Читать книгу Tonga und Xantos, ihr Nachfolger - Silke May - Страница 3
Tonga und Xantos, ihr Nachfolger
ОглавлениеEs war eine klare Vollmondnacht. Die Sterne strahlten am Himmel um die Wette.
Der milchig weiße Mond warf sein trübes Licht auf den im Schnee versunkenen Wald. Die Schemen der Bäume schienen bläulich angestrahlt. Alles war still, nur das Knirschen des Schnees durchdrang gelegentlich die Stille, wenn das Wild umherstreifte. Auf einer vom Mond bestrahlten Lichtung neben einem gefrorenen Weiher, der von Tannen umrahmt war– stand ein Häuschen.
Helles, warmes Licht schien aus seinen Fenstern. Aus dem Kamin stieg weißer Rauch in den klaren schwarzen Sternenhimmel auf. Von Ferne ertönte ein leises Glöckchen, das langsam, aber stetig lauter wurde.
Aus dem Dickicht floh ein Reh auf die Lichtung. Es hatte Schwierigkeiten, im tiefen Schnee vorwärtszukommen, und hinterließ tiefe Spuren, ehe es auf der gegenüberliegenden Seite im Wald verschwand.
Auf dem verschneiten Waldweg, der an dichtem Baumwuchs vorbeiführte, erschien ein bepackter Schlitten. Eine hell erleuchtete Laterne ließ eine dick vermummte Gestalt erkennen, die ein Pferd lenkte. Der Schlitten fuhr direkt auf das Haus zu.
Am Fenster erschien ein Schatten, und die vermummte Gestalt winkte ihm aufgeregt zu. Jetzt schien Leben in das verträumte Haus zu kommen, fröhliches Lachen drang nach draußen. Die Tür öffnete sich, sodass die von Schnee verwehte Treppe durch die Hausbeleuchtung zu erkennen war. Drei kleine Kinder rannten ins Freie. »Autsch!« Der Kleinste flog auf die Nase. Im nächsten Moment rief er aber: »Nichts passiert«, lachte und hing schon am Ärmel des Ankömmlings. An dem er gemeinsam mit den anderen zog und zerrte. Das Gesicht des Vaters erschien im Laternenlicht. Sein dichter Vollbart war gesprenkelt von Schnee und kleinen Eiszapfen. Ein vertrautes Augenpaar, so blau wie der nächtliche Winterschnee, betrachtete glücklich die kleine Rasselbande. Mit warmer, tiefer Stimme sagte er: »Kommt in meine Arme, ihr Lieben. Ich musste furchtbar lange auf diesen Moment warten.« Der Schatten seiner Frau erschien im Lichtschein. Mit weit ausgebreiteten Armen lief sie ihm entgegen.
»Victor, mein Victor! Wie schön, dass du wieder da bist! Wir haben dich so vermisst!« Ihr schwarzes schulterlanges Haar fiel ihr in lockeren Wellen ins Gesicht. Victor strich ihr über den Kopf.
»Mein Rehlein, endlich halte ich dich wieder in meinen Armen.«
Anna küsste ihn leidenschaftlich und drückte dabei dankbar seine Hände. Peterle, der Kleinste von den Kindern, griff dem Vater in den Bart und fragte neugierig: »Hast du mir etwas mitgebracht? Kaum hatte er ihn losgelassen, nahm Tanja, die Zweitälteste, seinen Platz ein und umarmte den Vater fest. »Hast du mir das Buch mitgebracht?« Nur Mischa, der Älteste, hielt sich im Hintergrund und schaute den Vater nur fragend an. Victor bemerkte die zögerliche Haltung seines Sohnes und wandte sich an ihn: »Mischa – mein Sohn. Freust du dich nicht, dass ich wieder hier bin?«
»Doch, Vater, aber ich habe dir etwas zu beichten: Ich habe nämlich deinen Schneepflug kaputt gemacht.«
Der Vater runzelte die Stirn und sah Mischa eine Weile an. »Na ja, eine schöne Sache ist das nicht und ich werde ihn mir morgen ansehen. Das sollte unsere Wiedersehensfreude aber nicht trüben. Lasst uns ins Haus gehen und den Abend feiern, schließlich war ich fast zwei Monate von zuhause fort!« Sie gingen ins Haus und in die Stube, wo die Familie bei Kerzenlicht, mit Tee und süßem Gebäck die Heimkehr des geliebten Vaters feierte. Viktor traf sich regelmäßig mit anderen Förstern und Wildhütern auf einer großen Hütte hoch oben in den Bergen. Dort tauschten sie ihre Erfahrungen aus, während sie sich über Neuerungen zur Erhaltung der Wälder informierten. Diese Zusammenkunft erfolgte alle zwei Jahre. Nun erzählte ihnen der Vater alles, was er in den letzten Wochen erlebt und erfahren hatte. Mischa war total begeistert.
»Vater, ich möchte auch einmal teilnehmen, denn ich möchte auch ein guter Förster oder Wildhüter werden!« Viktor lächelte ihn an.
»Möchtest du das wirklich?«
»Ja, unbedingt!« Victor sah seine Frau an und Anna nickte leicht.
»Nun ja, wenn du das unbedingt möchtest, dann fährst du in zwei Jahren hin und ich bleibe daheim.«
Mischa’s Freude war riesengroß und die Stimmung der Familie war auf dem Höhepunkt angekommen. Fröhlich lachten sie und unterhielten sich eifrig miteinander.
Nero, ihr Schäferhund, lag vor dem offenen Kamin, hin und wieder bewegte sich seine Schwanzspitze. Das Feuer knisterte gemütlich vor sich hin. Ab und zu warf er einen Blick in ihre Richtung, wenn das Lachen gerade wieder besonders laut wurde.
Zur gleichen Zeit:
Im tief verschneiten Wald, in einer vom Feuerschein beleuchteten Höhle stand eine schöne Frau mit einem Engelsgesicht an einem Tisch und packte Brot, Wein und Äpfel in ihren Beutel. Sie griff nach einer kleinen Flasche, in der sich eine Art Goldstaub befand, und steckte sie ebenfalls dazu. Dann trat sie zum Spiegel, kämmte ihr blondes langes Haar und steckte es zu einem Knoten zusammen. Sie schlüpfte in einen dicken Wintermantel und legte sich einen warmen Wollschal um den Kopf. Mit dem Beutel in der Hand verließ sie das Haus. Draußen vor der Tür stand bereits ein eingespannter Schlitten mit vier herrlichen Schlittenhunden, die schon ungeduldig auf ihre Herrin warteten. Sie nahm auf dem Gefährt Platz.
»Schnee von gestern, Schnee von heute, bringt mich zu den guten Leuten.« Schon setzte sich der Schlitten in Windeseile in Bewegung und verschwand im tiefen Wald. Die Nacht war klar und der Wind sang sein Lied. Er spielte mit den verschneiten Tannenspitzen, und man hörte den Schnee von den Ästen rieseln.
Der Schlitten überquerte einen zugefrorenen Bach, die Schlittenhunde schnauften, und ihr Atem setzte sich an ihren Barthaaren als Eiskristalle fest. Sie rannten ohne Unterbrechung als wäre der Teufel hinter ihnen her. Die Frau saß gebückt auf dem Schlitten und murmelte die ganze Zeit etwas vor sich hin. Der Mond beleuchtete ihr Gesicht, und plötzlich konnte man in ihrem schönen Gesicht deutliche Veränderungen sehen. Die Frau wurde mit jeder Minute älter, bald hatte sie tiefe Falten, und auch ihre Stimme wurde zunehmend gebrechlicher.
Die Tiere rannten unaufhörlich und näherten sich einer kleinen Lichtung. Auf dieser stand ein Holzhäuschen, dessen Fenster hell erleuchtet waren. Es war das Haus der Förster Familie, die fröhlich die Rückkehr des Vaters feierte. Nun fuhr der Schlitten im Hof ein und näherte sich dem Haus. Die alte Frau sprach jetzt beschwichtigend auf die Tiere ein: »Schön langsam, wir sind jetzt da, erschreckt mir nicht die Leute.«
Leise blieb der Schlitten stehen. Die Frau packte ihren Beutel und sprang ab, dann ging sie langsam Schritt für Schritt auf das Haus zu.
Unterdessen sang die Familie ein schönes Lied, als plötzlich Nero seine Ohren spitzte, ungeduldig aufsprang und an die Tür lief. Dabei knurrte und bellte er furchterregend! Sofort hielten sie inne und schenkten dem Hund ihre Aufmerksamkeit. Alles horchte in die Stille und Nero saß wie gebannt vor der Tür und knurrte leise vor sich hin.
»Horcht, da ist doch jemand an der Tür«, sagte die Mutter.
»Ich werde nachschauen«, erklärte der Vater, während er aufstand und schwerfällig zur Haustür ging.
Die Kinder rückten auf der Bank etwas näher zusammen und schauten ihm gebannt nach. Der Vater drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete vorsichtig die Tür. Nero drückte sich knurrend an seinen Füßen vorbei, damit er besser sehen konnte.
»Victor … ich bin gekommen, um nach dem Rechten zu sehen«, sagte die Alte und blickte in das verdutzte Gesicht des Mannes.
»Weiblein, woher wisst ihr meinen Namen, sollte ich euch etwa kennen?«, fragte er, während er einen Schritt auf sie zu machte, um ihr Gesicht besser sehen zu können. Langsam näherte sich auch Anna seine Frau, um zu sehen, wer gekommen war. Die Alte sah zu ihr und sagte: »Schöne Frau, ich will euch nichts Böses, du brauchst dich nicht zu fürchten. Doch würde ich euch bitten, lasst mich einkehren in eure warme Stube.«
Victor warf einen Blick zu Anna, diese nickte ihm zu. »Kommt herein, Weiblein, sonst kühlt mir das Haus aus.«
Die Alte betrat das Haus und ging schleifenden Schrittes in die Stube. Nero wich ihr nicht von den Fersen und beschnupperte sie von allen Seiten. Ihr Blick fiel auf die drei Kinder, die am Tisch saßen.
»Die Zwergerl sind aber brav. Ihr braucht’s euch nicht zu fürchten. Wie heißt ihr denn?«
Misstrauisch senkten die drei Kinder ihre Köpfe und schauten die Frau von unten herauf an. Die Stimme des Vaters löste die angespannte Situation.
»Setz dich an den Tisch und sag uns, was dich in der kalten Nacht zu uns führt!«
Die Frau schob den Hund sanft zur Seite und nahm auf der Bank Platz. Ihr Blick glitt über den reichlich gedeckten Tisch zu den Kindern, dann streifte er durch das Zimmer. Dabei atmete sie langsam und laut. Bei Anna und Victor verweilten ihre Augen. »Ich bin gekommen, weil ihr meine Hilfe benötigt.«
»Wieso sollen wir deine Hilfe brauchen?«, fragten Victor und Anna wie aus einem Mund. Sogar Nero legte den Kopf fragend zur Seite und schaute abwechselnd zu der Alten und zu seinen Leuten. Man konnte direkt das Fragezeichen auf seiner Stirn erkennen.
»Das werde ich noch erklären, wir haben sehr viel Zeit – doch könntet ihr erst mal eurer Gastfreundschaft nachkommen?«
Anna entschuldigte sich, schenkte der Alten eine Tasse Tee ein und reichte ihr Gebäck dazu. Nun saßen sie alle um den Tisch und Blicke wurden ausgetauscht, aber keiner begann zu sprechen.
»Jetzt wird es wohl Zeit, dass ich mich vorstelle«, sagte die Alte schließlich, während sie langsam das Kopftuch abnahm und ihr schneeweißes Haar zum Vorschein kam.
»Mein Name ist Isaja, ich komme aus dem Land der Nächte und wurde vom Zauberer Eron berufen, euch zu Hilfe zu eilen. Von den Mächten der Finsternis wird eine gewaltige Zerstörung vorbereitet und die Übernahme eurer Seelen geplant. Wir müssen auf der Hut sein. Die Mächte des Bösen können in jeder Form erscheinen, um sich eurer Seelen zu bemächtigen. Und ihr müsst wissen – eine verlorene Seele kann man nie mehr zurückholen!«
»Isaja, sag mir, woher weiß ich, dass du uns die Wahrheit sagst? Womöglich kommst du selbst von diesen Mächten der Finsternis?«, fragte Victor und sah ihr dabei lange in die Augen. Da kramte die Alte in ihrem Beutel und zog die Flasche mit dem Goldstaub heraus.
»Schaut her, ich liefere euch den Beweis.«
Sie schob ihre Tasse zur Seite und wischte mit der Hand über die Tischfläche, dann verteilte sie vorsichtig etwas Goldstaub auf der Platte. »Eron, mein Gebieter, zeige dich zum Zeichen der Wahrheit und sprich!«
Sofort wurde es unruhig und der Staub fing an, ineinander zu laufen. Plötzlich konnte man die Konturen eines Gesichtes erkennen. Eine leise hohle Stimme, die schnell klarer wurde, fragte:
»Isaja – bist du nicht mehr glaubwürdig? Seit wann muss ich für dich bürgen?« Isaja hob kurz die Schultern an und blickte zu Victor und Anna, dann sprach sie in seufzendem Ton: »Tja, Eron, die Zeiten haben sich geändert. Was glaubst du, warum wir so wenige Seelen retten konnten in den letzten Jahren? Eron sage uns, was passieren wird. Sind wir in der Lage, dem Einhalt zu gebieten … und wie?«
»Victor achte gut auf die Kinder. Sie werden als Erste von den Mächten heimgesucht werden. Du kannst aber allem entgegentreten, indem du deinen Verstand gebrauchst und das Übel kommen hörst oder siehst. Wenn du ihm sofort entgegentrittst, wird es zwar schwer sein, aber du wirst es schaffen!
Sollte dennoch ein Angriff erfolgen, dann hast du bis zu einer Stunde Zeit, um den Bann zu brechen. Wende dich mit weiteren Fragen an Isaja, sie wird dir alles Nötige erklären.«
Der Staub wurde wieder unruhig und das Bild verschwand, übrig blieb nur ein unscheinbares Häufchen Goldstaub. Isaja fuhr mit der Handkante vorsichtig über die Tischplatte und füllte so den Staub in die Flasche zurück.
»So, meine Lieben … den werden wir noch brauchen, jedes Körnchen kann lebensnotwendig sein. Wenn man die verwunschene Person innerhalb der angegebenen Zeit mit etwas Zauberstaub anbläst, verfällt der böse Zauber und die Seele ist gerettet. Diese Verwünschungen werden so lange immer wieder vorkommen, bis Tonga die mächtige Herrscherin der Unterwelt, vernichtet ist. Das kann womöglich sehr lang dauern. Geht deshalb sehr vorsichtig und sparsam mit dem Zauberstaub um. Nicht dass euer Vorrat zu Ende ist, bevor Tonga vernichtet wurde! Tonga ist eine Meisterin der Trugbilder, also seid auf der Hut! Wir werden uns erst wiedersehen, wenn der Bann gebrochen ist. Hütet das Fläschchen gut, es gibt keinen Ersatz dafür! Denkt bitte auch an mich: Ich kann meine Jugend erst wieder zurückgewinnen, wenn die Höllenmacht besiegt ist!«
Das Weiblein stand auf und verließ mit gesenktem Kopf langsam die Stube und das Haus. Kurze Zeit darauf hörten sie das leise Klingen der Schlittenglöckchen.
Es herrschte tiefe Stille. Zurückgeblieben war eine verdutzte Familie, die sich lange gegenübersaß und kein Wort herausbrachte. Sie erwachten erst wieder aus ihren Gedanken, als plötzlich ein fürchterlicher Sturm um das Haus blies und die Läden an die Fenster schlugen. Der Vater fuhr sich rasch durch die Haare, sprang auf und lief nach draußen, um die Läden zu schließen. Nero sprang ihm bellend hinterher, und Mischa war ihm dicht auf den Fersen. Das kleine Peterle wurde von Anna gerade noch an der Jacke gepackt und zurückgehalten. »Du bleibst hier!«
Das Licht fing zu flackern an, Tanja sprang auf und zündete sofort eine Kerze an. Victor und Mischa hatten draußen allerhand zu tun, um sich gegen den Sturm zu behaupten. Plötzlich verschwand Nero im Gebüsch, und sie hörten nur noch wildes Bellen. Der Sturm wurde von einem fürchterlichen Jaulen unterbrochen. Es klang so furchtbar, dass es ihnen durch Mark und Bein ging. Nach ein paar Sekunden war es wieder still. Victor und Mischa rannten in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
»Nero, lieber Nero, wo bist du? Komm her, was ist los?«, schrie Mischa. Weit und breit war kein Nero zu sehen, nur die Spuren im Schnee und ein wenig Blut zeigten an, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Mit gesenkten Köpfen stapften sie zum Haus zurück. Anna öffnete ihnen die Tür.
»Was war das denn für ein herzzerreißendes Jaulen? Wo ist Nero?«
Victor schob sie sanft zur Seite, damit er und Mischa eintreten konnten. »Wir haben Nero nicht gefunden, da war nur eine Blutspur. Vielleicht ist er einem Wolf in die Quere gekommen.«
Mischa wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und Peterle brüllte nun wie am Spieß los. Auch Tanja fing zu weinen an, sodass Anna alle drei fest in ihre Arme nahm und tröstete. Dann kehrte langsam wieder Ruhe ein und bald saßen sie alle still am Tisch, wo jeder seinen Gedanken nachhing.
»Horch … was war das für ein Geräusch?«, fragte Tanja. »Da kratzt doch etwas!«
Schon wollte sie zur Tür laufen, aber der Vater sprang auf und hielt sie zurück. »Vielleicht ist das der Wolf, der unsere Witterung aufgenommen hat. Er nahm sein Gewehr und öffnete vorsichtig die Tür einen Spaltbreit, dabei traute er seinen Augen nicht: Vor ihm saß Nero! Der Hund drückte sich sofort an ihm vorbei und ließ sich vor dem warmen Kamin nieder. Die Freude war riesig, endlich war Nero wieder nach Hause gekommen. Alle setzten sich wieder und beobachteten zufrieden den Hund, der der Familie schläfrig zublinzelte. Victor stand auf und trat zu Nero.
»Jetzt muss ich aber mal nachschauen, wo er sich verletzt hat.«
Der Vater hatte sich an die Blutspur im Schnee erinnert. Als der Schäferhund die Ohren aufstellte und zu ihm sah, ging Victor vor ihm auf die Knie und streichelte seinen Kopf. Doch plötzlich knurrte und fletschte dieser die Zähne. Victor konnte nicht so schnell reagieren, wie der Hund ihm an die Kehle zu gehen versuchte. In letzter Sekunde gelang es ihm gerade noch, seinen Arm dazwischenzuschieben. Er sah direkt in die Augen des Hundes, und es durchfuhr ihn wie ein Blitz! Das waren die glühenden Augen der Finsternis.
»Mischa schnell, den Staub!«, schrie er. Mischa, der bereits zum Vater ging, machte einen Satz zurück zum Tisch. Er packte das Fläschchen und blies dem Hund etwas Staub in das Fell. Daraufhin jaulte Nero auf und wurde starr und steif. Im nächsten Moment fiel er leblos zur Seite. Anna rannte zu Victor und nahm ihn in die Arme.
»Hat er dich gebissen?«
»Nein, seine Zähne sind durch die dicke Jacke nicht durchgegangen.« Anna gab sich mit dieser Aussage aber nicht zufrieden, sie wollte sich selbst davon überzeugen und Victor musste seine Jacke ausziehen.
Mischa sagte aufgeregt: »Das war wohl der erste Versuch, uns zu vernichten. Wir müssen ganz besonders aufpassen und immer das Fläschchen in unserer Nähe haben.« Schweigend nickten alle und starrten auf Nero, der sich streckte und sich dann langsam und schwerfällig aufrichtete. Er ging zu Victor stupste ihn mit der Nase an und leckte ihm die Hände. »Der Bann scheint gebrochen, wir konnten Nero noch rechtzeitig befreien«. Anna setzte sich mit zitternden Händen an den Tisch. Die anderen taten es ihr gleich. So verharrten sie noch eine ganze Weile zusammen, bis die Müdigkeit sie übermannte. Es war schon spät, als sie endlich in ihre Zimmer gingen und das ganze Haus in tiefen Schlaf versank.
Die Sonne stand hoch am Himmel, gleißendes Licht überflutete die Waldlichtung. Ein Häschen hoppelte durch den Schnee, ansonsten war es noch ruhig. Aus dem Kamin stieg ein rußiges Wölkchen auf, als Tanja die Haustür aufriss. Händereibend trat sie vor das Haus, um die Fensterläden zu öffnen.
Mit einem Mal war lautes Hundegebell zu hören und Nero schoss wie eine Rakete aus dem Haus. Wie vom Teufel gejagt hetzte er durch den Schnee, warf sich auf den Boden und wälzte sich ausgiebig.
Victor verließ das Haus, um Holz zu holen, Peterle begleitete ihn.
»Vater, gehen wir heute auch zum Wild oder braucht es noch kein frisches Futter?«
»Peterle – am Nachmittag müssen wir natürlich noch zu den Futterstellen, dabei muss uns Mischa aber helfen, damit wir alles noch vor Einbruch der Dunkelheit schaffen. Am Vormittag muss ich erst einmal nach dem Schneepflug sehen, den er kaputt gemacht hat.«
Anna stand am Herd, um das Mittagessen vorzubereiten, Tanja schälte Kartoffeln.
»Mama, reichen die Kartoffeln oder braucht es noch weitere? Mir schmerzen nämlich langsam die Hände.« Mischa, der am Tisch saß, äffte Tanja nach. Anna warf einen Blick auf ihren Sohn. »Du hast es gerade nötig, einen Kommentar abzugeben. Schau lieber, dass du deinem Vater bei der Reparatur hilfst!«
Daraufhin verdrehte er die Augen, erhob sich und verließ das Haus. Victor stand gebückt vor dem Schneepflug und bastelte angestrengt daran herum. »Vater kann ich dir zur Hand gehen?«, fragte Mischa in der Hoffnung, dass er ablehnen würde. Aber da hatte er Pech gehabt, denn der Vater freute sich über das Angebot. Vonseiten des Sohnes war daraufhin ein verhaltenes Stöhnen zu hören. In der Küche herrschte reges Treiben. Hier noch ein bisschen Paprika in das Gulasch, dort noch etwas Salz für die Suppe, da läutete das Telefon.
»Forsthaus Wagner«, meldete sich Anna. Tanja hielt inne und horchte, was die Mutter sagte.
»Ist gut, ich werde es meinem Mann ausrichten. Am Grenzstein fünf, haben sie ein Reh angefahren und es ist verletzt in Richtung Wasserfall gelaufen. Mm ? ja, wahrscheinlich muss er es abschießen. Danke für Ihren Anruf!«
Anna sagte zu Tanja: »Armes Vieh, und das nur, weil die Leute nicht aufpassen. Ich sag gleich Victor Bescheid.«
Nach kurzer Zeit waren Victor und Mischa unterwegs, um nach dem Tier Ausschau zu halten. Aber sie waren nicht lange fort.
»Was ist denn jetzt los, der Jeep kommt ja schon wieder zurück?«, rätselte Anna. Die Türe wurde aufgestoßen und Mischa stürmte herein.
»Wir haben die Betäubung vergessen. Vater möchte erst einmal schauen, ob man es überhaupt töten muss!«
»Mischa, habt ihr auch etwas von dem Zauberstaub dabei?«, fragte ihn seine Schwester. »Nein, den haben wir auch vergessen!«
Tanja reichte ihm ein Fläschchen, in das sie eine kleine Menge zum Mitnehmen abgefüllt hatte. Mischa steckte es ein und kletterte wieder in den Jeep.
Am Grenzstein angekommen, konnten sie schon die Blutspur sehen. Sie verfolgten das Reh eine Weile zu Fuß.
»Es kann nicht sehr schlimm verletzt sein, sonst wäre es nicht so weit gekommen«, stellte Victor fest. Von Weitem konnte man schon das Tosen des Wasserfalles hören. Als sie dort ankamen, erblickten sie das Elend sofort: Ein kleines Reh lag blutend am Boden in der Nähe des Baches.
Victor ging vorsichtig auf das Tier zu und bückte sich zu ihm hinunter.
»Wir brauchen es nicht mehr zu betäuben, es ist schon zu schwach, um uns noch Schwierigkeiten zu machen. Gib mir mal die Tasche.«
Mischa konnte nicht verhindern, dass sein Herz zu klopfen anfing. Seit dem Vorfall mit Nero war er ängstlicher geworden. Der Vater gab dem Tier eine Spritze und verband es fürsorglich. »Mischa, wir müssen es mitnehmen und pflegen, bis es wieder gesund ist. Komm, pack mit an!« Sie hoben das Tier vom Boden und schleppten es zum Jeep. »Mensch ist das aber schwer, das hat fast schon das Gewicht von einem großen Reh!«
»Es steht auch gut im Futter«, sagte Victor.
Als das Reh auf dem Wagen lag und die Taschen gut verstaut waren, ging es zurück in Richtung Forsthaus. Mischa war erleichtert und fing zu pfeifen an. »Ja, ja, morgens pfeift der Vogel noch und am Abend hat ihn dann die Katz geholt«, sagte sein Vater, aber er schmunzelte dabei.
Anna hörte sie kommen und wartete vor dem Haus. Mischa und Victor hoben gerade das Reh vom Wagen.
»Ich mache euch das Gatter zum Stall auf. Ist es schlimm verletzt?«, fragte sie. »Nein, ich glaube, es wird bald wieder in Ordnung sein. Wir müssen ihm gleich Heu geben, damit es fressen kann, wenn es wieder zu sich kommt.«
»Das mach ich!«, schrie Peterle, der gerade dazugekommen war, um den Patienten anzusehen.
Nun konnten sie sich endlich in Ruhe um den Tisch versammeln und das köstliche Mittagessen genießen. Anschließend legten sie noch eine kurze Erholungspause ein, dann musste sich der Vater zu den Futterplätzen aufmachen, um das Wild zu versorgen.
»Ich möchte auch mit!«, rief Peterle laut.
Der Vater nickte ihm bejahend zu und Mischa schob den Kleinen wie aufs Stichwort vor sich in den Wagen.