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Kapitel 2
ОглавлениеVon Freunden, Feinden und Fremden
Corvu stiess missmutig die Tür auf, die zu der kleinen Hütte führte, in der er und Oshu seit einigen Monaten hausten. Sobald er eingetreten war, schlug er sie mit dem Fuss wieder zu, ohne sich dabei die Mühe zu machen sich umzudrehen. Nun befand er sich in einem kleinen Raum, der mit einem Tisch und zwei Stühlen ausgestattet war, mehr konnten sie sich nicht leisten. Auch wenn es für sie beide kein grosses Problem darstellte Geld zu beschaffen, so war das Ausgeben eine ganz andere Sache. Die Leute wurden misstrauisch wenn zwei Strassenkinder plötzlich mit einem Vermögen aufwarteten. Sie mussten sich jeden Verkäufer sorgfältig aussuchen, um sicher zu sein, nicht verpfiffen zu werden. Zu Corvus Leidwesen musste er feststellen, dass Oshu bereits auf einem der Stühle sass. Corvu seufzte. Er hatte gehofft, Oshu wäre noch immer unterwegs. Nun würde er sich wohl oder übel was anhören müssen. Er legte sein schwarzes Jäckchen ab und warf es auf den Kleiderständer neben der Tür. Allerdings traf er daneben und das Jäckchen landete auf den staubigen Dielen. Einen Moment blickte er das unfähige Stück Stoff böse an, dann wandte er sich ab und durchquerte mit wenigen Schritten den Raum. Oshu schlürfte an einer Tasse mit herrlich duftendem Tee. Als Corvu hinter seinem Rücken vorbei stapfte, fragte er den Teetrinker beiläufig: „Trainierst du heute nicht?“
Oshu setzte die Tasse auf den Tisch, so dass das Klirren die Stille wie ein Donnerschlag durchbrach. „Ich mach eine kleine Pause.“, erklärte Oshu.
Corvu war in der Küche angelangt und bückte sich um etwas Kühles aus der Bodenluke, die ihre Vorräte frisch halten sollte, zu nehmen.
„Eine Pause? Bist du krank?“, fragte er ein wenig irritiert. Eigentlich hielt nicht einmal Fieber Oshu ab auf die Lichtung im Wald vor den Stadtmauern zu gehen und dort bis zum Umfallen irgendwelche neue Kampftechniken zu üben. Corvu konnte sich noch gut daran erinnern, wie er Oshu schon einige Male halb tot, vom Fieber erschlagen, von der Lichtung nach Hause tragen musste.
Corvu fand einen Sack voll gekühlten Erbsen und drückte ihn sich auf das blaue Auge und setzte sich auf den freien Stuhl Oshu gegenüber. Natürlich erwartete er einen Kommentar, oder gar einen Vortrag von Oshu. Doch der griff nur nach der zweiten Tasse und der Teekanne, die auf dem Tisch bereit standen. „Tee?“, fragte er Corvu. Ohne eine Antwort abzuwarten goss er ihm Tee ein, und stellte die Tasse vor Corvu hin. Corvu nahm dankbar an und gönnte sich einen Schluck.
Sie tranken oft Tee zusammen. Diese Stunden mit seinem Freund gehörten zu Corvus liebsten Erinnerungen. Es waren diese viel zu seltenen Momente, in denen Oshu mehr als nur ein, zwei Sätze sprach.
Seit Corvu nach seiner Flucht eines Morgens in Oshu's Bett aufgewacht war, waren die zwei wie Brüder. Corvu hatte schnell gemerkt, dass Oshu nicht ein Mann grosser Worte war, doch sie brauchten keine Worte um sich gut zu verstehen. Tatsächlich wussten sie nichts über die Vergangenheit des anderen. Oshu hatte ihn nie gefragt, wieso er ihn bewusstlos und ganz durchnässt am Strand vor gefunden hatte. Doch Corvu vermutete, dass Oshu eigene Gründe hatte, nicht über die Vergangenheit zu sprechen.
Auf der anderen Seite träumten sie oft zusammen von der Zukunft. Sie teilten ihre Pläne mit einander, und besprachen ihre Ziele. So wusste Oshu von Corvu's Vorhaben eine Gilde zu gründen, sowie Corvu wusste, dass Oshu eines Tages der gefährlichste Krieger im ganzen Kontinent sein würde.
Sie versuchten sich auch gegenseitig bei ihren Vorhaben zu unterstützen. So verbrachte Corvu viele Stunden damit bei Übungskämpfen von Oshu verprügelt zu werden. Und Oshu hielt immer Augen und Ohren offen um potenzielle neue Mitglieder für Corvu zu finden.
Eine Gilde zu gründen mochte sich einfacher anhören als Reihen von mächtigen Kriegern und geschickten Kämpfern zu übertrumpfen, doch so war es nicht.
Während Oshu ungestört auf sein Ziel hinarbeiten konnte und jeden Tag Fortschritte erzielte, scheiterte Corvu Tag für Tag an der scheinbar einfachen Aufgabe, genügend Mitglieder für die Gründung zu finden.
Vier. Vier Leute wurden benötigt. Ein Gildenmeister und drei Mitglieder.
Oshu hatte ihm bereits zugesagt. Es fehlten also nur noch zwei weitere Leute.
Doch offenbar war es unmöglich solche ausfindig zu machen. Selbst in Elysstain, eine der Städte, die selbst keine Gilde besitzen.
Doch all die Leute, die er anfragte, lachten ihn aus, oder sahen ihn einfach kurz schräg an, taten ihn als verrückt ab und ignorierten ihn fortan. Naja, er konnte es ihnen nicht gross verübeln. Immerhin ist es über hundert Jahre her, seit eine Gilde gegründet worden war. Doch noch hatte er den letzten Funken Hoffnung nicht verloren.
„Was ist,“, eröffnete Corvu das Gespräch, „Keinen Kommentar?“
Oshu's Lippen deuteten ein schüchternes Lächeln an. „Ich nehme an, ich muss mich nicht über den Ausgang des Gespräches mit dieser Frau erkundigen.“
Corvu erinnerte sich wieder. Ach ja! Er wollte eigentlich diese Trinkerin fragen, ob sie seiner Gilde beitreten wollte. Das hatte er durch den Tumult an der Marktstrasse völlig vergessen.
„Es … Es war nicht die Frau“, erklärte er zögernd. „Ich wurde bereits auf dem Weg zu ihr aufgehalten Ich konnte sie gar nicht fragen.“, gestand er niedergeschlagen. „Ich traf auf Hato am Markt. Du weisst ja, wie das abläuft.“
Oshu nickte. „Ich hab's gesehen. War ziemlich unterhaltsam.“
„Du warst da, und bist mir nicht zur Hilfe gekommen?“, fragte Corvu mit gespielter Empörung.
„Ich bin dein Bruder, nicht dein Kindermädchen. Du weisst, du kannst auf mich zählen, sobald es ernst wird. Vorher lasse ich dich einfach spielen.“, verteidigte sich Oshu.
„Schon klar. Ich brauchte ja auch keine Hilfe. Ich hatte alles im Griff. Das war schliesslich bloss Routine.“, behauptete Corvu cool.
„Dass mit der Routine glaube ich dir sogar.“, meinte Oshu.
Nach dem kurzen Gespräch kehrte wieder Stille ein. Die jungen Männer sassen in dem kleinen Raum, blickten aneinander vorbei an die heruntergekommenen Wände und nippten gedankenversunken an ihrem Tee, der vor sich her dampfte.
Corvu schielte zu Oshu hinüber. Es war seltsam. Wenn schon kein Schimpfen, dann mindestens ein enttäuschtes Kopfschütteln hätte er schon erwartet. Oshu war unnatürlich gnädig. Irgendwas muss vorgefallen sein.
Corvu wusste, dass er sich immer auf seinen Freund und Adoptivbruder verlassen konnte. Er hatte es ihm schon einige Male bewiesen. Auch wenn es im Rückblick eher unbedeutende Dummheiten waren, aus denen er ihn gerettet hatte und meistens folgten darauf Worte der Unstimmigkeit. Trotzdem war Oshu immer zur Stelle, wenn Corvu ihn brauchte. Und auch Corvu würde seinen Bruder nicht im Stich lassen. Zu viele Leute hatte er schon hängen lassen. Zu viele enttäuscht. Doch das würde nie mehr vorkommen. Das hatte er sich nicht einfach so vorgenommen, auch geschworen hatte er es sich nicht. Ebenso wenig war es ein Versprechen, dass er jemanden Gegenüber einhalten musste. Es war einfach so. Es war sein Leben.
Genauso wie es Oshu's Leben war zu trainieren. Er sagte sich nicht jeden Abend: „Morgen früh werde ich diese Technik üben und werde nicht aufhören bis ich sie makellos anwenden kann.“
Nein, er tat es einfach. Er kannte nichts anderes. Er wird seine Gründe dafür haben, doch muss er sie sich nicht jedes Mal vor Augen halten. Es war eine Selbstverständlichkeit. Ob Schnee, Regen, Sturm, Gewitter oder Hitze. Jeden Tag, oftmals auch in den Nächten, fand man Oshu verschwitzt, abgekämpft und übernächtigt, jedoch immer bereit seine nächste Übungsstunde zu bewältigen, in der Lichtung vor.
Was Corvu wieder zurück in die Realität brachte. „Warum trainierst du heute nicht?“, wunderte er sich. Oshu blickte in die Tasse, in der sich der Tee langsam abkühlte. „Lass uns erst den Tee austrinken.“, wich er der Frage aus.
„Was hast du denn zusammentreiben können, bevor du erwischt wurdest?“, fragte er um von Corvu's weiteren Fragen abzulenken, bevor er sie überhaupt stellen konnte.
Corvu erinnerte sich an das Diebesgut in seinen Taschen und er entleerte sie auf den Tisch. Einzelne Münzen klimperten auf der Holzplatte und ein Geldbeutel schlug dumpf auf den Tisch. Als seine Hand die Halskette berührte, zögerte er kurz, doch dann legte er auch sie vor Oshu hin.
Sein Freund gönnte sich einen langen Zug von seinem Tee und setzte dann langsam die Tasse ab. Neugierig beäugte er das Diebesgut. Die Münzen schienen ihn nicht gross zu interessieren, denn er griff bald nach dem Amulett und hielt es vor sich hin um es im Schein des spärlichen Sonnenlichts, das durch das einzige Fenster im Raum fiel, zu begutachten.
Corvu beobachtete ihn dabei mit böser Vorahnung. Geld war das einzige, was erlaubt war zu stehlen. Alles andere brauchten sie nicht, und brachte nur unnötiges Leid über die Bestohlenen. Stahl man von den richtigen Leuten ein paar Münzen oder auch mal ein Säckchen voll Gold, so mochte dies den Bestohlenen zwar kurz verärgern, doch das ist schnell wieder vergessen. Gestohlene Gegenstände aber brachten wesentlich grössere Konsequenzen mit sich. „Objekte“, hatte Oshu ihn gelehrt, „haben einen weit grösseren Wert als die Münzen gegen die man sie eintauschen kann. An Gegenständen hängen Erinnerungen. Sie verbinden Menschen miteinander oder sie schenken ihren Inhabern Gefühle, die sie sonst nicht mehr verspüren können. Das Entwenden solcher Dinge bringt Schmerzen, Trauer oder, das schlimmste Übel, Vergessenheit. Also konzentriere dich auf einfache Münzen und Gold. Und lass die Finger von allem anderen.“
Corvu biss sich auf die Unterlippe. Er wusste nicht mehr was ihn dazu getrieben hatte die Kette zu stehlen. Er schämte sich ein wenig. Oshu wird bestimmt nicht erfreut darüber sein. Corvu ärgerte sich über sich selbst. Sein Bruder schien so guter Stimmung zu sein. Und er musste natürlich mit einer Dummheit alles wieder kaputt machen.
Abwartend beobachtete er Oshu.
„Sie ist sehr schön.“, bemerkte Oshu lediglich. „Schlicht und dennoch elegant.
Trotzdem, solche Dinge sollten geschenkt werden, nicht genommen.“
Er legte sie wieder vor Corvu hin. „Vielleicht kannst du sie einmal jemandem verschenken. Allerdings solltest du es nicht einfach irgendwem schenken. Du solltest dir sorgfältig die richtige Person dafür aussuchen.“
Corvu runzelte die Stirn. Er wusste nichts darauf zu antworten. Überhaupt war er irritiert. Etwas war nicht richtig. Oshu sollte eigentlich auf der Lichtung sein und trainieren. Doch er war hier gemütlich am Tee trinken. Zudem gab es keine Schelte wegen des blauen Auges und Oshu forderte keine Rückgabe des Amulettes. Mit ihm stimmte etwas nicht. Er war anders. Was war hier los?
„Warum bist du noch mal nicht auf der Lichtung?“, fragte Corvu ein weiteres Mal. Argwohn mischte sich in seine Stimme. Abermals blickte Oshu tief in seine Tasse. „Ich hab' noch Tee. Wie sieht's bei dir aus?“, fragte er, ohne auf Corvus Frage einzugehen. Corvu untersuchte seine Tasse. Sie war noch immer fast halb voll. Doch mittlerweile war der Tee ein wenig abgekühlt. Er trank ihn mit grossen Schlücken aus und wiederholte seine Frage. „Ich bin leer. Warum bist du nicht im Wald, Oshu?“
Oshu nahm genüsslich den letzten Schluck aus seiner Tasse und stellte sie vorsichtig zurück auf den Tisch. „Na gut. Gehen wir.“, meinte er nur und streckte sich.
Verwirrt blickte ihm Corvu hinterher. „Wohin?“, wollte er wissen. Er legte den Erbsensack auf den Tisch und stand nun ebenfalls auf. Oshu nahm sein Naginata, eine mannshohe Schwertlanze, die neben dem Kleiderständer an die Wand gelehnt war, entgegen und öffnete die Tür. „Zur Lichtung.“, erklärte er knapp und trat hinaus in die Sonne.
Corvu zog mit seinen Telekinetik-Kräften sein Jäckchen am Boden zu sich und hastete ihm nach.
Doch er war zu langsam. Als er stolpernd aus der Türschwelle trat, war Oshu bereits verschwunden. Er konnte es ihm nicht verübeln, schliesslich würden alle dem Gerangel auf den Strassen aus dem Weg gehen, wenn sie könnten. Und Oshu konnte es, Corvu leider nicht. Während sein Freund ungestört in den Schatten wandeln konnte, musste sich Corvu bis zum Stadttor durchschlagen.
Er hastete an dem Kanal vorbei, der neben ihrer Strasse vorbei floss. Er überquerte die gebogene Holzbrücke, die das Zentrum mit dem nördlichen Teil der Stadt verband. Dann musste er sich durch das Getümmel an den Docks durchschlagen. Fleissige Arbeiter stellten sich ihm mit schwerer Fracht in den Weg. Seeleute torkelten über den Steg, manche von ihnen benommen vom ewigen Schaukeln des Schiffes, andere betrunken vom Grogg den sie sich hier am Hafen endlich zur Genüge gönnen konnten. Es wurde gerufen und gesungen, geprahlt und gelacht. Möwen zogen kreischend ihre Kreise über den Fischkuttern, die einen süsslichen Gestank verströmten, welcher sich über den Hafen ausbreitete.
Corvu mochte diesen Ort und verbrachte oft Stunden damit nach interessanten Leuten Ausschau zu halten. Doch heute schwirrten seine Gedanken um das seltsame Verhalten seines Freundes. Was ging hier vor sich? War es etwas Schlechtes? Etwas Gutes? Corvu konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Er versuchte sich alle möglichen und unmöglichen Szenarien auszumalen, die sich in der Lichtung abgespielt haben könnten. Dock keins der Szenarien schien ihm richtig Sinn zu machen. So beeilte er sich einfach zum östlichen Haupttor zu kommen, wo Oshu hoffentlich mit Antworten auf ihn warten würde.
Endlich brachte er die Docks hinter sich. Nun hastete er durch enge Gässchen, bunten Strassen, Plätze auf denen Kinder spielten, er suchte sich Abkürzungen durch dunkle Gasse, machte einen grossen Bogen um einen Faustkampf, wobei er überrascht war, das solche offenbar auch ohne ihn stattfinden würden und bald erreichte er sein Ziel, wobei er erfolgreich die Marktstrasse umgangen war. Er befürchtete nämlich, er würde dort wieder auf Hato und sein Gefolge stossen.
Er durchquerte die gelben Felder vor den Stadtmauern und erreichte ein Gehöft unweit des Tores. Dahinter blühten farbenfrohe Blumenwiesen und hinter denen streckten die ersten Bäume ihre Wipfel in den Himmel.
An die Mauern des Bauernhofs gelehnt wartete Oshu tatsächlich bereits auf ihn. Ein wenig ausser Atem musste Corvu erst kurz verschnaufen. Die Hände auf den Knien aufgestützt fragte er: „Was ist eigentlich los, Oshu?“
Oshu schulterte sein Naginata und setzte sich in Bewegung. „Rate.“
Corvu richtete sich auf und blickte seinem Wahlbruder verdutzt hinterher. Rate? Oshu war nicht der Typ der solche Spielchen spielte. Corvu holte mit schnellen Schritten auf.
„Ich soll raten? Ist das dein Ernst? Okay...“, Corvu überlegte kurz. Was um alles in der Welt konnte seinen sonst so verschwiegenen und verschlossenen Freund in eine derart gute Laune versetzen. „Hm, du hast alle Kampfmeister des Kontinents im Wald versammelt und zur Strecke gebracht?“, riet Corvu drauf los. Natürlich erwartete er nicht wirklich, dass er richtig lag.
„Nein.“, war die Antwort.
„Na schön. Neuer Versuch. Du hast die ultimative Kampftechnik entdeckt mit der du jeden Gegner blitzschnell besiegen kannst.“, schlug Corvu als nächstes vor.
„Nein.“
Corvu überlegte weiter. Schweigend stapften die zwei Brüder durch das kniehohe Grass. Ihm fiel wirklich nichts mehr ein.
„Na los, erzähl schon.“, forderte er Oshu auf.
„Gibst du schon auf?“, fragte Oshu verwundert.
„Ich hab keine Ahnung. Allmählich fang ich an zu glauben jemand hätte dich verzaubert, so anders bist du. Ich kann dich gar nicht mehr richtig einschätzen“, beschwerte sich Corvu.
„Du wirst es gleich sehen. Hab noch ein wenig Geduld.“, beschwichtigte ihn Oshu.
So gingen die beiden Diebe von Elysstain schweigend nebeneinander durch die Wiese bis sie den Waldrand erreichten. Nach kurzer Suche fanden sie den Trampelpfad, den sie selbst vor Jahren mal angelegt hatten und sich seither darum kümmerten, damit sie einfacher zur Lichtung gelangen konnten.
Noch immer zerbrach sich Corvu den Kopf darüber, was dort hinten in der Lichtung auf ihn warten würde.
Doch endlich wurde er erlöst. Kurz bevor sie die Lichtung erreichten, drehte sich Oshu zu ihm um. „Also gut, ich verrat's dir. Heute während des Trainings, tauchte plötzlich jemand auf und unterbrach meine Übungen. Wir sprachen ein wenig und es stellte sich heraus, dass er auf der Suche nach Arbeit war. Er ist auch Magier. Er könnte ziemlich gut der Dritte sein.“, teilte ihm Oshu vergnügt mit, dann verschwand er mit einem Schritt in dem Dickicht vor ihnen. Corvu blieb noch zurück. Der Dritte? Es dauerte eine Weile bis er begriff, worauf Oshu hinaus wollte. Der Dritte! Corvus Herz fing an heftige gegen seinen Brustkorb zu pochen. Übermütig vor Glück hetzte er Oshu hinterher und erschien mit einem Satz in der Lichtung.
Schlagartig erstarb Corvus Grinsen wieder. Sein vorhin noch fröhlich klopfendes Herz sank ihm nun in die Hose. Corvu war, das musste er zugeben, verzweifelt in der Suche nach Leuten für seine Gilde. Mittlerweile würde er jeden nehmen, der auch nur einen schwachen Funken an Magie besass. Jeden! Ausser den, der da vor ihm auf dem gefällten Baumstamm sass und gelangweilt einen Hirschen mit einem Büschel Gras fütterte.
Das Tier erschreckte sich bei Corvus Auftritt und galoppierte davon. Verärgert wandte sich der junge Mann zu ihm um. „Natürlich schreckt der kleine Plagegeist wieder den ganzen Wald auf. Pass doch auf du Trampel.“, schimpfte er. Corvu ignorierte ihn und drehte sich ungläubig zu Oshu, der mit verschränkten Armen neben ihm stand. „Fayn?“, rief er empört aus. Er blickte wieder zu dem feinen Herr mit seinen langen blonden Haaren und dem edlen Kimono und wieder zurück zu Oshu.
„Fayn?“, wiederholte Corvu aufgebracht.
„Wunderbar, du kannst meinen Namen aussprechen.“, hielt Fayn amüsiert fest.
Corvu ging noch immer nicht auf den ach so feinen Kerl ein. „Ist das dein... soll das ein... findest du das...“, Corvu suchte nach den richtigen Worten, die sein Gefühl beschreiben vermochten.
„Oh, du hast doch noch Probleme mit dem Wortschatz. Ich hatte schon zu hoffen gewagt. Ich würde eine Schule empfehlen. Schu-le. Eine Institution in der Kinder wichtige Dinge wie Schreiben, Lesen oder eben Sprechen lernen. Das würde dir wirklich gut tun.“, schlug Fayn vor, während er aufstand und sein Schwert, das in der Scheide neben ihm am Baumstamm gelehnt war, aufhob. Der Spott, der unüberhörbar in seiner Stimme mitschwang, klingelte in Corvus Ohren.
Endlich wandte er sich an den verhassten Schnösel. „Ach, halt den Mund.“, Corvu trat einen Schritt auf Fayn zu. „Ich hab' gehört, du seist auf der Suche nach Arbeit. Deine Schule hat dir wohl nicht so viel gebracht, was?“, versetzte er scharf.
Fayn blieb gelassen. „Die Schule trifft da keine Schuld. Das Problem ist viel mehr, dass ich nicht arbeiten will. Wozu auch. Ich habe ja bereits alles.“, prahlte er.
Corvu schnaubte verächtlich. Er mochte diesen eitlen Fatzke und sein Gehabe überhaupt nicht. Die beiden umkreisten sich inmitten der Lichtung. Oshu setzte sich derweil im Schneidersitz auf einen Stein und beobachtete das Geschehen aufmerksam, wenn auch ein wenig belustigt.
„Warum suchst du dann trotzdem nach Arbeit?“, wollte Corvu wissen.
Nun druckste Fayn ein wenig herum. „Ich muss wohl gestehen, dass mein Vater über meine Einstellung nicht sehr erfreut ist. Er hat mir sozusagen eine Bedingung gestellt, um weiterhin zuhause wohnen zu dürfen. Und diese Bedingung ist Arbeit.“, erklärte er umständlich.
Corvu stutzte. „Dein Vater hat dich auf die Strasse gesetzt?“
„So könnte man das auch formulieren, ja.“, gab Fayn zu.
Corvu musste laut auflachen. „Der edle Meister Fayn auf den Strassen Elysstains!“, Corvu schnappte nach Luft. „Nicht eine Nacht wirst du überleben!“
Fayn runzelte die Stirn. „Das wage ich zu bezweifeln. Trotzdem habe ich nicht vor auch nur eine Nacht draussen auf einer Elysstainer Strasse zu hausen. Ich dachte eigentlich viel mehr daran auf Reisen zu gehen. Deswegen bin ich jetzt auch hier. Ich hatte eben mit meiner Reise begonnen und wollte ein wenig die Natur geniessen, als mich Oshu hier, netterweise darauf Aufmerksam gemacht hat, dass du Leute suchst die dir dabei helfen einen Traum zu verwirklichen, und dass du so etwas wie Arbeit hättest, bei der ich trotzdem noch durch die Welt wandern kann.“, erklärte er.
„Warte, warte, warte. Soll das heissen, der feine, hochwohlgeborene Sohn des Biagali Klans bittet mich um Arbeit?“, vergewisserte sich Corvu noch immer lachend.
Seinen Stolz verteidigend entgegnete Fayn: „Ich würde es eher so formulieren; ich bin so gütig, dir bei der Verwirklichung deines Traumes zu helfen. Was ist überhaupt dein Plan? Oshu hat mir nicht viel darüber erzählt.“
Corvu wurde wieder ernst. „Das spielt keine Rolle. Ich will dich sowieso nicht dabei haben. Viel Spass auf deiner Reise. Ich hoffe du wirst in den westlichen Bergen in Stücke gerissen.“
Fayn ging nicht weiter darauf ein, stattdessen zog er die Luft zwischen den Zähnen ein.
„Irgendwie beschleicht mich da so ein Gefühl, dass du dir nicht erlauben kannst wählerisch zu sein. Also wie sieht dein Plan aus?“
Corvu zögerte. Es stimmte, er konnte wirklich nicht wählerisch sein. Er brauchte jeden den er kriegen konnte. Und wenn er diesen... wenn er Fayn kriegen konnte, musste er ihn wohl oder übel annehmen. Doch Corvu wusste nur zu gut wie sein Gegenüber auf sein Vorhaben reagieren wird.
„Ich will eine Gilde gründen.“, erklärte Corvu ohne weiteren Umschweife.
Nun war es Fayn der vor Lachen losprustete. „Eine Gilde gründen? Spinnst du? Seit über hundert Jahren wurde keine mehr gegründet und jetzt kommst du hier einfach so und willst eine Gilde gründen. Du, ein Strassenjunge aus Elysstain!“
Corvu hatte das Lachen vieler über sich ergehen lassen. Er hatte es in Kauf genommen ignoriert zu werden, als verrückt abgestempelt oder mit allen möglichen Demütigungen beworfen zu werden. Alles hatte er ertragen können ohne ein Wort zu sagen. Er war wütend gewesen, doch er hatte seine Wut hinunter geschluckt. Er war oft traurig gewesen, doch hatte er sich nie etwas anmerken lassen, er war verzweifelt gewesen, doch hatte er sich lässig gegeben. Auch wer er es gewohnt von Fayn verhöhnt zu werden, und in seinem Schatten zu stehen, während er sich im Ruhm seiner Familie sonnen konnte. Seit ihrem ersten Treffen betrachtete Corvu Fayn als Erzfeind und forderte ihn immer wieder in allem möglichen heraus, was meistens in einer Niederlage für den trotzigen Strassenjungen endete. Corvu lernte mit dem ständigen Hohn und den abwertenden Bicken umzugehen. Doch nun, als der Hampelmann sich auch noch über seinen Lebenstraum lustig machte, verlor er die Geduld.
Seine Hände verkrampften sich zu Fäusten und sein ganzer Körper fing an zu zittern. Was ist so lustig daran? Es ist nicht verboten eine Gilde zu gründen. Nur weil seit hundert Jahren niemand mutig genug war es mit den grossen Gilden aufzunehmen, heisst es nicht, dass es nie mehr geschehen wird.“, sprach er trotzig. Er versuchte sich unter Kontrolle zu halten. Fayn wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Stimmt schon.“, gestand er. „Eigentlich könnte jeder eine Gilde gründen. Aber...“, er fing wieder an zu lachen. „Aber du!“ Fayn schüttelte sich vor Lachen.
Schon wurde er von einem wuchtigen Kraftstoss aus der Lichtung gepustet. Er krachte heftig gegen einen Baum, wobei der Aufschlag ihm die Luft aus der Lunge presste und ihm schwarz vor Augen wurde. Doch er fing sich wieder und befahl geistesgegenwärtig den Nadeln der Tanne, an der aufprallte, sich auf Corvu zu stürzen. Er war nicht vorbereitet auf einen Konter und so zischte der Schwarm aus Nadeln über ihn hinweg und hinterliess hunderte kleine Kratzer auf seiner Haut. Doch Corvu ignorierte die Schmerzen. Seine Wut und Demütigung, die all die Jahre in ihm kochten liessen ihn den äusserlichen Schmerz vergessen.
Es war viele Jahre her, seit sie sich das erste Mal begegnet waren. Corvu war gerade wieder einmal verprügelt worden. Mit zerfetzten Kleidern, verstrubbelten Haaren und blauen Flecken, die seinen Körper überzogen, torkelte er aus der Gasse, in der er zuvor noch bäuchlings auf dem schmutzigen Boden gelegen hatte.
Seine Brust barst beinahe vor Stolz. Das letzte Mal, als er sich mit den Grossen angelegt hatte, musste ihn Oshu danach heimtragen. Dieses Mal hatte er zwar wieder verloren, doch er konnte noch aus eigener Kraft stehen.
Er war überzogen mit Dreck, Staub und Russ, aber er war glücklich.
Als er ziemlich lädiert, aber zufrieden am Eingang der Gasse stand und das Geschehen auf dem belebten Platz davor beobachtete, tauchte plötzlich dieser Junge vor ihm auf. Er schien richtig aus der Menge heraus zu leuchten. Er trug schöne weisse, mit feinen grünen Linien durchzogene Kleidung, auf der kein einziges noch so winziges Staubkorn zu kleben schien. Die beiden Jungen konnten ein unterschiedlicheres Bild nicht abgeben.
Sie musterten sich lange interessiert. Keiner von beiden rührte sich, bis dann der Blondschopf vor Corvu in seine Tasche griff und einen rotbäckigen Apfel daraus heraus zauberte, den er dem dreckigen Jungen hinhielt. Das Strassenkind mit dem tiefschwarzen, wirren Haar starrte verwirrt den ihm angebotenen Apfel an.
Was wollte der Kerl? Bot er ihm Almosen an? Pff, was dachte der sich eigentlich. Corvu würde doch keine Almosen annehmen. Hatte er etwa Mitleid mit ihm? Er brauchte weder Almosen noch Mitleid. Corvu hasste es, wenn andere Leute ihm gegenüber Mitleid zeigten. Er brauchte es nicht.
Er blickte dem anderen Jungen in die Augen. Obwohl... vielleicht wollte er einfach nur einen neuen Freund kennen lernen. Und der Apfel sah wirklich saftig aus. Nach der Keilerei konnte Corvu wirklich was zwischen den Zähnen vertragen.
Gerade wollte er den Arm ausstrecken und den Apfel dankbar an sich nehmen, als plötzlich ein Ruf den Jungen zusammenzucken liess. „Fayn!“, es war die Stimme einer bildhübschen Dame, die nach ihrem Sohn rief. „Komm, Schatz. Lass uns gehen.“, schlug sie freundlich vor als sie ihn gefunden hatte und streckte dem Jungen ihre feine Hand entgegen.
Der Junge trottete ohne Widerrede zur Frau hin. Bevor er sie erreichte, wandte er sich noch einmal um und warf Corvu den Apfel vor die Füsse. In seinem Gesicht zeigte sich dabei nicht die kleinste Regung. Er drehte sich einfach um, griff nach der Hand seiner Mama und auf der anderen Seite, nach der seines Vaters. Ohne noch einmal einen Blick an den schmuddeligen Strassenjungen zu verschwenden, zog die glückliche Familie davon.
Corvu blieb allein am Eingang der Gasse zurück und starrte der glücklichen Familie hinterher. Tränen befeuchteten seine Augen und Wut loderte in seinen Adern. Was dachte sich der Lackaffe eigentlich? Ihm einfach Essen vorzuwerfen! Er war doch kein Tier verdammt nochmal! So durfte man ihn nicht behandeln. Nicht mehr!
Trotzdem hob er den Apfel auf und umklammerte ihn fest. Er hatte kein Mitleid nötig. Nicht von dem Jungen und nicht von dessen doofen Eltern. Von niemandem. Er wird’s ihnen schon zeigen. Bebend vor Wut warf Corvu den Apfel dem Jungen an den Hinterkopf. Erschrocken blickte sich die Familie um. Corvu blieb an Ort und Stelle stehen. Seine Tränen konnte er nun nicht mehr zurückhalten. Leise kullerten sie ihm über die Wangen. Doch reckte er sein Kinn in die Höhe und baute sich zu seiner vollen Grösse auf, was damals nicht wirklich gross war. Einen Moment blieben die vier Personen einfach stehen. Die Familie musterte den Strassenjungen verwundert. Doch sobald Fayn's Vater einen Schritt auf ihn zu trat, machte Corvu sofort auf dem Absatz kehrt und huschte davon.
Dies war nur das erste vieler Aufeinandertreffen dieser zwei ungleichen Jungen. Und jedes Mal hob sich Fayn mehr über Corvu hinweg und machte sich über ihn lustig. Was wiederum Corvu provozierte ihm zu zeigen, dass er nicht besser war als er.
Seinen Zorn und seine hilflose Verzweiflung, die sich in der Vergangenheit aufgestaut hatten, sammelte er in seiner Faust und stürzte auf Fayn zu. Doch schon griffen Äste, Gräser und Wurzeln nach seinen Gliedmassen und versuchten ihn aufzuhalten. Immer mehr Grünzeug wickelte sich um seine Beine und Arme, doch Corvu riss sich immer wieder los. Allerdings verlor er an Schwung, bis die Ranken schliesslich obsiegten und ihn vollständig zum Stehen brachten.
Keine Sekunde zu früh. Corvus Energie geladene Faust zitterte nur einige Millimeter vor Fayn's Gesicht. Triumphierend lächelte er auf den Strassenjungen herab.
Corvu verteilte seine Energie wieder im ganzen Körper und liess ihr freien Lauf. Mit einem Schlag zerbarsten seine natürlichen Fesseln. Er packte Fayn am Kragen und schmetterte ihn zurück in die Lichtung. Fayn krachte auf den Boden und schlitterte ein Stück über das Moos, bis er schlussendlich zum Liegen kam.
Corvu schritt bedrohlich auf seinen Gegner zu.
Als er sich Fayn um ein paar Schritte genähert hatte, löste sich dieser plötzlich in hunderte feine Rosenblätter auf, die durch einen Luftstoss lustig um Corvu herum wirbelten.
Corvu erstarrte mitten in der Bewegung. Immer mehr Rosenblätter gesellten sich zu ihren Geschwistern Verwundert blickte Corvu sich um. Die Blätter schienen aus verschiedenen Richtungen vom Wald um ihn herum zu kommen. Er kniff die Augen zusammen um die zwischen den Bäumen die versteckten Quellen zu erkennen Doch er blickte bloss in undurchdringliche Dunkelheit. War der Wald schon immer so düster gewesen? Endlich konnte er Bewegungen am Waldrand vor ihm ausmachen. Fayn trat aus dem Halbdunkel der letzten Bäume auf die Lichtung. In seiner Hand hielt er sein Schwert, dessen Klinge eine der Quellen der Rosenblätter zu sein schien. Was hatte er vor? Corvu wollte sprechen, doch seine Stimme versagte. Er wollte ausbrechen aus dem Wirbel um ihn herum. Doch seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr. Er konnte Nichts weiter tun als zu sehen, wie Fayn bedächtig auf ihn zu schritt.
Plötzlich tauchte ein zweiter Fayn am Waldrand auf, mit dem selben Schwert in der Hand wovon ebenfalls Rosen abblätterten. Zu ihnen gesellten sich noch ein dritter und ein vierter und noch viele weitere Fayns, bis Corvu vollständig umstellt war.
Der erste Fayn stand nun vor ihm. Sein Schwert hatte aufgehört Rosenblätter zu verteilen. Aus ausdruckslosen Augen blickte Fayn seinen Gefangenen an. „Blut zu Rosen, Rosen zu Blut.“, mit diesen Worten auf den Lippen hob er seine Klinge und stiess zu.
Der Schmerz stach schlagartig in Corvus Kopf. Er wollte schreien, doch kein Laut verliess seine Kehle. Es wurde heiss und kalt zu gleich. Er konnte keinen Gedanken mehr fassen, in seinem Kopf herrschte nur noch schwarze Leere.
Corvu sah an sich herab.
Die Rosenblätter hingen plötzlich regungslos in der Luft. Durch sie hindurch stach Fayn's dünne Klinge in seine Brust. Genauer gesagt spiesste sie Corvus Herz auf.
Deutlich konnte er erkennen wie Blut den Schaft des Schwertes entlang rann, bis an die Parierstange, wo sich das Blut verhärtete und sich in Form eines Rosenblatts um die Klinge legte. Nach und nach entstanden so immer mehr Rosenblätter, bis die Schneide vollständig umhüllt war.
„Gibst du nun endlich Ruhe?“, flüsterte Fayn und zog sein Schwert mit einem Ruck aus Corvus Körper. Corvu fiel auf die Knie und erhaschte noch einen letzten Blick auf Fayn, der sich hinter den fallenden Rosenblättern gefühllos abwandte und davon machte. Dann verlor er vollends sein Bewusstsein.
„Na, gibst du nun endlich Ruhe?“
Corvu schlug die Augen auf. Er lag bäuchlings auf dem weichen Moos der Lichtung. Vor ihm hockte Fayn und blickte auf ihn herab.
„Was zur Hölle war das eben?“, stöhnte Corvu.
Fay deutete auf einen Pilz neben seinen Füssen. „Siehst du die Pilze? Ich habe sie wachsen lassen, als ich auf dem Boden gelegen habe. Ihre Sporen greifen deine Sinne an und spielen dir Täuschungen vor. Das Kunstwerk, das du eben bestaunen konntest, nenne ich „Der Tanz der Rosenblätter.“
Corvu stiess Fayn von sich und versuchte sich aufzurichten. Fayn konnte sich fangen, brachte aber etwas Abstand zwischen sie. „Siehst du, du hast keine Chance gegen mich. Ich bin dir überall überlegen. Bildung, Reichtum, Aussehen, und sogar, wie sich nun gezeigt hatte, auch im Kampf. Du bist halt überall ein Versager. Ist nun mal so. Finde dich damit ab und gib endlich Ruhe.“
Corvu wischte sich etwas Dreck aus dem Gesicht. Ihm war übel von seinem eigenen Tod vorhin, und er fühlte sich nicht wirklich sicher auf seinen Beinen. Doch noch war es nicht vorbei. „Weisst du, ich habe diese Angewohnheit“, begann er, „jedes Mal wenn mich jemand bittet still zu sein, kann ich einfach nicht anders als ihn anzubrüllen.“
Corvu erfasste Fayn mit seinen Kräften und zog ihn blitzschnell zu sich heran. Den Schwung ausnutzend, bretterte er ihm die Faust ins Gesicht. Fayn stürzte zu Boden und wand sich vor Schmerzen im Dreck.
Corvu bückte sich über ihn. „Gibst du nun endlich Ruhe?“, fragte er mit drohendem Unterton.
Fayn richtete sich unbeholfen auf. „Ach, du willst einen Faustkampf? Du hast wohl Angst vor meiner Magie, hm?“
„Das habe ich nicht gesagt.“, meinte Corvu trocken und erfasste Fayn erneut mit der Telekinese. Dieses Mal schleuderte er ihn an die Wand des kleinen Holzschuppens der auf der Lichtung stand. Doch damit war nicht genug. Er schleifte ihn über den Boden und schmetterte ihn auf einen der drei Felsen in der Lichtung. „Was. Denkst. Du. Eigentlich. Wer. Du. Bist?“, mit jedem Wort hämmerte er ihn einmal gegen einen Baum. Dann liess er ihn fallen. Dieses Mal blieb Fayn wirklich liegen. Seine sonst so makellose Erscheinung hatte erheblich gelitten. Er war übersäht mit blauen Flecken und Blutungen. Sein weisses Hemd hatte sich stellenweise braun gefärbt und seine Haare fielen ihm zerzaust ins Gesicht.
Corvu setzte sich vor ihm ins Gras und die beiden verschnauften lange Zeit.
Auch Oshu gesellte sich zu ihnen. Eine lange Zeit sprach niemand ein Wort.
Bis der erschöpfte Fayn die Stille durchbrach. „Warum will ein Strassenjunge und Taschendieb wie du eine Gilde gründen?“, fragte er und wechselte mühsam in eine sitzende Position.
Corvu zögerte mit einer Antwort.
„Weisst du wovon alle Strassenkinder nachts träumen, wenn sie auf den nassen, kalten Strassen liegen?“, stellte er dann die Gegenfrage.
Verwundert zuckte Fayn die Schultern. „Von einem Happen Essen und einem Batzen Geld?“, riet er.
Corvu schüttelte den Kopf. „Siehst du, deswegen habe ich dich damals mit dem Apfel beworfen. Du hattest Mitleid mit mir. War es weil ich gerade übel zugerichtet worden war, oder weil du einfach dachtest jeder Strassenjunge steht kurz vor dem Verhungern. Vielleicht hattest du auch einen ganz anderen Grund, ich weiss es nicht. Auf jeden Fall aber, war es aus dem falschen Grund. Von den Schmerzen, die ich mir damals geholt hatte, erholte ich mich schnell wieder. Einen Apfel kann man sich leicht selbst beschaffen. Doch was die Kinder der Strasse am meisten vermissen, und was man sich nicht so einfach beschaffen kann, wovon selbst die hartgesottensten Rüpel träumen, wovon selbst ich träume, und ich wage zu behaupten, wovon sogar Oshu träumt... das ist eine Familie.
Du verstehst das vielleicht nicht. Deine Eltern gehen dir auf die Nerven, mit ihren ständigen Befehlen, oder du schämst dich für sie, wenn sie dich verwöhnen. Dennoch. Sie trösten dich, wenn du traurig bist. Sie geben dir warm, wenn dir kalt ist. Sie helfen dir, wenn du nicht mehr weiter weisst. Sie geben dir Halt, solltest du irgendwo hin abrutschen. Sie beschützen dich, wenn Gefahr naht, und sie beruhigen dich, wenn du drohst selbst zur Gefahr zu werden. Das ist doch wofür eine Gilde steht. Eine neue Familie.“
Corvu's Worte entsprachen der Wahrheit. Trotzdem war es nur der halbe Grund. Doch Corvu beliess es dabei. Für die andere Hälfte war es noch zu früh.
Fayn wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hüllte sich in Schweigen und dachte über Corvus Worte nach. Den Apfel hatte er lustiger weise nie vergessen. Er wusste noch, wie er sich an diesen Abend den Kopf darüber zerbrochen hatte, wieso dieses schmutzige, erbarmungswürdige Kerlchen sein Geschenk abgelehnt hatte. Er hatte nie daran gedacht, dass er etwas Falsches getan haben könnte in dieser Situation. Schliesslich war er ja der Gütige gewesen, und der Strassenjunge sollte sich glücklich schätzen überhaupt etwas zu erhalten.
„Ich will auch eine Familie!“
Die zitternde Stimme ertönte plötzlich hinter ihrem Rücken. Überrascht fuhren die drei herum.
Hinter ihnen auf der Lichtung stand ein Mädchen in einem weissen, zerfetzten Kleid, das geisterhaft um seinen schlanken Körper wehte. Die Ärmel mit dem schwarzen Saum waren ihm viel zu weit, so dass die Enden schlaff auf seiner Seite herab hingen. Das Kleid reichte ihm knapp bis zu den Knien und entblösste seine nackten Füsse, die im feuchten Moos standen. Die gespenstische Erscheinung der jungen Frau wurde abgerundet durch ihre pechschwarzen, schulterlangen Haare, die ihr zerzaust ins Gesicht fielen.
Ihre Augen waren weiss und die Pupillen mit einem grauen Schleier verwischt. Sie war blind.
Trotzdem schien es jedem der Jungen, als ob sie ihm direkt anstarren würde und die tiefsten Geheimnisse seiner Seele entblösste.
Corvu war der erste der zu sprechen wagte. „Hallo. Wer bist denn du?“, begrüsste er sie.
„Lilith.“, verriet sie leise.
„Hallo, Lilith. Wir sind Corv...“
„Corvu, Fayn und Oshu. Ich weiss.“, fiel sie ihm ins Wort.
Corvu stutzte. Dann fing er an zu lachen. „Na ja, dann brauch ich uns wohl nicht mehr vorzustellen. Was machst du denn hier, Lilith?“
Lilith zögerte kurz ehe sie antwortete. „Ich... äh... ich wohne hier.“
„Auf der Lichtung?“, fragte Oshu verwundert.
„Im Wald“, klärte sie ihn auf.
„Schon lange?“, wollte Fayn wissen.
„Einige Monde.“, mutmasste Lilith.
„Warum?“, fragte Fayn weiter.
Doch nun befreite Corvu das arme Mädchen aus dem Kreuzverhör. „Die Vergangenheit spielt doch keine Rolle. Was zählt, ist die Zukunft! Du willst uns also helfen eine Gilde zu gründen?“, fragte Corvu wieder an Lilith gewandt. Sie nickte.
„Ich will eine Familie.“, bestätigte sie.
„Weisst du überhaupt, was eine Gilde ist?“, fragte Fayn skeptisch.
Lilith schüttelte verlegen den Kopf.
„Das dachte ich mir. Lass mich es dir erklären. Die Gilden wurden ursprünglich gegründet um andere Leute, vor allem Nicht-Magier, in einem Dorf oder in einer Stadt und deren Umgebung vor verschiedenen Gefahren zu schützen. Monster, Räuber, Raubtiere, Umweltkatastrophen, böse Magier und noch viele mehr bedrohten und bedrohen ehrlich gesagt noch immer das Leben einfacher Bürger. Die Gilden wurden also zum Schutz von Orten und deren Bewohnern gegründet.
Heute haben sie aber vor allem einen symbolischen Wert. Die Stärke einer Gilde widerspiegelt die Stärke einer Stadt. So haben die Städte mit den besseren Gilden einen höheren Stellenwert und kriegen schneller, was sie wollen, als Städte mit schwächeren Gilden. Städte ohne Gilden, wie unser Elysstain, haben bei zwischenstädtischen Streitereien so gut wie gar nichts zu sagen.
Die Stärke einer Gilde wird in einem Turnier ermittelt, das in jeder Vierjahresperiode einmal stattfindet. Allerdings kann eine Gilde jederzeit eine andere Gilde herausfordern, wenn sie denkt, sie sei nun stärker als die andere, oder wenn sie sonst irgendeinen Groll gegen die andere hegt. Verstehst du soweit?“, fragend blickte Fayn in die matten Augen der seltsamen Fremden. Lilith nickte und Fayn fuhr fort.
„Also, Schutz vor verschiedenen Gefahren und Arena-kämpfe um sich mit anderen Gilden zu messen. Du siehst also, ein Mitglied einer Gilde muss auch kämpfen können.“, schloss er.
Es war offensichtlich worauf er hinaus wollte.
Die drei Männer blickten Lilith erwartungsvoll an.
„I... Ich“, druckste sie ein wenig herum. Plötzlich lösten sich zwei Schemen aus dem Dunkel des Waldes und gesellten sich zu Lilith. Zwei graue Wölfe strichen ihr knurrend um die Beine. „Ich kann kämpfen.“, stellte sie schliesslich fest.
Oshu kniff argwöhnisch die Augen zusammen Die Unsicherheit in Lilith' Stimme verriet ihm, dass etwas nicht stimmen konnte.
Doch Corvu schien nichts gehört zu haben. Seine Augen leuchteten. Er sprang auf und näherte sich den Wölfen.
„Du bist eine Tiervertrag-Sammlerin?“, fragte Fayn verwundert.
„Eine was?“, entgegnete Lilith verwirrt.
Doch ehe Fayn weiter darauf eingehen konnte, unterbrach ihn Corvu. „Wie heissen die zwei Prachtsexemplare?“
„Yingiz und Akki“, flüsterte Lilith, als ob sie Angst davor hätte, die beiden Namen laut auszusprechen. Fayn horchte auf. Yingiz und Akki? Seltsame Namen für Wölfe. Hatte er diese Namen nicht schon einmal anderswo gehört? Aber wo war das nochmal?
Doch auch das schien Corvu nicht weiter zu stören.
„Wilkommen in der Gilde, Akki und Yingiz. Schön, dann sind wir ja schon zu sechst“, scherzte Corvu. „Aber jetzt im Ernst. Wir sind nun vier Leute! Stellt euch vor! Nach all den Jahren, endlich! Endlich bin ich soweit. So nah an einer Gilde. Jetzt gilt es nur noch den Stadtrat zu überzeugen. Na los, gehen wir. Je früher, desto besser.“, meinte Corvu.
„Moment mal. Erstens habe ich nie gesagt, dass ich mitmache und zweitens“, empörte sich Fayn.
„Ich weiss doch, dass du mitmachst.“
„Ja schon, aber...“, versuchte Fayn zu dem ungeduldigen Dummkopf vorzudringen. Doch der wollte nicht hören. „Eben, Wir sind zu viert. Los kommt.“, Corvu beendete das Gespräch und wandte sich zum Gehen, doch Lilith hielt ihn auf.
„Ähm, Akki und Yingiz bleiben wohl besser hier, ich denke nicht, dass die Stadtwachen am Tor sich freuen würden, wenn einfach so zwei Wölfe in die Stadt einmarschierten.“
Corvu nickte. „Natürlich.“
Lilith deutete den Wölfen zu gehen. Akki und Yingiz huschten davon und schnell wurden ihre Schemen eins mit den Schatten der Bäume.
Corvu blickte ihnen noch kurz nach, dann schnappte er sich Lilith's Hand und eilte mit ihr in den Trampelpfad.
Fayn und Oshu stürzten ihnen hinterher.
„Warte doch mal!“, rief Fayn. „Du kannst doch nicht einfach dieses völlig fremde Mädchen mitnehmen und eine Gilde mit ihr gründen. Du kannst ihr doch nicht einfach so vertrauen?“
„Ähm... Ich bin vielleicht blind, aber nicht taub, ich kann euch hören!“, reklamierte Lilith, die hinter Corvu über das Wurzelwerk strauchelte.
Aber die beiden Männer schienen sie zu ignorieren.
„Doch, kann ich.“, entgegnete Corvu. „Ich vertraue der Familie.
„Aber Vertrauen sollte man sich verdienen!“, widersprach Fayn. „Man kann nicht einfach jedem dahergelaufenen Geschöpf sein Vertrauen schenken.“
„Hallo, ich laufe genau zwischen euch!“, beschwerte sich Lilith.
Nun machte Corvu Halt und wandte sich zu Fayn um.
„Lilith braucht eine Familie. Sie ist genau wie all die Strassenkinder in Elysstain. Wenn mir eine Familie angeboten werden würde, würde ich nie auch nur daran denken sie zu hintergehen. Ich würde nicht wieder verlieren wollen, was ich so lange vermisst habe. Ich bin mir sicher so geht es auch Lilith.“, erklärte er.
„Genau, ich...“, wollte Lilith zustimmen, doch die Jungen achteten nicht auf sie. „Trotzdem sollten wir wenigstens ein bisschen etwas über ihre Vergangenheit in Erfahrung bringen.“, meint Fayn.
„Was weisst du denn über meine Vergangenheit?“, fragte ihn Corvu verärgert. „Was wissen wir über Oshu's Vergangenheit? Trotzdem würde ich mein Leben für ihn geben.“, Corvu beruhigte sich wieder etwas. „Manchmal ist es besser, man lässt die Vergangenheit ruhen.“
Fayn wusste dem Nichts entgegenzusetzen. Corvu nahm Lilith wieder an der Hand und führte die Gruppe in Schweigen gehüllt aus dem Wald.
„Du gehst das viel zu unbedacht an. Ich weiss eigentlich gar nicht wieso ich da mitmache.“, nörgelte Fayn bereits wieder. Die vier hatten mittlerweile die Stadt wieder erreicht und waren nun unterwegs zu der Stadthalle, um die neue Gilde zu melden.
„Weil ich dich sonst wieder verprügeln werde.“, knurrte Corvu. „Mach jetzt bloss keinen Rückzieher.“
Fayn hob abwehrend die Hände. „Ist ja schon gut.“
Doch nach einer Weile fügte er noch hinzu: „Gewalt ist nur ein Zeichen, dass man mit allen anderen Mitteln unterlegen ist.“
Die vier ungleichen Gefährten erreichten die weite Treppe aus weissem Marmor, die zum Verwaltungspalast führte. Sie gingen nebeneinander. Fayn mit seinem schmutzigen Kleidern und halbpatzig gemachten Haaren ging aussen links. Neben ihm lief, die Aufregung unterdrückend Corvu in seinem stellenweise zerfetzten Jäckchen und den unzähligen Kratzern, die rot auf seiner Haut leuchteten. Zu seiner Rechten traten Lilith's bare Füsse auf den glatten Marmor. Und auf der rechten Flanke schritt Oshu neben ihnen her, seine Schwertlanze hatte er auf den Rücken geschnallt. So erklommen die vier die breite Haupttreppe und zogen die Blicke aller Vorbeiziehenden auf sich.
Sie hatten ungefähr die halbe Treppe hinter sich, als sie von zwei Wachsoldaten angehalten wurden. „Halt, Waffen sind hier nicht erlaubt. Solange ihr welche bei euch tragt, wird der Zutritt verweigert.“, der Sprecher deutete auf Fayn's Schwert und Oshu's Naginata.
Es war Fayn der antwortete. „Wir wollen auf keinen Fall Ärger verursachen. Wir können gerne die Waffen abgeben.“
Bevor die Wache darauf eingehen konnte, donnerte eine Stimme zu ihnen herüber. „Meister Fayn!“
Die Stimme liess Corvu zusammenzucken.
Mit zwei Marktwachen im Schlepptau stiefelte Hato zu ihnen herüber.
Er trat vor Fayn und hielt ihm die Hand zum Schütteln hin. Fayn schlug ein. „Kommandant Hato.“, begrüsste er ihn freundlich. „Meister Fayn. Wie geht es Ihren Eltern?“
„Sie können sich nicht beschweren, danke der Nachfrage.“, antwortete Fayn höflich.
Hato nickte und stützte die Hände auf die Hüfte. Er musterte Fayn's Anhängsel. „Sieh an, der Schatten und Corvu. Wie haben Sie das denn geschafft, Meister Fayn?“
„Nun, eigentlich...“, wollte Fayn erklären, doch Corvu fiel ihm ins Wort.
„Der Schatten? Ihr gabt Oshu einen Spitznamen? Warum mir nicht?“, empörte er sich.
Hato lachte. „Du willst einen Spitznamen? Schön. Wie wär's mit Gefangener dreiundsechzig? Los, Jungs, legt sie in Ketten.“, befahl er seinen Männern. Corvu sprang sofort ein paar Stufen zurück und machte sich kampfbereit. Auch Oshu trat einen Schritt zurück und zog sein Naginata. Doch warteten sie beide mit dem Angreifen und verharrten in der Verteidigungsposition.
Lilith blieb an Ort und Stelle stehen und hatte den Kopf gesenkt. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Sie zitterte am ganzen Leib. Die drei Jungen konnten deutlich das Zittern in der Luft um das Mädchen herum spüren. Sie sahen wie sich Magie wie Gewitterwolken über ihrem Kopf zusammenzog. Die Nackenhaare der jungen Magier stellten sich zu Berge. Sie spürten ein leichtes Beben unter ihren Füssen, und die Luft vibrierte förmlich. Es fühlte sich an, als ob um sie herum Energie ihre Umgebung verliess und von Lilith angezogen wurde. Während Hatos Soldaten ahnungslos zu bleiben schienen, erstarrten die drei jungen Männer in Ehrfurcht und Staunen. Eine solche Macht hatte noch keiner von ihnen je verspürt. Oshu war der erste der reagierte. Er entspannte sich wieder und näherte sich vorsichtig Lilith. Beruhigend legte er ihr die Hand auf die Schulter. Nach kurzem Zögern entschied auch Corvu, dass das was gerade zu geschehen drohte, was auch immer es war, nicht geschehen sollte. Auch er rückte an Lilith's Seite und berührte beschwichtigend ihre andere Schulter. Er spürte wie ihr Körper bebte. Fayn bebachtete alles aufmerksam und erkannte auch Hato's irritierte Blicke. Er realisierte, dass dies seine Gelegenheit war, und reagierte schnell.
„Ich fürchte da liegt ein Missverständnis vor, Kommandant.“, meldete Fayn sich zu Wort. „Die beiden wollten sich eigentlich freiwillig stellen. Ich bin mir sicher, an der angespannten Lage sind nur ihre Reflexe schuld. Nicht wahr, Freunde?“, bei den letzten Worten wandte er sich an Oshu und Corvu. Oshu hielt seine Hände nach vorn um zu zeigen, dass er, ohne sich zu wehren, hinnahm in Ketten gelegt zu werden. Corvu zögerte. Was wurde da gespielt? Was hatte Fayn vor? Warum tut sein Bruder brav, was dieser Verräter ihnen vorhielt. Sah er, dass es Aussichtslos war? Klar, sie konnten es allemal mit diesen vier Wachsoldaten aufnehmen. Auch Hato war kein grosses Problem. Aber das Mädchen... Sie hatte sich zwar wieder ein wenig beruhigt, aber Corvu hatte das mulmige Gefühl, dass sich das schnell wieder ändern konnte. Und wer weiss, was dann geschah. Im Moment war es wohl wirklich besser zu machen, was Fayn verlangte. Hatte er das geplant? Hatte er dieses Mädchen her geschickt? Dieser verdammte Bastard!
Missmutig erhob auch Corvu seine Hände. Wenn er wieder raus kam, würde er ihn so was von... Das heute wäre im Vergleich dazu nur ein Aufwärmen gewesen.
Hato lachte auf. „Na das ist doch mal eine Überraschung, was soll sie denn dazu bewogen haben?“
Fayn trat zu Lilith und legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. „Das war sie. Sie hat ihnen gut zugeredet. Das Mädchen hat eine Zunge aus Silber.“, behauptete er. „Doch keine Sorge, wir erwarten keine Belohnung. Ein Danke genügt uns.“
Hato lächelte Lilith an. „Danke, meine Dame, Ihr habt uns wirklich geholfen. Heute habt Ihr eine gute Tat vollbracht. Ich denke, jeder Händler, der in Zukunft in Elysstain einkehrt und ungestört seine Geschäfte verrichten kann, wird Ihnen dankbar sein.“
„B...Bitte.“, nuschelte Lilith völlig perplex.
Fayn lachte. „Sie hat das gern getan. Nun entschuldigt uns aber bitte. Wir müssen wieder zurück.“
Hato nickte. „Natürlich, auf Wiedersehen, Meister Fayn. Bestellen Sie Ihren Eltern meine Grüsse.“
„Das werde ich machen. Passen Sie gut auf die zwei auf. Auf Wiedersehen.“
So verabschiedete sich Fayn und zog Lilith mit sich die Treppe hinab.
Hato beobachtete, wie seine Männer die beiden Diebe in Ketten legten. Dann folgte er ihnen als sie zum Kerker gebracht wurden.
Beim Vorbeigehen scheuchte Hato eine Krähe auf. Er blickte ihr nach, wie sie blitzschnell hoch über die Dächer aufstieg.
Die Krähe liess sich vom Wind tragen und glitt bis über die Stadtmauern. Dort traf sie einige andere ihrer Artgenossen. Aufgeregt krächzten und flatterten sie. Gemeinsam flatterten sie zum Wäldchen vor den Stadtmauern, wo sie hinabstürzten. Als die Krähe sich durch das Dickicht der Baumkronen gekämpft hatte, landete sie in dem weichen grauen Fell. Gierig pickte sie in das noch warme Fleisch. Den ersten Fetzen des Festmahls verschlingend blickte sie sich um. Dutzende Krähen weideten sich an den Leichen der beiden Wölfe, die reglos auf dem Blut gesprenkelten Waldboden lagen.