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Die Vase

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Am Sonntagvormittag war es üblich, dass die Familie gemeinsam die Kirche besuchte. Nero stand schon an der Tür – er wusste genau, dass es nicht mehr lang dauern würde, bis sie sich auf den Weg machten. Rex durfte sie begleiten und sich dann im Garten, mit des Schusters Hund die Zeit vertreiben.

Endlich erhoben sich die Eltern und gingen, gefolgt von den Kindern, nach draußen. Nero war der Erste, der am Jeep stand und schwanzwedelnd seine Ungeduld signalisierte. Bald schon fuhren sie durch die schneeverwehten Straßen und hatten schon nach fünfzehn Minuten die Kirche erreicht.

Als sie ankamen, standen der Schuster und seine Frau schon im Garten und erwarteten das Grüppchen. Die Familie gab den Hund in ihre Obhut und ging dann in die Kirche auf der anderen Straßenseite.

Nach der Kirche war es üblich, dass man im Gasthof »Zur blauen Traube« einkehrte und dort bei geselliger Unterhaltung zu Mittag aß. Die Försterfamilie und der Schuster mit seiner Frau folgten diesem Ritual jede Woche.

Im Wirtshaus unterhielt man sich über alles, was in der vergangenen Woche passiert war, und auch der Dorfklatsch kam nicht zu kurz. Nachmittags ging die Familie des Försters mit ihren Freunden, dem Schusterehepaar, in dessen Wohnung und verbrachte den restlichen Nachmittag dort bei Kaffee und Kuchen. Gertrud zeigte Anna ihre neuen Kochrezepte und den Zuschnitt für ihr nächstes Kleid. Die beiden Frauen waren so miteinander beschäftigt, dass sie erstaunt aufblickten, als Victor sie unterbrach und zum Aufbruch drängte. Gertrud versprach, schon bald bei Anna vorbeizukommen, um einen Nachmittag bei ihr zu verbringen. Dann machten sich die Gäste auf die Heimfahrt, damit sie noch vor Einbruch der Dunkelheit zuhause ankommen würden. Sie waren alle müde und ein bisschen wortkarg, da sie den ganzen Nachmittag mit Reden verbracht hatten. Schon von Weitem konnten sie erkennen, dass vor ihrem Häuschen etwas vor der Tür lag. Sie stiegen aus und sahen eine große Kiste vor dem kleinen Treppenaufgang.

Darauf stand mit einem Filzstift dick geschrieben: »Förster Wagner«. Ganz vorsichtig klappte Victor den Deckel hoch. Er stieß auf einen Berg Holzwolle, die er mit den Händen zur Seite schob.

Darunter befand sich eine riesengroße, wunderschöne Vase aus buntem Porzellan. Wer mochte ihnen wohl dieses Geschenk gemacht haben? Sie durchwühlten die Kiste gründlich nach einem Zettel oder einer Karte, fanden aber keinerlei Hinweis.

»Victor, wer könnte uns nur diese Vase geschickt haben?«, rätselte Anna und schob Peterle zur Seite, der sehr nah – zu nah – an das gute Stück herangekommen war. Sie brachte die schöne Vase ins Haus und stellte sie im Wohnzimmer neben dem Schrank auf den Boden. Die Blicke sämtlicher Familienmitglieder wanderten regelmäßig zu diesem Platz.

Erst nach ein paar Stunden ließ dieses Interesse nach. Es half ohnehin nichts, der Absender war nicht zu ermitteln. Und so gewöhnten sie sich an den dekorativen Anblick, ohne sich jedes Mal etwas dabei zu denken. Nach dem Abendessen gingen alle bald zu Bett, da sie der anstrengende Tag ermattet hatte.

Mitten in der Nacht ereignete sich etwas äußerst Ungewöhnliches, ohne dass es jemand aus der Familie bemerkte: Plötzlich strahlte bläuliches Licht aus der Vasenöffnung. Dieses Licht wurde immer intensiver und erhellte schließlich die gesamte Zimmerdecke. Zugleich schlängelte sich eine dünne bläuliche Rauchsäule aus der Vasenöffnung. Diese formte sich langsam zu einer Gestalt. Es entstand eine Frau mit sehr langem Haar, das wie Feuer züngelte und in den Farben blau-lila und rot flackerte. Sie wurde größer und größer, und als sie der Vase entstieg, maß sie bereits über zwei Meter. Es war »Tonga«, die böse Zauberin. Sie war gekommen, um sich die Seelen der Menschen anzueignen.

Nero lag wie immer auf seinem Platz neben dem Kamin. Schläfrig blinzelte er in ihre Richtung. Als er aufspringen und bellen wollte, richtete sie blitzschnell ihren Zeigefinger auf ihn und er sackte wie betäubt in sich zusammen.

Dann schwebte sie die Treppe hinauf in Richtung der Schlafzimmer.

Kaum hatte sie das erste Zimmer erreicht – es war das von Anna und Victor –, öffnete sie leise die Tür und flog hinein. Sie befand sich nun direkt neben Victor, der einen tiefen Schlaf hatte.

Tonga bückte sich, um in sein Gesicht zu sehen, und lächelte ihn an.

»Was für ein schöner Mann du bist. Eigentlich schade, dass sich das Ändern wird«, gab sie mit kehliger Stimme von sich.

Sie richtete ihre langen knochigen Finger auf seinen Hals und es schossen Blitze heraus.

Victor riss die Augen auf. Er blickte in ein glühendes Augenpaar, während er versuchte zu schlucken und dann feststellte, dass er keine Luft mehr bekam. Er war weder in der Lage zu schreien noch sich zu wehren. Was war überhaupt passiert? Er wusste nur eines: Wenn jetzt kein Wunder geschehen würde, dann wäre alles zu spät. Ein starker Schmerz jagte durch seine Brust, ehe er das Bewusstsein verlor.

Anna lag mit dem Rücken zu Victor, als plötzlich ein eisiger Wind an ihrem Rücken vorbeistrich und sie frösteln ließ. Halb bei Bewusstsein zog sie die Decke ein Stück hoch und wollte wieder einschlafen, doch ihr wurde einfach nicht wärmer. Also drehte sie sich um in der Absicht, sich an ihren Mann zu kuscheln. Als ihre Füße die seinen berührten, fuhr sie vor Schreck hoch, denn seine Haut war eiskalt. Anna öffnete die Augen und ihr Blick fiel direkt auf Tonga.

Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett. Sie schrie auf und stürzte sich wie ein Tier auf die Hexe, zerrte an ihren Haaren und riss sie von Victor weg. Mit Händen und Füßen schlug sie auf die Zauberin ein.

Dann hängte sich Anna an ihren Hals, um Tonga zu würgen, diese aber wechselte urplötzlich ihre Farbe von Blau zu Lila und aus ihrer Nase quoll Rauch. Sie packte Anna an den Armen und schleuderte sie mühelos von sich weg.

»Auch gut, dann kommst du eben zuerst dran – der andere läuft mir sowieso nicht mehr weg!«

Als Anna unsanft auf dem Boden landete, verlor auch sie die Besinnung. Die Zauberin beugte sich gerade über sie und legte ihre Hände auf Annas Brust, als die Tür aufgerissen wurde und Mischa im Raum stand. Ihr Blick fiel sofort auf die Flasche, die der Junge in der Hand hielt, und sie stieß einen Zornesschrei aus, fuhr in den offenen Kamin und war verschwunden.

Mischa verteilte sofort etwas Zauberstaub auf den reglosen Körpern seiner Eltern und wartete, dass sie wieder zu sich kamen.

Bei Victor dauerte es ein wenig länger als bei Anna, aber schließlich war auch er wieder bei Bewusstsein. Keiner von beiden konnte sich daran erinnern, was geschehen war.

Sie gingen hinunter ins Wohnzimmer, wo Nero vor der Vase stand und gerade an ihr schnupperte. Victor sah den Hund vorwurfsvoll an, weil er nicht angeschlagen hatte. Dann setzten sie sich an den Tisch und sprachen die halbe Nacht über das Angst einflößende Ereignis.

Erst in der Morgendämmerung gingen sie wieder zu Bett, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen.

Am nächsten Morgen waren alle drei wie gerädert. Tanja und Peterle saßen nichts ahnend in der Küche und wunderten sich, wo der Rest der Familie so lange blieb. Als Anna endlich hereinkam, murmelte sie nur einen kurzen Morgengruß.

»Mensch bist du aber noch müde! Oder bist du schlecht gelaunt?«, hakte Peterle nach. Anna sah in sein verdutztes Gesicht und lächelte ihn an. Er sah einfach zu drollig aus, wenn er sie mit diesem Blick ansah. Im nächsten Moment kamen Victor und Mischa zur Tür herein. Sie blickten in die Runde und Victor fing zu sprechen an: »Eigentlich wollten wir euch nichts sagen, aber da es uns alle angeht, habe ich meine Meinung nach gründlicher Überlegung geändert.

Und dann erzählte er ausführlich, was sich in der vergangenen Nacht ereignet hatte. Tanja weinte, als sie von der furchtbaren Begebenheit erfuhr. »Meine Güte, ich habe solche Angst! Stellt euch nur vor, es wäre der Hexe gelungen, unsere Eltern zu töten!«

Peterle griff nach ihrer Hand.

»Tanja, nun beruhige dich doch! Sie sitzen doch beide hier und sind quicklebendig. Gemeinsam werden wir es schon schaffen, dieser Zauberin Einhalt zu gebieten.« Dann versuchten sie, einen Plan für die Vernichtung Tongas auszuarbeiten.

Anna schlich sich unterdessen in den Stall und erzählte die Geschichte dem Häschen. Sie berichtete anschließend der Familie von ihrer Fähigkeit, mit Tieren sprechen zu können.

Nach dieser Nacht waren alle bereit, ihr auf Anhieb zu glauben, und Peterle fand es richtig toll, was seine Mutter konnte.

Nach einem ausgiebigen Frühstück riefen trotz allem die Alltagspflichten.

Einer nach dem anderen verließen sie das Haus, wenn auch mit einem unguten Gefühl. Nur Anna blieb daheim und kümmerte sich um den Haushalt, leider wollte ihr heute aber nichts so von der Hand gehen, wie sie es gewohnt war.

»Wie praktisch, dass ich heute Mittag wenigstens nicht kochen muss. Vor dem Abend wird nämlich keiner zurück sein«, sagte sie zu sich selbst und zu Nero. Der Hund merkte sofort, dass sie mit ihm gesprochen hatte, und wedelte begeistert mit dem Schwanz. In diesem Moment läutete das Telefon. Anna nahm den Hörer ab und erkannte erfreut, dass ihre Freundin Gertrud Bauer, die Frau des Schusters, am anderen Ende der Leitung war. Sie wollte Anna besuchen.

»Das fände ich super, denn heute habe ich den ganzen Tag Zeit. Ich muss erst gegen Abend kochen und den Rest der Arbeit verschiebe ich auf morgen. Ich bin heute schrecklich unkonzentriert. Also dann bis in einer Stunde, ich freue mich!«

Jetzt musste sie nur noch die Tiere versorgen, dann wäre sie frei, um den Tag mit Gertrud verbringen zu können. Darauf freute sie sich riesig, denn es war eine Ewigkeit her, dass sie beide einen richtigen Frauentag gehabt hatten. Als sie in den Garten ging, begrüßte sie die Tiere mit einem freundlichen »Hamma, Hamma ?« und mit einem Satz waren Reh und Häschen sowie das Wildschwein zur Stelle. Sie drängelten regelrecht, sodass Anna alle Hände voll zu tun hatte, um sie vom Futtersack fernzuhalten.

Anschließend traf sie noch ein paar kleinere Vorbereitungen für den Kaffeeklatsch.

Tonga und Xantos, ihr Nachfolger

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