Читать книгу VOM ANFANG UND ENDE DES SOMMERS - Silke Riemann - Страница 5

3. Haltestelle

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Tsss. Hans Unger würde am liebsten den Schweißtropfen abwischen, der sich gerade von der Stirn des Fremden gelöst hat und ihm direkt ins Ohr rinnt. Der Mann scheint das jedoch gar nicht zu bemerken. Hans muss sich bei diesem Anblick sein rechtes Ohr reiben und sich schütteln wie ein nasser Hund. Brrr.

Hans ist regelmäßiger Saunagänger. Nicht wie diese „Ich-muss-mich-vor-Erkältungen-schützen-Typen“, die erst ab Herbst kommen und im Frühling wieder wegbleiben. Nein, auch jetzt, Anfang Juni, bei fast 25 Grad, kommt er wöchentlich und hält es in der 90-Grad-Sauna exakt eine Viertelstunde aus, auf der oberen Bank. Jeden Mittwoch nach der Frühschicht, kurz nach 16 Uhr, besucht er in die kleine Sauna in der Nähe des Friedrichshains. Seinen ersten Aufguss bekommt er um halb fünf. Punkt 18 Uhr 52 geht er wieder los, um mit der M10 um 19 Uhr 1 zur Landsberger Allee und von dort aus mit der M8 zum „Leninplatz“, wie er ihn immer noch nennt, zu fahren. Die Freifläche ist inzwischen in „Platz der Vereinten Nationen“ umbenannt worden und der Kopf des Lenindenkmals, das dort zwanzig Jahre lang gestanden hatte, verscharrt im märkischem Sand. „Weg damit und mit all den Erinnerungen!“, hatte Hans kopfschüttelnd gesagt, als der riesige Block aus ukrainischem Granit mit Trennschleifern zerlegt wurde. „Bloß nicht daran denken, wen man da angebetet hat und was man alles in seinem Namen getan hat.“

Hans und seine Frau Barbara, die von allen Babsi genannt wird, wohnen in der 11. Etage des 25-Geschossers. Früher war das auf der Höhe von Lenis Kopf, heute ist es immer noch hoch genug, um über die Kreuzung und von der Seite über den Friedrichshain zu schauen. Viertel acht ist er dienstags normalerweise zu Hause. Dann wartet Babsi schon mit dem Abendessen. Sein Lieblingsgericht: Königsberger Klopse.

Als sie 1970 ihre Neubauwohnung bezogen, konnten sie ihr Glück kaum fassen: drei Zimmer mit Zentralheizung und fließendem Warmwasser. Vorher hatten sie mit ihrem Sohn Stefan in zwei Zimmern mit Ofenheizung und Außen-Toilette in einem dunklen Hinterhaus gelebt. Sie waren die ersten Mieter am Leninplatz.

Wenn jemand etwas gegen „die Platte“ sagt, kann Hans richtig wütend werden: „Das war damals die beste Art zu bauen. Und wir waren eine richtige Hausgemeinschaft: gemeinsame Pflege der Grünanlagen und Treppenhäuser, Nachbarschaftshilfe, Grillfeste. Die meisten sind jedoch weggezogen. Früher. Heute hockt jeder allein in seiner Wohnung; auch Babsi, jedenfalls im Winter, wenn wir nicht im Garten sind.“

Kurz bevor Hans heimkommt, legt Babsi Lippenstift auf.

Vor zweiundvierzig Jahren hatte er sie erobert, indem er im richtigen Moment das richtige Lied sang: „Rote Lippen soll man küssen“. Babsi war Köchin im BVB-Hof und stand an der Essensausgabe. Die Haube auf ihrem Kopf sah aus wie ein Fliegennetz. Einige Male hatte Hans mit ihr geschäkert und etwas Nettes über ihre vollen Lippen gesagt, bevor er ihr schließlich einen Zettel mit seinen Fahrzeiten zusteckte. Doch sie ließ ihn warten. Erst am dritten Abend stieg sie endlich in seinen Bus ein. Knallroten Lippenstift hatte sie aufgetragen. Bis zur Endhaltestelle in der Michelangeostraße lehnte sie neben ihm und schaute ihm über die Schulter, während er den Cliff-Richards-Song summte. Nach der Schicht fuhr er sie nach Hause, mit dem Bus. Sieben Monate später war Hochzeit; drei Monate später kam ihr Sohn Stefan zur Welt.

Hans kennt die Sauna-Frauen seit Jahren, und sie kennen ihn: Bei ihm können sie es sich nicht leisten, auch nur eine einzige Minute zu spät mit dem Aufguss zu kommen.

„Meinen Schrankschlüssel“, grummelt er. Weil Frau Wolnik so verschreckt dreinblickt, setzt er schnell ein „Bitte“ hinzu.

„Ihren Schrank…?“, haucht sie. Ihren süddeutschen Dialekt kann Hans immer noch nicht einordnen. Sie wird wohl aus dem Westen sein, denkt er. Ende zwanzig mag sie sein, aber sie wirkt älter und immer ein wenig schüchtern und verzagt.

„Ick hab immer die Sieben.“

„Das ttut mir lleid. Den habe ich eben einem anderen Herrn gegeben. Geht auch die Neun? Direkt neben der Sieben.“

„Hm.“ Hans knallt den Abschnitt seiner Zehnerkarte auf den Tisch, nimmt den Schlüssel.

Kurz vor dem Umkleideraum bemerkt er eine Frau, die am Ende des Flurs den Fußboden wischt. Irgendwoher kennt er sie. Ist das nicht die Rothaarige, die immer die Tauben im Friedrichshain füttert?, überlegt er. Doch ehe er sie genauer in Augenschein nehmen kann, ist sie um die Ecke verschwunden.

Als er in die Sauna kommt, sitzt dort ein Fremder, der ihm auf Anhieb unsympathisch ist: „fetter Schnösel mit Milchreis-Bubi-Gesicht“ – so tauft ihn Hans sofort. Außerdem hat er Hans´ Platz auf der obersten Bank ganz rechts belegt. Na gut, das kann er vielleicht nicht wissen, denkt Hans, aber dass man seine Badelatschen vor dem Saunaraum abstellt, hätte er wissen müssen. Missmutig dreht er die Sanduhr um und legt sich auf die linke Bank.

Während ihm sein Schweißtropfen ins Ohr rinnt, stöhnt der Mann wohlig-zufrieden: „Endlich alles ausschwitzen, nach so einem Tag!“

Hans knurrt nur etwas Unverständliches. Er will sich von dem Fremden kein Gespräch aufdrängeln lassen.

„Müde?“, fragt der schließlich. Immerhin hat er Anstand, denkt Hans und nickt. Dann sagt er sogar: „Nach so ´ner Schicht auf der 256er Strecke bist du fix und foxi.“

„Sie sind also bei der BVG?“, fragt der Fremde interessiert.

„Seit vierundvierzig Jahren“, erklärt Hans, nicht ohne Stolz, und setzt sich auf. „Aber überall diese… Einsparungen! Wenn ich das schon höre! Am liebsten wären denen Busse ohne Fahrer und selbstfahrende Trams, U- und S-Bahnen.“

„Nun ja“, sagt der Fremde. „So ein Unternehmen wie die BVG muss sich verschlanken, muss effektiver werden, gerade jetzt – in Zeiten der Krise…“

„Finanzkrise! Papperlapapp“, unterbricht ihn Hans. „Was wissen Sie denn, Sie Grünschnabel? Neulich gab´s bei der S-Bahn einen Unfall wegen gerissene Radreifen und einen anderen wegen angeknackte Achsen. Die haben in den Werkstätten die Zahl der Mitarbeiter um fast die Hälfte gesenkt. Alles für die Börse, aber nicht mehr für die Fahrgäste. Da muss man nicht die hellste Kerze auf der Torte sein um vorauszusagen, was das für den Zustand der Busse bedeutet.“

Der Fremde, der höchstens dreißig Jahre alt, aber mindestens neunzig Kilo schwer ist, setzt sich auf und zieht die Stirn in Falten. Er scheint zu ahnen, dass diese Schimpftirade nicht so bald enden wird.

„Aber nicht mit mir, nicht mit Hans Unger! Ich kontrolliere immer persönlich vor Schichtantritt mein Fahrzeug. Und wenn was nicht in Ordnung ist, steige ich nicht ein, basta! Immerhin geht es um die Sicherheit meiner Fahrgäste. Und nicht nur um die, sondern auch um die anderen Verkehrsteilnehmer. Das ist eine Frage der Ehre. Busfahrerehre.“ Nach einer kurzen Pause setzt er hinzu: „Die da oben würden mich gern in Rente schicken, abschieben, aber ich höre nicht auf, bevor ich fünfundsechzig bin, also übernächstes Jahr, 2012.“

Der junge Mann will gerade rausgehen, aber als Frau Wolnik mit dem Aufgusseimer hereinkommt, setzt er sich noch mal hin, auf die untere Bank.

„Weichei“, knurrt Hans. „Nur die Harten komm´ in´ Garten!“

Pscht… Das Wasser verdampft auf den heißen Ofensteinen. Frau Wolnik verwirbelt die heiße Luft mit dem Handtuch. Nachdem sie Hans dreimal heiße Luft zugefächelt hat, fragt sie den Fremden höflich: „Und sie, Herr…?“

„Neumann.“

„Herr Neumann, wie oft darf ich…?“

„Jeder drei Mal, nicht mehr und nicht weniger!“ Hans´ Stimme bekommt etwas Hartes. “Wenigstens hier herrscht noch Gerechtigkeit. Wem das nicht passt, der passt hier nicht hin.“

Frau Wolnik lächelt Herrn Neumann entschuldigend an: „Wir freuen uns über jeden neuen Gast. Wir hoffen, Sie kommen jetzt öfter“, und fächelt ihm dreimal Luft zu.

„Ich weiß noch nicht…“, sagt Herr Neumann. „Ich bin erst vor kurzem wieder hergezogen, ins Bötzow-Viertel.“

„Dachgeschoss?“, mischt sich Hans ein.

„Ja, wenn Sie gestatten, Herr…“

„Unger, Hans Unger. Und woher kommen Sie, etwa aus Baden-Württemberg?“

„Ich bin hier geboren und aufgewachsen“, antwortet Herr Neumann mit einem scharfen Unterton. „Oder haben Sie etwas dagegen?“

Hans hebt die Hände und schüttelt den Kopf: „Nichts für ungut!“

Herr Neumann wird wieder etwas moderater: „Meine letzte Station war Frankfurt.“

„Frankfurt oder?“

„Oder was?“

„Er meint: Frankfurt am Main oder an der Oder“, erklärt Frau Wolnik.

„Main natürlich“, stammelt er.

„Wir freuen uns über jeden neuen Gast“, wiederholt Frau Wolnik, als hätte sie den Satz einstudiert, wirft das Handtuch über die Schulter, nimmt den Holzeimer und geht raus.

„Danke“, ruft Hans ihr nach und legt sich wieder hin.

Als Herr Neumann umständlich seine Badelatschen anzieht, kann sich Hans ein „Die gehören eigentlich vor die Tür“ nicht verkneifen.

„Zu Befehl, Herr Feldwebel.“

Hat der eben „Feldwebel“ gesagt?, fragt sich Hans und spürt, wie ihm das Blut zu Kopfe steigt – nicht vor Hitze, sondern vor Ärger. Um sich zu beruhigen, summt er: „Rote Lippen …“ Dabei lässt er den Fremden nicht aus den Augen. Durch das kleine Fenster in der Tür kontrolliert er, ob er sich ordentlich abduscht, bevor er ins Tauchbecken steigt. Falls nicht, würde Hans Alarm schlagen. „Von wegen ´Feldwebel´. Man wird doch noch was sagen dürfen!“, schimpft er vor sich hin.

Aber der Mann benutzt das Tauchbecken gar nicht, sondern nur die Schwalldusche. „Weichei.“ Hans legt sein Union Berlin-Handtuch auf seinen angestammten Platz, streckt sich darauf aus und genießt die Ruhe, endlich.

Nachdem das letzte Sandkorn in den unteren Teil der Sanduhr gefallen ist, verlässt er den Saunaraum, duscht eiskalt und taucht dreimal im Becken unter – einmal kurz, zweimal so lange, wie er es aushält. Brrrr.

Im Ruheraum liegt Herr Neumann und schläft. Sein Bademantel ist aus samt schimmerndem, edlem Stoff. Auf einmal kommt Hans sein eigener Bademantel schäbig vor: das Frottee ist an den Ellenbogen und am Gürtel bereits abgerieben. Doch da fällt ihm Babsis Spruch ein: „Wenn du anfängst, dich mit solchen Leuten zu vergleichen, hast du schon verloren“. Also tritt er selbstbewusst zum Fenster, öffnet es und atmet dreimal tief ein und aus, obwohl die Luft an diesem Junitag schwül und wenig erfrischend ist. Dann legt er sich hin, holt aus seiner Bademanteltasche den „Kurier“ und faltet die Zeitung lautstark auseinander.

Keine zehn Sekunden vergehen, ehe er drauf los flucht: „Diese Bonzen! Die fahren eine Bank nach der anderen in die Pleite und bekommen noch Millionen dafür. Aber die kleinen Leute? Wenn unsereiner mal was verkehrt macht, kommt gleich die Polente, das Finanzamt und so weiter.“

Herr Neumann schreckt hoch, steht kopfschüttelnd auf und verlässt wortlos den Raum. Bei seinen weiteren Saunagängen richtet es Hans so ein, dass er ihm nicht noch mal begegnet.

Kurz vor sechs wird es voll. Eigentlich kennt Hans alle Saunagäste. Aber Frau Wolniks Mann hat er noch nie gesehen. Mit seinen dünnen Beinen in den Röhrenjeans und mit seinem Pferdeschwanz sieht er aus wie ein altgewordener Hippie. Er hat ein zweijähriges Kind auf dem Arm, das er seiner Frau mit den Worten „Es muss sein!“ übergibt.

„Das geht nicht, Jack“, zischt sie. „Wenn das meine Chefin sieht… Kann denn nicht Charly auf ihn aufpassen?“

„Der ist beim Kindergeburtstag“, entgegnet der Mann, und: „Wenn er schon mal eingeladen ist, wollen wir ihm das doch nicht verderben.“

Sie nickt. „Übrigens, seine neue Lehrerin, diese Frau Beuge, will mit uns sprechen...“

„Keine Zeit, Marie“, unterbricht er sie schroff. „Jetzt nicht. Muss einspringen für einen Leadgitarristen.“ Er ist schon an der Tür, als sie fragt: „Wird die Mucke wenigstens bezahlt, oder gibt´s wieder nur die Getränke gratis?“ Er antwortet nicht, sondern verschwindet ohne Gruß.

Marie Wolnik seufzt und setzt ihren Sohn in die Spielecke: „Schau mal, Ray, hier sind viele schöne Sachen für dich. Sei bloß still, mein Schatz.“

Doch Ray will nicht still sein, und er will auch nicht spielen, sondern zu seiner Mutter auf den Arm. Doch sie muss sich um die Gäste und deren Getränkewünsche kümmern. Als der Kleine losplärrt, wird Marie Wolnik nervös. Hans bemerkt ihre Not und hebt das Kind kurzentschlossen hoch, das augenblicklich aufhört zu plärren. Weil ihn Frau Wolnik und Herr Neumann, der mit seinem Wasserglas an der Theke lehnt, so erstaunt anschauen, sagt er: „Was denn? Ich werde ihn schon nicht in kochendes Wasser tauchen. Ich kann prima mit Kindern.“ Um das zu beweisen, setzt er das Kind am Boden ab und sich daneben, nimmt einen Doppeldeckerbus aus der „Für-unsere-kleinen-Gäste“-Kiste, fährt damit auf dem Fußboden herum und macht „Brumm, brumm“. Ray schaut begeistert zu.

Herr Neumann nickt anerkennend, trinkt sein Glas leer und geht wieder in die Sauna.

Na bitte, geht doch, denkt Hans zufrieden und plaudert munter drauflos: „Als ich so´ n kleiner Piefke war, na ja, ´n bisschen größer als du jetzt, da wollte ich unbedingt Pilot werden. Huiiiiiii.“ Er lässt den Bus „fliegen“. „Dafür hat´s zwar nicht ganz gereicht, aber immerhin zum Busfahrer. Brumm.“ Er schiebt den Bus auf dem Fußboden hin und her. Etwas leiser setzt er hinzu, als wolle er den kleinen Ray ins Vertrauen ziehen: „Ehrlich gesagt, ich bin noch nie geflogen. Besser so. Was man heute alles hört von wegen die Sicherheit. Es gibt sogar Idioten, die die Piloten bei Start und Landung mit solchen roten Strahlen blenden, mit Läsern, einfach so, nur aus Spaß.“

„Ist das nicht gefährlich?“, fragt Marie Wolnik.

„Spinner“, entgegnet Hans prompt. „Die haben eben keine Ahnung, was es bedeutet, Verantwortung für andere zu tragen. Ob in einem Flugzeug oder im Bus – die Passagiere müssen sich auf den Mann da vorn verlassen können. Aber denken Sie bloß nicht, dafür bekommen wir Dankbarkeit und Respekt, Frau Wolnik! Vergessen Sie´s! Was meinen Sie, was wir Busfahrer uns alles anhören müssen? Aber auf uns kann man ja raufhauen. Im Gegensatz zu denen….“ Mit einem Kopfnicken deutet er in Richtung Saunaraum, in dem Herr Neumann gerade verschwunden war.

Ray versucht, dem roten Bus Schwung zu geben, aber es gelingt ihm nicht. Also zeigt es ihm Hans noch mal und noch mal. Der Junge ist begeistert und folgt dem Bus auf allen Vieren: „Brumm, brumm.“

„Diese Doppeldeckerbusse seh´ ich mir nächste Woche mit eigene Augen an“, erzählt Hans freudig. Frau Wolnik, die gerade neues Duft-Öl in den Aufgusseimer tröpfelt, schaut interessiert auf. „Eine Reise nach London – hat mir meine Babsi zum 63. geschenkt, zusammen mit unserm Sohn und seiner Frau. Die ist Engländerin. Babsi will unbedingt mal ihre Familie kennenlernen. Na gut, habe ich mir gedacht, bis nach London sind´s ja nur zwei Stunden. Und wir fliegen Lufthansa, nicht mit so ´ner Billigmarke. Alle zusammen: mein Sohn und seine Frau, seine Tochter, die eine Zeitlang verschollen war, Babsi und ich. Wenn wir abstürzen, ist die ganze Familie Unger weg.“

„Da wird schon nichts passieren“, sagt Frau Wolnik und schaut auf die Uhr. „Herr Unger, es ist wieder so weit. Wollen sie mit rein? Ray spielt gerade so schön. Der wird gar nichts merken.“

„Wenn Sie meinen…“ Hans stemmt sich hoch, muss sich danach aber am Tisch festhalten, denn ihm ist schwindlig. Er hätte wohl langsamer aufstehen sollen.

„Alles in Ordnung, Herr Unger?“, fragt Frau Wolnik besorgt.

„Alles paletti“, behauptet er, strafft sich, zieht den Bademantel aus, stellt seine Badelatschen vor der Tür ab und betritt den Saunaraum, der inzwischen gut gefüllt ist. Die Luft ist verbraucht. Er steigt bis hinauf in die dritte Bankreihe.

Pscht – der Aufguss zischt.

„Pfeffi?“, fragt Benno Myszkowski, der Mann der Wirtin des „Ohnsorg-Ecks“, ebenfalls ein Stammgast.

Marie Wolnik nickt: „Fast. Minze.“ Als sie wieder draußen ist, sagt Benno: „Hans, stell dir vor: Ich hab ein neues Leben angefangen.“

Hans bleibt mit geschlossenen Augen liegen: „Etwa ´ne neue Freundin? Na, na, na, lass das nicht deine Charlotte hören.“

„Quatsch kein´ Blödsinn, Hans. Das virtuelle Leben! Ich habe mir einen PC gekauft. Eigentlich nur für die Abrechnungen von der Kneipe und so. Aber jetzt macht es mir richtig Spaß.“

“Babsi war sogar bei einem Lehrgang für Senioren.“ Hans klingt ein wenig stolz. „Jetzt jettet sie sogar im Internet.“

Herr Neumann, der auf der mittleren Bank sitzt und seine Ellenbogen auf seine Knie stützt, grinst kopfschüttelnd: „Sie jettet.“, und er korrigierte: „Sie chattet.“

Hans tut so, als habe er das nicht gehört.

„So weit bin ich noch lange nicht“, sagt Benno. “Mein Enkel bringt mir das meiste bei…“

„Emils schreibt sie auch schon, meine Babsi“, unterbricht ihn Hans.

„Emils, das ist gut.“ Nun schlägt sich Herr Neumann vor Vergnügen auf die Schenkel.

Hans schaut Benno fragend an. „Imehls“, erklärt er, „Ist Englisch. Wie alles am Computer, äh: Rechner.“

„Ihre Frau chattet tatsächlich?“ Immer noch lachend wendet sich Herr Neumann an Hans. „Wie alt ist sie denn?“

Das geht dich gar nichts an, du Schnösel, denkt Hans und schweigt stur.

Benno übernimmt nun das Gespräch mit Herrn Neumann: „Ich frage mich: Warum chattet man eigentlich mit einem Fremden?“

„Weil gerade diese Fremdheit, diese Distanz Vertrauen schafft.“

„Wissen Sie, was Sie dabei für eine Datenspur im Netz hinterlassen?“ Benno wiegt bedenklich den Kopf. „Da haben die Geheimdienste leichtes Spiel.“

„Ach, die haben Wichtigeres zu tun, als meine Chats zu verfolgen.“

„Aber wenn sie mal in Verdacht geraten – egal weshalb – und der Geheimdienst etwas über sie herausfinden will…“

„Und wenn“, sagt Herr Neumann, „dann erfahren die nicht viel von mir, was wahr ist.“

Das passt zu dir, denkt Hans, du Lügner und Aufschneider!

„Das Ganze ist ein Spiel“, erklärt Herr Neumann. „Zum Beispiel chatte ich seit Wochen mit einer Frau, die angibt, sie sei achtunddreißig. Dabei habe ich durch geschicktes Ausfragen längst herausgefunden, dass sie mindestens Anfang sechzig und bereits im Vorruhestand ist.“

Das ist sicherlich nur ein Zufall, denkt Hans und atmet aus. Pffft.

Benno fragt nach: „Echt? Eine Sechzigjährige chattet mit Ihnen und macht sich jünger? Ist sie verheiratet?“

Herr Neumann reißt die Arme hoch: „Ich will doch nichts von der. Die ist bestimmt so eine Ost-Omi mit Silberlöckchen. Die langweilt sich einfach zu Hause in ihrer Platte. Und ihr Alter langweilt sie noch mehr. Der muss ein richtiges Großmaul sein, so ein Angeber und Pantoffelheld. Dabei ist er ein Hasenfuß, der sogar Angst vorm Fliegen hat.“

Was hat denn das mit ´Hasenfuß´ zu tun? Hans ist drauf und dran, das zu fragen, verkneift es sich dann aber lieber. Warum ist es hier drin so heiß? Er kontrolliert das Thermometer: exakt 90 Grad, wie immer. Die Sanduhr zeigt noch drei bis vier Minuten an. Er versucht, das Schilds zu lesen: „Keinen Schweiß aufs Holz“, aber die Schrift verschwimmt.

„In ihrer Platte“, wiederholt er leise. Dann fragt er: „Wie heißt denn die Frau?“

„Die benutzen doch beim Chat nicht ihre richtigen Namen, sondern Nicknames“, erklärt ihm Benno. „Spitznamen.“

„Und welchen Nicknäm hat sie?“, haucht Hans, so dass man ihn kaum verstehen kann. Eigentlich will er die Antwort gar nicht hören. Er hört sowieso kaum noch etwas anderes als sein eigenes Blut durch seinen Kopf peitschen. Ein Rauschen und Pulsieren.

Als er sich auf die untere Bank setzt, witzelt Herr Neumann zunächst: „Aber, aber, Herr Feldwebel! Sie werden doch wohl nicht etwa aufgeben, vor der Zeit? Nur die Harten komm´ in´ Garten.“ Doch dann schaut er Hans genauer an und fragt besorgt: „Was ist denn mit Ihnen los? Sie haben ja ganz weiße Lippen.“

„Weiße Lippen soll man küssen“, lallt Hans. „Rote Lippen soll man küssen…“ Weiter kommt er nicht, denn plötzlich fährt ein stechender Schmerz durch seine Brust. Tsss.


VOM ANFANG UND ENDE DES SOMMERS

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