Читать книгу Kennen wir uns? - Silke Weyergraf - Страница 8

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Am nächsten Morgen wurden all ihre Habseligkeiten gepackt. Schwester Mia, eine gelangweilte 20-Jährige, fuhr Jenny im Bett über mehrere Flure und Aufzüge, durch geschäftiges Kliniktreiben auf die unfallchirurgische Station. Jenny durfte nach wie vor nicht aufstehen, da das gebrochene Bein noch nicht eingegipst war. Das sollte auf der neuen Station als Erstes geschehen, da die Wunde, dank der fürsorglichen Pflege von Andreas, gut verheilt war und einer konservativen Behandlung des Bruches nichts mehr im Wege stand. Ein Vorteil, nun auf der normalen Station zu liegen, war, dass Jenny endlich wieder ihr Handy nutzen durfte. Wegen der Empfindlichkeit der Überwachungsgeräte auf der Intensivstation war dort die Nutzung von Mobilfunk nicht erlaubt. Gut, dass ihre Eltern einige Hörbücher – klassische Frauenliteratur – mitgebracht hatten. Jenny liebte historische Romane, aber ihre Mutter wollte sie schonen und ihr keine zu schwere Kost zumuten. So wurde die Zeit, als Jenny schon wieder auf dem aufsteigenden Ast war, nicht zu lang. All die Gedankenfetzen, die ihr nach dem Unfall seelische Qualen zugefügt hatten, verdrängte sie aus ihrem Bewusstsein. So war sie auch nicht sicher, was sie wirklich erlebt oder geträumt hatte.

Jenny wurde bis auf Weiteres krankgeschrieben. Die Vorstellung, nach dem Krankenhausaufenthalt noch eine Rehamaßnahme verordnet zu bekommen, fand sie sehr verlockend. Denn so richtig gute Stimmung war in letzter Zeit nicht unter den Kolleginnen gewesen. Außerdem wurde der Umgang mit den Kindern (und deren anspruchsvollen Eltern) immer nervtötender. Gut, dass sie selbst keine Kinder hatte. Und gut, dass der Scheißkerl von Nick sie auch nicht mehr damit drangsalieren konnte.

Jenny versank in ihrem Krankenbett und war wütend über sich selbst. Warum hatte sie nur einen Gedanken an Nick zugelassen? Plötzlich war das Glück darüber, bei dem Unfall im Grunde nur leicht verletzt worden zu sein, in den Hintergrund gerückt. Der Tibiabruch wurde, sofort nachdem sie die neue Station erreicht hatte, mit einem sperrigen Gips versorgt. Am Nachmittag, eine Woche nach ihrer abendlichen Horrortour mit Unfall, saß sie nun allein in ihrem Einzelzimmer der neurochirurgischen Station des Universitätsklinikums Münster, als plötzlich alle Ereignisse der letzten Tage, die sie bis dahin erfolgreich verdrängt hatte, auf sie einstürzten. Jennys Herz raste und ein Gefühl der Ohnmacht überkam sie. Das mit der Hochzeit musste ein Traum gewesen sein. Wahrscheinlich hatte sie alle schmerzvollen Erlebnisse in diesem Traum, der sich langsam und bruchstückartig wie ein Puzzle zusammensetzte, verarbeitet. Ihr Körper zitterte und krampfhaft versuchte sie, gegen aufsteigende Tränen anzukämpfen. Es gelang ihr nicht. Alle Muskeln anspannend, drehte sie sich zusammengekrümmt auf die Seite und weinte. Sie weinte leise in sich hinein und spürte alle Qualen dieser Welt auf ihren Schultern. Wieso ihre beste Freundin? Jenny hatte ihr vertraut. Nun verschwanden alle miteinander verbrachten Stunden mit einer Klospülung in der Tiefe der Abwasserkanalisation. Es stank. Alles stank und Ekel durchfuhr den sich vor Verzweiflung schüttelnden Körper.

Marla. Seit der zweiten Schulklasse hatte Jenny Marla ins Herz geschlossen. Dieses schon immer eigenwillige, kreative und etwas chaotische Mädchen. Sie erinnerte sich genau, wie Marla an ihrem ersten Schultag in der neuen Schule neben der Grundschullehrerin gestanden hatte. Sie war aus Hamburg ins fremde Ruhrgebiet gekommen. Ihre Mutter hatte als Schauspielerin in Dortmund eine Anstellung im Theater angeboten bekommen. Forsch, dem neugierigen Blick der neuen Mitschüler standhaltend, hatte sie ohne Hemmungen der Klasse von ihrem Umzug erzählt. An diesem ersten Tag schon hatte sie rote, halbhohe Stiefel getragen. Damals ohne Absatz, aber der Farbe war sie immer treu geblieben. Da Jenny ohne Partnerin an einer Schulbank gesessen hatte, sollte Marla sich neben sie setzen. Mit einem kräftigen Händedruck und fröhlich funkelnden Augen begrüßte sie Jenny und nahm für die weiteren zwölf Schuljahre (mit kleinen Selbstfindungsunterbrechungen in der weiterführenden Schule) neben Jenny Platz. Das aufgeschlossene, neue Mädchen war allgemein sofort anerkannt und insgeheim übertrug sich der Glanz ihrer Künstlereltern auf die ganze Klasse. Erst später konnte Jenny die Nachteile dieses so glamourös anmutenden Lebens erkennen. Zunächst war es eine willkommene Nebenwirkung der Berufstätigkeit beider Eltern ihrer besten Freundin. Marla wurde fast wie eine Schwester in das Leben der Hilgers integriert. Marlas Eltern hatten kaum Zeit und die Ferien verbrachte Marla immer in Hamburg bei ihrer Großmutter. Später wurde Jenny auch oft dorthin eingeladen und die Mädchen verbrachten glückliche Tage am Elbstrand, beim Besuch eines benachbarten Tiergeheges oder einfach faulenzend im Garten des großen Hauses der Mutter von Marlas Papa. Dieser war erfolgreicher Künstler und entschied sich, da war Marla zwölf Jahre alt, nach Amerika auszuwandern. Diese Veränderung hatte Marlas Mutter nicht verkraftet. Oder es war die Belastung auf der Bühne, immer im Fokus der Beurteilung anderer zu stehen. Sie trank zu viel. Zuerst, weil es chic war. Später, weil sie es sonst nicht mehr ertragen konnte. Sie war krank und Marla litt sehr darunter, den Verfall der Mutter miterleben zu müssen. Der Vater kam nur selten und weilte dann in Hamburg. So entschied sich Marla, sofort nach dem gemeinsam bestandenen Abitur nach Hamburg zu ziehen, um dort Kunst zu studieren.

Und nun so etwas. Welche Abgründe schlummerten nur in den Menschen. Wie herz- und gewissenlos konnte nur jemand sein, der jahrelang das Vertrauen eines ihm wichtigen Menschen genossen hatte? In diesem Moment war es ihr fast egal, dass sie eigentlich ihrem Verlobten Nick Schuld am schrecklichen Verlauf ihrer langjährigen Beziehung gab. Die für Mai kommenden Jahres geplante Hochzeit hatte ihre Liebe besiegeln sollen. Jenny ertrug keinen weiteren Gedanken mehr daran, doch die Bilder drehten sich vor ihrem inneren Auge. Sie spannte jeden Muskel an, in der Hoffnung, die Realität zerquetschen zu können. Sie presste auch das letzte bisschen Luft aus ihrem Körper, aber bei der nächsten Einatmung strömte doch wieder zarter Zukunftshauch mit dem belebenden Sauerstoff in ihren eingefallenen Brustkorb. Sich in Luft auflösen. Alles andere war für Jenny in diesem Moment nicht erstrebenswert. Nach einigen Minuten der äußersten Anspannung brach ihr Widerstand ab und der Körper erschlaffte. Selbst fürs Weinen war keine Kraft mehr übrig und so lag Jenny regungslos mit verquollenem, zum Fenster gerichteten Gesicht in ihrem Krankenhausbett.

Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich langsam. Auf das zaghafte Klopfen hatte Jenny nicht reagiert. Erschrocken zuckte sie zusammen, als Thea an ihrer Seite stand und ihre Hand auf Jennys Schulter legte. Mit geschwollenen Augenliedern und vom Weinen gerötetem und nassem Gesicht blickte Jenny auf. Bestürzt wich Thea einen Schritt zurück und fragte besorgt: „Was ist denn mit dir, Jenny? Ich dachte, du schläfst.“

Jenny konnte keinen Ton aus der von Trauer abgedrückten Kehle hervorbringen. So sehr sie auch dankbar über die Anwesenheit eines Menschen war, dem sie noch vertrauen konnte, so sehr sehnte sie sich auf eine einsame Insel. Niemandem wollte sie in die Augen schauen, niemandem auch nur irgendetwas von sich erzählen. Dennoch brachte sie ein gequältes „Mein Kopf“ hervor und verbarg ihr Gesicht hinter beiden Händen. Thea reagierte sofort und verließ umgehend das Zimmer, um nach einer Krankenschwester zu suchen. Nach einigen Minuten erschien sie besorgt, in Begleitung einer Pflegekraft, zu ihrer immer noch wie ein Igel zusammengerollten Freundin.

Schwester Mona reagierte nicht sonderlich erfreut auf die Unterbrechung ihrer soeben begonnenen Rundtour durch die Zimmer der am Knochengerüst erkrankten Patienten. Besucher wie Thea waren ihr ein Graus. Kaum erschienen sie erstmalig auf der Station, schon nörgelten sie an irgendeiner Kleinigkeit herum und meinten, das Beste für den Erkrankten rausschlagen zu müssen. Als wenn sie sich nicht sowieso schon den Hintern für diese oft verwöhnten und nicht selten wehleidigen Erkrankten aufreißen würde. Diese Jenny Hilgers schätzte sie ähnlich ein. Die konnte doch froh sein, so glimpflich mit einem Knochenbruch davongekommen zu sein. Manch anderer, der sich schwungvoll um einen Baum wickelte, landete im Himmel. Vielleicht auf Wolke sieben oder acht, keine Ahnung.

Und diese Besucherin …

Mit ihren Klapperschuhen war ihr die Dringlichkeit ihres Gesuches schon von Weitem anzuhören. Nun folgte Mona dieser gewollt feinen Dame in Seidenstrumpfhose und bester Markenkleidung. Diese Frau kannte sicherlich nichts vom wirklichen Leben, meinte aber ohne Zweifel, die Weisheit gepachtet zu haben. Bestimmt war sie Lehrerin oder Juristin. Vor denen musste man sich besonders in Acht nehmen. Ein falsches Wort und schon hatte man eine Beschwerde bei der Stationsleitung am Hals. Mona machte diesen Job nun bereits seit sechs Jahren und hatte gelernt, sich nichts von ihrer eigentlichen Ablehnung anmerken zu lassen. Außerdem war ihr heutiger Dienst in absehbarer Zeit beendet und sie wollte keinen Ärger mehr haben.

„Was hat denn unsere Frau Hilgers?“, fragte sie mit deutlich uninteressiertem Ton beim Eintritt in Jennys Zimmer.

„Sie scheint schreckliche Schmerzen zu haben. So aufgelöst habe ich Jenny noch nie gesehen.“

Thea redete ungezwungen mit fremden Personen, denn auch sie arbeitete, wie ihre alte Studienkollegin Jenny, als Grundschullehrerin. In Köln hatten sie sich vor fast zwanzig Jahren in den gemeinsamen Vorlesungen kennengelernt und mit einer weiteren Kommilitonin eine Wohngemeinschaft in Ehrenfeld gegründet. Als sie nun die Stimme erhob, klang diese brüchig, denn der Zustand, in dem sie ihre Freundin vorgefunden hatte, war für Thea besorgniserregend.

Sie fuhr aufgeregt fort: „Sie hat sich den Kopf gehalten und verzweifelt ‚mein Kopf‘ gesagt. Kann das noch etwas mit dem Schädel-Hirn-Trauma zu tun haben?“

Auch wenn Mona diese Person nicht wirklich mochte, hatte sie grundsätzlich Nachsehen mit Menschen, die noch nie wirkliches Leid erfahren hatten. Für eine groß angelegte psychologische Studie fehlte Mona die Zeit, aber ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass diese Frau wahrscheinlich bisher meistens Glück mit ihrem durchgeplanten Leben gehabt hatte. Sie war eindeutig gut gebaut und gekleidet und sicherlich recht wohlhabend. Im Grunde empfand Mona sogar etwas Mitleid, denn wenn Kopfschmerzen einen Menschen so in Aufregung versetzten, war der unsichere Kern nicht weit hinter der äußeren Fassade versteckt. Sie bahnte sich einen Weg an der nun energisch blickenden Wohlstandsdame vorbei zum Bett ihrer Patientin. Diese lag, alle Muskeln angespannt, zitternd und sich den Kopf haltend, auf der rechten Körperseite und schluchzte. Diesen Zustand hatte Mona wirklich nicht erwartet und plötzlich regte sich in ihr echtes Mitleid. Sanft berührte Schwester Mona Jennys Schulter und fragte mit einfühlsamer Stimme: „Frau Hilgers? Was ist mit Ihnen?“

Da keine Antwort zu hören war, fragte sie: „Tut Ihnen der Kopf weh?“

Eine minimale Kopfbewegung, die wie ein Nicken zu deuten war, ließ Mona erkennen, dass die schmerzgekrümmte Frau im Bett vor ihr ansprechbar war.

„Brauchen Sie ein Schmerzmittel, Frau Hilgers?“, fragte Mona freundlich.

Jenny nickte etwas deutlicher und sofort setzte sich Mona in Bewegung zum Schwesternzimmer, wo in einem verschließbaren Schrank die starken und betäubenden Medikamente gelagert wurden. Mona kannte die Behandlungspläne ihrer Patienten und wusste, dass sie Frau Hilgers bei Bedarf Schmerzmittel verabreichen durfte. Trotzdem war ihr die Sache etwas mulmig und über Funk kontaktierte sie den diensthabenden Arzt. Sie war gerade dabei, die hoch dosierte Tablette aus der Packung zu drücken, als das Diensttelefon klingelte. Doktor Behler meldete sich aus einer Chefarztbesprechung. Nachdem Mona ihm kurz die Situation geschildert hatte, bestätigte Dr. Behler die Gabe des Schmerzmittels. Von ärztlicher Seite abgesichert, kehrte sie mit der Tablette zurück ins Einzelzimmer der sichtbar leidenden Frau. Etwas unsicher stand die hübsche Besucherin neben dem Bett und hielt die erschöpfte Hand von Frau Hilgers.

Jenny hatte ihre Hände vom Gesicht gelöst und war dankbar, einen Grund für ihre desolate Verfassung genannt bekommen zu haben. Wirkliche Schmerzen kannte sie anders, doch fühlte sich ihr Kopf nach der Gedankenverknotung und dem Gefühlsausbruch dröhnend leer an. Sie wusste, dass eine Schmerztablette ihren Zustand ebenso wenig verändern würde wie die Einnahme eines Stück Apfels, doch wollte sie unter keinen Umständen erklären, wieso sie tränenüberströmt im Bett lag. Nachher würde ihr noch ein psychischer Schaden unterstellt. Und wer wusste schon, ob die Tablette ihr nicht doch Erleichterung brachte. Schwester Mona wies sie an, den Kopf etwas zu heben, steckte ihr die Tablette zwischen die Lippen und reichte ihr ein Glas Wasser, an dem Jenny unbeholfen nippte. Bereits das Schlucken der Tablette belebte Jennys Körper und auch ihr Geist freute sich über die Ablenkung.

Thea atmete innerlich auf und versprach sich zeitnahe Besserung des beängstigenden Zustandes ihrer Freundin. Schwester Mona beobachtete kurz die sich lösenden Gesichtszüge ihrer Patientin und wies Thea an, sich bei Verschlechterung des Zustandes bei ihr zu melden. Der Vorfall löste in den beiden so unterschiedlichen Frauen eine gewisse Achtung aus. Thea mochte keine Frauen mit Piercings und beim ersten Blick in Monas Gesicht wusste sie, dass diese Frau, deren Augenbraue ein silberner Ring zierte, nur auf Konfrontation aus war. Solche Menschen kannte sie aus der Schule zur Genüge. Die Grundschule, in der sie mit reduzierter Stundenzahl arbeitete, lag in einem sozial stark durchmischten Wohnviertel Münsters. Eltern mit Tattoos und Piercing gab es hier viele. Ständig fühlten sie sich benachteiligt und auf einer sachlichen Ebene war keine Unterhaltung möglich. Schwester Mona war auch so eine, aber immerhin hatte sie auf die Problemsituation professionell reagiert.

Thea richtete ihre Aufmerksamkeit auf Jenny, die wesentlich entspannter als noch vor wenigen Minuten mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Eine Weile beobachtete sie ihre Freundin und stellte sich innerlich die Fragen, die sie sich laut zu fragen nicht traute. Was war an dem regnerischen Freitagabend vor einer Woche wirklich passiert? Jenny war eine sichere und vorsichtige Autofahrerin und es passte nicht zu ihr, sich ohne Absprachen auf den einstündigen Weg zu ihr nach Münster zu machen. Nick, Jennys Verlobter, war nicht zu erreichen, aber Thea hatte nie viel Kontakt zu ihm gehabt. Vielleicht lag es daran, dass Theas Ehemann Achim, der als Internist in einer Praxis in Münster arbeitete, keinen besonders guten Draht zu Nick hatte. Zum Ende ihrer gemeinsamen Studienzeit in Köln, Nick hatte dort Architektur studiert, waren sie im Sommer oft zu viert in den Urlaub gefahren. Während sie mit Jenny und Achim gerne aktiv war oder die Gegend und Kultur ihrer Reiseziele erkundete, verbrachte Nick den Urlaub am liebsten am Strand oder an der Hotelbar. Unterschwellig lagen diese ungleichen Bedürfnisse in jeglicher Kommunikation zwischen Jenny und Nick. Einer von beiden schien immer unzufrieden mit den Wünschen und Forderungen des anderen oder fühlte sich missverstanden. Achim wurden die kleinen Machtkämpfe der beiden schnell zu anstrengend, sodass man nach vier gemeinsam verbrachten Reisen Abstand davon nahm, die Urlaubstage miteinander zu gestalten. Thea fand Nick soweit akzeptabel. Er sah vor allem gut aus und war gesellig und sportlich. Nicht sonderlich tiefgründig, aber irgendwie nett und, trotz nicht zu stillender Partylust, auch häuslich. Wie oft hatte Thea am Telefon von diversen Diskussionen gehört, die sich um das Thema Kinderwunsch drehten? Selbst als ihre nun bereits siebenjährige Tochter Klara geboren wurde (der Anblick eines Babys konnte für manch gewollt Kinderlose durchaus Auslöser für erhöhten Zeugungswillen darstellen), konnte Nick seine Freundin nicht von den Vorteilen der Gründung einer richtigen Familie überzeugen. Jenny argumentierte immer, dass sie als Lehrerin bereits einen großen Beitrag zur Kinderfreundlichkeit des Landes beitrug und ihre Nerven einfach nicht für ein eigenes Kind angelegt worden waren. Sie machte auch keinen Hehl daraus, dass sie froh über den Lebensstandard war, für den sie hart gearbeitet hatte. Diesen wollte sie unter keinen Umständen aufgeben. Ein Kind würde doch alles verändern und vor allem würde es alles durcheinanderbringen. So meinte jedenfalls Jenny.

Auch ohne Kind war nun alles durcheinandergebracht. Von Jennys Auto waren nur noch die Einzelteile auf dem Schrottplatz übrig geblieben und die angedachte Hochzeit schien annulliert. Jennys Eltern hatten erzählt, dass sie mit Nick telefoniert hatten, als in der Wohnung nach dem Unfall niemand zu erreichen gewesen war. Er war von der Nachricht, dass Jenny schwer verletzt war, schockiert gewesen, doch hatte er einen Besuch auf der Intensivstation abgelehnt. Er ließ anklingen, Jenny am Abend des Unfalls von seinen Trennungsabsichten berichtet zu haben. Er mache sich zwar Vorwürfe, aber seine Entscheidung sei klar.

„Was für ein Idiot“, murmelte Thea leise bei dem Gedanken, dass man die Frau, die man heiraten wollte, noch nicht einmal auf der Intensivstation besuchte.

Jenny öffnete die Augen und blickte Thea direkt an. Thea errötete leicht, denn die Worte waren ihr unbewusst herausgerutscht.

„Wen meinst du?“, fragte Jenny in fast beiläufigem Ton.

„Ach …“, Thea druckste und suchte nach einer Rechtfertigung. „Ich meinte die Schwester gerade. Die war ja nicht wirklich zuvorkommend, oder?“

Jenny schloss mit einem erleichterten Seufzer die Augen und erwiderte: „Ach, Mona ist schon in Ordnung.“ Mit einem zufriedenen Lächeln sagte sie noch: „Pfleger Andreas auf der Intensivstation war ein richtiger Schatz.“

Um die unangenehme Situation aufzulösen, berichtete Thea Jenny ungefragt von einigen Erlebnissen mit Schülern ihrer Grundschule. Zudem erzählte sie von den Entwicklungsfortschritten ihrer Tochter Klara und teuren Anschaffungen für ihre neue Eigentumswohnung. Ihre Fragen rund um den Unfall gingen Thea aber nicht aus dem Kopf. Sie passte einen geeigneten Moment ab, in dem Jenny entspannt den Berichten lauschte und die Tablette bereits wundervolle Wirkung erzielt hatte. Wie beiläufig fragte sie: „War Nick eigentlich schon da?“

Jennys Gesichtsmuskeln zogen sich blitzartig zusammen und schwungvoll drehte sie sich auf die linke Seite. Demonstrativ streckte sie Thea ihr mit einem Schlafanzug bedecktes Hinterteil entgegen und schwieg.

Beschwichtigend sagte Thea: „Ich weiß, dass du es schwer hast, Jenny. Aber magst du nicht erzählen, was vor einer Woche passiert ist?“

„Ich hatte einen Unfall, weil mir ein verdammtes Reh über den Weg gelaufen ist. Sonst nichts.“ Fast patzig wirkte Jennys Antwort und da Thea keinen Ton von sich gab, sagte Jenny noch: „Und Nick ist für mich gestorben. Mehr möchte ich darüber jetzt nicht sagen.“

Thea war erleichtert über das „jetzt“. Jetzt wollte Jenny nicht darüber sprechen, aber hoffentlich bei einem der nächsten Besuche. Thea spürte, dass es besser war, den Besuch zu beenden, denn Jenny war zu keinem Gespräch mehr bereit. Immerhin konnte sich Thea davon überzeugen, dass sich ihre Freundin auf dem Weg der Besserung befand.

„Ich rufe dich morgen an. Vielleicht fühlst du dich dann schon etwas stärker.“

Thea verabschiedete sich von Jenny mit einem Streicheln ihres Hinterkopfes und verließ, bedacht darauf, mit ihren Absatzschuhen nicht zu laute Geräusche zu produzieren, das Krankenzimmer.

Die Abenddämmerung eines späten Novembertages legte sich über die Zimmer der chirurgischen Station des Universitätsklinikums und hier und da wurden die ersten Lichter angemacht. Die aufsteigende Dunkelheit und das schwache Licht passten zu Jennys Gefühlen. Es gab nichts, was ihr Gemüt im Moment aufheitern konnte. Jenny fror und fühlte sich einsam. Selbst bei ihrer langjährigen Freundin Thea war sie sich der Solidarität nicht mehr sicher. Konnte sie überhaupt noch einem Menschen vertrauen? Konnte Thea überhaupt etwas von dem, was Jenny durchmachte, verstehen oder nachfühlen? In diesem Moment weilte Thea bereits wieder in der wohligen Wärme ihres trauten Heimes, einer modernen und gehoben ausgestatteten Eigentumswohnung in Münster Gievenbeck. Jennys Ziel, als sie sich vor einer Woche nach der tragischen letzten Zusammenkunft mit Nick und Marla ins Auto gesetzt hatte. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, obwohl sie wusste, dass er wie Gift für sie war. Auch konnte sie die Tragweite der Tatsachen immer noch nicht erfassen und versuchte, die Geschehnisse zu rekonstruieren. Ekelschauer erschütterten sie, als sie daran dachte, dass Nick nun endlich das bekam, wonach er sich immer gesehnt hatte. Ein Kind.

Marla war im dritten Monat schwanger, das hatte Jenny an vergangenem Freitag erfahren. Und Nick war der Erzeuger. Konfrontiert mit dieser Nachricht und Nicks Entschluss, umgehend aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen, war sie in einen Schockzustand gefallen. Nachdem das glückliche Paar die Wohnung verlassen hatte, bewegte sie sich traumatisiert und innerlich erstarrt ruhelos durch die Wohnung. An Nicks Geburtstag, am 20. September, musste es in ihrer Wohnung passiert sein. Welche Erniedrigung, welch unglaublicher Verrat. Wie schon einige Jahre zuvor verbrachte Marla zu dieser Zeit eine Woche bei ihnen in Dortmund. Tagsüber besuchte sie dann die Kunstmesse in Köln. Erstmalig wurde es ihr in diesem Messejahr ermöglicht, selbst dort Bilder auszustellen. Am 20. September hatte Marla mit Nicks Geburtstagsgästen ausgelassen ihren Erfolg gefeiert. Auch Jenny hatte fröhlich mit Marla angestoßen. Die Vorstellung, dass Nick und Marla umeinandergeschlungen in der Badewanne … vielleicht während sie die Spülmaschine eingeräumt hat …

Ein erneuter Ekelschauer überfiel Jenny und ließ sie würgen. Kurz flackerte erneut die Traumszene mit Nick und Marla in der ersten Bankreihe der Kirche vor ihren Augen auf. Deutlich erkannte sie Marlas rote hochhackige Schuhe, die sie auch bei besagter Party getragen hatte. Wie konnte ihre beste Freundin Jenny so etwas antun? Selbst im Feierrausch gab es für so ein Verhalten keine Entschuldigung. Und verzweifelt musste Jenny sich gestehen: Es gab auch keine Bestrafung. Marla zog lachend davon. Mit ihrem Verlobten und dem Glück im Bauch, von dem Nick immer geträumt hatte. Kurz machte sie sich selbst Vorwürfe und verfluchte ihre Antihaltung gegenüber eigenen Kindern. Aber nein. Nick hatte zugestimmt, sie zu heiraten. Mit oder ohne Kind. Er hatte sich bewusst für eine kinderlose Ehe entschieden. Er war der Ehebrecher. Jenny selbst musste nun alles Weitere ertragen und konnte ihn nicht mehr zurückgewinnen. Es war aus. Für immer.

Jenny versank in Erinnerungen an die schlimmste Nacht ihres Lebens, in der ihr Lebensgerüst gesprengt wurde. In ihrer Not hatte Jenny den Entschluss gefasst, zu ihrer Freundin Thea nach Münster zu fahren. Zwei Stunden hatte sie bis dahin laut heulend auf dem Sofa gelegen und Fotos von ihr und Nick zerrissen, die sie zuvor an unterschiedlichen Stellen der Wohnung gefunden hatte. Sie war erschöpft gewesen, aber hatte panische Angst bei dem Gedanken daran verspürt, eine Nacht alleine in der Wohnung verbringen zu müssen. Schnell hatte sie das Notdürftigste zusammengepackt und fluchtartig den Ort des Grauens verlassen. Die Strecke nach Münster war sie wie im Schlaf gefahren, da sie den Weg gut kannte. Thea war, direkt nach ihrem gemeinsamen Studium, mit Achim dorthin gezogen und Jenny hatte sie dort schon unzählige Male besucht. Theas Eltern lebten in Greven, einer Kleinstadt in der Nähe Münsters, wo Thea aufgewachsen war. Ihre Freundin hatte stets betont, waschechte Westfälin zu sein, und legte nicht ohne Stolz immer wieder dar, dass Münster für sie die eigentliche Hauptstadt Deutschlands war. Den Weg nach Münster Gievenbeck also war Jenny ohne Navigationsgerät gefahren. Die sonore Stimme der Ansagedame wäre wohl auch kaum zu Jennys Ohren vorgedrungen, denn die gesamte fast einstündige Fahrt durch verregnete Dunkelheit hatte Jenny immer wieder das gleiche Lied gehört. „Ave Maria“, gesungen von Jessye Norman, einer dunkelhäutigen Sopranistin. Die CD mit verschiedenen von dieser Sängerin interpretierten Liedern war ein Erinnerungsstück an ihre verstorbene Oma. In ohrenbetäubender Lautstärke hatte sich der emotional aufheizende Gesang bis zum Horstmarer Landweg wiederholt. Nach der Abfahrt von der Autobahn hatte sich Jenny kurz vor Erreichen ihres Ziels befunden. Aufgelöst und in der Annahme, dass sie die Veränderungen der Zukunft nicht ertragen könne, hatten Regen und Tränen ihren vorausschauenden Blick verhängt. Wie durch Nebelschwaden hatte sie lediglich den hellsten Lichtkegel, der die Straße direkt vor ihr ausleuchtete, gesehen. Das Reh, das wie aus dem Nichts kommend, von links über die Straße rannte, war mit einem eleganten Satz ins Münsterländer Feld gesprungen. Jenny war reflexartig nach links ausgewichen, hatte kurz die Mittellinie überquert und vor Schreck das Lenkrad stark in die entgegengesetzte Richtung gerissen. Auf der regennassen Straße waren die Hinterräder ins Rutschen geraten und hatten nicht mehr auf Jennys verzweifelte Bremsversuche reagiert. Wie auf einer spiegelglatten Eisfläche war sie unaufhaltsam dem Baumstamm entgegengeschlittert, dem sie auch mit einem erneuten Herumreißen des Lenkrades nicht mehr hatte ausweichen können. Sie vernahm nur noch einen harten Stoß auf den Kopf und das Zersplittern von Glas sowie das laute Hupen ihres Autos. Dieses war, mit dem Heck im gepflügten Acker steckend, im Straßengraben zum Stillstand gekommen. Durch die völlig zerstörte Frontfensterscheibe hatte sich über ihr die Krone des stark beschädigten Baumes wie im Karussell gedreht. Jennys Kreislauf brach zusammen und sie verlor das Bewusstsein.

Nur schwer kehrte Jenny gedanklich zurück in die Realität im Krankenhausbett. Einerseits war sie erleichtert, ihr Gedächtnis voll erinnerungsfähig zu erleben, doch brachten die Bilder des Unfalls sie andererseits in erneute, tiefe Trauer. Jenny weinte still in sich hinein. Als Schwester Mona nach einiger Zeit das Zimmer betrat und das grelle Neonlicht anschaltete, hielt Jenny die Luft an und stellte sich schlafend.

„Hab hier das Abendessen, Frau Hilgers. Guten Appetit“, flötete die Pflegerin fröhlich. Dann verließ sie umgehend und geräuschvoll das Zimmer. Ohne das servierte Essen auch nur anzuschauen, drehte sich Jenny auf die andere Seite. Der Gips erschwerte die Bewegung und riss an ihrem Bein. Mit dem Gefühl fliehen zu wollen, aber von einer sich am Bein festklammernden Person zurückgehalten zu werden, schlief sie entkräftet ein.

Kennen wir uns?

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