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Kapitel 2
ОглавлениеDas heftige Rauschen des Regens weckte mich im Morgengrauen und der Wind trug die Tropfen weit in mein Zimmer herein. Ich war gezwungen, aufzustehen und das Fenster zu schließen. Patschnass war der Teppichboden bereits. Während ich die Fensterflügel zuklappte, schaute ich unwillkürlich wieder dorthin, wo - möglicherweise - der Mann von der Hunderennbahn gestanden hatte. Trotz des Regens war die Sicht jetzt besser, aber der Platz dort unten war selbstverständlich leer. Gähnend kehrte ich ins warme Bett zurück, zog die Decke ans Kinn und schlief noch drei Stunden. Als ich wieder aufwachte, regnete es nicht mehr, aber der Morgen war grau und trist. So ein Wetter färbte meist auf mein Gemüt ab. Ich fühlte mich nicht sonderlich wohl. Mein normalerweise sehr ausgeprägter Unternehmungsgeist ließ sich nicht finden und ich musste lange kalt duschen, um meine Lebensgeister wenigstens einigermaßen in Schwung zu bringen. Als ich mein Zimmer verließ, begegnete ich Jo auf dem Flur.
»Guten Morgen, Cousinchen«, sagte er. »Hast Du gut geschlafen?«
»Einigermaßen, und Du?«
»Mich hat der Regen geweckt.«
Max brachte Kaffee.
»Ich habe einen Mordshunger«, sagte ich zu Jo.
Er lächelte. »Kein Wunder. Du hast die ganze Nacht nichts gegessen.«
Die Stimmung war an diesem Morgen etwas besser, aber so ganz im Lot war sie immer noch nicht. Ich ließ mir das reichhaltige, ausgiebige Frühstück gut schmecken. Auf meine Linie brauchte ich nicht zu achten, die war in Ordnung. Ich hatte damit wirklich noch nie Probleme gehabt, konnte essen, soviel ich wollte, ohne dick zu werden. Wilfred befand sich nicht in dieser beneidenswerten Lage. Er musste sich schon beim Frühstück bremsen und noch mehr beim Lunch und Dinner aufpassen. Er behauptete, er würde sogar durch ein Glas Wasser zunehmen. Das war natürlich Unsinn, aber es stimmte, das er schon Fett ansetzte, wenn er sich einmal erlaubte, genauso viel zu essen wie ich. Onkel Wolfgangs Glatze spiegelte an diesem Morgen, als hätte Max sie mit Bienenwachs gewienert. Er wartete, bis wir alle mit dem Essen fertig waren und dann zündete er sich eine Zigarre an. Es war immer ein feierlicher Akt, bis die Zigarre die richtige Glutkrone hatte. In dieser Zeit durfte niemand Onkel Wolfgang stören. Er war ein bisschen eigen, aber ich mochte ihn trotz seiner Schrulligkeiten. Er und mein Vater waren Brüder und sie sahen einander auch ein bisschen ähnlich. Zum Beispiel hatten beide diese samtbraunen, gutmütigen Augen. Das Haar meines Vaters war zwar schon schütter, aber er war noch weit davon entfernt, mit einer Glatze durchs Leben laufen zu müssen. Ich erkundigte mich nicht wieder nach dem jungen Mann von der Rennbahn. Dennoch war er plötzlich wieder bei uns. Wilfred zog die Augenbrauen grimmig zusammen und sprach als Erster von ihm. »Eine Frechheit sondergleichen ist das«, sagte er. »Wieso kommt er zurück, als wäre überhaupt nichts geschehen? Kann ihn denn niemand daran hindern?«
Onkel Wolfgang betrachtete seine Zigarre, »Man wird etwas gegen ihn unternehmen,«
»Hat man denn keine Handhabe gegen ihn?«, wollte Tante Liz wissen.
»Man wird eine finden müssen«, sagte Jo.
Ich schaute neugierig in die Runde und hoffte mit meiner Frage endlich den richtigen Moment zu erwischen. »Wer ist dieser junge Mann?«
Tante Liz lehnte sich zurück, holte tief Luft, blickte mich nicht an, verriet mir aber endlich den Namen. »Pascal. Pascal Moor.«
Pascal Moor! Jetzt wusste ich, warum er mir nicht völlig fremd war. Ich hatte als Kind oft mit ihm gespielt. Wir waren sogar so etwas wie ein Liebespaar gewesen. Harmlos, unschuldig ... Aber wir hatten uns geschworen, zu heiraten, sobald wir groß waren. ›Da sieht man wieder, was man von solchen Kinderschwüren halten konnte‹, dachte ich. Gestern erkannte ich Pascal nicht einmal wieder. Er schien mich aber wiedererkannt zu haben. Wahrscheinlich hatte ich mich nicht so sehr verändert wie er. Pascal war im Haus der Arends immer gern gesehen gewesen. Wieso fanden sie ihn auf einmal so unausstehlich, dass es fast zwölf Stunden dauerte, bis sie seinen Namen aussprachen?
»Er hat hier im Ort nicht mehr zu suchen!«, sagte Onkel Wolfgang unerbittlich.
»Aber er ist doch hier aufgewachsen«, wagte ich einzuwerfen.
Wilfred sah mich an, als hätte ich ihm den Krieg erklärt. »Du weißt nicht, was geschehen ist.«
»Du kannst es mir gerne verraten«, erwiderte ich ärgerlich. »Was hat Pascal verbrochen? Welche eine schreckliche Schuld hat er auf sich geladen?« Ich rechnete nicht damit, dass mir Wilfred darauf eine Antwort geben würde, aber er tat es und sie bestand nur aus einem Wort: »Mord!«
Mir war, als hätte mich mit jemand Eiswasser übergossen. Pascal Moor sollte ein Mörder sein? Niemals! Ich weigerte mich, diesen Unsinn zu glauben. Es war eine Ungeheuerlichkeit, Pascal sowas zu unterstellen. Ich hätte nicht übel Lust, meinem Cousin zu sagen, er sei verrückt. Er schien mir das anzusehen.
»Du glaubst mir nicht?«, fragte er.
»Nein«, sagte ich leidenschaftlich. »Pascal war immer ein anständiger, netter, sympathischer Junge.«
»Das liegt mindestens zehn Jahre zurück«, sagte Wilfred.
»Pascal ist kein Kind mehr. Er wurde mittlerweile ein Mann.«
»Ich bin sicher, sein Wesen hat sich nicht geändert«, verteidigte ich meinen ersten glühenden Verehrer. »Er ist charakterlich bestimmt immer noch so wie früher.«
»Leider irrst Du Dich, Cousinchen«, schaltete sich Jo in das Gespräch ein. »Pascal Moor hat sich total geändert. Aus dem Schaf wurde ein Wolf.«
»Ein Schaf im Wolfspelz«, fügte Wilfred hinzu. Die anderen sagte nichts, aber ich merkte, dass sie alle derselben Meinung waren. »Er sieht immer noch harmlos aus«, sagte Wilfred. »Aber er ist ein gefährlicher Einzelgänger geworden.« Ich wollte wissen, wen Pascal angeblich umgebracht hatte. »Werner Schüler«, sagte Wilfred. »Den reichsten Farmer hier im Ort. Kannst du dich an ihn erinnern?« Ich schüttelte den Kopf. »Reich, unleidlich, habgierig. Obwohl er der größte Grundbesitzer im weiten Umkreis war, konnte er nie genug kriegen. Unersättlich war er. Keinen einzigen Freund hatte er im Ort, es gibt kaum jemanden, der diesen Mann nicht gehasst hat, aber deshalb wäre es keinem in den Sinn gekommen, ihn umzubringen. Moor hat es getan.«
»Und warum?«
»Schüler wollte das Land haben, auf das Moors Haus steht.« Jo fuhr fort: »Moor erklärte, er würde auf keinen Fall verkaufen, um keinen Preis. Da fing Schüler an, ihm das Leben schwer zu machen. Aber anstatt zur Polizei zu gehen, ging Pascal Moor den falschen Weg.«
Ich glaubte es weiterhin nicht. Meine Cousins konnten mir erzählen, was sie wollten. Für mich war Pascal kein Mörder. »Wenn er wirklich schuldig wäre, könnte er doch nicht frei im Ort umherlaufen«, sagte ich.
»Das ist ja die Schweinerei«, erklärte Onkel Wolfgang. »Es gab einen Zeugen - Pepe Hufmüller.«
»Pepe Hufmüller?«, fiel ich meinem Onkel ins Wort, obwohl er es nicht schätzte. »Du meine Güte ... Soviel ich weiß, ist Hufmüller ein schwachsinniger Analphabet und ein Säufer noch dazu.«
»Hufmüller hat Moor gesehen«, sagte Onkel Wolfgang energisch. »Daraufhin holte man Pascal Moor aus seinem Haus und brachte ihn fort. Wir dachten nicht, ihn jemals wiederzusehen und plötzlich taucht er wieder auf, als sei nichts vorgefallen.«
»Man hat ihn sicher vor Gericht gestellt«, sagte ich.
»Das ist klar«, sagte Onkel Wolfgang, »aber irgendein verkalkter Richter muss ihn aus Mangel an Beweisen wieder auf freien Fuß gesetzt haben. Und nun lebt ein Mörder unter uns.«
»Kann es nicht sein, dass man Pascal den Mord in die Schuhe zu schieben versuchte?«, fragte ich.
Onkel Wolfgang blickte mich missmutig an. »Dieser Mann ist schuldig, so wahr ich Wolfgang Arend heiße! Wir wollen ihn nicht im Ort haben.«
»Ihr könnt ihm den Aufenthalt hier nicht verwehren.«
»Du hast keine Ahnung, was wir alles können, wenn wir zusammenhalten, Pam. Dieser Mann wird bald den ganzen Ort gegen sich haben. Wie lange, glaubst du, wird er das aushalten können?«
Ich war erschüttert. Pascal Moor wurde von meinen Verwandten verurteilt, obwohl das Gericht dazu nicht in der Lage gewesen war. Selbstherrlich stempelten sie ihn als Mörder ab und diesmal hatte Pascal keine Chance sich zu verteidigen. Denn was man gegen ihn vorbrachte, sprach man nicht in seiner Gegenwart aus und Onkel Wolfgang würde im Ort mit Sicherheit viele Gleichgesinnte finden. Ich hatte Mitleid mit dem jungen Mann.
Es liegt in meinem Wesen, dass ich mich immer auf die Seite des Schwächeren stelle und das war in diesem Fall eindeutig Pascal Moor. Ein Idiot, ein Alkoholiker, hatte angeblich den Mord beobachtet. Ein Mann, dem sonst niemand etwas glaubte. Aber dieses eine Mal nahm man ihn für voll und seine Aussage sollte Pascal zu Fall bringen. Glück für Pascal, dass der Richter sie nicht gelten ließ. Er schien nicht so verkalkt zu sein, wie Onkel Wolfgang behauptete. Dennoch sprachen die Arends den Freigesprochenen das Recht ab, mit ihnen im Dorf wieder zu leben. Das Dorf gehörte nicht nur ihnen. Es gehörte genauso Pascal Moor, auch er war ein Teil davon.
Ich hatte gestern den Eindruck gehabt, sein Blick sei traurig gewesen. Ich hatte mich nicht geirrt. Jetzt wusste ich, dass er in diesem Ort seines Lebens nicht mehr froh werden würde. An seiner Stelle hätte ich das Dorf verlassen, aber das kam für ihn wahrscheinlich nicht in Frage und ich konnte das sogar verstehen. Er pochte auf sein Recht, im Dorf leben zu dürfen. Wäre er fortgegangen, hätte man es ihm vielleicht als Flucht oder Schuldbekenntnis ausgelegt. Wahrscheinlich war es richtiger, zu bleiben und zu kämpfen.
»Übrigens«, sagte Jo, während er die Stoffserviette mit großer Sorgfalt zusammenlegte. »Kurz bevor ich ins Bett ging, glaubte ich, Pascal zwischen den Bäumen stehen zu sehen.«
Wilfred stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Er war hier?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte Jo.
Da er es aber auch sagte, war ich davon überzeugt, kein Trugbild gesehen zu haben.
»Du hättest sofort zu mir kommen sollen!«, sagte Wilfred aggressiv.
»Was hättest du getan?«, wollte Jo wissen.
»Ich hätte ein Gewehr genommen und ...«
Mich fröstelte es, obwohl Wilfred nicht weiter sprach. Ich war davon überzeugt, dass er ohne mit der Wimper zu zucken auf Pascal geschossen hätte. War das dann kein Mord? In Wilfreds Augen nicht, denn er glaubte, das Recht zu haben, Pascal wie einen tollwütigen Hund zu erschießen zu können.