Читать книгу VOM ANFANG UND ENDE DES SOMMERS - Silke Riemann - Страница 4
2. Rechthaben
ОглавлениеDer drahtige, durchtrainierte Mittvierziger, der in hautenger, atmungsaktiver Sportkleidung durch den Volkspark Friedrichshain joggt, dreht den Regler seines iPods auf volle Lautstärke und beschleunigt seine Schritte. Stefan Unger mag den Song, in dem „Die Ärzte“ behaupten, Männer seien Schweine und wollten immer nur das Eine. Außerdem ist das Lied lustig, findet er. Aber das hat seine Ex-Frau Bea nie kapiert. Sie fand „Die Ärzte“ nur gut, wenn sie – wie sie es nannte – „politisch“ waren. Doch in diesen Songs vermisste Stefan die typische Selbstironie der Punkrocker. Bea hatte mit dem Mutter-Sein plötzlich ihren Humor verloren. Seit Tanjas Geburt nahm sie alles bierernst und trug das Leiden der ganzen Welt auf ihren Schultern.
Stefan erinnert sich daran, dass er damals, vor zehn Jahren, auch diesen Weg entlang gelaufen war, kurz nach der Rekonstruktion des Parks. Sie waren gerade aus dem Urlaub zurückgekommen – er, Bea und die sechsjährige Tanja. Stefan hatte sich auf der Rückfahrt wegen eines Autobahnstaus total verfahren. Bea wusste zwar den richtigen Weg, aber er hatte nicht auf sie gehört. Deshalb musste er sich ihre Vorwürfe anhören: „Was du dir immer beweisen musst!“, „Du mit deiner albernen Männlichkeit!“ Kurz danach war ein Streit darüber entbrannt, ob Tanja eine „Ärzte“-CD mithören darf oder dadurch etwa schweren seelischen Schaden nimmt. Er hatte leichthin gemeint: „Im Vergleich zu Benjamin Blümchens grenzdebiles ´Törrrrööö´ sind diese Songs ja wohl in jedem Fall ein Gewinn – selbst wenn es hin und wieder um harten Sex…“
„Psst“, hatte ihn Bea unterbrochen. Ihr Humor war ihr wirklich völlig abhandengekommen.
Und dann auch noch dieses Päckchen zuhause! Hätte es ihre Nachbarin doch bloß nicht angenommen! Stefan erinnert sich heute noch daran, wie Bea und er sich angeschrien hatten – vor ihrer Tochter:
„Das ist Bestechung. Warum danken die dir sonst? Weil du sie rausgehauen hast“, zeterte Bea.
„Das ist mein Job. Ich bin nun mal Anwalt“, hatte er versucht zu argumentieren. „Ich habe die Firma vertreten...“
„Die Firma, die Asthmamedikamente auf den Markt bringt“, fiel sie ihm ins Wort, „die abhängig machen, aber nicht wirklich helfen.“
„So ein Quatsch! Das ist niemals bewiesen…“
„Die Wirkung ist sehr wohl bewiesen: Null Heilerfolg, aber eine kurze subjektive Erleichterung.“
„Nicht bewiesen ist, dass die Firmenleitung davon gewusst hat. Die Studien...“
„…haben das eindeutig und zweifelsfrei belegt. Aber die wurden ja unter Verschluss gehalten.“
Früher hatte er Bea sogar niedlich gefunden, wenn sie sich so aufregte. Aber mit jedem Jahr ging sie ihm mehr und mehr auf die Nerven. Aus jeder Mücke machte sie einen Elefanten, und ihre Argumentationskette führte jedes Mal zu einem Vorwurf in der Größenordnung von „Du willst wohl den Atomkrieg“ oder wie in diesem Fall: „Stell dir vor, unsere Tochter würde mit solchen Medikamenten behandelt werden. Du willst sie wohl umbringen.“
Vor allem in der Nacht war es beängstigend, wenn Tanjas Bronchien bei jedem Atemzug fiepten und das Mädchen vor Schreck aufwachte, weil es keine Luft bekam. Seit sie jedoch bei einem Spezialisten in Behandlung war, hatte sich das fast vollständig gegeben. Cortison hin oder her – all die alternativen Methoden, die Bea vorher an ihr ausprobiert hatte, hatten nicht geholfen; außer das Meeresklima. Beatrix´ Eltern wohnten in Heringsdorf. Deshalb fuhr die Familie jedes freie Wochenende nach Usedom. Stefan wäre allzu gern hin und wieder mal woanders hin gereist oder in Berlin geblieben. Aber dann musste er sich von Bea gleich fragen lassen, ob er Tanja umbringen wolle. Oder wenn er einen Hund auch nur aus der Ferne anschaute und leise sehnsuchtsvoll seufzte. Sofort attackierte ihn Bea: „Ja, ich weiß, du wolltest schon als kleiner Jung einen Hund. Aber nun hast du eine asthmakranke Tochter.“ Sie hatte den Dreh raus, ihm – egal, worum es ging – ein schlechtes Gewissen einzureden.
Mit gestrecktem Arm und spitzen Fingern, als sei darin Giftmüll, hielt sie ihm das Präsentpäckchen entgegen: „Solche Verbrecher haust du raus! Du sorgst dafür, dass sie straffrei bleiben und weitermachen können! Deshalb das Geschenk! Bestimmt eine teure Uhr oder Schmuck für die Gattin… Dich interessiert doch nichts anderes als dein eigener Vorteil.“ Es hat nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn „Nazi“ genannt.
Nichts ist so lustraubend wie eine ständig keifende Mischung aus Rosa Luxemburg und Alice Schwarzer im Schlafzimmer. Hingegen: Janet, die acht Jahre jüngere Engländerin aus seiner Kanzlei… Als sie ihn das erste Mal „Steve“ nannte, wurde ihm ganz schummerig. Er verbot ihr strikt, am Telefon derartig aufreizend zu raunen. Aber selbst wenn sie vollkommen normal und professionell sagte: „Rechtsanwaltskanzlei Unger und Partner, Büro Steven Unger, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“, könnte er sofort über sie herfallen.
Dass Bea etwas ahnte, hatte er befürchtet. „Anstatt für unsere Ehe zu kämpfen, für unsere Familie, holst du dir das, was dir fehlt, heißen Sex und Anerkennung, woanders: bei deiner Tippse. Du mieser, kleiner Feigling!“
Es war sinnlos, es zu leugnen.
Mag sein, dass die Ärzte Recht haben und Männer tatsächlich Schweine sind…
Der Park ist an diesem Nachmittag voller Menschen. Obwohl es erst Anfang Juni ist, brennt die Sonne erbarmungslos. Stefan trägt ein weißes Basecap auf seinen zwei Millimeter kurzen Haaren. Als er sich vor zehn Jahren seine Haare hatte abrasieren lassen, kurz nach der Trennung von Bea, wurde er damit zum Trendsetter im Kiez. Damals war er Ende dreißig und wollte noch einmal neu durchstarten. Und er wollte nicht jedem ausgefallenen Haar nachtrauern oder sein Geld in die absurde Hoffnung investieren, die lichten Stellen würden sich durch teure Hormontherapien oder Haarwuchsmittel wieder auffüllen lassen. Stattdessen ließ er sich einen Dreitagebart wachsen. Heute laufen fast alle Männer hier so rum.
Upss. Beinahe wäre er über seinen rechten Schnürsenkel gestolpert. Als er sich hinunterbeugt, um ihn zu zubinden, fällt ihm einer der Ohrstöpsel heraus. Was ist das denn? Die Punks auf der Wiese hören tatsächlich die gleiche Musik wie er: die „Ärzte“.
Jeden Tag – egal, bei welchem Wetter – läuft Stefan zehn Kilometer, neben ihm an der lockeren Leine, im konstanten Abstand von einem halben Meter – sein Irish Setter Brutus. Gleich nachdem Beatrix mit Tanja ausgezogen war, hatte er ihn sich gekauft – endlich.
Sein Pulsmesser zeigt ihm neben der Uhrzeit, dem Tag und der Lufttemperatur auch seine exakt zurückgelegte Strecke, seine Schrittzahl und seine Herzfrequenz sowie die verbrauchten Kalorien an. Er hat es immer noch drauf: Locker überholt er die fünfundzwanzigjährigen Stuttgarter „Weicheier“, wie Stefan sie nennt, „…die das Bötzow-Viertel neuerdings bevölkern, weil ihnen Papi eine kleine Wohnung im Berliner Szenebezirk gekauft hatte für ihre Studienzeit, die ewig dauern darf, weil Papi ja für alles aufkommt.“
Stefans Vater ist Busfahrer. Stefan hat sein Studium über BAföG und mit Jobs finanziert und in der Regelstudienzeit abgeschlossen. Inzwischen ist er Chef einer Anwaltskanzlei am Kudamm. Wer sich einen guten Anwalt leisten kann, einen wie ihn, der bekommt Recht, egal ob er recht hat oder nicht. Es interessiert Stefan nur am Rande, ob der Beschuldigte das, was ihm vorgeworfen wird, getan hatte oder nicht. Ihn interessiert vor allem, ob und wie er dies widerlegen kann, und was ihm dafür geboten wird. Je höher der Einsatz, desto höher sein Honorar.
Nach der Trennung war Bea mit ihrer Tochter nach Usedom gezogen. Kurze Zeit später hatte sie einen anderen Mann kennen gelernt, der Tanja gleich adoptierte – ein „Kampfgefährte“, wie Bea ihren Neuen nannte. Da wollte Stefan natürlich nicht im Wege stehen. Selbstverständlich hätte er Alimente bezahlt, großzügig sogar. Aber Bea wollte nichts mehr von ihm annehmen, „…von seinem schmutzigen Geld“.
Vor ein paar Wochen hat er sie im Fernsehen gesehen. Es ging um Tibet. Was auch immer sie das anging – sie kämpft dort jedenfalls an vorderster Front. Der verbissene Zug um ihren Mund hat sich verschärft, fand er. „Aber Power hat sie immer noch“, stellte er anerkennend fest. „Die chinesische Regierung sollte sich vor ihr in Acht nehmen!“
Wenn er an Janet denkt, die jetzt seine Frau ist, grinst er zufrieden. Sie hält ihm in jeder Hinsicht den Rücken frei: absolut loyal im Büro und zu Hause ein wahrer Schatz. Nicht einmal beim Autofahren streiten sie sich, und zwar nicht nur, weil er immer das neueste Navigationssystem hat. Wenn sie „Steve“ haucht, macht ihn das immer noch ganz verrückt.
Eine rothaarige Frau fegt gedankenverloren den Weg. Sie bemerkt Stefan nicht, der über ihren Besen springen muss. Erstaunt schaut sie ihm hinterher und brabbelt etwas von „Hochmut kommt vor dem Fall“. Aber Stefan achtet nicht weiter auf sie.
Bergauf muss er etwas kürzer treten und Brutus, der an der Leine zerrt, zurückpfeifen. Dass diese Hügel – von den Berlinern „Mont Klamott“ genannt – Trümmerberge sind, die nach dem Krieg aus zwei Trümmern zweier Flaktürme, Bunker und aus dem Schutt der in den Luftangriffen der Alliierten zerstörten Wohnhäuser aufgeschüttet worden waren, hatte ihm sein Vater erzählt. Der liegt gerade im hiesigen Krankenhaus, nach einem Herzinfarkt. Er regt sich eben viel zu leicht auf. Stefan hat ihm schon mehrfach geraten, eine Abfindung zu nehmen und in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen. Aber der Alte ist und bleibt stur. Bisher.
Früher war er hier oft mit seinen Eltern spazieren. Im Friesen-Stadion, das jedoch kurz vor der Jahrtausendwende abgerissen wurde, hatte er schwimmen gelernt.
Ein Gitarrist steht neben einem Papierkorb und spielt vor sich hin, ohne von den Parkbesuchern beachtet zu werden. Stefan hört unter seinen Kopfhörern nicht, was er spielt. Eine typische „Birkenstock-Mutter“ – Anfang vierzig und mit einem Kleinkind, mit kurzen Haaren, in einem zitronengelben Mantel – versperrt ihm den Weg. Sie macht ihm nicht einmal Platz, als er sie darum bittet; geschweige denn, dass sie ihre Tochter, die mit einem hölzernen Tretrad kreuz und quer über den Weg fährt, für einen Moment zur Seite nehmen würde. Die Kleine ruft ihrer Mutter Befehle zu wie „Maaaama, trinken!“ und „Aaaanschieben!“ Als Stefan sich an ihr vorbeischiebt, giftet die Mutter ihn an: „Sie Kinderhasser... mit so einem Riesenvieh... Maulkorbpflicht!“
Mit übertriebener Freundlichkeit entgegnet Stefan: „Verklagen Sie mich doch!“ und rennt weiter.
Als er auf dem Berg ankommt, auf dem er üblicherweise seine Dehnübungen macht, sind dort die Punks, die er vorhin auf der Wiese gesehen hat: sechs junge Männer – einer davon dunkelhäutig – und eine Frau. Sie trägt ein schwarzes, zerrissenes Langarmshirt und einen karierten Rock, dazu Netzstrumpfhosen mit riesengroßen Löchern und rote Doc Martens. In ihrem hellblonden Haar leuchtet eine knallrosa Strähne. Vor allem ihr Hund missfällt Stefan: eine Promenadenmischung – riesig wie ein Kalb, mit wuscheligem, schmutzig-braunem Fell, wahrscheinlich total verlaust. Brutus wird unruhig. Also kehrt Stefan schnell wieder um: „Weg von der Töle, Brutus! Bei Fuß! Runter!“
Autsch! Stefan ist mit dem rechten Fuß umgeknickt und der Länge nach hingeschlagen. Seine Handflächen sind zerschrammt und sein rechter Fuß – ein einziger stechender Schmerz. Aber das Schlimmste ist, dass er nicht mehr richtig atmen kann. Ob es der Schock ist oder eine Verletzung des Zwerchfells oder die Anstrengung – warum auch immer, er bekommt keine Luft.
„Da merkst du mal, wie das ist, wenn man Angst hat zu ersticken. Wie unsere Tochter…“, hört er ganz nahe an seinem Ohr Beas schrille Stimme. „Geschieht dir recht.“
Er wird panisch, denn die Punks sind auf ihn aufmerksam geworden und setzen sich langsam in Bewegung. Schritt für Schritt kommen sie näher. Aus dem Handy des Mädchens hört Stefan das Lied der „Ärzte“ über einen Jungen, dessen Eltern sich über sein ungepflegtes Äußeres, seine Freunde, seinen ganzen Lebensstil aufregen. Das passt zu diesen Typen, denkt Stefan noch, ehe er an seinen Gürtel greift und die Notruftaste an seinem Pulsmesser drückt. Zwar erklingt der schrille Warnton, aber weit und breit ist niemand zu sehen, der ihn hören und Stefan helfen könnte. Brutus bellt, reißt sich los und stürmt auf den Hund der Punk-Lady zu. Als sie sich schützend vor ihr Tier stellt, wird sie von Brutus in den Oberarm gebissen.
„Richtig so“, denkt Stefan, „Verteidige dein Herrchen! Braver Hund!“
Doch das Mädchen reagiert ganz ruhig: „Auuuus“, sagt sie eher bittend als befehlend. Brutus lässt augenblicklich von ihr ab und hört auf zu knurren. Schließlich setzt er sich sogar vor sie hin, als wolle er sich entschuldigen.
„Schleimer“, zischt Stefan. Er atmet schnell und flach.
Immer näher kommen sie: sieben Punks und zwei Hunde. Was werden sie ihm antun? Während er sich das fragt, fällt ihm ein, wie er sie vor Gericht verteidigen würde bei einer Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge: „Die Angeklagten standen unter Drogen… vermindert schuldfähig… Suchtproblematik… schwere Kindheit… Alle Resozialisierungsmaßnahmen gescheitert… Einsparungen im Bereich Jugendhilfe… Die Jugendlichen haben das nicht beabsichtigt, fühlten sich provoziert… Gruppendruck vor allem auf die jungen Männer… Sie wollten sich nur einen Spaß daraus machen, den Jogger auszuziehen und mit seinen Sachen wegzurennen. Aber er hat sich gewehrt, hat etwas gezückt, das sie für eine Waffe hielten, einen multifunktionalen Pulsmesser… Dann erste Schläge… Als er am Boden lag, feuerte das – ebenfalls unter Drogeneinfluss stehende – Mädchen die Jungs an… Erst als er sich nicht mehr wehrte, wurde ihnen klar, was sie getan hatten… In ihrer Verzweiflung und Angst warfen sie die Leiche ins Gebüsch und zündeten sie an… Sie konnten ja nicht wissen, dass der Mann noch lebte.“ So oder so ähnlich würde er argumentieren.
Jetzt steht die Truppe um ihn herum, und Stefan schaut sie von unten an – vollkommen wehrlos. „Lasst mich …“ Er hustet krampfhaft. „... in Ruhe.“
Aus dem Handy des Mädchens singen die „Ärzte“ von einem Jungen, der seinen Eltern viel Kummer bereitet.
„Watt denn, watt denn?“ Das Mädchen schaut Stefan genauer an: „Kinders, ich glaub, der kriecht keine Luft. Das kenn ich.“
Sie holt aus ihrer verdreckten Lederjacke, die sie über der Schultern trägt, eine Spraydose raus und hält sie Stefan hin: „Hier. Datt hilft.“
Obwohl Stefan Angst hat zu ersticken, zögert er vor Ekel.
„Nu mach schon! Hilft wirklich. Nehm ich schon seit zich Jahren.“
Als Stefan den Namen des Medikaments liest, kommt ihm dieser irgendwie bekannt vor.
„Los jetzt, Aldär, oder willste krepiern?“
Sie drückt ihm mit der einen Hand den Zerstäuber zwischen die Lippen und mit der anderen seinen Kopf nach hinten, so dass er sich ihr nicht entziehen kann.
„Erst ausatmen und… zack! Einatmen, und nochmaaal, einaatmen… Naa siehst du, geht doch.“
Stefan spürt ein trockenes Pulver im Mund. Ehe er sich versieht, kippt das Mädchen Wasser aus ihrer Wodkaflasche hinterher. Er wundert sich, dass darin tatsächlich Wasser ist, lauwarmes Wasser. Zuerst will er sich übergeben oder zumindest ausspucken, doch dann merkt er, dass sich seine Atemwege tatsächlich weiten, und so beruhigt er sich allmählich. Als ihm das Mädchen und der dunkelhäutige Junge den rechten Schuh ausziehen, muss sich Stefan zusammenreißen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien: „Könnt ihr haben. Echt Nike“, stöhnt er.
Die beiden schauen ihn verwundert an: „Aldär, dein Fuß schwillt an. Sonst müssen die das nachher in der Klinik alles aufschneiden. Wär´ doch schade um die guden Schuhe“, sagt das Mädchen freundlich.
Weil ihre Hand plötzlich rot von ihrem Blut wird, schiebt sie den Ärmel ihres Shirts hoch, um die Bisswunde mit einem Tuch, mit dem sie zuvor ihrem Hund das Maul abgewischt hat, abzudecken. Da sieht Stefan ihre Tätowierung an der Außenseite ihres Armes: erst „food“, dann „tsi“„ und schließlich „apaP“ – „Papa ist doof“.
Er zeigt darauf: „Tut mir leid.“
„Ach, tut goar nich weh. Wasch ich aus, dann ist gut. Geimpft isser ja wohl … gegen Tollwut und so, odär?“
„Ich meinte nicht die Bisswunde... Obwohl mir die natürlich auch Leid tut… Brutus muss einen Schreck bekommen haben…Wollte mich verteidigen…“
„Watt´n dann?“, fragt das Mädchen verständnislos.
„Das mit Ihrem Vater.“ Stefan deutet auf ihre Tätowierung. Sie schaut ihn sonderbar an. Statt zu antworten, dreht sie die Musik lauter.
Der schwarze Junge meint besorgt: „Tanni, das sollteste aber ´nem Medizinmann zeijen. Bevor sich da watt entzündet. Hier ist doch gleich ´n Krankenhaus. Da bring´ wir den juten Mann doch eh dahin.“
„Nee, nee, lass mal, finde gerade meine Krankenversicherungskarte nicht.“
„Aber Sie sind doch… Verzeihung, aber du bist doch noch minderjährig, oder?“, mischt sich Stefan ein. „Da müsstest du doch noch über deine Eltern…“
„Ach, die… Die sind weg…“ Das Mädchen winkt ab. „Weit weg – im Himalaja.“
Hat der Junge das Mädchen eben “Tanni“ genannt?, fragt sich Stefan. Und hat sie tatsächlich gesagt, ihre Eltern sind die im Himalaja? Womöglich in Tibet?
Der Junge reicht ihm seine Hand, damit er sich aufrichten kann. Stefan ergreift sie, zieht sich mühsam hoch und wischt sich danach verstohlen seine Hand an seiner Zweihundert-Euro-Jogginghose ab. Als er dem Mädchen gegenübersteht, sieht er sie genauer an.
„Is´ was?“ Sie dreht sich weg.
„Kennen wir uns nicht?“
„Super Anmache.“ Das Mädchen verdreht gelangweilt die Augen. „Das wüsst ich abär.“ Doch dann hält sie inne, schaut über ihre Schulter zurück und mustert Stefan von oben bis unten. Und als er langsam sein Basecap abnimmt, flüstert sie: „Da kannste recht haben, Aldär.“