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Leicht gedämpft erklangen die vollen Orgeltöne vor der schweren Eichentür der Bonifatius Kirche. Zum feierlichen Einzug ihrer seit mehreren Monaten bis ins kleinste Detail durchgeplanten Hochzeit hatte Jenny sich das „Ave Maria“ von Schubert gewünscht. Dieses von einer bekannten Sopranistin gesungene Lied hatte ihre vor drei Wochen verstorbene Oma väterlicherseits immer beim traditionellen Familientreffen am zweiten Weihnachtstag aufgelegt. Erst wenn die ersten Töne erklungen waren, durften die Enkel zur Bescherung unter einem festlich mit silbernem Lametta geschmückten Tannenbaum schreiten. Ob nun die ergreifenden Orgeltöne oder der wolkenbedeckte Sommerhimmel Auslöser war; Jenny fror in ihrem champagnerfarbenen, eng anliegenden Kleid und kurz überlegte sie, ob sie nicht doch auf die Empfehlung ihrer Mutter hätte hören sollen, ein langes, bis zum Boden reichendes Hochzeitskleid zu kaufen. Das Wetter ließ sich nun mal nicht beeinflussen, aber dieser unbeherrschbare Faktor war auch der einzige, der einer perfekten Hochzeit im Wege stand. Die schwere Eichentür öffnete sich langsam und die stimmungsvolle Musik schwappte wie eine Welle über Jennys Gefühle. Sie spürte Nicks warme Hand, die das Zittern ihrer kalten Finger mit leichtem Druck zu beruhigen suchte. Ihr Blick war starr in den dunklen Innenraum der eher tristen Großstadtkirche gerichtet. Eigentlich hatte sie sich einen romantischen Rahmen, vielleicht in einer idyllisch liegenden, kleinen, romanischen Kirche, für den schönsten Tag ihres Lebens gewünscht, aber nach langen Diskussionen hatten sich Nick und sie doch für die praktische Lösung entschieden. Der katholischen Kirche schloss sich direkt anliegend ein Gemeindehaus mit großem Saal zum Feiern an. Diesen konnten sie nach der Trauung für den Sektempfang nutzen. Hinter der nun geöffneten Tür stand Markus, Jennys älterer Bruder, in dunklem Anzug und mit unbeweglicher Miene. Neben ihm standen seine beiden Töchter, die hübsch hergerichtet in ihren weißen Kleidchen wie kleine Engel wirkten. Anna und Marie setzten sich ohne Worte in ihren blank geputzten Lackschühchen in Bewegung. Die beiden Mädchen trugen lächelnd ihre Blumenkörbchen und strahlten dabei eine Gewissenhaftigkeit aus, die Jenny eine erleichternde Sicherheit gab. Langsam schritten ihre vier und sechs Jahre alten Nichten, weiße Blüten verstreuend, den langen Gang zum Altar vorweg. Eine plötzliche Aufregung überkam Jenny und ließ die Orgeltöne nur noch als undefinierbares Klangpolster erscheinen. Ein erster Blick über die Bankreihen, in denen Familienangehörige, Freunde oder sonstige an der Feier interessierte Menschen saßen, zog nun Jennys Aufmerksamkeit auf sich. Die Bänke waren nicht voll, aber gut besetzt. Von ihren fast zwanzig Arbeitskolleginnen konnte sie nur drei entdecken, aber immerhin war ihr Chef dabei, der ihr verhalten lächelnd zuzwinkerte. Beim Anblick ihrer Freundin Thea, mit der sie annähernd wöchentlich ausufernde Telefonate führte, wurde ihr warm ums Herz und ihre innere Anspannung schwand. Sie sah in die Gesichter der ihr zugewandten Menschen, die ihren Blick alle, so schien es ihr, merkwürdig ausdruckslos erwiderten. Langsam näherte sich der feierliche Tross den ersten drei Bankreihen, in denen, wie gewöhnlich, die Familien der baldigen Ehepartner saßen. Elfriede, Nicks verwitwete Mutter, saß neben ihrem ältesten Sohn und dessen hübscher, südländisch anmutenden Freundin in der dritten Bankreihe links und trocknete sich mit einem bereits ballförmigen Taschentuch die Tränen von der Wange. Wo nur steckte Marla? Ihre beste Freundin, mit der sie schon die Grundschulzeit verbracht hatte, wollte doch als Trauzeugin an ihrer Seite stehen. Auf Marla war bisher immer Verlass gewesen und es war nicht ihre Art, sich zu verspäten. Sicherlich hatte Jenny sie nur übersehen und Marla saß irgendwo, verdeckt von anderen Kirchenbesuchern, in einer Ecke hinter einer Säule. In diesem Moment setzte Jenny ihren Fuß auf die Höhe der zweiten Bankreihe, in der ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder erwartungsvoll standen. Ihr fiel auf, dass alle Gäste ihren Blick auf Nick gerichtet hatten. Um sich von dem Unzufriedenheit auslösenden Gedanken, nicht beachtet zu werden, abzulenken, schaute sie die letzten Meter durch den Gang stur geradeaus auf den mit wunderschönen Blumengestecken verzierten Altar. Ohne dies vorher abgesprochen zu haben, löste sich Nick von ihrer Hand und drehte sich abrupt um. Er stellte sich steif vor die erwartungsvolle Gemeinde, die plötzlich gemeinschaftlich, wie elektrisiert auf ein stilles Kommando, die Hand mit gestrecktem Arm in Richtung Nick hob. Jenny sah nur den ebenso ausgestreckten Arm des Mannes, an dessen Seite sie in die Kirche geschritten war. Ein ohrenbetäubender „Heil ­Hitler“-Ruf, der im kalten Kirchraum gespenstisch widerhallte, riss sie aus ihrer vernebelten Wahrnehmung. Ihr Blick glitt den Arm des neben ihr stehenden Mannes entlang, bis er angsterfüllt auf den Schnäuzer eines in ihr Schauer auslösenden Gesichtes stieß. Starr und machtvoll hatte Adolf Hitler die ausschließlich ihm zugewandte Besucherschar in seinen Bann gezogen. Hilfesuchend schaute Jenny zu ihren Eltern, doch die starrten regungslos auf den angsteinflößenden Diktator. Ihr Blick fiel auf den Boden vor der ersten Bankreihe, wo zwei Menschen, unbeirrt vom lauten Hitler-Ruf der Verwandelten, engumschlungen ihren Wolllüsten nachgingen. Es traf sie wie ein Blitz, als Jenny erkennen musste, wer da vom Liebesspiel gefesselt zu ihren Füßen lag. Sie erkannte Marlas hochhackige rote Schuhe und Nicks abstehende Ohren neben dem dunklen Haaransatz. Ihre Gedanken überschlugen sich und die Kraft rann aus ihren Beinen. Sie wollte schreiend aus der Kirche fliehen, doch versagten sowohl Stimme als auch Füße. Sie stürzte zu Boden und stieß mit dem Kopf hart gegen die Kirchenbank. Nur noch schemenhaft sah sie unter aufkeimendem Tumult und panischem Schreien der Trauungsgäste ein aufgeschrecktes Reh durch den Gang Haken schlagen. Jenny landete weich und hörte noch das Splittern eines Glases. In Todesangst war das Reh durch ein tiefliegendes Kirchenfenster gesprungen, das mit großer Wucht kleine Splitter im Umkreis von mehreren Metern verstreute. Mit letzter Anstrengung öffnete Jenny noch einmal die Augen und sah über sich eine Baumkrone, die sich im Schwinden ihrer Sinneskräfte wie ein Karussell gegen einen regengrauen Abendhimmel drehte. Dann wurde es dunkel.

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