mundi tatsächlich nur eine unter vielen. Später hat sich eine Quasi-Exklusivität mit Harmonia Mundi wie von selbst ergeben. Ich habe zwar keinen Exklusiv-Vertrag, aber ein Gentlemen’s Agreement, dass ich meine neuen Ideen zuerst ihnen vorschlage. Sie sind im Moment fast die Einzigen, die zu längeren Produktionsphasen bereit sind. Für Händels Agrippina hatten wir neun Tage. Das finanziert sonst kaum eine Plattenfirma mehr.

Wie erklärst du dir das? Auch Harmonia Mundi muss ja davon leben.

Sie leben davon. Aber Geld hat dort noch nicht die oberste Priorität; es ist ihnen vor allem noch wichtig, einfach schöne Produkte herzustellen. Es ist eine andere Philosophie, als an erster Stelle ein Vermögen mit Starsängern und -sängerinnen verdienen zu wollen, die möglichst gut, wie Models aussehen müssen, damit sie sich auch visuell vermarkten lassen, und die dann mit den immer gleichen Arien, die sie auf einer CD eingesungen haben, durch die ganze Welt reisen. Ich hoffe, dass Harmonia Mundi ihrer Philosophie noch möglichst lange treu bleibt und sie aus ökonomischen Gründen auch bewahren kann, denn in letzter Zeit ist es schon deutlich schwieriger geworden, unbekanntere Werke vorzuschlagen.

Selbst wenn du, sozusagen als Großmeister der erfolgreichen und auch marktfähigen Ausgrabungen, etwas Unbekanntes vorschlagen würdest?

Ich muss schon froh sein, so viele unbekannte Opern aufgenommen zu haben. Aber Komponistennamen wie Cavalli, Cesti, Scarlatti, Keiser oder Graun scheinen weniger anziehend zu sein als die Namen Mozart oder Händel. In der heutigen ökonomischen Situation ist das eine wichtige Überlegung. Die Entscheidung von Harmonia Mundi, La finta giardiniera, weder die bekannteste noch die beliebteste der Mozart-Opern, im Studio aufzunehmen, dazu in einer noch nie eingespielten postumen Bearbeitung, zeugt von Mut und Respekt vor dem, was ich mache. Außerhalb der Oper bleiben kleinere Projekte mit unbekannten Stücken möglich. Der August 2012 war außerdem ein Aufnahmen-Monat in strikt un-weltlicher Atmosphäre. Wir haben quasi nacheinander die Ersteinspielung eines Pergolesi zugeschriebenen Oratoriums namens Septem verba a Christo in cruce moriente prolata produziert und dann Bachs Matthäus-Passion (endlich!). Die weltliche Musik kehrt dann 2014 zurück, mit der letzten unter den sogenannten Meisteropern Mozarts, die ich noch nicht eingespielt habe: Die Entführung aus dem Serail.

Und Lucio Silla, eine meiner Lieblingsopern und auch ein meisterliches Werk, obwohl es wie La finta giardiniera zu den Jugendopern gezählt wird. Als ob es keine jugendlichen Meister gäbe!

An Einspielungen von Lucio Silla und Mitridate, re di Ponto besteht anscheinend Interesse, weniger dagegen an weiteren Händel-Opern.

Und es gäbe ja auch noch mehr Opern weniger bekannter, aber dennoch großartiger Komponisten, die man aufnehmen könnte.

Ich bin froh, dass wir Alessandro Scarlattis Griselda aufnehmen konnten. Eine weitere Scarlatti-Oper, etwa Tigrane, müsste man zuerst als konzertante oder szenische Produktion verkaufen können – und auch das ist in Krisenzeiten schwieriger –, ehe man überhaupt an eine Einspielung denken kann. Ich kann gut damit leben, nicht jede Ausgrabung auf Schallplatte verewigt zu haben. So gelungen manche dieser Produktionen auch waren – es ist möglich, ohne eine Tonaufnahme weiterzuleben. Antonio Cestis L’Argia, Francesco Bartolomeo Contis Don Chisciotte in Sierra Morena, beide aus Innsbruck, und vor allem Florian Leopold Gassmanns köstliche Opernsatire L’opera seria aus Schwetzingen sind da gute Beispiele.

Was glaubst du, wie es weitergehen wird? Wenn jetzt aus finanziellen Gründen gar nichts Unbekanntes mehr produziert wird, dann wären wir ja wieder dort, wo wir eigentlich Mitte der Sechzigerjahre angefangen haben.

Live-Aufnahmen und Video-Mitschnitte von Bühnenproduktionen sind da billiger.

Sie wären bestenfalls als Dokumentation dessen zu verstehen, was da zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal stattgefunden hat …

… aber sie sind für mich keine Alternative zu Tonaufnahmen im Studio, worauf die Musik letztendlich das höchste Recht hat.

Als Dirigent bist du bisher hauptsächlich mit Opern und Oratorien an die Öffentlichkeit getreten. Als Sänger aber hast du dich auch in vielen anderen Gattungen und Zeiten bewegt, du hast solistische und Ensemblemusik gemacht, liturgische und weltliche, Lied, Chanson und Madrigal und so weiter. Stell dir vor, du solltest eine imaginäre CD mit Gesangsstücken zusammenstellen, die du neben den großen Werken mit Orchester auch noch gut und wichtig findest. Was sollte diese CD enthalten?

Auf jeden Fall würde die CD auch ein Stück aus der Zeit der italienischen Monodie enthalten, weil sie mir sehr wichtig ist im Zusammenhang mit der spannenden Geschichte der Geburt der Oper. Und dann müsste eines der Duetti da camera von Francesco Durante dabei sein, wie ich sie damals mit Judith Nelson, meiner festen Duettpartnerin in vielen Harmonia-Mundi-Aufnahmen, gesungen habe. Durante greift da Themen von Kantaten Alessandro Scarlattis auf, meistens aus den Rezitativen, wo Scarlatti mit sehr gewagten Modulationen experimentiert. Diese Duette wurden anscheinend auch noch im 19. Jahrhundert gesungen. Sie sind für Sopran und Alt geschrieben und waren vermutlich für den Gesangsunterricht gedacht. Ich kann mir vorstellen, wie diese immer imitatorisch anfangenden Duette als Gesangsübungen gesungen wurden – durch einen vorsingenden Lehrer, in Italien natürlich vor allem einen Kastraten, und einen »nachahmenden«, imitierenden Schüler. Überhaupt sollte die CD Kammerduette enthalten, nicht nur aus dem 18. Jahrhundert wie etwa von Agostino Steffani oder von Händel, sondern auch aus dem 17. Jahrhundert, von Sigismondo D’India, Alessandro Grandi, Antonio Cesti oder Luigi Rossi. Händels frühe, in Italien komponierte Kammerduette enthalten einen Schatz an Ideen, die er ein ganzes Leben lang in seinen Opern und Oratorien verwendet hat. Kammerduette sind bei Gesangsstudenten heute so gut wie unbekannt. Sie gehören nicht zur Ausbildung.

Der Name Luigi Rossi bringt mich auf Basel, wo ich für die Schola Cantorum eine Auswahl an ein- und mehrstimmigen Kantaten dieses so raffinierten Komponisten aufnehmen konnte. Peter Reidemeister, der damalige Leiter der Schola, hatte die Initiative zu einer neuen Schallplattenserie namens »Schola Cantorum Documenta« ergriffen, in Zusammenarbeit mit Harmonia Mundi.

Diese »Canzonette amorose« genannte Doppelschallplatte ist später als CD wieder aufgelegt worden. Es waren drei Dozenten, die da gesungen haben – Rosemarie Hoffmann, Kurt Widmer und du. Mit Studenten hast du dann aber auch eine CD mit geistlichen Duetten von Alessandro Grandi aufgenommen.

Es war eine sehr produktive Zeit, diese Reidemeister-Ära an der Schola Cantorum in Basel. Dass die Rossi-Aufnahme eine Doppelschallplatte wurde, war eine spontane Entscheidung während der Produktion! Es hatte damit zu tun, dass ich eine riesige Sammlung seiner Kantaten besitze, etwa dreihundert, alles Fotokopien von Abschriften, die der belgische Musikologe Alfred Wotquenne in der Brüsseler Konservatoriumsbibliothek angefertigt hat, in seiner schönen deutlichen Handschrift. Luigi Rossi käme sicherlich auch auf meine CD.

Sie würde aber nicht nur italienische Musik enthalten. Mit genauso viel Liebe und Neugier habe ich das herrliche Repertoire französischer Lautenlieder, der Airs de Cour, durchforscht und aufgenommen, oft mit den gedruckten virtuosen Variationen, den sogenannten Doubles: Pierre Guédron, Antoine Boësset oder Michel Lambert, alle aus dem 17. Jahrhundert. Und die deutschen Lautenlieder der gleichen Zeit: Heinrich Albert zum Beispiel oder der sehr italianisierende Johann Caspar Kittel mit seinen wunderbaren Texten von Martin Opitz. Eines der Kleinen geistlichen Konzerte von Heinrich Schütz wäre dabei, die ich mit dem phänomenalen Knabensopran Sebastian Hennig aus Hannover aufgenommen habe. Die CD würde zu Ende gehen mit dem hoffnungslosesten, traurigsten Lamento aus der Barockzeit, das ich kenne: Johann Christoph Bachs Ach, dass ich Wassers g’nug hätte. Das sind alles Aufnahmen für Harmonia Mundi und Accent gewesen, und bei keiner hat auch nur ein einziges Mal Konrad Junghänel gefehlt.

Nichts von dem, was du jetzt aufzählst, hat zurzeit auch nur irgendeine Konjunktur. Ist das nicht schade?

Es ist wirklich sehr schade – es gibt jetzt mehr Sänger als damals, die teilweise mit besserer Technik und schöneren Stimmen als die ältere Generation, virtuos und ausdrucksvoll Barockmusik singen können. Ironischerweise ist es die heute viel größere Popularität der Barockoper, die viele junge Sänger zu dieser »großen« Gattung lockt, statt zu den kleinen, sozusagen »uneitlen« Gattungen der vokalen Kammermusik derselben Zeit. In modernen Inszenierungen lernen sie, sich auf das Konzept eines Regisseurs zu konzentrieren, nicht aber auf das originale Libretto der Oper, auf die dichterische Sprache des Barock, die gern als schwülstig und überladen abgetan wird. Sie haben die Zeit nicht, diese rhetorische, manchmal auch manieristische Sprache lieben zu lernen, wie sie eben in Liedern und Kantaten der Barockzeit eine so große Rolle spielt. Und das Gleiche gilt auch für das Publikum.

»Am glücklichsten war ich, wenn ich Enthusiasmus gespürt habe«

Der Lehrer

Jetzt sind wir bei dem Lehrer René Jacobs angelangt, denn du hast schon sehr früh angefangen, auch selbst zu unterrichten.

Allerdings nicht mehr Griechisch und Latein, sondern Gesang und vor allem Interpretation. Den ersten Unterricht gab ich in Innsbruck, wo Otto Ulf 1972 die Internationale Sommerakademie für Alte Musik gegründet hatte. Schon drei Jahre später hat er mich als Dozent für Barockgesang und Kollegen von Nigel Rogers nach Innsbruck geholt. Etwas später habe ich Peter Reidemeister kennengelernt, der mir einen Lehrauftrag an der Schola Cantorum in Basel angeboten hat. Was mich daran reizte, war nicht nur die Tatsache, dass die Schola auf »alte« Musik spezialisiert war, sondern vor allem auch, dass sie darüber hinaus ein Forschungsinstitut war. Schon als junger Sänger war ich gelegentlich für Meisterkurse eingeladen worden, was gar nicht gut ist. Man sollte eigentlich erst unterrichten, wenn man Erfahrung hat und selbst ein Meister ist. Aber da ich damals noch viel mehr freie Zeit hatte als heute, um in aller Ruhe forschen zu können, war ich wohl eine geeignete Person, um diese Erfahrungen weiterzugeben.

Die Sommerkurse in Innsbruck waren der Einstieg in eine Professur in Basel?

Es war keine Professur, sondern ein Lehrauftrag. Für eine richtige Professur hatte ich schon damals keine Zeit. Die Sänger hatten Lehrer für Gesangstechnik an der Schola Cantorum oder am Konservatorium im gleichen Haus. Ich war für den Stil zuständig.

Vor allem in den ersten Jahren, als ich noch wenige Studenten und deshalb viel freie Zeit hatte, habe ich spannende Stunden in der kleinen, aber feinen Bibliothek der Schola und der größeren Bibliothek des Konservatoriums verbracht. Das Problem der Basler »Sängerschule«, denn nichts anderes heißt ja »Schola Cantorum«, ist dasselbe wie an allen Ausbildungsstätten für Alte Musik: Oft fangen gerade die Gesangsstudenten mit falschen Vorstellungen und Illusionen zu studieren an. Instrumentalisten beginnen in den meisten Fällen bereits auf einem höheren Niveau ihr dortiges Studium. Aber die Sänger? Zu oft denken sie, dass man für »alte« Musik auch eine »alte« Technik braucht, die man an der Schola lernen könne. Als ob es eine richtige Technik für Monteverdi gäbe, die falsch wäre für Mozart. Die richtige Gesangstechnik, egal ob für Händel, Wagner oder Popmusik, ist eine, mit der ein Sänger lange und auf Wunsch auch unter großer Belastung singen kann. Stilistische Unterschiede beeinflussen nur Teilaspekte dieser »gesunden« Technik.

Das Unterrichten war dir immer sehr wichtig. Zu deinen Schülern in Basel gehören Sänger, nicht nur Countertenöre, die heute zum internationalen Who’s who der Alten Musik zählen: María Cristina Kiehr, Andreas Scholl und Gerd Türk zum Beispiel, die nahezu gleichzeitig dort studierten.

Da konnte man wirklich etwas aufbauen.

Dein Lehrauftrag in Basel bezog sich nicht auf Gesangstechnik, sondern auf Interpretation. Wenn du nun aber für die stilistische Arbeit zuständig warst – hast du denn das, was du selbst technisch gelernt hattest, nicht weitergeben können?

An die Countertenöre schon. Sie waren eine aparte Kategorie, hatten teilweise Technikunterricht bei so verschiedenartigen Lehrern wie dem Countertenor Richard Levitt oder dem Bariton Kurt Widmer. Und natürlich habe ich auch bei Sopranistinnen geholfen, wenn etwas stilistisch oder interpretatorisch deshalb unmöglich war, weil es technische Probleme gab. In manchen Stunden ging es dann doch zur Hälfte um Technik. Dabei habe ich selber viel gelernt, weil ich Dinge verbal umschreiben musste, von denen ich glaubte, man könne sie nicht in Worten ausdrücken. Auch die brillantesten Gesangsstudenten sind, wenn sie ihren Abschluss machen, noch keine fertigen Sänger. Dazu brauchen sie auch Opernerfahrung. Durch die Oper lernt man einfach manches, was im Unterricht nur zum Teil vermittelt wird, zum Beispiel mit dem Körper total frei zu sein.

Gleichzeitig gut zu spielen und zu singen, das ist wohl die richtige Abschlussprüfung. Denn man kann auf der Bühne nur frei spielen, wenn man keine körperliche Anstrengung beim Singen hat. Viele Sänger sagen irgendwann, dass sie sich bestimmter Aspekte der Gesangstechnik nur durch das Spiel auf der Bühne bewusst wurden.

Von deinen Basler Schülern hat Andreas Scholl sicher die größte Karriere gemacht. Hat sich das schon im Unterricht abgezeichnet?

Mit Andreas Scholl gab es keine großen technischen Probleme zu lösen. Er hat schon bei seiner Aufnahmeprüfung Händels Kantate Mi palpita il cor beeindruckend gut gesungen. Sein Vater war dabei, und er wollte von der Jury wissen: »Hat mein Sohn denn eine Möglichkeit, später davon zu leben?«

Die Frage hat sich inzwischen wohl erübrigt. In Basel hast du mit den Studenten Aufnahmen gemacht, große Projekte, teilweise dann auch mit CD-Einspielungen. Was war dir wichtig, an sie weiterzugeben? Was war dein pädagogischer Eros?

Das Wichtigste war mir, die Studenten dazu zu verführen, selbst Fantasie und Neugier für Musik zu entwickeln, die sie noch nicht kennen. Wenn jetzt manchmal ein Sänger zu mir kommt und mich fragt: »Kannst du mir ein Programm für ein Barockrecital zusammenstellen?«, reagiere ich ausweichend. Im Stillen antworte ich ihm: »Wenn du mein Student in Basel gewesen wärest, dann hättest du Lust, so etwas selber zu tun!«

Mein ehemaliger Griechischlehrer hat immer gesagt: »Es ist Aufgabe des Lehrers, sich überflüssig zu machen.«

Die schönsten Unterrichtsstunden an der Schola waren die, bei denen ich selbst von jemandem gerührt war. María Cristina Kiehr zum Beispiel kam manchmal mit Stücken aus der Bibliothek, die ich nicht kannte, und hat sie so überzeugend gesungen, dass ich mich gefragt habe: »Gibt es überhaupt noch etwas zu unterrichten? Kann ich noch etwas anderes tun, als sie mit Liebe am Cembalo zu begleiten? « Am glücklichsten war ich, wenn ich Enthusiasmus gespürt habe und wenn ich das Gefühl hatte, dass mein Enthusiasmus die Studenten ansteckt.

Für wie viele Stunden warst du in Basel? Und was hast du mit den Studenten erarbeitet?

Ich war dort etwa eine Woche pro Monat. Regelmäßig bin ich mit den Studenten in die Bibliothek gegangen, um ihnen die Quellen nahezulegen: »Hier findest du dieses, und dort kannst du Sachen finden, die zu studieren interessant wären.« Aber die Projekte waren unterschiedlich. Am motivierendsten für die Studenten wie auch für mich waren die größeren Projekte: Unter den konzertanten Opern gab es Domenico Mazzocchis La catena d’Adone, Johann Wolfgang Francks Die drey Töchter des Cecrops und Christoph Willibald Glucks Le cinesi. Einiges davon haben wir auch für die CD-Reihe der Schola Cantorum Basiliensis vorbereitet. Es waren auch meine ersten Dirigiererfahrungen, vom Cembalo aus oder, wie bei Mazzocchi, die Titelrolle singend.

In dieser Zeit sind auch die wunderbaren Einspielungen der Motetten von Alessandro Grandi und von Antonio Caldaras Oratorium Maddalena ai piedi di Cristo entstanden?

Die Maddalena war ein wirkliches Schulprojekt, obwohl einige der Sänger schon ihr Studium beendet hatten. Bernarda Fink war die Einzige, die von außen dazugekommen ist. Der Bass, Ulrich Messthaler, war noch Student, und ebenso saßen Studenten im Orchester. Am Continuo habe ich nie wieder so en détail arbeiten können wie in den zwei Wochen, in denen wir das Werk erarbeitet haben.

Hast du als Sänger schon daran gedacht, zu dirigieren?

In den ersten zwanzig Jahren meiner Sängerkarriere keinesfalls. Ich war allerdings nie ein Sänger, der gerne Klavierauszüge benutzte, sondern habe immer versucht, mir die Partituren zu besorgen, um mitzulesen, was das Orchester spielt. Ich finde auch bestimmte Klavierauszüge ziemlich schlimm, von Bach-Kantaten zum Beispiel, wenn man in den vielen Noten die wichtigsten Instrumentalstimmen nicht mehr finden kann. Viel sinnvoller waren im 18. Jahrhundert die handgeschriebenen »Continuo-Auszüge« für Gesang, erste Geige und bezifferten Generalbass, aus denen man damals geprobt hat. Und jetzt werden teure Klavierauszüge hergestellt für Pianisten, die keinen Generalbass spielen können. Das ist ein großes Problem bei der Barockoper.

Du hast die venezianischen Opern ja immer selbst vom Cembalo aus begleitet und gestaltet. Wie bist du zum Generalbassspielen gekommen? In der Zeit deiner Ausbildung war so etwas ja keineswegs selbstverständlich.

Nein. Ich bin als Continuo-Spieler absoluter Autodidakt. Sehr vieles habe ich während meines Unterrichtens in Basel ausprobieren können, weil ich meine Studenten immer selbst begleitet habe. Wenn am Ende eines langen Unterrichtstages Ermüdung aufkam oder auch leichter Ärger, weil sich bei einem mittelmäßigen Studenten nicht viel änderte, fand ich immer Möglichkeiten, ihn vom Cembalo aus zu mehr Spannung zu zwingen. Und ich habe gemerkt, wie eine fantasievolle Akkordbegleitung das Timing der Rezitative in eine gute Richtung lenken kann.

»Das Wichtigste sind doch die Ideen«

Der Dirigent

Du hast also als Dirigent zunächst als Dilettant angefangen.

Als Dilettant, als Liebhaber im Wortsinn, und gleich mit einer Oper während der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik: Antonio Cestis L’Orontea. Cesti war zwischen 1652 und 1657 Hofkomponist in Innsbruck, und er war und ist immer noch eine zentrale Figur der Programmgestaltung des Innsbrucker Sommerfestivals. Die konzertante Aufführung der Orontea 1982 war als Abschluss einer Konzerttrilogie mit Musik Cestis in drei aufeinanderfolgenden Jahren gemeint. Im ersten Sommer sang ich mit Judith Nelson im Schloss Ambras mehrere seiner Solokantaten und Duette, im zweiten folgte in einer größeren Besetzung eine Art Pasticcio mit Ausschnitten aus seinen Opern. Der heißeste Sommer – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – bildete den Höhepunkt mit einer kompletten Cesti-Oper. Ich hatte L’Orontea während eines Sommerkurses auf dem Aston Magna Festival in Massachusetts kennengelernt. Das Thema war Christina von Schweden und die Musik, die sie gefördert hat. Da war ein Musikwissenschaftler, William Holmes, eingeladen, einen Vortrag über L’Orontea zu halten. Das Referat entpuppte sich als eine richtige One-Man-Show und Holmes, der das Stück auch herausgegeben hat, als witziger Conférencier. Er verstand es, eine sehr komplizierte Geschichte einfach zu erzählen, spielte Cembalo und sang dazu alle Rollen, noch dazu in der richtigen Lage. Ohne seine Begeisterung wäre ich vielleicht nie darauf gekommen, die Orontea auf die Bühne zu bringen – konzertant, die männliche Hauptrolle des Alidoro singend und gleichzeitig dirigierend. Zwei Jahre später hat der Leiter der Festwochen mir angeboten, L’Orontea szenisch aufzuführen. Er lud Filippo Sanjust als Regisseur und mich als Dirigenten ein. Ich stand also jetzt im Orchestergraben. Dazu noch den Alidoro zu singen, so wie es von Cesti überliefert ist, kam natürlich nicht mehr infrage. Aber es gab eine alternative Tenorfassung der Rolle, die Guy de Mey dann gesungen hat. Die Premiere war ein großer Erfolg und eigentlich der Anfang meiner Dirigentenlaufbahn. So kam eines nach dem anderen, ohne dass ich mir überlegt hatte, nur noch zu dirigieren.

Hast du das Dirigieren dann irgendwann doch noch einmal studiert, oder hast du es dir autodidaktisch angeeignet?

Es war – und ist noch immer – ein empirischer Lernprozess, die alte Trial-and-Error-Methode. Wie ein Orchester auf den Schlag des Dirigenten reagiert, bleibt der Prüfstein für seine Leistung. Anfangs habe ich oft »Schuster, bleib bei deinem Leisten« zu mir selber gesagt, »bei den venezianischen Opern, bei Händel und dem Repertoire, das du gesungen hast«. Erst später und langsam, als das Handwerk sicherer und das Selbstvertrauen größer wurde, habe ich mich auch an Haydn und Mozart, Beethoven, Schubert und Rossini gewagt. Als Kind war ich von Sängern fasziniert, nicht von Taktstockvirtuosen. Ich träumte davon, Sänger zu werden, nicht Dirigent. Es war zunächst keine exklusive Vorliebe, sondern meine Countertenorstimme, die mich in die Richtung der Alten Musik zog. Und das Konzept des Taktstockvirtuosen ist dieser Musik fremd, es war eine Innovation des 19. Jahrhunderts, eine Notwendigkeit, um einer immer komplizierter werdenden sinfonischen Musik gerecht werden zu können. In den barocken Orchestergräben stand kein Dirigent im modernen Sinne des Wortes. Eine Opernaufführung wurde gleichzeitig vom Cembalo und der ersten Geige aus geleitet. Das Konzept eines Dirigenten als Halbgott ist mir unsympathisch. Viel lieber ist mir das Ideal eines »primus inter pares«, der seine gleichgesinnten Musiker beseelt, nicht bespielt. Um sie inspirieren zu können, muss er Ideen haben, die er sich aus der Musik selber holt und aus Bedeutungen, die er hinter der Musik vermutet. Das Wichtigste sind doch die Ideen.

Hattest du als Sänger je das Gefühl, die Werke, die du zu singen hattest, auch dirigieren zu wollen, vielleicht um alles ganz anders oder auch alles genauso zu machen?

Beim Singen habe ich nie ans Dirigieren gedacht. Bei meiner Aufnahme von Glucks Orfeo ed Euridice mit La Petite Bande zum Beispiel habe ich mir auch zu keinem Zeitpunkt vorgestellt, mit Sigiswald Kuijken in Konkurrenz zu treten.


René Jacobs und das Freiburger Barockorchester während der Proben zu Glucks Orfeo ed Euridice im Oktober 2008 am Theater an der Wien © Armin Bardel

Singen und Dirigieren waren zwei völlig verschiedene Welten. Hast du deine Interpretation des Orpheus im Ohr gehabt, als du die Oper mit Bernarda Fink als Orpheus dirigiert hast?

Nein. Bernarda Fink hat mich so zu Tränen gerührt, dass ich ihr gesagt habe, ich würde meine eigene Aufnahme nie mehr anhören wollen, schon deshalb nicht, weil wir bei der Aufnahme mit La Petite Bande keinen italienischen Sprachcoach hatten, der die Sänger an die doppelten Konsonanten oder an die geschlossenen und offenen Vokale erinnert hätte – immer wieder. Mein Ohr ist durch die Zusammenarbeit mit einer so kompetenten Aussprachehelferin wie Serena Malcangi an der Berliner Staatsoper auf diesem Gebiet viel feiner geworden. Korrekte Aussprache und korrekte Intonation sind gleichberechtigte Schwestern.

Du würdest dich heute als Sänger kritisieren?

Was diesen Aspekt angeht: Ja. Allerdings sollte man das auch nicht übertreiben. Wenn wir heute Aufnahmen machen, ist immer ein Sprachcoach dabei. Aber es kann vorkommen, dass die vom Sprachcoach monierten geschlossenen oder offenen Vokale dem allgemeinen musikalischen Ausdruck weichen müssen. Ich finde die Aufnahme von Bachs Widerstehe doch der Sünde mit Alfred Deller und seinem total unidiomatischen Deutsch so fantastisch, weil man spürt, dass er jedes Wort fühlt. Und die Worte zu fühlen, ist dann doch wichtiger als die Worte korrekt auszusprechen.

Mit sinfonischer Musik verbindet man deinen Namen nicht spontan. Aber du hast auch zwei Haydn-Sinfonien und die vier letzten Mozart-Sinfonien eingespielt.

Es war für mich ein natürlicher Schritt: In Mozarts letzten Opern hört man den Sinfoniker, in seinen letzten Sinfonien den Opernkomponisten. Eine rezente Konzerttournee mit Beethovens Ballettmusik Die Geschöpfe des Prometheus war als Sprungbrett für seine Leonore gedacht, die konzertant für 2016 geplant ist. Auch mit aufgeschlossenen »modernen« Orchestern macht mir das klassische sinfonische Repertoire großen Spaß. Ausnahmsweise mal ohne Sänger zu musizieren, hat in meinem Fall auch etwas Befreiendes.

Du hast Leonore erwähnt. Wie sieht es mit anderen Opern in der nahen Zukunft aus?

Nach konzertanten Aufführungen und einer szenischen Produktion von Rossinis Tancredi mit Philippe Herreweghes Orchestre des Champs-Élysées könnte ich mir vorstellen, zum Beispiel Rossinis Otello oder Ermione herauszubringen. Die Farben der historischen Blasinstrumente verfeinern den Orchesterklang sehr und verbessern die Balance mit den Sängern. Aber die sogenannten Sängertraditionen sind das Problem. Zwar gibt es genug exzellente Rossini-Sänger, aber ich habe wenig Lust, irgendwelche stilistischen Vulgaritäten von routinierten Belcanto-Sängern durchgehen zu lassen, die mir sagen: » Bei uns in Italien ist es die Tradition, dass hier ein hohes C eingebaut wird. Wenn ich nicht mache, was das Publikum von mir verlangt, werde ich ausgepfiffen.«

Mit neuer Musik hast du keine Ambitionen?

Eine einzige bis jetzt. Ich habe Jörg Widmann kennengelernt, zurzeit einer der interessantesten deutschen Komponisten. Wir haben zusammen das Klarinettenkonzert von Mozart musiziert, und es war atemberaubend, wie er gespielt hat. Ich habe ihm vorgeschlagen, den tragischen Schluss von Monteverdis Orfeo zu komponieren, den Monteverdi wohl unter Druck durch ein Happy Ending ersetzen musste.

Das klingt nach einem überaus spannenden Projekt! Dieses tragische Finale ist ein großes Bacchanal, das die Mänaden in Vorfreude darauf veranstalten, dass sie Orfeo in Stücke reißen werden. Es ist im Libretto von 1607 abgedruckt, während die zwei Jahre später gedruckte Partitur den bekannten Schluss mit Apollo und Orpheus enthält. Wir kennen nur die Musik zu diesem Schluss, und in der Monteverdi-Forschung ist viel darüber gerätselt worden, warum Monteverdi das Bacchantinnen-Finale nicht vertont hat. Eine mögliche Erklärung lautet, dass die Bühne für eine solche großangelegte Szene einfach zu klein war, denn Monteverdi schreibt im Vorwort der Partitur, die Oper sei »sopra angusta scena«, auf enger Bühne, aufgeführt worden.

Monteverdis Musik und die neue Musik Jörg Widmanns könnten einander überlagern, ohne dass eine der beiden gewinnen kann. Das wäre 2018 in Brüssel, als Abschluss eines neuen Monteverdi-Zyklus, der dort ab 2016 geplant ist.

»Wir brauchen beides: Sinnlichkeit und Spiritualität«

Sternstunden, Träume, Traumata

Was empfindest du als die Sternstunden deiner Karriere?

Bei den Sternstunden muss ich einen Unterschied machen zwischen denen als Sänger und denen als Dirigent. Was die Opernproduktionen angeht, so war Cavallis La Calisto die Sternstunde überhaupt. Denn da hat alles gestimmt. Herbert Wernicke war ein Visionär mit einem unglaublichen Instinkt für das Theater. Sein Bühnenbild mit den Sternbildern, das auf einem Renaissancesaal in Caprarola basierte – das war grandios und der Akustik äußerst dienlich. Nie ist eine Produktion, die ich selber dirigiert habe, in seiner Totalität besser gelungen.


Die legendäre Inszenierung Herbert Wernickes von Cavallis La Calisto aus dem Jahr 1993 in Brüssel in einer Wiederaufnahme von 2009 mit Sophie Karthäuser als Calisto © MM, Jacobs

Es ist auch bisher die einzige Produktion, bei der ich erlebt habe, dass die Bühnenarbeiter Applaus bekommen haben bei der Schlussszene, wenn Calisto in Gestalt des Großen Bären als Sternbild in den Himmel versetzt wird. Das war ein atemberaubender Moment.

Ja, der Bär, alias Calisto, die gen Himmel aufsteigt – eine Szene, die in der Oper eigentlich gar nicht vorkommt. Wernicke hatte zu mir gesagt: »Das Einzige, was ich schade finde, ist, dass ich die Metamorphose der Calisto selber nicht zeigen kann, weil sie nicht vertont ist.« Ich habe ihm versprochen, eine geeignete Musik zu finden, um die Oper mit Calistos Verwandlung in den Großen Bären abzurunden. Das war in Basel, wo Wernicke wohnte und auch die Schola beheimatet ist. Und wieder einmal erwies sich die Baseler Konservatoriumsbibliothek als überaus nützlich: Ich stieß auf eine wunderbare Chaconne von Johann Heinrich Schmelzer aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, also aus der Entstehungszeit der Oper. Zu den Klängen dieser Musik ist der Bär dann zum Himmel aufgestiegen, manchmal so langsam, dass ich das Tempo immer mehr zurückhalten musste. Je langsamer der Bär sich fortbewegte, desto größer war allerdings die musikalische und szenische Magie dieser Verwandlung, die bei Cavalli eigentlich nicht vorgesehen ist. Aber auch Maria Bayos silberne Calisto ist unvergesslich. Die Brüsseler Inszenierung von 1993 ist noch 2009 wieder aufgenommen und auch in Berlin, Wien, Salzburg, Lyon, Montpellier und Barcelona gespielt worden. Leider ohne Herbert, der 2002 viel zu früh gestorben ist.

La Calisto war sicherlich im doppelten Sinne und in vielerlei Hinsicht eine Sternstunde der Opernproduktion. Und wie sieht es mit deinen Sternstunden als Sänger aus?

Als Sänger fällt es schwer, einen einzigen Höhepunkt auszuwählen. Ich war sehr glücklich bei den Aufnahmen der Leçons de Ténèbres von Marc-Antoine Charpentier 1976. Was für eine Musik, die wir da entdeckten in dieser kleinen Kirche in Carcassonne! Es funktionierte alles, musikalisch und menschlich, und ein solches Musizieren kommt auch nicht mehr zurück, schon allein deswegen, weil drei der fünf Beteiligten, William Christie, Konrad Junghänel und ich, Fulltime-Dirigenten geworden sind.


Von hinten nach vorn: René Jacobs, William Christie, Judith Nelson, Jaap ter Linden und Konrad Junghänel während der Aufnahmen zu Charpentiers Leçons de Ténèbres 1976 © hm

Glaubst du, dass die Musik selbst auf die Stimmung bei dieser Produktion Einfluss genommen hat? Hat die Sternstunde auch etwas mit Charpentier zu tun?

Sicherlich. Die Musik war erst mal sehr neu für alle, und wir alle haben sofort gesagt: »Wir kennen nichts dergleichen.« Wir kannten die Couperin-Lamentationen, aber Charpentiers Komposition mit ihren immer neuen melismatischen Umspielungen des gregorianischen Tonus lamentationis hat uns regelrecht beflügelt. Ich kann mich erinnern, dass wir die erste Lamentation in einem einzigen Take von 24 Minuten aufgenommen haben, ohne Unterbrechung. Und mit nur sehr wenigen Korrekturen.

Gibt es auch musikalische Träume, die tatsächlich in Erfüllung gingen? Etwas, das du immer gern gemacht hättest und das du dann realisieren konntest?

Die Einspielung der Mozart-Opern ist ein erfüllter Traum, eine Utopie, die dann nicht mehr Utopie war. Als Kind habe ich immer wieder Aufnahmen der Da-Ponte-Opern gehört, vor allem eine Karajan-Aufnahme von Così fan tutte. Besonders dieses Sotto-voce-Singen in den Ensembles gefiel mir. Als Knabensolist habe ich gerne Mozarts Lied Abendempfindung gesungen. Aber was hat Mozart geschrieben, das ein Countertenor singen könnte, abgesehen von zwei Kastratenpartien in seinen frühen Opern und einer einzigen Konzertarie? Die Beschränkung der Stimme hat auch irgendwie ihre misslichen Seiten. Der Vorschlag von Eva Coutaz, Così fan tutte aufzunehmen, hat dieser Frustration schlagartig ein Ende bereitet. Und die Così-Aufnahme wurde zum Anfang einer ganzen Reihe von Aufnahmen Mozart’scher Opern. Es ist schön, wenn es Leute gibt, die offen sind für Wagnisse und auch an einen glauben.

Gibt es auch unbekanntes Repertoire, das du gern realisieren würdest?

In der Oper werden heutzutage überwiegend die immer gleichen Stücke gespielt. Dieses eherne Repertoire verrostet immer weiter, egal ob die Regisseure immer neue Konzepte erfinden. Was mich stört, ist die Tatsache, dass sogar die Barockoper, die ja auch ein neues Publikum anzieht, in dieselbe Sackgasse gerät! Es werden inzwischen auch überwiegend die immer gleichen Barockopern gespielt. Auch hier beginnt das Repertoire, Rost anzusetzen. Ich möchte die beklagenswerten Lücken im Repertoire füllen. Neben Wagnerianern gibt es heute schon genauso fanatische Händel-Freaks, die nicht die Neugier aufbringen, sich mal eine Scarlatti-, Steffani- oder Caldara-Oper anzuschauen, vorausgesetzt, ein einsamer Intendant hat den Mut, so etwas Ausgefallenes aufs Programm zu setzen. Das ist selten, aber es kommt noch vor, wie etwa in der Berliner Staatsoper, unter der Intendanz von Jürgen Flimm, mit selten gespielten Opern wie Tommaso Traettas Antigona, Emilio de’ Cavalieris Rappresentatione di anima, et di corpo oder Telemanns Emma und Eginhard, die ich 2015 dort werde aufführen können.

Gibt es Werke, die du nie gesungen hättest oder nie dirigieren würdest und warum? Gibt es Musik, die du nicht ausstehen kannst?

Cavalleria rusticana kann ich nicht ausstehen.

Das Kindheitstrauma …

Richtig. Aber bleiben wir beim Singen: Alles, was für Countertenor geschrieben ist, habe ich singen wollen. Ich finde eigentlich, dass zu viele Countertenöre nicht das singen, was explizit für Countertenöre geschrieben ist. Kastratenrollen sind tatsächlich nicht für Countertenöre gedacht. 1981 habe ich mit Jos van Immerseel am Hammerklavier ein Recital mit Arien und Canzonetten von italienischen Belcantisten des 19. Jahrhunderts aufgenommen – Rossini, Bellini und Donizetti, aber auch Metastasio-Vertonungen von Beethoven und Schubert. Das war Hybris, eine Jugendsünde.

Hast du keine Affinität zu Popmusik, so wie Andreas Scholl?

Sehr wenig. Aber ich habe eine Popaufnahme meines jüngsten Sohnes gesponsert.

Es ist doch ein interessantes Phänomen, dass die Countertenor-Mode in den 1960er-Jahren exakt zeitgleich mit den neuen Popgruppen wie den Beatles, den Bee Gees oder den Beachboys aufgekommen ist, die ja auch alle bemerkenswert hoch singen, viel höher als die Popsänger zuvor. Technisch sind deren Aufnahmen auch so hoch abgemischt, dass sie fast wie Frauenstimmen klingen. Das war außerdem die Zeit, in der Yves Saint Laurent den Smoking für Frauen entworfen hat. Androgynie war plötzlich irgendwie das Thema der Zeit.

Ja, man liebte die hermaphrodite Stimme wieder. Das betraf aber nur die Männer. Yves Saint Laurent hat die Frauen männlich aussehen lassen, aber trotzdem gab es keine tiefen Contraltostimmen.

Das ist in der Tat erstaunlich. Wenn du jetzt jemandem raten solltest, der sich eine CD mit René Jacobs als Sänger kaufen möchte: Welche soll er nehmen?

Das hängt davon ab, was er am liebsten hören möchte. Ich habe vier Kinder, aber eines davon als Lieblingskind zu bezeichnen, käme mir niemals in den Sinn. So geht es mir auch mit meinen Aufnahmen, und die sind viel zahlreicher. Weil ich momentan, nach meiner Aufnahme der Matthäus-Passion, in einem Bach-Fieber lebe, würde ich dieser Person empfehlen, sich vielleicht das Agnus Dei aus der h-Moll-Messe anzuhören, die ich 1985 unter Gustav Leonhardt aufgenommen habe. Oder vielleicht etwas Unbekanntes: Das Lamento Queste pungenti spine von Benedetto Ferrari, einem Komponisten aus Monteverdis venezianischem Umfeld, der vermutlich auch »Pur ti miro«, das Schlussduett aus der Incoronazione di Poppea komponiert hat. Dieses Lamento ist eine Klage der Mutter Maria am Kreuz Jesu und im reinsten venezianischen Opernstil geschrieben. Ich habe es mit Konrad Junghänel 1984 auf einer Platte mit dem Titel »Lamento d’Arianna« eingespielt.

Du hast jetzt auf diese Frage – ich weiß, dass die schwer zu beantworten ist – zwei geistliche Werke genannt. Das fand ich auffällig.

Wir sind Menschen und brauchen beides: Sinnlichkeit und Spiritualität. Wo das eine anfängt, hört das andere auf, und umgekehrt. In Queste pungenti spine singt Maria ihr Lamento über demselben fallenden Quartbass wie Poppea und Nero ihr Liebesduett »Pur ti miro« in der Incoronazione di Poppea. Ich habe da eine sehr protestantische Idee – dass Oper doch eigentlich eine Sünde ist und dass man die Sünde mit geistlichen Konzerten büßen soll.

»Widerstehe doch der Sünde« …

All diese Musik über die Sünde, das ist überhaupt die schönste Musik.

Gäbe es die Möglichkeit, mehr geistliche Projekte anzugehen?

Ich könnte mehr in diese Richtung wirken. Aber vieles kommt so, wie es kommt. Man wird leicht auf eine Richtung festgelegt. Und das ist im Moment eher die Oper. Hin und wieder gibt es aber auch geistliche Sternstunden. Wir haben Caldaras Maddalena ai piedi di Cristo, die wir damals nur aufgenommen und nie aufgeführt hatten, nach so vielen Jahren dann doch im Konzert gespielt. Und gerade das vergangene Jahr war reich an geistlicher Musik: Bachs h-Moll-Messe in Köln, Seoul und in der Leipziger Thomaskirche, die Matthäus-Passion in Brüssel, Utrecht und dem Rheingau Musik Festival, Pergolesis Septem verba und Stabat mater in Beaune.

Du hat ja auch auf dem Theater geistliche Musik gemacht, zum Beispiel Händels Belshazzar in einer Bühneninszenierung der Berliner Staatsoper in Berlin, Innsbruck und Aix-en-Provence dirigiert. Ist dieses Werk doch mehr Oper als Oratorium?

Belshazzar ist ein wunderbares politisches Stück. Leider hat die Inszenierung nichts Politisches daraus gemacht. Schade. Halbszenische Inszenierungen der dramatischen Händel-Oratorien gefallen mir besser. Das Orchester muss sichtbar sein. Eine wunderbare halbszenische Inszenierung von Händels Saul habe ich in Brüssel dirigieren können. Die Initiative ging von der Brüsseler Oper aus, aber das »szenische« Konzert fand im Konzertsaal statt. Dabei wurde die große Orgel dort zur Kulisse.

Hörst du viele Platten?

Wenig, und wenn, dann meistens Repertoire, das ich nur in einem anderen Leben werde realisieren können.

Zum Beispiel?

Vieles von Gustav Mahler und eine meiner Lieblingsopern: Giuseppe Verdis Falstaff.

René Jacobs im Gespräch mit Silke Leopold

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