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Das Mondgesicht

Über der Stadt Klein-Wühlbergshausen scheint die Sonne. Die Wühlberge, die sich rechts und links der Stadt befinden, strahlen im Sonnenlicht. Im Tal fließt ruhig der Klein-Wühlbergshausener Gebirgsbach, der wegen der Hitze in diesem Jahr recht wenig Wasser enthält. Die weißen Dampfer der Gebirgsbachflotte können aber trotzdem auf- und abfahren. Jedes Mal, wenn sie an der Stadt vorbeikommen, tuten sie dreimal ganz laut mit der Schiffssirene. Und das ist dann immer ein Höhepunkt des Tages, denn sonst passiert eigentlich nicht viel im Ort.

Schon seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. Allen Klein-Wühlbergshausenern ist es viel zu warm. Auch die Kinder haben keine große Lust etwas zu spielen, obwohl es in der Schule fast jeden Tag hitzefrei gibt.

Irgendwo auf der Welt befindet sich noch ein Groß-Wühlbergshausen. Wo das ist, weiß niemand. Aber alle Leute sind froh, dass sie in der kleineren Ausgabe der Stadt wohnen. „Hier ist nicht so viel Verkehr wie in Groß-Wühlbergshausen“, sagen sie dann, obwohl noch keiner je in Groß-Wühlbergshausen war. „Hier ist die Luft viel reiner und klarer“, behaupten die Einwohner des Ortes und freuen sich alle gemeinsam über diesen schönen Platz im Tal zwischen zwei halbhohen Bergen, auf denen man im Winter wunderbar Schlittenfahren kann. Doch ans Schlittenfahren denkt im Moment keiner. Die Sonne prallt vom Himmel herunter und scheint den Ehrgeiz zu haben, alle Tafeln Schokolade im Ort zu heißem Kakaogetränk zu schmelzen. Egon, Lotte und der dicke Fritz sitzen in ihrem Hinterhof auf den Mülltonnen und warten.

„Worauf warten wir denn?“, fragt Lotte, die am liebsten rosafarbene Kleider, Hosen und Jacken trägt, und lutscht an ihrem rosafarbenen Eis.

„Na, darauf, dass du mich mal von deinem Eis probieren lässt“, mault der dicke Fritz. Er hat schon seit über einer Stunde nicht mehr genascht und guckt sehnsüchtig auf Lottes Eis. Doch die leckt genüsslich rosa Tropfen von ihren Fingern, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.

Alle drei gehen in die vierte Klasse der Klein-Wühlbergshausener Stadt-im-Tal-Schule. Genau genommen alle vier, denn in einiger Entfernung sitzt der dünne Manfred, ein Junge aus dem Nachbarhaus, und bewirft die drei mit kleinen Steinchen: „He, dicker Fritz. Bald macht es peng und dann bist du geplatzt. Lotte hat Haare wie Zottel. Hahaha.“

Doch Lotte, Egon und den dicken Fritz scheint es heute nicht zu stören, dass sie von Manfred geärgert werden. Im Augenblick beobachten alle eher Oma Krummbeins Kater Minkus, der sich ebenfalls auf einer Mülltonne ihnen gegenüber niedergelassen hat. Der Kater ist ganz schwarz mit einem grau getigerten Schwanz. Manchmal, wenn man nur den Schwanz irgendwo herausgucken sieht, könnte man annehmen, dass es sich um einen Waschbären handelt. Ein Katzen-Waschbär. Immer wieder beweist Minkus, wie schlau er ist, und manchmal glauben die Kinder, dass er sie genau versteht. Heute jedoch liegt der Kater ausgestreckt auf seiner Mülltonne in der Sonne und schläft. Ab und zu blinzelt er zu ihnen herüber, dann gähnt er wieder ausgiebig und legt sich andersherum, weil diese Haltung vielleicht mehr Vergnügen bereiten könnte.

„Puh, ist das heiß“, stöhnt Egon, der sich selbst auch gerne Einstein nennt, und springt von der Tonne. „Selbst Minkus ist zu faul zum Jagen. Was wollen wir spielen?“

„Ich will nicht spielen, ich will Eis.“ Der dicke Fritz leckt sich mit der Zunge über die Lippen.

„Jetzt denke mal eine Minute nicht ans Essen.“ Egon Einstein ist ärgerlich. „Mann, die Welt ist voller Abenteuer und wir sitzen hier herum und vergeuden unser Leben.“

„So ein Quatsch“, schmatzt Lotte. Sie ist endlich mit der klebrigen Masse fertig geworden und wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab.

„Danke, dass du mir nichts abgegeben hast“, mault Fritz.

Lotte ist von ihrer Tonne gehüpft und hat sich auf den Boden gehockt. Sie zieht ein Stückchen Kreide aus ihrer rosafarbenen Hosentasche und beginnt auf den Steinen zu malen: „Punkt, Punkt, Komma, Strich. Fertig ist das Mondgesicht.“ Sie kritzelt dem Gesicht einen großen Mund mit vielen Zähnen darin.

In sicherer Entfernung hockt Manfred und lästert, so laut er kann: „Lotte, Lotte hat Haare wie Zottel.“

Egon Einstein stemmt beide Fäuste in die Hüften, ihn interessiert bei der Hitze nicht im Geringsten, was der dünne Manfred dort hinten von sich gibt. „So, Leute, jetzt lasst uns mal überlegen, was wir heute tun“, sagte er.

Lotte hat sich erhoben und pustet sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht, die aber gleich darauf wieder zurückfällt: „Wie wäre es mit Schwimmen gehen?“

„Von mir aus“, stimmt Egon zu. „Was ist mit dir, Fritz?“

Fritz sagt nichts. Er starrt wie gebannt auf den Steinboden hinter Lotte.

„He, was hast du?“ Lotte schüttelt ihn.

„Da ... da ... ich ...“, stammelt Fritz. Er hat Augen und Mund weit aufgerissen und jeden Gedanken an ein Eis total vergessen.

„Was hast du denn?“ Egon rüttelt nun auch an ihm herum. Doch Fritz zeigt nur mit dem Finger auf den Boden. Lotte und Egon drehen sich herum und erstarren.

In diesem Moment schlurft Oma Krummbein auf den Hof. Sie trägt einen kleinen Eimer in der Hand und steuert auf die Mülltonnen zu. „Hallo Kinder, habt ihr Minkus gesehen? Ach, da ist er ja. Geht mal ein wenig zur Seite. Ich möchte meinen Müll ausleeren. Was ist denn?“ Sie guckt von einem zum anderen.

Alle drei Kinder starren auf die Steine des Hofes. Oma Krummbein verfolgt die Blicke und stößt einen kleinen Schrei aus: „Huchjeminee.“

Kater Minkus ist auf seiner Tonne erwacht, streckt sich und springt herunter. Ganz langsam stolziert er auf Oma zu. Auch Manfred, der sich ein wenig näher geschlichen hat, wird aufmerksam.

„Das ist Zauberei“, flüstert Egon Einstein. Die anderen nicken.

„So was gibt es doch gar nicht“, sagt Oma Krummbein nun laut. „Sicher wollt’ ihr mich ein wenig veräppeln, was?“

Das Mondgesicht auf den Steinen vor ihnen lächelt. Ja, es lächelt! Immer wieder verzieht es seinen Mund mit den vielen Zähnen darin zu einem breiten Grinsen, dann wieder zu einem Kussmund.

„Ich verstehe nichts mehr“, stammelt Lotte und starrt auf ihre Zeichnung auf dem Boden, die nun seltsam lebendig geworden ist.

„Los, Kinder, sagt schon, wo ist der Trick?“ Oma Krummbein lacht.

„Das ist kein Trick, Oma Krummbein.“ Lotte schüttelt den Kopf. „Ich habe das Gesicht gemalt. Mehr nicht. Und auf einmal kann es lächeln.“

„Vielleicht ist der Boden irgendwie magnetisch“, überlegt der kleine Einstein.

„Quatsch, da ist nichts magnetisch.“ Fritz ist ganz aufgeregt. „Vielleicht Erdstrahlen, die Dinge in Bewegung bringen.“

Kater Minkus ist nun ganz nah herangeschlichen und schnüffelt an der Malerei auf dem Boden herum. Als er wieder hochsieht, ist seine Nase ganz weiß von der Kreide. Minkus muss niesen.

„Komm her, Kater. Du sollst nicht schnüffeln“, schimpft Oma Krummbein.

„Ich habe nur mit dieser Kreide das Gesicht gemalt“, betont Lotte noch einmal und hält das weiße Stückchen in die Höhe.

„Lass’ mal sehen.“ Fritz und Egon greifen gleichzeitig zu dem Stummel.

Egon schafft es als Erster zuzugrapschen und dreht das Stückchen in den Händen: „Sieht ganz normal aus.“

„Woher hast du es?“ Oma Krummbein ist neugierig.

„Als ich heute in Mathe an der Tafel war, habe ich mir heimlich ein Stück Kreide eingesteckt.“ Lotte blickt etwas beschämt zu Boden. „Ich weiß, dass man das nicht darf, aber ich dachte, einmal kann ich das vielleicht machen.“

„In Ordnung war das nicht“, sagt die Oma. „Ach, dort hinten ist ja auch Manfred. Was macht der denn schon wieder hier? Willst du mir etwa noch mal meine Blumen aus den Töpfen ziehen? So Kinder, ich muss wieder hinein. Ich verstehe das alles nicht. Was es heutzutage so gibt. Nee nee, was haben wir nur für eine komische Welt.“ Die ganze Zeit schüttelt die Oma den Kopf, während sie ins Haus zurückgeht. Dann fällt die Tür hinter ihr ins Schloss.

Manfred versucht langsam, zu den dreien vorzudringen, wird aber gesehen. Egon und Fritz schreien ihm ganz laut zu, dass er verschwinden soll. Manfred rennt weg, vom Hof hinunter auf die Straße.

„Vielleicht wäre es besser gewesen, Manfred mitspielen zu lassen. Wer weiß, was er nun tun wird.“ Lotte macht sich ein wenig Sorgen.

„Der hat uns immer nur geärgert, hast du das vergessen?“, ereifert sich Fritz.

„Was sollen wir nun tun?“ Egon ist ganz aufgeregt: „Wir müssen der Sache doch auf den Grund gehen.“ Die anderen stimmen zu.

„Wie kann das nur funktionieren?“, überlegt er laut.

„Na, ganz einfach, miau.“

„Wer war das?“ Lotte stößt einen kleinen Schrei aus. Die Stimme kam aus der Nähe ihres Fußes. Dort aber steht nur Kater Minkus und streicht um ihre Beine.

„Minkus, warst du das?“ Lotte bekommt vor Schrecken kaum noch Luft. Die Jungen stehen da mit offenem Mund.

„Miau, ja ich.“ Der Kater bewegt sein winziges Mäulchen und spricht.

„Wieso kannst du reden?“ Egon beugt sich verstört und ungläubig zu Minkus herunter. In diesem Moment glaubt er, dass er den Namen Einstein vielleicht doch besser nicht tragen sollte. Das große Genie hatte immer eine Lösung gewusst.

„Weil ich von der Kreide genascht habe, miau. Ganz einfach,“ antwortet Minkus. „Die Kreide ist es!“

„Woher weißt du das?“ Egon vergisst ganz, dass er mit einem Kater im Gespräch ist.

„Wir Tiere wissen viel, was ihr Menschen nicht einmal ahnt. Doppelmiau! Und dreimal miau!“ Minkus dreht sich weg und will gehen.

„He, bleib’ hier.“ Alle drei Kinder rufen ihm nach.

Doch der Kater stolziert davon. Niemand kann ihn aufhalten, wenn er nicht bleiben will.

Die Kinder stehen auf ihrem Hof und können es nicht begreifen. Was ist nur passiert? Erst lächelt dieses blöde Gesicht und dann spricht auch noch der Kater.

„Wir sind einem großen Geheimnis auf der Spur“, flüstert Lotte und zieht die Stirn in Falten. Es kommt ihr alles wie ein Wunder vor. Ach was ein Wunder, viele Wunder.

„Kneife mich mal, ob ich nicht träume“, stammelt Fritz. Alle drei kneifen sich gegenseitig in die Arme und schreien dann ziemlich schnell los. Nein, sie träumen nicht. Alles das geschieht wirklich an diesem heißen Nachmittag im August in Klein-Wühlbergshausen. Und keiner weiß warum.

Sonntagskuchen mit Einstein

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