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Kapitel 3

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List und Vertrauen

„Was war das eben?“, zischte Fayn, während er Lilith am Arm gepackt durch die Menge schob und aufmerksam um sich blickte. Er befürchtete, dass ein anderer Magier Liliths Macht verspürt hatte und sie nun beobachtete.

„Dasselbe wollte ich dich fragen!“, entgegnete Lilith empört, „Warum hast du Oshu und Corvu ins Gefängnis geführt?“

„Ich wollte uns etwas Zeit verschaffen.“, erklärte Fayn resignierend. „Corvu, der Idiot, wollte alles viel zu schnell angehen. Wir müssen mit einem Plan beim Stadtrat auftreten. Wie habt ihr euch das vorgestellt? Dass der Rat unseren Vorschlag jubelnd annehmen wird? Nein, wir brechen mit einer alten Tradition, und davon wird niemand begeistert sein. Wir werden sie irgendwie überzeugen müssen. Und wenn das nicht klappt, müssen wir sie auf eine andere Weise dazu bringen uns zu unterstützen. Und dafür müssen wir uns erst eine Strategie zurecht legen. Nur so haben wir eine kleine Chance.“

Fayn fand eine Abzweigung in eine Seitengasse und bog hastig in sie hinein. Das Gässchen war menschenleer. Lediglich zwei aus Holz geschnitzte Bänke zeugten von Leben, das diese Ecke ab und zu erfüllen musste.

„Ausserdem bist da noch du.“, Fayn setzte Lilith unsanft auf eine der Bänke.

„Ich denke, du bist mir eine Erklärung schuldig. Jetzt wird dich Corvu nicht mehr aus der Schlinge ziehen, also rede, und sprich am besten die Wahrheit.“

Fayn setzte sich auf die Bank gegenüber und musterte Lilith abwartend.

„Was zur Hölle war das auf der Treppe?“, brach es dann aus ihm heraus.

Lilith schwieg weiterhin. Sie schien neben seinem Kopf an die Wand zu starren. Ihr Anblick war Fayn noch unheimlicher als zuvor.

Als sie nach einer Weile noch immer kein Wort hervorgebracht hatte, versuchte es Fayn sanfter. „Hör zu Lilith. Auch wenn er ein ziemlicher Dummkopf ist, so hatte Corvu in einem Punkt Recht. In einer Familie, damit meine ich unsere Gilde, sollte man sich vertrauen können. Doch sollten wir uns nicht vertrauen, weil wir eine Familie sind, sondern wir können eine Familie sein, weil wir uns vertrauen. Verstehst du? Und das, was soeben auf der Treppe passiert ist, sah alles andere als vertrauenserweckend aus.“

Noch immer gab Lilith keine Antwort. Sie starrte einfach weiterhin an die graue Wand. Fayn fand, dass sie fast ein wenig traurig aussah.

Er seufzte. „Na gut. Vergessen wir das für einen Moment. Beginnen wir am besten von vorn. Was lag mir noch gleich für eine Frage auf der Zunge? Ach ja, woher kennst du unsere Namen?“, wollte er wissen.

Nun schien wieder Leben in die junge Frau zu kommen. Sie zupfte abwesend an ihren Fingern herum. „Ich... Ich habe euch vielleicht, manchmal, selten, so was wie beobachtet.“, stammelte sie verlegen.

Fayn runzelte die Stirn und beugte sich vor. „Beobachtet? Weshalb?“, fragte er weiter.

Noch immer zupfte Lilith an ihren Fingern herum. „Ihr seid interessant.“, presste sie schliesslich heraus. „Du und Corvu. Eure Seelen sind unterschiedlich und doch passen sie zusammen. Sie sind verbunden. Du hast die Entwicklung seiner beeinflusst, und er die deiner. Wärt ihr euch damals nicht begegnet, wärt ihr heute nicht so, wie ihr seid. Ihr habt den jeweils anderen verändert. Mehrere Male. Auch wenn euch das noch nie aufgefallen ist.

Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen, es fiel mir sofort ins Auge, als ich euch das erste Mal gesehen habe. Und von diesem Moment an hatte ich die Hoffnung von euch lernen zu können.“

Fayn blickte das blinde Mädchen ungläubig an. Ihr Gerede warf mehr Fragen auf, als dass es beantwortete. Er wusste gar nicht, mit welcher Frage er anfangen sollte. Vielleicht fing er einmal mit dem Grundlegenden an. „Du kannst unsere Seelen sehen?“, fragte er erstaunt.

Das Mädchen fing an mit den Fingern der anderen Hand zu spielen. Sie nickte. „Ich kann vieles sehen, was ihr nicht könnt. Übrigens braucht ihr mich auch nicht immer überall hin zu führen. Ich komme durchaus alleine zurecht.“, meinte sie.

„Wie siehst du denn?“, fragte Fayn verwundert.

„Mit meinen Augen natürlich. Nur halt nicht so wie ihr.“

„Aber wie machst du das?“

Lilith zuckte mit den Schultern.

Fayn nahm zur Kenntnis, dass er bei diesem Thema in einer Sackgasse gelandet war. Er sann über eine andere Frage nach. Da kamen ihm ihre letzten Worte wieder in den Sinn.

„Was kann man denn eigentlich gross von mir und Corvu lernen? Wie man sich wie Idioten aufführt?“

Lilith schüttelte den Kopf. „Die Verbindung zwischen euren Seelen fasziniert mich. Ich muss lernen mich mit gewissen anderen Seelen so verbinden zu können. Ich denke, es kann mir in einer Beziehung zu anderen Geschöpfen behilflich sein.“, mehr wollte Lilith nicht sagen und sie verstummte wieder.

Fayn ahnte, dass er keine weiteren Auskünfte darüber erfahren würde, weshalb er auch keine weiteren Fragen verschwenden wollte.

„Du bist also eine Tiervertrags-Sammlerin?“, wechselte er das Thema.

„Ich weiss nicht mal was das ist.“, meinte sie achselzuckend.

„Bist du denn keinen Vertrag mit den Wölfen eingegangen? Leute, die das tun, nennt man Tiervertrags-Sammler. Sie reisen weit um die Welt, bis sie eines der versteckten Tiervölker finden. Mit denen gehen sie dann einen Vertrag ein, in dem das Tiervolk einwilligt, den Sammler zu beschützen, und vom Sammler werden dann andere Gegenleistungen erwartet. Zum Beispiel Stillschweigen über den Standort des Tiervolkes. Ich glaube, von da hat der ganze Kult seinen Ursprung.“, klärte sie Fayn auf.

„Das klingt interessant“, stellte Lilith fest. „Aber so einem Tiervolk bin ich noch nie begegnet.“

„Vielleicht deine Eltern und sie haben dich im Vertrag erwähnt, damit du beschützt wirst“, riet Fayn um einen Grund zu finden, warum ihr einfach so zwei ausgewachsene Wölfe gehorchen würden.

„Das denke ich nicht.“, murmelte sie dumpf vor sich hin. „Es gibt keinen Vertrag zwischen uns. Akki und Yingiz haben sich mir einfach aufgedrängt.“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

Fayn schenkte ihr einen skeptischen Blick. „Hat das etwas mit deiner Magie zu tun, die wir auf der Treppe beinahe erleben durften?“

Lilith wandte sich schweigend ab.

Schon wollte Fayn mit Nachdruck weiter darauf eingehen, doch da blickte sie ihm mit ihren milchigen Augen fest in die seinen. „Schau, Fayn. Du musst mir einfach vertrauen! Oshu und Corvu sind Diebe, trotzdem kannst du ihnen Vertrauen schenken. Warum nicht auch einer Streunerin? Ich will euch wirklich nichts Böses. In all den Jahren, in denen ich euch beobachtet habe, habe ich begonnen, euch zu mögen. Und auch wenn wir verschieden erscheinen, gibt es vieles, das wir teilen. Ich habe lächeln müssen, wenn ihr gelacht habt. Ich musste mir Tränen wegwischen, wenn ihr geweint habt. Wir sind schon länger eine Familie, als du glaubst. Oft haben wir uns einsam gefühlt. Ein jeder von uns. Ob wir nun in der Lichtung im Wald gesessen haben und an die Vergangenheit gedacht haben um unsere Trauer in Wut umzuwandeln, damit wir wieder weiter üben konnten. Ob wir am Rande des Kanals ins Wasser starrten und zusahen, wie unsere Tränen lustige Ringe auf die Wasseroberfläche zauberten. Ob wir auf einem der Hügel ausserhalb der Stadt sassen, die Lichter anstarrten und davon träumten in einem der Häuser am Tisch zu sitzen und auf das Abendbrot von Mutter zu warten. Oder ob wir auf dem Balkon standen und durch den Schleier der Tränen den Sternenhimmel beobachteten und dabei an unsere verstorbenen Freunde dachten. Wir alle fühlten uns alleine, obwohl wir es gar nicht waren. Wir hatten uns. Schon lange. Doch ihr wolltet es einfach nicht sehen. Endlich sind wir so weit. Endlich habe ich Menschen gefunden, die meine Schmerzen mehr oder weniger verstehen. Menschen, die wie eine Familie zu mir sein könnten.“

Verblüfft starrte Fayn die seltsame Frau an. Auf dem Balkon den Verstorbenen nachtrauern? Sie hatte ihn tatsächlich beobachtet! Wie konnte sie? Seine schwächsten Stunden hatte sie gesehen. Er schauderte. Hatte sie jeden seiner Schritte belauert? Hatte sie alles gesehen, was er je getan hatte? Na ja, das war vorwiegend Faulenzen und Gartenarbeit. Corvu und Oshu hatten da bestimmt viel spannendere Unterhaltung zu bieten gehabt.

Die blinde Beobachterin! Fayn mochte die Ironie darin.

Ausserdem, sie hatte sie ziemlich lange schon beobachtet. Über Jahre hinweg. Wenn sie ihnen etwas tun wollte, dann hätte sie das längst tun können.

Fayn seufzte. „Fein, Lilith. Trotzdem musst du mein Vertrauen erst noch gewinnen. Doch sehen wir erst einmal, wie wir weiter vorgehen sollten.

Ich denke, als erstes sollten wir uns mit unseren Freunden im Gefängnis in Verbindung setzen. Ansonsten stellt Corvu noch irgendwelche Dummheiten an.“

„Das kann ich machen!“, meldete sich Lilith eifrig.

„Wirklich?“, fragte Fayn und zog eine Augenbraue hoch. „Die Wachen dürfen nichts bemerken.“, mahnte er. „Hast du denn schon einen Plan, wie du das bewerkstelligen willst?“

Lilith musste nur kurz überlegen, dann nickte sie. „Alles, was ich brauche ist nur ein ruhiges Plätzchen in der Nähe des Schuldturms.“

„Wie nah?“, wollte Fayn wissen.

„Keine Sorge, weit genug um nicht aufzufallen. Gib mir bloss eine Nachricht, die ich überbringen soll, und überlass den Rest ruhig mir.“, redete sie ihm zu.

„Nun gut. Ich werde derweil zuhause in unserer Bibliothek nach einigen Informationen suchen, die uns nützlich sein können bei unserem Vorsprechen vor dem Rat. Vor allem über die rechtlichen Dinge sollten wir gut informiert sein.

Sobald du die Botschaft überbracht hast, treffen wir uns wieder hier. Verstanden?“

Lilith nickte.

„Gut, dann überlegen wir uns eine Botschaft.“

Corvu sass auf dem kühlen Boden und war in seine Gedanken versunken. Lustig, wie das Leben so spielen konnte. Oshu hatte einmal gesagt, Corvu würde entweder als grosser Gildenmeister enden, oder aber in einem Gefängnis verelenden. Vor nur einer Stunde hatte es noch mächtig nach der ersten Möglichkeit ausgesehen, doch nun roch es ziemlich stark nach Gefängnis.

Natürlich hätte er sich leicht von den Fesseln losreissen und die Tür weg schmettern können. Die Wachen hätte er blitzschnell überrumpelt, und schon wäre er wieder frei gewesen. Doch der Traum eine Gilde zu gründen wäre dann vollends aus gewesen. Jetzt war keine rohe Gewalt gefragt, sondern Kopfarbeit. Corvu schnaubte belustigt. Das war ja eine ganz neue Situation in seinem Leben.

Er versuchte seine Sitzposition zu wechseln, doch die kurzen Ketten, die seine Handgelenke mit dem Boden verbanden und ihm nur eine beschränkte Bewegungsfreiheit liessen, erschwerten sein Vorhaben beträchtlich. Ans Aufstehen war gar nicht zu denken. Endlich konnte er sich im Schneidersitz hinsetzen. Erst mal sollte er über seine Lage ins Klare kommen. Oshu und er sitzen beide im Kerker. Fayn hatte sie kaltblütig hinein geredet. Und sie konnten sich nicht wehren, da sie befürchten mussten, die tickende Zeitbombe, also Lilith, würde sie ansonsten in den Tod reissen. Die kleine Frau dampfte wie ein Vulkan kurz vor der Eruption. Corvu hatte eine derartige Ansammlung von Macht noch nie gesehen. Er konnte nur mutmassen, was passiert, wenn sie explodiert. Aber er war sich sicher, dass es nichts Gutes sein konnte. Die Kleine war also gefährlicher, als er zunächst angenommen hatte. Offenbar war er wirklich zu gedankenlos an sie heran gegangen und Fayn hatte Recht gehabt.

Fayn. Hatte er das alles geplant? War Lilith eine Bekannte von ihm? Wollte er Oshu und ihn tatsächlich einfach nur ins Gefängnis bringen, und nutzte Lilith's furchteinflössende Magie um ihnen zu drohen? Nein, das konnte Corvu nicht glauben. Sie beide hatten zwar ihre Unstimmigkeiten, aber soweit würde Fayn nicht gehen.

Oder doch? Immerhin hatte Fayn ihn in dem aufgezwungenen Traum ermordet.

Tanz der Rosenblätter. Pah!

Nun gut, weiter zu der aktuellen Lage. Eine fremde, offenbar labile Frau mit unbekannten Kräften und ein hinterlistiger Schönling und Nichtsnutz. Das war ihre Allianz auf der anderen Seite der Gitterstäbe. Noch dazu mochte Fayn seine neue Freundin nicht wirklich leiden, sollte er die Wahrheit gesagt haben.

Jedenfalls konnte Corvu nun wirklich nicht auf Hilfe von aussen hoffen. Er musste sich also auf das Turminnere konzentrieren. Oshu und er, was konnten sie anrichten?

Oshu war ein Meisterdieb, bekannt dafür, überall unbemerkt hinein oder heraus zu kommen. Doch dürfte er Schwierigkeiten damit haben, sich von den Fesseln zu befreien. Corvu fiel nichts ein, wie der Schatten dies bewerkstelligen könnte. Der Schatten. Pff, warum hatte er keinen tollen Spitznamen? Wie zum Beispiel... zum Beispiel...

Corvu suchte angestrengt nach einem passenden Übernamen. „Die Hand.“, sprach er laut aus, um den Klang des Wortes zu hören. Nein, das klang nicht richtig. Hmm. „Die Geisterhand.“, versuchte er es weiter. Auch nicht. „Der Geist?“, nein, da fehlte das gewisse Etwas. Er überlegte weiter. Zu seiner Fähigkeit konnte er nichts Zufriedenstellendes finden. Vielleicht wenn er wo anders suchen würde? Mal sehen, was war ihm denn wichtig? Freiheit! „Der Befreier“, zu offensichtlich. Was würde Freiheit implizieren, aber nicht gleich verraten?

Na klar, ein Vogel! Vögel sind die freisten Geschöpfe, die es überhaupt geben konnte. Mit ihren Schwingen können sie überall hinfliegen, wohin der Wind sie tragen konnte.

Aber natürlich konnte es nicht einfach irgendeine Vogelart sein. Welcher Vogel würde zu ihm passen? „Der Spatz.“, das wäre lächerlich. „Der Adler.“, majestätisch, schön und edel. Das passte gar nicht zu ihm. Da erschien ihm ein Vogel vor dem inneren Auge. Das war es. Er war geheimnisvoll, er war der Vorbote der Düsternis, er war perfekt. „Der Rabe.“, rief Corvu schwer betont in die Leere. „Corvu, der Rabe.“

Ja, das klang nach einem Namen, der eines legendären Gildenmeisters würdig war. Dieser Name wird weit über den Kontinent hinaus bekannt werden. Und die Rotmäntel würden ihn fürchten. „Corvu, der Rabe!“, sie werden erzittern und wimmern vor Furcht. Sie werden versuchen ihn aufzuhalten, aber er würde sie zerschmettern. Einen nach dem anderen. Und dann würde er...“

Ein leises Zischen liess ihn aus seinen zerstörerischen Träumen hochfahren. „Hey, Kleiner.“,

Verwundert blickte er sich so gut es seine Fesseln zuliessen um. Doch er konnte in der Zelle niemanden erkennen, der zu ihm gesprochen hätte.

„Vor deiner Nase, Dummkopf!“

Erstaunt blickte er vor sich auf den Boden. Da sass eine fette, braune Ratte auf ihrem Hinterteil und blickt ihn an. Corvu runzelte die Stirn. Hatte die Ratte gerade mit ihm gesprochen? War er denn schon der Einsamkeit erlegen und war verrückt geworden? Er war doch nur ungefähr eine Stunde hier. Oder schon seit Tagen?

„Mach dir nichts vor“, mahnte ihn die Ratte. „Du bist seit 'ner Stunde hier drin. Verrückt zu werden kann man sich erst ab ein, zwei Jahren erlauben. Glaube mir, ich muss es wissen.“,

Aus grossen Augen starrte Corvu die Ratte an. Die Stimme kam tatsächlich von dem fetten Fellknäuel.

„Was passiert hier gerade?“, murmelte Corvu verwundert vor sich hin.

Nun begann die Ratte vor ihm auf und ab zu rennen.

„Junge, Junge, der Kleine ist ganz schön durcheinander. Haben dir wohl Quok verabreicht, was? Wohl ins Essen gemischt.“

Corvu folgte mit den Augen dem auf und ab huschenden Nagetier. „Die haben mir noch gar kein Essen gegeben. Und... Was ist denn dieses Quok überhaupt?“

Die Ratte blieb nun wieder vor ihm stehen. „Was ist Quok? Oje, die Welt ist wirklich verkommen seit dem Krieg.“, die Ratte schüttelte ihr Köpfchen.

„Was für 'nen Krieg?“, wollte Corvu wissen. Er verstand nun überhaupt nichts mehr.

Die Ratte kraxelte auf sein Knie und huschte über seine Seite auf seine rechte Schulter. Corvu erschauerte bei den Berührungen der tapsigen Füsse.

„Spielt keine Rolle“, piepste das Fellknäuel in sein Ohr und wechselte auf die andere Schulter. „Ich soll dir eigentlich nur eine Nachricht überbringen.“

„Eine Nachricht?“, vergewisserte sich Corvu stirnrunzelnd. „Von wem?“

Die Ratte hüpfte auf seinen Kopf. „Lass das!“, befahl Corvu.

Die Ratte huschte wiederüber seinen Körper hinunter und hockte sich wieder vor ihn hin.

„Lass was?“, fragte sie unschuldig.

„Das 'rumgerenne. Du machst mich ganz zappelig!“, beschwerte sich Corvu.

Die Ratte wandte sich ab. „Ihr Menschen. Immer müsst ihr irgendwelche Verbote aufstellen.“

Die Ratte trabte zur Zellentür. „Und wenn sich jemand mal nicht daran hält, dreht ihr gleich durch. Lustig, wie ihr euch selbst die Freiheit wegnehmt. Uns wurde sie wenigstens noch gestohlen.“

Sie beschnupperte das morsche Holz der Tür.

Corvu verstand kein Wort von dem, was das Tierchen vor sich her plapperte.

„Um wieder zum Thema zu kommen.“, versuchte er das Gespräch zurück zu lenken. „Wer schickt mir denn nun welche Nachricht?“

Die Ratte unternahm einen Versuch an der Tür hochzuklettern, plumpste jedoch gleich wieder zu Boden. „Mist. Verdammter Fettwanst.“, ärgerte sie sich und brauchte einen Moment um sich vom Rücken wieder hochzurappeln. Dann rannte sie wieder zurück zum Gefangenen. „Lilith schickt mich. Die Botschaft kommt eigentlich von diesem feinen Kerl, Fayn oder so, glaub' ich. Hast dir ja seltsame Vögel als Freunde ausgesucht.“, die Ratte legte ihren Kopf schief. „Obwohl. Sie scheinen zu dir zu passen.“, zog er Corvu auf.

Doch Corvu ignorierte die letzten Worte. „Von Lilith! Also bist du...“

„Ich bin Akki, genau. Schlauer Junge. Schlauer als ich gedacht habe.“, mit den Worten verschwand die Ratte ausserhalb seines Blickfelds.

Corvu stutzte. „Das war nicht worauf ich hinaus wollte.“, gestand er. „Aber warst du nicht einer der Wölfe auf der Lichtung vorhin?“

„Ja“, ertönte es hinter ihm. „Das Körperwandeln ist aufwendig und kräftezehrend, aber mir macht es manchmal Spass. Anders als meinem Bruder. Der kann das nämlich überhaupt nicht ab.“, meinte Akki und tauchte auf der anderen Seite von Corvu wieder auf.

„Also, seid ihr gestaltwandlerische Wölfe.“, schlussfolgerte Corvu staunend.

„Oder gestaltwandlerische Ratten. Wer weiss noch, welcher Körper der richtige ist, wenn er dauernd in anderen steckt. Also eigentlich weiss ich noch genau, welcher Körper der richtige war. Doch den haben wir vor Ewigkeiten verloren. Nun können wir uns die Körper nur noch von anderen ausleihen. Aber sie sind alle so schwach. Noch keiner konnte uns aushalten. Nie können sie das. Unsere echten Körper allerdings... Hach, wie ich meinen vermisse.“

Die Ratte setzte sich hin und seufzte. Da stach ihr plötzlich ein Geruch in die Nase.

Akki rannte wieder in eine Ecke und beschnupperte den Boden.

„Äh, also um wieder auf die Botschaft zurück zu kommen“, versuchte Corvu das Gespräch wieder aufzunehmen. Er verstand kein Wort von all dem was Akki vor sich hin plapperte.

Die Ratte sprintete in eine andere Ecke. „Ich hab' mich noch nicht entschieden, ob ich sie dir mitteilen will.“, bemerkte sie trocken.

„Du hast dich noch nicht entschieden? Was soll das denn wieder heissen?“

„Oh, hier liegen noch Knochen. Bitte seid menschlich, bitte seid menschlich, bitte seid menschlich.“ Die Ratte knabberte an den Überresten, die in einer Ecke auf einem Haufen lagen. „Hm, leider nur Huhn.“, bemerkte Akki enttäuscht. „Muss wohl mal ein Gefangener gesammelt haben. Ach ja, und um auf deine Frage zurück zu kommen. Ich mag Freiheit, weisst du Jungchen, wohl genauso wie Der Rabe.“, Akki kicherte. „Leider, bin ich im Moment an zwei andere gebunden, da muss ich die Freiheit halt aufs äusserste auskosten, sobald es sich einmal ergibt.“, erklärte sie.

„Also wirst du mir die Nachricht nicht verraten?“, stellte Corvu fest, während er der Ratte angewidert bei ihrem Festmahl zuschaute. Endlich sass der kleine Störenfried zumindest still. Sein ewiges Gerenne machte Corvu ganz zappelig, während er nicht einmal aufstehen konnte.

„Das habe ich nicht gesagt“, schmatzte die Ratte zwischen zwei Bissen. „Würde ich immer das Gegenteil von dem machen, was die Leute von mir verlangten, wäre ich genau so wenig frei wie andersrum. Nein, das System der Freiheit ist komplizierter. Es ist unvorhersehbar. Es ist chaotisch.“

„Du magst Chaos? Ich bin Experte darin Chaos zu verursachen. Allerdings müsste ich dafür erst hier raus kommen. Und ich bin mir sicher, wenn ich Fayns Pläne erfahre, wird das schneller gehen.“, versuchte Corvu die Ratte zu überreden.

Akki hopste wieder zu ihm zurück. „Das ist genau der Grund, warum ich erwäge es nicht zu tun. Dieser Fayn will nämlich, dass ihr unauffällig ausbrecht. Du solltest also einfach nichts tun und abwarten bis Oshu dich befreien wird. Dabei wäre es doch viel lustiger auf deine Weise auszubrechen.“, erzählte ihm die Ratte.

Eine Weile herrschte Stille zwischen den Beiden, während sich Mensch und Ratte blinzelnd anstarrten und langsam begriffen, was Akki da gerade gesagt hatte.

„Hoppla. Da ist es mir doch einfach so 'rausgerutscht. Egal. Ich glaube ich hätte mich sowieso dafür entschieden.“, bemerkte die Ratte dann und verschwand wieder hinter seinem Rücken. Sie kehrte aber gleich wieder zurück. „Also, hast du verstanden? Leise ausbrechen. Also nichts tun, und einfach abwarten, heisst das für dich. Die Wachen dürfen bis zum Morgenessen nicht bemerken, dass ihr verschwunden seid.“, erklärte er Corvu noch einmal um sicher zu gehen, dass die Nachricht angekommen ist. „Das ist alles?“, fragte Corvu bestürzt, ehe die Ratte wieder aus seinem Blickfeld verschwinden konnte. „Darauf bin ich schon längst von selber gekommen.“

Abermals legte die Ratte ihr Köpfchen schief. „Ja, ich glaube fast, die da draussen halten nicht so grosse Stücke auf dich. Laut ihnen muss ich nur dir die Nachricht überbringen, da sie annahmen, dass dein anderer Freund schon weiss, was zu tun ist. Tut mir irgendwie Leid für dich.

Ich muss jetzt gehen. Meine Freiheit neigt sich dem Ende zu. Ach und noch was. Sobald ihr frei seid, sollt ihr nach Hause gehen, und dort warten, bis die anderen euch aufsuchen. Auf Wiedersehen, Rabe.“

Eine Weile hörte Corvu das Kichern hinter sich leiser werden, dann war es wieder Still in seiner tristen Zelle.

Na toll. Fayn, dieser Idiot. Er hatte keine Ahnung von den Fähigkeiten Oshus. Nicht einmal von seinen. Und da Oshu keine Nachricht erhalten hat, wird er einfach geduldig warten und darauf vertrauen, dass Fayn sie schon irgendwie 'raushauen wird. Er konnte sich sowieso nicht von den Ketten befreien. Wieso sollte er also versuchen irgendwas zu unternehmen?

Corvu seufzte. Es blieb also wieder einmal alles an ihm hängen.

Er umfasste mit beiden Händen die Kette, die ihn an den Boden fesselte. Er konzentrierte sich auf die Oberfläche der einzelnen Ringe. Corvu's Fähigkeiten bestanden nicht nur aus roher Gewalt. Er konnte sie auch leise und präzise einsetzen. Allerdings war er darin noch nicht wirklich gut. Er musste es aber versuchen. Er belud seine Gedanken mit Energie und liess sie durch seine Hände auf die Kette fliessen. Sorgfältig tastete er mit seinen Gedanken die Kette nach feinen Rissen ab. Da! Er atmete tief ein und aus. Seine Energie verteilte sich in den Spalten und Rissen. Mit einem sanften Stoss zerbröselte dann die Kette in seiner Hand.

Erleichtert richtete Corvu sich auf und streckte seine müden Glieder. Das wäre geschafft.

Die Dämmerung war bereits angebrochen, als Fayn vor dem Tor seines Zuhauses stand. Er seufzte wehmütig. Nie hatte er sich träumen lassen, einmal hier einbrechen zu müssen. Er lief den Zaun entlang, wobei er mit seiner Hand über die Gitterstäbe strich. Während Oshu und Corvu eingesperrt waren, war er ausgesperrt. Stunden hatte er in den Gärten verbracht. Das Gärtnern hatte er natürlich von seinem Vater gelernt. Doch die wichtigsten Tricks und Weisheiten wurden ihm von seinem Grossvater weitergegeben. Über die Jahre schlug Fayn immer mehr nach seinem Grossvater und verbrachte die Zeit im Garten lieber damit über Dinge nachzudenken, als Kräuter zu pflanzen. Der Biatali-Klan war seit Ewigkeiten einer der geachtetsten Klans im ganzen Kontinent. Auch wenn er zu den jüngeren Klans gehörte Der Sage nach entstammt ihre Familie von einem Gärtner, der dem ersten Kaiser die „Weiten Gärten“, angelegt haben soll. Also entstand ihr Klan erst nach der grossen Zeit der Klans. Tatsächlich besass jedes Mitglied der Biatali-Familie einen grünen Daumen und die Geduld, die gute Gärtner ausmacht. So dienten die Biatali über Generationen hinweg den Kaisern als Gärtnern, bis der letzte schliesslich durch den Magierrat ersetzt worden war.

Die Biatali, nun keine hochrangigen kaiserlichen Bediensteten mehr, konnten ihren Stand trotzdem halten. Viele verliessen die Hauptstadt und der Klan verstreute sich in allen möglichen Städte. Dort übernahmen sie die Aufgabe, den Städten ein schöneres Antlitz zu verleihen. Durch ihre mehr als zufriedenstellende Arbeit und ihre Gabe neben der Gartenarbeit auch als vertrauenswürdige Berater zu fungieren, waren die Biatali überall willkommen und in den Städten äusserst beliebt.

Viele Mitglieder hatten nebst dem grünen Daumen auch ein wenig magisches Talent, das sie im Garten benutzen können. Doch die Fähigkeiten Fayns waren aussergewöhnlich mächtig. Weshalb sein Vater immer grosse Erwartungen an ihn gestellt hatte.

Als er aber dann mit ansehen musste, wie sein Sohn immer müssiger wurde und lieber in der Hängematte irgendwelchen Ideen auf den Grund ging, anstatt in den Beeten zu jäten, war er äusserst enttäuscht. Er hatte immer die Hoffnung gehegt, dass er Fayn zu mehr Arbeit motivieren konnte, doch seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Schlussendlich platzte dem alten Herrn der Kragen und er stellte Fayn vor die Tür.

Endlich erreichte Fayn die Stelle, die er suchte. Auf der anderen Seite des Zauns, jedoch zum Anfassen nah, stand ein Baum.

Fayn zögerte. Der Rauswurf hatte ihn mehr mitgenommen als er zuzugeben bereit war. Natürlich gab es oft Streit mit seinem Vater. Fayn wollte nie einsehen, wieso sein Vater so zornig war. Erst als er in der Lichtung über Vaters Beweggründe nachgedacht hatte, wurde ihm bewusst, dass es nicht wirklich Zorn war, sondern bittere Enttäuschung. Und er war zu dumm gewesen um es zu erkennen.

„Hey, Ata!“, flüsterte er über den Zaun.

„Hmmm?“, ertönte ein tiefes, verschlafenes Brummen von der anderen Seite.

„Ich bin es, Fayn. Hilfst du mir kurz herüber?“, bat Fayn.

„Ach du bist's, Junge.“, erkannte die alte Stimme langsam. „Hmmm, deine nächtlichen Streifzüge sind doch schon eine Weile her. Was treibt dich denn an diesem schönen Abend dazu, nicht den Haupteingang benutzen zu wollen?“

„Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir ein andermal.“, versuchte Fayn einer Erklärung aus dem Weg zu gehen.

Nun drehte sich der Baum, so gut er konnte. Seine Äste knarzten und sein Laub raschelte.

„Ist es... Ist es eine Frau?“, fragte der alte Baum neugierig.

Fayn seufzte. „Nein, es handelt sich dieses Mal nicht um eine Frau.“, erklärte er.

Knarzend drehte sich der Baum wieder zurück. „Schade.“, brummte er. „Erinnerst du dich an die Geschichten, die du mir oft vorgelesen hattest? Die mit der Liebe haben mir immer am besten gefallen.“, das Holz des Baumes stöhnte.

„Ihr Menschen habt immer so gute Geschichten. Schade nur, dass ihr sie auf Leichen schreiben müsst, um sie euch zu erhalten.“

Fayn konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er hatte Ata einmal erklärt, woraus Bücher gemacht sind. Seitdem verabscheute der Baum jegliche Art von Papier und Fayn hatte ihm viele Geschichten auswendig erzählen müssen, oder er hatte einfach welche erfunden, um seinen Freund zu unterhalten.

„Ja, du bist eben ein alter Romantiker.“, stellte Fayn belustigt fest. „Nun hilf mir rüber, bitte.“

Endlich neigte der Baum sein Haupt, so dass ein Ast über den Zaun hing und Fayn ihn erreichen konnte. Mit festem Griff klammerte er sich daran und liess sich hinüber heben.

„Was hast du denn dann vor?“, fragte Ata, während er Fayn wie ein Kran über den Zaun hievte.

„Das willst du gar nicht wissen.“, wich Fayn aus als er vorsichtig abgesetzt wurde.

„Du gehst doch nicht etwa in die... in die Bibliothek?“, fragte der Baum erschrocken.

„Genau das habe ich vor.“, verkündete Fayn.

Der alte Baum erschauderte. Sein Laub raschelte verdächtig in dem windstillen Abend.

„Nein! Ein wahrhaft grauenvoller Ort!“, brummte Ata. „Ein Hort des Schreckens. Nie würde ich freiwillig diesen Ort aufsuchen. Und wenn mir die Wahl gegeben würde zwischen weiterhin hier Wurzeln zu schlagen, oder herumlaufen zu können, mit der Bedingung die Bibliothek zu besuchen. Ich würde weiterhin mein langweiliges Leben an genau dieser Stelle fristen.

Viel Glück, kleiner, mutiger Fayn. Lass dich von den Geistern nicht fangen.“, zischte ihm der Baum hinterher, als Fayn sich schon von ihm entfernte. Ata schaffte es immer wieder Fayn ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Ata war der erste Baum, der mit ihm zu sprechen angefangen hatte. Beide, der Baum und Fayn waren gleichermassen überrascht, als sie entdeckt hatten, dass sie miteinander kommunizieren konnten. Der Baum war hoch erfreut, da ihm seit etlichen Jahren langweilig war. Er bat Fayn immer wieder ihm Geschichten zu erzählen. Stunden hatte er damit verbracht vor dem Baum zu sitzen und ihn zu unterhalten. Er war damals noch jung, so dachten seine Eltern einfach, er würde mit einem imaginären Freund spielen.

Fayn erzählte ihm auch von vielen Dingen, die der Baum noch nie in seinem Leben gesehen hatte, und wahrscheinlich auch nie sehen wird. Der Baum fantasierte über diese Orte und machte sich seine eigene Vorstellungen davon, welche nicht immer der Wahrheit entsprachen.

So war die Bibliothek zum Beispiel kein Hort des Schreckens. Doch wenn Fayn sich in die Haut, oder besser gesagt in die Rinde seines Freundes versetzte und darüber nachdachte, konnte er ihm die Schreckensvorstellung nicht verübeln.

In Wirklichkeit war die Bibliothek der Biatali eine grosse Halle, die gleichzeitig den Eingang zu den Gärten bildete. Ihre Regalwände waren vollgestopft mit Büchern über Pflanzen und Gärtnerei, aber auch andere Bücher über die verschiedensten Themen waren dort zu finden.

War man erst einmal über dem Zaun, war es ein Einfaches in die Bibliothek zu gelangen, da das Tor zu den Gärten immer geöffnet war. Fayn musste lediglich ein paar bunte Blumenbeete und Kräutergärten, einen kleinen Sitzplatz mit plätschernden Brunnen und einen der beiden Rosengärten, Fayns früherer Lieblingsplatz, durchqueren und schon befand er sich in der Halle, inmitten all der Bücher.

Darauf bedacht möglichst keinen Laut von sich zu geben, schritt Fayn die Regale ab und hielt Ausschau nach einem bestimmten Buch. Seit er Lilith das erste Mal gesehen hatte, musste er daran denken. Er hatte es früher oft gelesen, weil ihn die Geschichten darin faszinierten. Doch das war lange her, und er konnte sich nicht mehr richtig daran erinnern.

Die magischen Lampen, die die Halle nachts mit spärlichem Licht erleuchteten, reichten gerade so, dass er noch knapp die Aufschrift auf den Buchrücken entziffern konnte.

Mist, wo konnte dieses verdammte Buch nur sein? Er wusste, es war hier irgendwo. Wo sollte es sonst sein? Allerdings konnte er nicht ewig hier herumlungern. Vielleicht sollte er zuerst nach dem anderen Buch suchen.

„Gesetze und Traditionen des Kontinents.“

Fayn bückte sich um die Einbände in der Abteilung „Rechtliche Fragen“ unter die Lupe zu nehmen. Mit dem Zeigefinger fuhr er über die teilweise verstaubten Buchrücken. Da war es!

Fayn war sich sicher, dass er in diesem dicken Schmöker alles finden würde, wonach er suchte. Aber er würde es später lesen, wenn er wieder in Sicherheit war, und nicht in Gefahr lief ertappt zu werden. Er steckte das schwere Buch in seinen Beutel.

Nun brauchte er nur noch das andere Buch. Wie sah es denn nochmal aus? Es hatte einen blauen Einband. Oder einen grünen? Mist. In welcher Abteilung konnte ein solches Buch denn eingereiht sein? „Geschichte“, würde er tippen. Mal sehen.

Er hatte einen fürchterlichen Verdacht, was Lilith anging. Doch wollte er niemanden einfach so beschuldigen, er brauchte schon irgendwelche Beweise, Gewissheit.

Da war „Der Aufstieg Ga'ards“, „Ga'ards Bestien“, „Die Gründung des Ordens und der Untergang Ga'ards“, das war alles viel zu neu, das Buch, welches er suchte, spielte viel früher in der Geschichte. „Das Kaiserreich und sein Zerfall“, „Die dreizehn Kaiser und Kaiserinnen“, „Die Klans und ihr Einfluss“, Nein, es musste noch älter sein. Hier! Endlich hatte er es gefunden. „Die Chroniken des Krieges. Die Legende der Nahi und die Entstehungsgeschichte der Menschen.“

Mist, das Buch war viel zu gross für seinen Beutel. Er musste es wohl einfach so transportieren. Doch er musste vorsichtig sein, er wollte es nicht beschädigen. Vielleicht kann er den Abschnitt, der ihm vorschwebte, hier lesen.

„Fayn?“

Ertappt wirbelte Fayn herum.

Hinter ihm stand plötzlich eine junge Frau in ihrem Schlafrock. Aus schläfrigen Augen blickte sie ihn an. Fayn war so sehr in die Suche nach diesem Buch vertieft gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sich seine Schwester angeschlichen hatte.

„Lysa! Hallo, Schwesterchen. Was suchst du denn hier?“, versuchte Fayn seine Überraschung zu überspielen.

„Nun, ich wohne hier. Was man von dir ja nicht mehr behaupten kann.“, entgegnete sie giftig. „Oder hast du etwa schon Arbeit gefunden?“

„Na ja, nicht direkt, aber, ...“, druckste Fayn herum.

„Also bist du hier eingebrochen? Wow, nicht schlecht Kleiner. Das hätte ich dir nicht zugetraut.

Übrigens, Vater ist noch wach. Soll ich ihm von deiner Meisterleistung erzählen? Er wird bestimmt mächtig stolz auf dich sein.“, fragte sie spöttelnd und wandte sich schon zum Gehen um.

„Nein, warte!“, zischte Fayn hastig.

Lysa blieb stehen und grinste hämisch. „Warum sollte ich?“, forderte sie ihn heraus.

„Ich bin ja schon wieder weg.“, antwortete Fayn genervt. Mist, warum musste diese blöde Kuh um diese Zeit noch in die Bibliothek kommen?

„Ich benötige nur ein paar wichtige Informationen. Wieso gehst du also nicht wieder rein und tust so als wäre nichts geschehen?“, murrte er.

Fayn schielte nervös auf den dicken Schmöcker. Er wollte nicht, dass sie sieht, welches Buch er durchblättern wird.

„Das würde ich wirklich liebend gern tun, Schätzchen. Aber leider kann ich nicht. Die Nachtlilie, schon vergessen? Der Grund warum ich am Nachmittag schlafen gehe und in der Nacht arbeite? Weil irgendjemand muss ja arbeiten, nicht wahr?“, versetzte sie scharf.

„Und wenn ich dich wäre, würde ich jetzt wirklich schleunigst verschwinden, Brüderchen.“

Die Nachtlilie! Daran hatte er nicht mehr gedacht. Mist. Er wäre natürlicher um einiges vorsichtiger gewesen, hätte er gewusst, dass seine Schwester um diese Zeit noch im Garten herum spukte. Fayn warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das Buch. Er seufzte. Sie hatte Recht. Er hatte jetzt keine Zeit mit seinem Vater zu streiten. Und schon gar nicht mit ihr.

Immerhin hatte er, was er brauchte um Corvu und Oshu aus dem Gefängnis raus pauken zu können. Das Geheimnis um Lilith musste wohl noch warten.

„Na gut, du hast gewonnen, ich geh ja schon.“, gestand Fayn seine Niederlage ein.

„Viel Spass auf der Arbeitssuche“, verabschiedete sich seine Schwester mit gespielter Freundlichkeit.

„Mhm“, machte Fayn nur. „Morgen Abend werde ich wieder zuhause schlafen.“, behauptete er und trat aus der Halle hinaus in die Nacht.

Na, das lief ja schon mal nicht so wie geplant. Hoffentlich verläuft der Rest seines Planes besser.

„Ata!“, flüsterte er wieder, als er sich dem Baum näherte.

„Oh, der tapfere Recke Fayn ist von der Bibliothek zurückgekehrt! Und er ist gesund und munter. Er hat es wieder einmal geschafft. Auf welche Gefahren bist du denn diesmal gestossen?“, fragte der alte Baum doch ein wenig neugierig.

„Eine Furie.“, murmelte Fayn.

„Hört, hört. Auf eine Furie ist der Recke getroffen. Und er hat es überlebt, welch ein Held, welch eine Legende!“

Der Baum hievte Fayn wieder über den Zaun.

„Geister, Furien, welch schreckliche Gestalten verbirgt die Bibliothek denn noch alles. Es ist ein wahrlich schrecklicher Ort!“, hörte Fayn Ata hinter sich jammern, als er sein Zuhause wieder hinter sich liess.

Lilith erwartete Fayn bereits, als er in die dunkle Gasse zurückkehrte. Sie sass auf derselben Bank wie zuvor und liess ihre Beine baumeln.

„Endlich.“, begrüsste sie ihn, ohne sich von der Mauer vor ihr abzuwenden. „Hat ziemlich lange gedauert.“

„Nörgel nicht.“, erwiderte Fayn. „Ich wohne halt weit von hier.“

„Wohnen?“, stichelte Lilith.

Fayn stöhnte. „Nicht du auch noch. Hast du die Nachricht überbringen können?“

Lilith nickte. „Wortgenau. Es war ein Kinderspiel.“

„Schön.“, murmelte Fayn. Und packte das entwendete Buch aus seinem Beutel.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Lilith neugierig.

Fayn blätterte in dem Schmöker. „Leg dich schlafen. Heute können wir nichts mehr tun. Ich werde noch ein wenig lesen, und mich dann auch hinlegen. Gute Nacht.“

„Na, wenn du meinst. Wenn du aber Hilfe brauchst, weck' mich, ja? Gute Nacht.“

Dann machte sich Lilith auf der Bank bequem und versuchte einzuschlafen.

Fayn blieb sitzen und versuchte im Mondschein die Worte auf den Seiten zu entziffern.

Corvu tastete die Wände seiner Zelle ab. Da war er nun, befreit vom kalten Boden. Endlich vermochte er aufrecht zu stehen und sich frei zu bewegen. Lediglich seine Handgelenke waren noch immer aneinander gebunden. Doch das sollte ihn nicht weiter stören. So weit so gut. Und sobald er Oshu von seinen Ketten befreit hatte, waren sie in Nullkommanichts wieder frei. Nur der Mittelteil war um einiges schwieriger. Wie sollte er in Oshus Zelle hineingelangen, ohne die Wachen zu alarmieren? Er könnte einfach die Wand wegstossen. Doch das würde das halbe Gefängnis aufmerksam machen. Corvu hatte genau aufgepasst, als sie in ihre Zellen gebracht wurden und wusste jetzt, wo sich Oshu befinden würde. Nämlich genau in der Zelle rechts neben seiner.

Oder war es links gewesen? Mist. Er hatte es vergessen. Links oder rechts? Corvu lief zwischen den Seitenwänden hin und her. Wartete sein Freund hinter dieser Wand auf ihn? Corvu blickte über die Schulter. Oder hinter der dort?

Er musste es wohl darauf ankommen lassen.

Er strich über die groben Steine, die schlampig mit altem Mörtel aufeinander geschichtet waren. Da kam ihm eine Idee. Er konnte erst mal einen einzelnen Stein lösen, um die Lage hinter der Mauern auszukundschaften. Abtastend folgte er der Mauer in den hinteren Bereich der Zelle. Bei einem der Steine brauchte er nur mit dem Finger darüber zu fahren, und schon rieselte der Mörtel herunter. Damit könnte es klappen. Corvu zielte mit seinen immer noch aneinander gebundenen Händen auf die Stelle und konzentrierte sich auf den Mörtel. Seine Gedanken erfassten die unebene Oberfläche des Materials. Sie schlüpften in jede Spalte, in jede Ritze. Sie dehnten sich langsam aus und pressten gegen jedes Hindernis, dass sich ihnen in den Weg stellte. Das Knacken und Knirschen dröhnte in Corvus Ohren, doch ausser ihm schien niemand im Turm irgendwelche verdächtigen Geräusche zu hören. Langsam, Stück für Stück, löste sich immer mehr vom Mörtel und prasselte auf den Boden.

Mit seinen Gedanken kratzte er den letzten Rest aus den Ritzen zwischen den Steinen und der Stein mittendrin wurde immer lockerer. Nun führte Corvu seine Gedanken durch die andere Hand und hielt mit ihnen den Stein fest, damit er nicht laut klappernd auf den Boden fiel.

Wäre nun jemand in die Zelle getreten und hätte seinen Namen laut ausgerufen, Corvu hätte es kaum bemerkt, so vertieft war er in die Operation. Seine Hände zitterten und auf seiner Stirn bildeten sich Schweissperlen.

Von der Strasse war er solche exakten und komplizierten Anwendungen seiner Kräfte nicht gewöhnt. Dort reichte es meistens jemanden mit ein wenig Schub eine reinzuhauen, oder mit seinen Gedanken einfache Objekte zu erfassen und zu bewegen. Aber Oshu hatte ihn gedrängt auch den präzisen Umgang mit seiner Macht zu lernen. Dafür war Corvu ihm jetzt zutiefst dankbar. Trotzdem hatte er noch nicht viel Übung darin, und es kostete ihn viel Kraft.

Genügend Energie für einen Kraftstoss zu sammeln und sie in einem Sekundenbruchteil wieder frei zu lassen, war eine Sache, mehrere kleine Gegenstände mit einem andauernden Energiefluss zu bearbeiten und dabei Gedanken präzise zu platzieren, war eine ganz andere.

Corvu wusste, dass er noch weit entfernt davon war, seine Gabe zu meistern. Er brauchte sogar immer noch seine Arme um die Energie oder Gedanken zu bündeln und um besser zielen zu können. Endlich war er durch. Der Stein schwebte nun in der schmalen Lücke.

Vorsichtig liess er ihn aus der Lücke hinaus gleiten und legte ihn möglichst geräuschlos auf den Boden seiner Zelle.

Er kniete sich vor das Loch und wagte einen vorsichtigen Blick auf die andere Seite. Es war stockfinster und er konnte nichts erkennen. Allerdings konnte er jemanden sprechen hören.

Es war unverkennbar Hatos Stimme.

„ … deswegen bin ich neugierig. Stimmen die Vermutungen oder ist es totaler Schwachsinn, was die alten Leute da verzapfen?“

Es folgte eine lange Pause. Endlich seufzte Hato. Kleider schliffen über den Boden und Glieder knackten. Corvu stellte sich vor, wie Hato sich vor Oshu hingesetzt hatte und freundlich auf ihn einzureden versuchte. Nun hatte er wohl aufgegeben und ist aufgestanden.

„Schade.“, hörte Corvu Hato sagen. „Ich würde gerne mit dir plaudern. Ich erkenne interessante Menschen, wenn ich sie sehe. Und du bist eindeutig einer von ihnen. Aber du bist wohl kein Mann der vielen Worte, was Schatten?“, Corvu meinte so etwas wie ein Kichern zu vernehmen.

„Wie dem auch sei, ich würde liebend gern mehr über dich herausfinden. Ich rede ein wenig mit Corvu, der wird bestimmt etwas redseliger sein.“

Corvu plumpste das Herz in die Hose. Mist! Er hörte das Knarzen der schweren Türe zu Oshus Zelle. Mist, Mist, Mist!

Panisch blickte sich Corvu um. Er durfte nicht erwischt werden.

Die Kette, die ihn an den Boden gebunden hatte, war zerbröselt. Die konnte er nicht mehr gebrauchen. Es war finster in seiner Zelle, doch seine Augen hatten sich bereits daran gewöhnt. Er erkannte die Umrisse eines Geröllhaufens in der einen Ecke. Auf Knien huschte er dort hin und fing an darin herum zu wühlen. Er wischte die angenagten Hühnerknochen beiseite und durchsuchte den Schotterhaufen.

„Licht!“, war Oshus Stimme plötzlich zu hören. „Kann ich etwas Licht haben?“

Das Knarzen der Türe hielt inne. „Natürlich.“, antwortete Hatos Stimme nach kurzem Zögern. „Almo, bring dem Herrn hier eine Fackel!“

Corvu hörte Schritte und ein paar andere Geräusche.

„Gute Nacht.“, verabschiedete sich Hato. Und das Knarzen der Türe fuhr fort.

Endlich! Corvu hatte eine alte, verrostete Kette gefunden. Er hastete zurück zu der Bodenplatte mit dem eingelassenen Ring. Das rostige Fundstück legte er kreuzweise über seine Handfessel.

Die Enden der verrosteten Fessel legte er auf den Boden und setzte sich im Schneidersitz darauf. Es war verdammt unbequem, aber Corvu glaubte, es würde genügen um die Illusion aufrecht zu erhalten.

Er hörte wie Oshus Tür hart ins Schloss fiel.

Corvus Herz pochte und sein Atem ging schnell. Er versuchte sich zu beruhigen. Es würde klappen. Er war bereit. Die falsche Kette und das Loch in der Wand würden in der Dunkelheit kaum auffallen. Er warf einen letzten Blick über die Schulter um sich zu vergewissern, dass man die Öffnung wirklich nicht erkennen konnte.

Was er sah, liess sein Herz noch schneller schlagen. Der unstete Lichtschein der Fackel in Oshus Zelle fand doch tatsächlich einen Weg in seine Zelle und liess die Aussparung verdächtig leuchten.

Ohne sich gross bewegen zu können, erfasste er hinter seinem Rücken den gelösten Stein mit seinen Gedanken und stopfte ihn in die Lücke. Doch damit war es leider noch nicht getan. Durch den Spalt, dort, wo zuvor der Mörtel war, schien noch immer das orangefarbene Licht herein.

„Wozu brauchst du eine verdammte Fackel, Oshu?“, ärgerte sich Corvu.

Plötzlich klickte das erste Schloss an seiner Tür. Hastig sammelte er mit seinen Gedanken alle Brösel und Stücke des Mörtels, die vor der Öffnung am Boden lagen zusammen und schaufelte sie in den Spalt um den Stein. Das zweite Schloss klickte. Er musste das Ganze noch ein wenig besser verteilen, um ja alles abzudichten. Endlich, verschwand der orangfarbene Schein ganz aus seiner Zelle.

Das dritte Schloss klickte.

Nun musste er den Schutt auch noch halten können, bis das Gespräch zu Ende war.

Die eisenbeschlagene Holztür knarrte laut, als sie langsam nach innen aufschwang. Das weisse Licht der Laternen auf dem Korridor draussen drängte in Corvus Zelle. Es wurde immer weiter, je mehr die Türe geöffnet wurde. Die Grenze zwischen Licht und Dunkelheit kam Corvu gefährlich nahe. Hoffentlich entblösst das verdammte Licht nicht seine selbst gebastelte Fessel.

Endlich kam das Licht kurz vor seinen Füssen zum Stehen.

Ein hünenhafter Schemen zeichnete sich in der Türöffnung ab. Corvu blinzelte der Gestalt entgegen. „Hallo, Hato. Na, kommst du uns schon befreien? Ist wohl zu langweilig ohne uns?“, begrüsste ihn Corvu. Er überspielte gekonnt seine Anstrengung, mit der er das Loch verschlossen hielt. Er durfte sich nicht anmerken lassen, dass seine Gedanken sprichwörtlich woanders waren.

„Tut mir Leid, wenn ich dich enttäuschen sollte, Corvu, aber ich bringe dir nur dein Abendessen.“, antwortete Hato.

Das Abendessen! Na klar, Corvu könnte sich Ohrfeigen für seine Dummheit. Er hätte warten sollen bis das Abendbrot gebracht wurde. Er versuchte sich zu beruhigen. Aufregung würde nur seine Gedanken durcheinander bringen. Und das konnte er nun wirklich nicht gebrauchen.

Hato stellte einen Teller Suppe mit einem halben Laib Brot vor ihn auf den Boden. Dabei näherte sich sein Blick gefährlich der gefälschten Fessel. Doch er schien nichts zu bemerken. Er setzte sich einfach selbst auf den Boden vor den Teller und starrte Corvu in die Augen.

So sassen sie nun da. Corvu gefesselt in der Dunkelheit, Hato frei und vom warmen Licht des Korridors beschienen. Zwischen ihnen stand nur der dampfende Teller mit Suppe.

„Was ist?“, fauchte Corvu. „Willst du mir zusehen, wie ich Suppe esse?“

Hoffentlich nicht. Würde sich Corvu jetzt bewgegen, würde dem Kommandanten der Marktwache wohl sofort auffallen, dass etwas nicht stimmte.

Doch Hato ging nicht weiter darauf ein. „Erzähl doch mal was über Oshu, Corvu. Zum Beispiel, wo er her kommt?“

„Frag ihn doch selbst.“, wies Corvu ihn ab. Seine Kräfte schwanden allmählich. Schon bröselten die ersten Teilchen zu Boden.

„Das hab' ich schon.“, brummte Hato.

„Und er hat dir nicht geantwortet?“, fragte Corvu mit gespielter Überraschung. „Hast du ihn auch höflich gefragt?“

„Er ist ziemlich verschwiegen.“, stellte Hato fest.

„Na, Glückwunsch, da hast du ja schon etwas herausgefunden!“, presste Oshu hervor. Langsam kam er ins Schwitzen. Doch er schaffte es noch immer, die Teile mehr oder weniger zusammenzuhalten.

„Ich hab' einige Leute vom Stadtrat reden gehört. Und ich habe selbst so meine Vermutungen. Kann es sein, dass er von einem alten Klan abstammt?“, fuhr Hato fort.

Corvu zwang sich zu einem Lachen. „Von einem Klan? Oshu ist genauso ein Strassenjunge wie ich. Es gibt keinen Klan. Nicht einmal eine Familie. Nur ihn.“

„Du weisst selbst nicht viel über deinen Freund, nicht wahr?“

Corvu nickte. „Ungefähr gleich viel wie du.“, bestätigte er abwesend. In Gedanken war er gerade damit beschäftigt eine Lawine aus kleinen Mörtel-Stückchen zurückzuhalten.

„Warum schwitzt du?“, fragte Hato verwundert. Ihm schienen die Schweissperlen auf Corvus Stirn aufgefallen zu sein.

Corvu zögerte. Er musste irgendeine Lüge auftischen. „Ich war gerade am Meditieren, bevor du kamst. Und da du mich aus der Konzentration gerissen hast, reagiert jetzt mein Körper auf die schnelle Veränderung.“, erklärte er.

Hato runzelte die Stirn. „Du meditierst?“

„Ja. Es gibt halt auch so einige Dinge, die du über mich nicht weisst.“,

„Das stimmt wohl, “, gestand Hato. „Aber immerhin kenne ich dein Wesen gut. Deswegen warne ich dich jetzt. An deiner Stelle würde ich nicht versuchen hier auszubrechen. Das wird kein schönes Ende nehmen.“

Corvu schnaubte belustigt. Ein paar weitere Brösel prasselten zu Boden. „Wenn ich ausbrechen wollte, könnten wir dieses nette Gespräch nie führen.“, behauptete er.

Hato lachte und richtete sich auf. Er drehte ihm den Rücken zu und Schritt auf die Tür zu. „Na toll, einer der gar nicht spricht, und einer der einfach zu viel redet. Wie habe ich denn das wieder verdient?“

Hato trat in die Türöffnung.

Corvu stöhnte leise vor Anstrengung und Hato wandte sich noch einmal zu ihm um. Mist. Hatte er es gehört? „Ach so, ehe ich es vergesse, brauchst du noch Licht?“, fragte er.

„Nein!“, knurrte Corvu. „Es ist Nachtzeit. Schlafenszeit. Welcher Idiot bestellt sich denn da Licht in sein Zimmer?“

Die kleine Lawine löste sich bei seinem unbedachten Ausraster und etliche Kiesel rieselten auf den Boden. Hoffentlich hatte Hato es nicht gehört.

Doch der schien nichts bemerkt zu haben.

Er blickte lediglich auf Corvu hinab. „Ich weiss, dass ihr euch nie und nimmer freiwillig ergeben würdet. Ihr plant irgendwas, nicht wahr?“, murmelte er leise. „Ihr alle vier. Mit dem blinden Mädchen und Meister Fayn.“

Ein Grinsen breitete sich auf Corvus Gesicht auf. „Du bist wohl nicht ohne Grund Kommandant geworden.“, lachte er, ein weiteres Rasseln in der Ecke übertönend.

Hato zog die Tür hinter sich zu. „Wir sehen morgen weiter.“, kündete er an.

„Das tun wir!“, rief ihm Corvu hinterher.

Endlich fiel die Tür ins Schloss. Beim Klicken des ersten Schlosses, fiel der Stein samt Mörtel aus der Öffnung scheppernd auf den Boden. Beim zweiten Klicken lag auch Corvu am Boden. Er atmete schwer. Das erste Mal überhaupt hat er ohne Hilfe der Hände oder Beine Energie und Gedanken gebündelt! Er war zu Tode erschöpft. Er musste sich erst einmal ausruhen und stärken, bevor er weitermachen konnte.

Corvu wurde mulmig zumute, wenn er daran dachte, was er noch alles vor sich hatte. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er es schaffen kann.

Fayn stolzierte die weisse Marmortreppe hoch. Der Plan war gut. Er musste einfach funktionieren! Er musste nur richtig auftreten, um nicht gleich von Anfang an abgewiesen zu werden. Er hoffte nur, die Herrschaften da oben seien etwas offen für Neues und nicht einfach nur sture alte Männer, die keine Änderung in Elysstain billigen wollen.

Der junge Edelmann erreichte den Eingang des schlichten Palastes, wo er von einem Wachmann nach möglichen Waffen untersucht wurde. Rosendorn, sein Schwert, hatte er, genau wie seinen Beutel bei Lilith gelassen.

Einer der uniformierten Palastwachen führte Fayn weiter in eine grosse Säulenhalle aus dem gleichen weissen Marmor wie die Treppe davor. An den Wänden links und rechts hingen die blauen Elysstainer Flaggen auf denen ein goldener Dreimaster aufgestickt war.

Fayn blinzelte sich unterwegs den Schlaf aus den Augen. Es war eine kurze Nacht gewesen. Erst musste er ein paar Dinge in dem Buch nachschlagen und später konnte er auf der unbequemen Bank nicht richtig einschlafen. Ausserdem ging er wieder und wieder das bevorstehende Gespräch durch. Wenigstens tauchten keine Schläger auf, die sie ausrauben wollten.

Der Soldat blieb vor einer der vielen Holztüren, die vom Saal wegführten, stehen. Sie wurde von zwei anderen schwer gerüsteten Wachen flankiert. Einer von ihnen klopfte drei Mal an die Türe.

Sie warteten eine Weile. „Es ist gestattet.“, ertönte es dann durch die Tür hindurch und der Soldat trat ein. „Weiser Rat von Elysstain, Meister Fayn vom Biatali-Klan bittet um ein Vorsprechen.“, kündigte ihn der Wachmann lautstark an.

Fayn atmete tief durch. Dann betrat er erhobenen Hauptes den überraschend kleinen Raum. Es war nicht das erste Mal, dass Fayn vor den im Halbkreis aufgestellten Tischen stand und von den ernst dreinblickenden Männern und Frauen beäugt wurde. Aber früher stand immer sein Vater an seiner Seite. Diesmal war er ganz allein. Die Männer und Frauen vor ihm erschienen ihm wie eine riesige Bergkette, deren Hügelkuppen er eine nach der anderen bezwingen musste. Fayn fühlte sich plötzlich klein und hilflos. Seine Aufregung stieg und er fing an wieder an seinem Vorhaben zu zweifeln.

„Oh, der junge Biatali!“, begrüsste ihn ein Mann mit Glatze und lustigem Walross-Schnurrbart. Es war der Stadtratsvorsitzende. „Was liegt Ihnen denn auf dem Herzen?“

Fayn riss sich zusammen. Er kannte diese Menschen. Etliche Male hatte er gesehen, wie sein Vater mit ihnen umgegangen war. Er konnte das auch. Er war vorbereitet. Er brauchte keine Angst vor diesen alten Leuten zu haben.

Er räusperte sich.

„Sehr geehrter Ratsvorsitzender, geehrter Rat Elysstains. Verzeiht mir mein unangemeldetes Erscheinen zu so früher Morgenstunde.“, begann er höflich.

„Aber in der letzten Nacht konnte ich nicht richtig schlafen. Ein Gedanke, der mir am Abend kam und sich in mein Herzen frass, plagte mich.

Ihr seid sicher darüber informiert worden, wie die zwei Meisterdiebe Oshu und Corvu verhaftet und in den Kerker geworfen worden sind.“

Der schnurrbärtige Mann nickte. „Soweit mir berichtet worden wurde, ward Ihr in die Sache involviert.“, sinnierte er anerkennend.

„Das stimmt so nicht ganz, mein Herr.“, widersprach Fayn. Er blickte in die runzligen Gesichter, die alle ihm zugewandt waren und ihm aufmerksam lauschten.

„Tatsächlich war es eine … Freundin, die die Beiden überzeugt hatte sich freiwillig zu stellen. Es war lediglich meine Idee gewesen, weiter habe ich nichts getan. Von dem her gebührt der Dank ihr und nicht mir.“, erklärte Fayn dem Rat bescheiden. „Sie hat nämlich gewisse Fähigkeiten der Gedankenbeeinflussung.“, log er. Und als sie mich von weit her besuchen kam und mir einige Beispiele ihrer Kunst vorführte, kam mir die Idee, dass wir auf diesem Weg ein scheinbar ewig währendes Problem Elysstains lösen könnten.“

Der Ratsvorsitzende strich sich über den Schnurrbart und nickte anerkennend. „Da habt Ihr Recht gedacht. In Elysstain gibt es viel Gesindel, das für Ärger sorgt. Die Beiden gehörten mit zu den Schlimmsten, wenn sie nicht sogar die Schlimmsten waren. Der Kommandant der Marktwache meldete mir immer wieder Vorfälle mit diesem Corvu. Und der Schatten, nun da stimmen wir wohl alle überein, dass er womöglich der mysteriöseste unter ihnen allen ist.

Die Beiden hinter Gitter gebracht zu haben, wird der Marktwache und der Stadtwache die Arbeit enorm erleichtern und sie können sich um das übrige Gesindel kümmern.

Aber ich fürchte, ich verstehe Eure Beklemmnis nicht ganz, Meister Fayn. Erklärt uns doch was Euch den Schlaf geraubt hat.“

Fayn atmete tief durch. Soweit so gut. Jetzt musste er zum Angriff übergehen. Wenn sein Plan aufgehen sollte, mussten die Beiden bereits getürmt sein. Fayn hoffte nur, dass Oshu es geschafft hatte Corvu zu befreien.

„Nun, der Schatten ist es, der mir Sorgen bereitet. Er ist berüchtigt dafür überall hinein und wieder hinaus schleichen zu können ohne bemerkt zu werden. Haltet Ihr es nicht für töricht, jemanden mit solchen Fähigkeiten einsperren zu wollen? Die Gedankenmanipulation meiner Freundin hält nicht ewig an. Und ich befürchte, sobald der Schatten wieder selbstständig denken kann, wird er in Nullkommanichts wieder frei sein. Und ich würde mich nicht wundern, wenn er seinen Freund mit sich nehmen wird.“

Fayn machte eine Pause, um die Reaktionen auf den alten, furchigen Gesichtern zu überprüfen.

Die Ratsmitglieder tauschten Blicke aus, es wurde getuschelt, mit den Schultern gezuckt, zustimmend genickt oder verständnislos den Kopf geschüttelt.

„Der Junge hat nicht unrecht.“, bemerkte dann eine dickliche Frau mit hochgesteckter Frisur. Einige Köpfe nickten zu ihren Worten, was Fayns Herzen mit Hoffnung füllte.

„Pah, aus unseren Gefängnissen sind noch nicht viele ausgebrochen. Zu viele Männer haben wir dort, zu dicke Mauern. Eine Flucht ist fast unmöglich.“, meldete ein drahtiger Mann mit buschigen Augenbrauen selbstsicher.

„Ich weiss nicht.“, überlegte ein anderer und strich sich über den weissen Bart. „Wenn er tatsächlich einer von ihnen ist, werden ihn rostige Ketten und Steinwände nicht lange aufhalten.“

Nun wurden von vielen die Hände verworfen. „Geht das schon wieder los!“, stöhnte der Mann mit den buschigen Augenbrauen. „Sie sind ausgestorben, Henry, schon seit Jahren. Lass doch deine Schwarzseherei einmal ein wenig ruhen.“, fuhr er den bärtigen Mann an.

„Wie erklärst du dir dann seine Fähigkeiten?“, sie deuten unverkennbar auf die...“, da wurde er von einer alten, gebrechlichen Frau unterbrochen. „Wir kennen seine Fähigkeiten doch noch gar nicht, Henry.“, krächzte sie. „Lass doch die Vergangenheit endlich ruhen.“

„Ihr seid doch alle blind! Und das wird noch der Untergang Elysstains sein, das sage ich euch!“, meckerte der Alte mit dem weissen Bart.

Fayn war verwirrt. Offenbar hatte er eine alte Diskussion vom Zaun gebrochen. Das klang alles ziemlich interessant. Er sollte dem mal nachgehen. Erst musste er aber die Kontrolle über das Gespräch wieder zurück erlangen.

„Nun, so gefährlich Oshu sein mag, die Fähigkeiten Corvus dürfen wir auch nicht unterschätzen. Es gibt zwar keine Gefahr, dass er unbemerkt verschwinden wird. Doch ich habe seine Fähigkeiten schon am eigenen Leib erfahren, wie Ihr unschwer erkennen könnt.“, Fayn deutete an sich herab. Sein zerrupfter Kimono und seine blauen Flecken zeugten noch immer von dem Kampf mit Corvu. Durch seine Festnahmen haben wir zwar die Strassen vorerst vor weiterem Chaos bewahrt. Allerdings brachten wir das Chaos lediglich in den Gefängnisturm. Corvu dort gefangen zu halten macht die Stadt eher gefährlicher als sicherer.“

Die dicke Dame nickte eifrig. „Da hat der Junge nicht unrecht!“, rief sie aus.

„Nun, “, meldete sich der Ratsvorsitzende besonnen. „Ich sehe Euren Punkt, Meister Fayn. Das Gefängnis ist vielleicht nicht die beste Strafe für die Beiden. Was schwebt Euch denn als Alternative vor?“, wollte er wissen.

Fayn zögerte. Jetzt kommt es. Er war aufgeregt, doch spielte er es hinunter. Er holte tief Luft um seinen Vorschlag zu erläutern. Doch da fiel ihm bereits der Mann mit dem weissen Bart ins Wort. „Wir sollten sie hinrichten.“, schlug er vor.

„Da muss ich Henry ausnahmsweise mal Recht geben. Das wäre wohl wirklich die beste Lösung.“, stimmte der Mann mit den Augenbrauen zu.

Fayn war schockiert. Nein, nein, nein. Das Gespräch durfte sich nicht in diese Richtung entwickeln. Er durfte nun nicht locker lassen. „Mit Verlaub meine Herren, da habe ich einen besseren Vorschlag. Ein Vorschlag, der keine Menschenleben kosten wird, ein Vorschlag, der die beiden Diebe davon abhalten wird je wieder Unfug zu treiben. Ausserdem wird dadurch die Arbeit der beiden Elysstainischen Garden noch mehr erleichtert. Es wird der Stadt auch aussenpolitisch einen grossen Vorteil verschaffen.

Um es kurz zu machen. Ich habe mir eine Lösung überlegt, die nur Gewinner hervorbringt.“, verkündete Fayn bestimmt und voller Stolz.

Der Ratsvorsitzende hob die Augenbrauen. „Da versprecht Ihr aber viel, Meister Fayn. Wie sieht Eure tolle Lösung denn aus?“

„Es ist einfach. Wir gründen eine Gilde.“

Absolute Stille kehrte ein. Zwölf Augenpaare starrten ihn ungläubig an. Nach einer Weile wandten sich die ersten dann schmunzelnd ab. Es wurde abgewunken, gekichert, den Kopf geschüttelt oder mitleidig auf ihn herabgeschaut.

Fayn fühlte wie Zorn und Verachtung in ihm aufstieg. So musste sich Corvu also all die Zeit über gefühlt haben.

Die dicke Dame war die erste, die wieder zu Worten kam. „Ach, mein Junge. Das ist leider nicht möglich. Weisst du denn nicht, dass seit über hundert Jahren keine neue Gilde gegründet worden ist?“, versuchte sie ihm beizubringen.

„Ja, Junge.“, fügte der drahtige Mann mit den Augenbrauen hinzu. „Du solltest vorsichtig sein mit solchen Äusserungen. Damit machst du dich nur lächerlich.“

Fayn zitterte fast vor Wut. Diese aufgeblasenen sturen Greise! Nein, so konnten sie nicht mit ihm umspringen. Er war Fayn Biatali. Vielversprechendstes Mitglied des ehrenwerten Gärtner-Klans.

„Mit Verlaub.“, sagte er bestimmt. Er konnte nicht verhindern, dass ein wenig Zorn in der Stimme mitschwang. „Ihr seid es, die sich lächerlich machen.“, er stemmte sich mit aller Macht gegen die niederdrückende Stimmung des Stadtrates. Er machte einen Schritt vorwärts.

„Ihr seid es, die vor Grenzen zurückschrecken, die gar nicht existieren. Es ist nicht unmöglich! Im Gegenteil, eigentlich steht einer Gründung nichts im Wege. Laut Gesetz braucht es mindestens vier Gründungsmitglieder. Mit Oshu, Corvu und Lilith sind wir das. Laut Gesetz fehlt nur noch die Erlaubnis des Stadtrates. Und ich sehe keinen Grund, warum wir die nicht erhalten sollten. Die Vorteile habe ich Euch gerade erläutert. Nachteile gibt es nicht. Ich weiss genau so gut wie Ihr, dass schon lange keine Gilde mehr gegründet worden ist. Seit hundertdreiundzwanzig Jahren um genau zu sein. Aber es war niemals verboten. Damals wurde einfach keine neue Gilde gebraucht. Und so hatte es sich dann ergeben, dass diese Anzahl Gilden als gegeben angesehen wurde. Der einzige Grund, der im Weg steht, ist also diese Tradition. Ihre Gedanken sind es, die es „unmöglich“, machen. Lediglich Ihr stures Festhalten an der Vergangenheit behindert den Aufstieg Elysstains zu einer angeseheneren Stadt.

Ich bitte Euch also inständig die Fesseln der Traditionen abzulegen und einen mutigen Schritt vorwärts zu machen!“, trug Fayn den Herrschaften vor.

Ein weiteres Mal herrschte betretenes Schweigen. Da fing ein untersetzter Mann mit grauem Krauskopf und einer Halbglatze zu kichern an. „Die Biatali wollen tatsächlich eine Gilde gründen.“, winkte er kopfschüttelnd ab.

„Falsch.“, wies Fayn den Mann zurecht. „Ich will eine Gilde gründen. Meine Familie hat damit nichts zu tun. Genauso wenig wie der Klan. Es ist meine Entscheidung und ich trage die Verantwortung. Niemand sonst.“

„Das ist doch alles Schwachsinn.“, mischte sich eine Frau mit geflochtenem Haar ein. „Solch eine Tradition kann man nicht einfach mit Füssen treten. Die meisten Traditionen haben einen Grund zur Existenz. Und das ist ein Grund sie einzuhalten.“, behauptete sie.

Fayn hatte sich wieder etwas mehr unter Kontrolle. Er nickte. „Zu Beginn mag das stimmen. Aber die Zeiten ändern sich und Traditionen veralten. Nichts kann über all die Zeit gleich bleiben. Die Menschen ändern sich und auch ihre Regeln und Ansichten.

Ich sollte Euch nicht an den Orden erinnern müssen. Auch seine Gründung vor ungefähr fünzig Jahren brach mit allen möglichen Traditionen des Kontinents. Doch war es von Nöten. Unsere Traditionen behinderten uns damals nur und hätten beinahe unsere Welt in den Abgrund gestürzt.“

Der Ratsvorsitzende hatte alles mit angehört und sich wortlos seine Gedanken über das Gesprochene gemacht. Doch nun meldete er sich auch zu Wort. „Das war etwas anderes damals, Meister Fayn, Es herrschte Krieg. Heutzutage leben wir in friedlichen Zeiten. Warum etwas ändern was gerade gut läuft?“, die Frage war eigentlich rhetorisch gemeint, doch Fayn hatte bereits eine Antwort darauf parat.

„Ihr wollt also erst etwas ändern, wenn es nicht mehr gut läuft? Also, wenn es bereits zu spät ist? Ein guter Anführer, für den ich Euch halte, sorgt dafür, dass es ohne Unterbruch auch in der Zukunft gut läuft.

Und wer in die Welt hinein hört, weiss, dass sie sich bereits verändert. Die Gilden sind unruhig und viele von ihnen stehen sich immer feindseliger gegenüber. Es gehen sogar Gerüchte um, dass verschiedene Allianzen gebildet wurden. Hört sich das für Euch nicht verdächtig nach Krieg an? Was, wenn eine Stadt vor uns die Traditionen bricht? Was, wenn der Arena plötzlich wieder das Schlachtfeld vorgezogen wird? Was, wenn die Gilden anfangen wirklich gegeneinander in den Krieg zu ziehen? Wollt Ihr Elysstain wirklich, so ungeschützt wie es jetzt ist, in solche Zeiten führen?

Wir leben in Friedenszeiten, ja. Aber Ihr alle wisst genau so gut wie ich, dass das nur die Ruhe vor dem Sturm ist.“, schloss Fayn.

Seine Worte hingen noch lange im Raum. Sie schienen ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Fayn sah, wie die Ratsmitglieder darüber nachdachten. Er sah, dass sie sich bereits einige Gedanken darüber gemacht hatten.

Fayn hoffte wirklich, seine Rede hatte eingeschlagen. Es war sein letzter Trumpf im Ärmel.

Die ersten schüttelten bereits den Kopf. „Das ist doch lächerlich.“, wurde zögerlich erklärt. „Solch ein Unfug!“, schnappten andere über. „Das sind nur die Träume eines jungen Herzens.“, versuchten dritte ihn zu verteidigen. Jeder Ausspruch liess Fayns Herz ein wenig mehr sinken.

„Ich bin schockiert, wie stur ihr alten Greise sein könnt!“, rief eine etwas jüngere Frau aus. Sie trug kurzgeschnittene Haare und hatte viele kleine Narben im Gesicht. „Habt ihr dem Jungen nicht zugehört? Dieser junge Mann hat all die Punkte zusammengefasst, über die wir schon diskutiert haben. Ihr solltet euch schämen euch so blind zu stellen. Ich meinerseits stimme mit ihm überein. Eine Gilde wird unserer Stadt nur Vorteile verschaffen. Ich weiss schon, vor was ihr euch fürchtet. Die anderen Städte werden uns nicht ernst nehmen. Der Magierrat wird es missbilligen. Das bezweifle ich keinesfalls. Aber falls unsere Gilde gute Arbeit leistet, und für das wird unser Meister Fayn hier die Verantwortung übernehmen, wird sich der Wind schnell legen. Die Mitglieder der vorgeschlagenen Gilde sind stark. Habt ihr vergessen, wie hochentwickelt Meister Fayns Fähigkeiten selbst sind? Wer weiss, welche Magie der Schatten vor uns verbirgt? Das Mädchen hat offenbar gedankenmanipulative Fähigkeiten, die beim Lösen schwieriger Aufträge sehr nützlich sein könnten. Und Corvu, er hat bereits Kampferfahrung, ich kann mir ziemlich gut vorstellen, wie er unsere Stadt in den Arenakämpfen zu Ruhm und Ansehen verhelfen wird. Und wenn es so weit ist, werden sich die anderen Städte davor hüten über unsere Zukunft entscheiden zu wollen. Wie oft habe ich hier eurem Gejammer zuhören müssen, wie satt ihr es doch seid, ständig von den anderen Städten den Kopf beugen zu müssen? Jetzt ist die Zeit gekommen, in der wir das Kräfteverhältnis ändern könnten. Und ihr Angsthasen seid zu sehr gehemmt etwas zu unternehmen. Ich für meinen Teil stehe voll und ganz hinter der Idee des jungen Biatali!“, entschied die Dame.

Fayn war wirklich dankbar, für die unerwartete Hilfe. Ohne sie wäre sein Plan womöglich genau an dieser Stelle in eine Sackgasse gerlaufen. Doch nun beobachtete er verlegenes Herumdrucksen und ab und zu mal ein schüchternes Nicken.

„Sie hat Recht. Sie haben beide Recht.“, polterte ein dicklicher Mann, „Es wird Zeit etwas an unseren Lage zu ändern. Zeigen wir diesen Gildenstädten, wozu wir fähig sein können!“

Der Ansage folgte ein vielseitiges Gemurmel, in dem Fayn einige zustimmende Worte zu vernehmen glaubte.

Soweit Fayn die Lage nun beurteilen konnte, spaltete sich der Rat in zwei ungefähr gleichgrosse Lager. Er war erleichtert. Von seinem Vater wusste er, sobald dies geschah, hatte man, stellte man es richtig an, schon fast gewonnen. Der Trick lag darin, einer der Zweifler auf andere Art dazu zu bringen für das gewünschte abzustimmen. Und genau das hatte Fayn geplant. Er musste nur noch auf den richtigen Moment hoffen.

„Ihr alle scheint eines zu vergessen!“, murrte der drahtige Kerl mit den buschigen Augenbrauen. „Ihr scheint zu vergessen, dass wir davon ausgehen, dass die beiden Gefangenen in unserem Gefängnis nicht sicher sind. Wir gehen davon aus, dass sie schon bald wieder auf freiem Fuss sein werden. Nun, das wird nicht passieren. Denn unsere Gefängnisse sind gut bewacht. Sie werden nie wieder einen Fuss in die Freiheit setzen. Deshalb können wir diese sinnlose Diskussion hier abbrechen, und zur Tagesordnung übergehen.“

Da war er, der richtige Moment.

„Ihr scheint ziemlich überzeugt von unserem Schuldturm zu sein.“, stellte Fayn fest.

„Natürlich. Die beiden werden nie durchbrechen können.“, bestätigte der Mann eifrig.

Fayn kannte die Mitglieder des Rates alle ziemlich gut durch seinen Vater. Ulrich Krummstein, der mit den buschigen Augenbrauen, war bekannt dafür, die Regierung der Stadt konservativ anzugehen. Also rechnete Fayn schwer damit, seine Unterstützung zu erhalten. Aber der unsympathische Kerl war auch noch bekannt für etwas anderes.

„Würdet Ihr darauf wetten?“, fragte Fayn scheinheilig.

„Absolut!“, nickte das Ratsmitglied ohne zu merken, worauf Fayn hinaus wollte.

„Gut dann schlage ich Euch eine Wette vor. Ich wette, dass Oshu und Corvu, sagen wir, morgen bereits nicht mehr im Gefängnis sein werden. Sollte dies der Fall sein, stimmt Ihr für eine Gilde in Elysstain. Falls ich meine Wette verliere, werde ich Euch im Gegenzug einen Garten anlegen. Was halten sie davon?“

Einen Garten von einem Biatali zu erhalten ist eine grosse Ehre und ein weithin bekanntes Statussymbol. Dieses Angebot konnte Ulrich unmöglich ablehnen. Fayn hoffte nur, Oshu würde das irgendwie hinkriegen.

„Einverstanden!“, rief Ulrich voller Freude aus. „Komm schlag ein, Junge. Einen Biatali Garten! Dein Vater wird sich wohl ganz schön über dich ärgern!“

Fayn reichte dem Mann die Hand und sie besiegelten die Wette. So wurde hier Politik betrieben.

„Somit wird mein Anliegen wohl bis morgen warten müssen. Ich danke Euch allen für Eure Geduld und möchte Euch nun nicht mehr aufhalten. Guten Tag.“

Fayn deutete einen kleinen Knicks an.

„Nun gut.“, meldete sich der Ratvorsitzende schmunzelnd. „Dann erwarten wir Euch morgen früh zur selben Stunde hier. Guten Tag. Bestellt Eurer Familie unsere Grüsse aus.“

„Das werde ich.“, log Fayn und schritt zur Tür.

Doch bevor seine Hand die Klinke berührte, wurde die Tür plötzlich aufgerissen.

Hato kam herein gestiefelt und hätte Fayn beinahe überrannt, wäre er nicht geistesgegenwärtig ausgewichen.

Hato guckte ihn kurz verdutzt an, wandte sich aber sofort an den Rat.

„Ehrenwerter Stadtrat, verzeiht mir mein unangekündigtes Hereinplatzen. Doch ich wollte Euch nur kurz darüber in Kenntnis setzen, dass die beiden Gefangenen, Corvu und Oshu, heute Morgen nicht mehr in ihren Zellen waren. Sie sind offenbar geflohen, ohne dass unseren Männern etwas aufgefallen wäre.“, verkündete er.

Fayn drehte sich wieder um. Einen Moment lang starrten die Ratsmitglieder abwechselnd auf Hato und dann wieder auf Fayn.

Plötzlich zeigte sich ein Grinsen auf dem Gesicht des Stadtratsvorsitzenden. Auch die Frau mit den Narben musste leise kichern. Ulrich schlug mit der Hand auf den Tisch. „Hättest du das nicht früher mitteilen können, Kommandant?“,

Hato blickte verwirrt in die Runde. „Es tut mir leid, ich habe es selbst eben erst erfahren.“, verteidigte er sich.

„Ist schon in Ordnung. Wir rechneten mehr oder weniger damit. Ich nehme an, du hast bereits Leute losgeschickt um sie zu suchen?“, beruhigte ihn der kahlköpfige Mann.

Hato nickte. „In jede Ecke der Stadt, Harald.“

„Gut.“, meinte Harald. „Warte einen Moment.“

Der Ratsvorsitzende wandte sich an den Stadtrat. „Nun stimmen wir ab. Heute entscheiden wir, ob Elysstain Geschichte schreiben wird, oder ob wir für immer über unser heutiges Gespräch schweigen werden. Wer dafür ist, eine Gilde in Elysstain einzuführen unter der Verantwortung von Fayn Biatali, der hebe nun die Hand.“

Nun war Fayn gespannt. Man benötigte die Mehrheit von acht aus zwölf Händen. Grinsend blickte er zu Hato, der wie aus allen Wolken gefallen dastand und die Abstimmung beobachtete.

Die Frau mit den Narben hob natürlich als erste die Hand. Der Mann mit dem weissen Bart folgte ihr. Ebenso der dickliche Mann. Einer nach dem anderen erhob seine oder ihre Hand.

Die Blicke fielen erwartungsvoll auf Ulrich. Er verdrehte die Augen, doch hob seine Hand doch noch. Sieben. Es waren sieben Hände ausgestreckt. Eine zu wenig.

„Haben sich alle entschieden?“, fragte Harald um sich zu vergewissern, ob es keine Unschlüssigen mehr gäbe. Die Leute nickten. „Gut, dann ist es nun an mir, mich zu entscheiden.“

Gebannt blickten die Anwesenden auf den Ratsvorsitzenden. Er machte es spannend und blickte jedem von ihnen in die Augen. Endlich hob er feierlich den Arm. Acht.

„Heute haben wir Geschichte geschrieben. Nach hundertdreiundzwanzig Jahren wird endlich wieder eine Gilde gegründet. In unserer Stadt. Ich bin stolz auf uns, da wir uns zu einem solch riskanten Schritt durchgerungen haben. Es wird schwer sein, doch wir haben endlich die Änderung gebracht, nach der wir schon lange getrachtet haben.“, der Vorsitzende richtete sich an Fayn. „Herzlichen Glückwunsch, Meister Fayn. Ihr habt nun offiziell die Erlaubnis eine Gilde zu gründen. Wenn ich Euch nun bitten darf Eure Gilde hier zu versammeln, es gilt noch eine Sache zu besiegeln, bevor das ganze offiziell ist.“

Fayn nickte. „Mit äusserstem Vergnügen, Ratsvorsitzender. Wenn Ihr mich nun entschuldigt, ich werde bald zurück sein.

Er verliess andächtig den kleinen Saal, in dem wirklich soeben Geschichte geschrieben worden war. Und er hatte es veranlasst. Es fühlte sich gut an. Natürlich hatte er hoch gepokert und ohne seine Freunde wäre sein Plan niemals aufgegangen. Er fragte sich, wie es Oshu wohl bewerkstelligt hatte Corvu zu befreien.

Corvu sass auf einem der beiden Stühle und schlürfte an der zweiten Tasse Tee, seit sie Zuhause waren. Obwohl er erschöpft war, hatte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Auch als sie endlich wieder zuhause ankamen, war an Schlaf nicht zu denken. Die Stimmen, sie hatten ihn nicht verlassen. Sie waren immer noch da. Sobald er die Augenschloss, hörte er sie wieder in der Dunkelheit vor sich hin murmeln. Erst die Ermordung durch Fayn, dann die Flucht durch diese, diese verrückte Welt mit Oshu. Vielleicht sollte er sich Freunde suchen, die seinen Geist in Ruhe liessen. Der Tee beruhigte langsam wieder seine Nerven. Bewegen konnte er sich fast nicht. Noch nie hatte er so viel Kraft verbraucht.

Nachdem Hato ihn endlich alleine gelassen hatte, versuchte er sich eine Weile zu erholen. Er trank die Suppe beinahe in einem Zug hinunter. Und nachdem er auch noch das halbe Laib Brot verschlungen hatte, fühlte er seine Kräfte langsam wieder zurückfliessen. Er wartete nicht lange und fing wieder an, die Wand zu bearbeiten. Es fühlte sich wie Stunden an, bis er endlich genügend Steine aus der Wand gezogen hatte, dass ein Loch entstand, gross genug um sich durchzwängen zu können. Für jeden einzelnen Stein, musste er seine Gedanken fliessen lassen, dessen Oberfläche erkunden, und ihn mit gut verteilten Mengen an Energie in ganz viele, ganz kleine Einzelteile sprengen.

Als er endlich in Oshus Zelle war, musste er seine letzten Kräfte mobilisieren um Oshus Handschellen zu pulverisieren. Zu Tode erschöpft, musste er sich dann abermals hinlegen. Oshu liess ihn eine Weile verschnaufen. „Warum zur Hölle hast du nach einer Fackel verlangt?“, fuhr Corvu ihn an. „Du sagst doch immer Finsternis sei dein Freund.“

„Schatten.“, hatte Oshu nur geantwortet. „Ist nicht dasselbe. Finsternis verschlingt alles Licht. Schatten können aber ohne Licht nicht existieren.“

Ohnmächtig sich zu bewegen, beobachtete Corvu wie sein Freund die Fackel aus der Halterung an der Wand zog und sie in eine Ritze im Boden rammte. Davor steckte er einen Knochen, der verdächtig menschlich aussah. Der Schatten des Knochens zog sich lang über den Boden, kroch die Tür herauf und verschwand zwischen den Gitterstäben aus dem kleinen Fensterchen.

„Bist du bereit?“, fragte ihn Oshu.

„Wofür?“, stöhnte er und versuchte sich aufzurichten.

„Die Flucht.“, erklärte Oshu nur, während er ihm hoch half. „Du darfst mich nie los lassen, verstanden?“

„Was, wieso, was hast du vor?“, stammelte Corvu noch, doch schon befanden sie sich in absoluter Dunkelheit. Corvu hatte nie Angst vor mondlichtlosen Nächten oder dunklen Gassen. Doch das, was er in der letzten Nacht erlebt hatte, liess ihn beinahe verrückt werden. Man sah Nichts. Er konnte weder Oshu noch irgendwas von sich erkennen. Immer verkrampfter klammerte er sich an Oshu, der ihn durch die Dunkelheit zog. Jeder Tritt war ein Schritt ins Ungewisse. Dort konnte ein Abgrund sein, ein See mit einem riesigen Monster darin, er könnte plötzlich über eine kalte Leiche stolpern, oder aber auf ewig in einem Morast versinken. Manchmal musste er sich richtig zwingen einen weiteren Schritt zu gehen. Und gegen Ende musste Oshu ihn tragen, weil seine Füsse die Tortur nicht mehr mitmachen wollten.

Doch das war nicht alles. Zu Beginn war es still. Ganz still. Weder ihr Atmen, noch ihre Schritte waren zu hören. Es war fast so, als würden alle Geräusche von der Dunkelheit verschlungen werden. Die Stille wurde immer bedrückender und Corvu überlegte sich schon etwas zu sagen, nur um den Klang einer Stimme zu hören. Doch er hatte Angst davor. Er befürchtete, dies würde bedeuten, dass er verrückt geworden wäre oder noch viel schlimmer, er befürchtete, er würde etwas sagen, aber keinen Laut hören. So folgte er schweigend seinem Freund durch die Stille.

Er hätte sich nie träumen lassen, dass er sich einmal nach der Stille zurücksehnen würde, doch genau das tat er wenig später.

Plötzlich hörte er ein Flüstern an seinem Ohr. Und es blieb nicht das einzige. Immer wieder vernahm er Getuschel und Wispern in der Dunkelheit. Links von ihm, rechts von ihm, über ihm und unter ihm. Sogar an der Stelle, wo Oshu hätte sein sollen. Corvu horchte ihnen aufmerksam, doch er konnte nie verstehen, was sie sagen wollten. Er hatte das Gefühl, als wollten sie ihn warnen, oder als drohten sie ihm. Oder als wollten sie ihn in die Dunkelheit ziehen.

So plötzlich wie sie sich in der undurchdringlichen Dunkelheit befanden, so plötzlich waren sie auch wieder unter dem Sternenhimmel. Auf dem Hügel, ein wenig abseits des Schuldturms fiel Corvu auf die Knie und musste sich erst einmal übergeben. „Was... was war das?“, stammelte er.

„Die Welt der Schatten.“, sagte Oshu schwer. Er stand neben ihm und blickte auf die Stadt hinunter. „Kein Mensch sollte sich dorthin wagen, der nicht willkommen ist. Wärst du alleine gewesen, wärst du nie wieder zurückgekehrt und du wärst eine der Stimmen, die du vielleicht gehört hast.“, eine Weile schwiegen die beiden Geflohenen.

„Es tut mir Leid, dich da durch gezogen zu haben. Aber anders wären wir nicht entkommen.“

„Tu das nie wieder! Verstanden?“, mahnte ihn Corvu.

Nach einer Weile traten die beiden Freunde den Heimweg an. Corvu sowohl psychisch als auch physisch völlig geschwächt, war froh, dass er jemanden hatte, auf den er sich stützen konnte. Als sie ihre kleine Hütte erreicht hatten, bereitete Oshu einen grossen Krug Tee für sie zu. Corvu hatte ihm erzählt, wie Fayn ihm eine Botschaft zukommen liess und dass sie nun hier warten sollten. Oshu nahm es wortlos zur Kenntnis. Sie setzten sich an den Tisch und schlürften ihren Tee. Irgendwann einmal war Oshu eingeschlafen, und nun sass Corvu alleine hier und fragte sich, ob er wohl bis an sein Lebensende mit psychischen Problemen kämpfen musste.

Nach einigen Stunden des Wartens klopfte es plötzlich an der Tür. Und als Corvu sie öffnete, blickte er in Fayns grinsendes Gesicht.

„Ah sieh einer an, die Flüchtlinge sind zurückgekehrt“, begrüsste sie der Ratsvorsitzende scherzhaft. Er musterte die vier eine kurze Zeit. Müde, abgekämpft, und völlig erschöpft standen sie da. Doch trugen sie alle ein triumphierendes Lächeln im Gesicht. Ausser Oshu, der blickte so ernst drein wie immer.

„Das ist also die neuste Gilde Elysstains. Ich hoffe, wir können eines Tages stolz auf euch sein und ihr lasst uns unsere Entscheidung nicht bereuen.“, meinte er.

„Keinesfalls.“, versicherte ihm Corvu.

Als Fayn ihm die Neuigkeiten erzählt hatte, wollte Corvu es zuerst nicht glauben. Genauso wenig wie Fayn glauben wollte, dass Corvu Oshu befreit hatte und nicht umgekehrt. Trotz ihren schlaflosen Nächten, hatten die beiden auf dem Weg zum Regierungspalast noch genügend Energie aufgebracht, miteinander zu streiten. Erst als sie unbehelligt an den Wachen vor dem Palast vorbei konnten, schien Corvu zu realisieren, was gerade geschah. Seitdem hielt er sich still.

„Also sind wir jetzt eine Gilde?“, fragte er ungeduldig.

Der schnurrbärtige Mann hob einen Finger. „Noch nicht ganz. Nach dem Gesetz muss der Magierrat davon unterrichtet werden, damit es offiziell ist. Das werden wir, oder besser gesagt ihr, nun tun. Folgt mir bitte.“

Die vier Gefährten folgten dem Mann durch die grosse Säulenhalle mit den vielen Holztüren in den Wänden. Hinter einer von ihnen betraten sie einen weit grösseren Raum, als der Sitzungssaal des Rates. Er war ganz in weiss mit nur einer blauen Elysstainer Flagge. Symmetrisch in drei Reihen angeordnet befanden sich im Raum neun quadratische Becken, die das Wasser der künstlichen Wasserfälle, die jeweils darüber von der Decke fielen, auffingen. Fayn staunte über die schlichte Schönheit des Raumes und blieb kurz stehen, um den Anblick auf sich wirken zu lassen.

Corvu drehte sich zu ihm um. „Na, was ist? Wir sind nicht hier her gekommen um Architektur zu bewundern. Komm schon, wir müssen jetzt endlich eine Gilde gründen.“, fuhr er ihn an.

„Beruhige dich“, entgegnete Fayn trocken. „Sei lieber froh, dass ich deinen Traum verwirklicht habe. Wie lange hattest du es bereits versucht? Zehn Jahre? Und ich brauchte wie lange? Einen Tag? Nein, in einer Nacht ist es mir gelungen.“, versetzte er giftig.

Corvu funkelte ihn böse an, war aber doch zu müde um etwas zu entgegnen.

Eine alte Frau ganz in weiss gekleidet erschien vor dem Vorsitzenden. „Die Verbindung steht, Harald. Wasserfall fünf. Es ist Lucian.“

Der Ratsvorsitzende verdrehte die Augen. „Vielen Dank.“, er drehte sich zu den vier Gefährten und seufzte. „Lucian, der Unberührbare. Ein junger, aber ehrgeiziger Politiker. Leider ist er einer der einflussreichsten Mitglieder des Magierrates. Also dann, Kinder, stürzen wir uns in das Vergnügen.“, meinte er ironisch und führte sie zu Wasserfall fünf. Corvu fragte sich kurz, warum der Kerl „Der Unberührbare“ hiess, war aber zu müde um sich weiter dafür zu interessieren. Er erkannte einen undeutlichen Schemen in der Oberfläche des Wasserfalls. Er war gross und hatte lange Haare, viel mehr konnten die vier nicht ausmachen.

„Ah, Harald von Elysstain. Mit was stört Ihr den heute meine kostbare Zeit?“, fragte die Stimme aus dem Wasserfall. Corvu mochte den Klang der Stimme nicht. Sie hörte sich so arrogant an. Er schauderte. Die Person dahinter war wahrscheinlich noch ein schlimmerer Snob als Fayn.

„Nun,“, antwortete Harald, „Das werden Euch am besten die Kinder selbst erklären.“

Mit einer einladenden Geste zeigte er auf die vier neben ihm stehenden jungen Leute.

„Nun arbeiten also Kinder in Elysstains Regierung. Interessant.“, bemerkte die Stimme spöttisch. „Also beeilt euch gefälligst. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Schon gar nicht für irgendwelchen Kinderkram.“

Fayn trat vor. „Geehrter Meister Lucian. Mitglied der Neun,“, begann er mit der Anrede, doch Corvu unterbrach ihn schon. „Wir haben eine Gilde gegründet.“, sprudelte es aus ihm heraus.

Fayn strafte ihn mit einem bösen Blick.

„Was denn? Er hat doch gesagt, er hätte es eilig. Ich habe dem Herrn doch nur einen Gefallen getan.“, verteidigte er sich.

Die Stimme im Wasserfall lachte herzhaft. „Eine Gilde gründen! Das ist unmöglich. Es wurde seit über hundert Jahren keine Gilde mehr gegründet. Ihr könnt doch nicht einfach so daherkommen und denken ihr könnt nun eine Gilde gründen. Köstlich!“

Fayn verdrehte die Augen. „Das Argument wird wohl nie alt.“

Doch Corvu hörte ihm gar nicht zu. „Ich glaube fast, Ihr habt mich falsch verstanden. Wir wollen nicht eine Gilde gründen, wir haben bereits. Wir wollten Euch lediglich darüber in Kenntnis setzen. Das müssen wir nämlich offenbar so von Gesetzes wegen oder so. Hab da nicht so richtig aufgepasst. Auf jeden Fall wisst Ihr nun Bescheid und wir haben unsere Schuldigkeit getan. Auf Wiedersehen, oder äh... Auf Wiederhören.“

Corvu war es satt immer wieder vor eine neue Hürde gestellt zu werden, deswegen liess er den Mann gar nicht erst zu Wort kommen.

„Was glaubst du eigentlich, mit wem du sprichst, Junge?“, fuhr ihn Lucian verärgert an. „Kenne deinen Platz! Und...“

„Oh, ich kenne meinen Platz! Und er ist in einer Gilde und es gibt absolut nichts, was Ihr dagegen sagen könnt.“, unterbrach ihn Corvu. Er schielte zu Fayn hinüber, um sich zu vergewissern, ob es wirklich so war. Fayn nickte ihm zu.

„Er hat Recht. Also ersparet uns viel Zeit und Streitereien und lasset ab. Das einzige, was uns daran hindern könnte, wäre eine Änderung des Gesetzes, aber das wäre ein Bruch mit den Traditionen, und das lässt sich nicht so einfach den Leuten erklären, also lasst es lieber sein.“, stärkte Fayn Corvu den Rücken.

Eine Weile kam Antwort zurück.

„Ihr seid verrückte, kleine Balgen.“, meldete sich der Schemen dann zornig wieder zurück. Sie hörten ein Seufzen. „Aber leider habt ihr Recht. Gesetzlich steht euch nichts mehr im Wege. Aber freut euch noch nicht zu früh. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Wartet nur ab, bis die anderen Gilden Wind davon bekommen. Und das werden sie bald. Und sie werden euch zerreissen wie ein Stück Fleisch in einem Wolfskäfig. Viel Spass also in eurem Gilden-Dasein.“, drohte er ihnen.

„Jajaja.“, fiel ihm Corvu ins Wort. „War's das? Sind wir jetzt endlich offiziell eine Gilde?“

„Nein.“, antwortete die Stimme aus dem Wasserfall bestimmt. „Ich brauche noch drei Dinge. Euren Gildennamen, den Namen des Gildenmeisters, sowie die Namen der drei Mitgründer.

„Der Gildenmeister,“, begann Corvu, doch Fayn drückte ihn beiseite. „Bin ich.“, beendete er den Satz seines Freundes. „Fayn Biatali.“, verkündete er.

„Was soll das?“, fauchte Corvu aufgebracht. Doch Fayn deutete ihm still zu sein. „Später.“, zischte er.

„Ein Biatali.“, stellte der Schemen entzückt fest. „Wie schön, dass endlich einer von euch bereit ist euren Namen in den Schmutz zu ziehen.“

Fayn ging nicht weiter darauf ein, sondern fuhr fort.

„Die Namen der Mitglieder sind Oshu, Corvu und Lilith.“, zählte er auf. Lucian schien die Informationen zu notieren. „Und die Familiennamen?“, fragte er.

„Es sind Strassenkinder, sie haben keine weiteren Namen.

„Verstehe.“, murmelte der Schemen. „Und den Namen eurer Gilde?“

Fayn sah hilfesuchend nach den anderen. Corvu stand mit den Armen verschränkt und blickte ihn finster an. Oshu stand ausdruckslos daneben und machte keine Anstalten sich etwas einfallen zu lassen. Lilith blickte Corvu und Fayn an. Sie sah, wie das düstere Schwarz seiner Vergangenheit Corvus Seele betrübte. Wohingegen Fayns Seele aufblühte wie ein bunter Garten übersät mit dornigen Rosen. „Wie wäre es mit „Black Rose“?“, schlug sie schüchtern vor.

Da dies der einzige Vorschlag war, nickte Fayn und wiederholte es für Lucian. „Black Rose.“

Der Magierrat schien den Namen irgendwohin zu kritzeln.

„Wunderbar. Noch heute wird die Welt von euch erfahren. Die Elysstainer Gilde wird bekannt sein bis in jede Ecke des Kontinents. Viel Spass mit den anderen Gilden wünsche ich euch. Auf Wiedersehen.“

Mit diesen Worten verschwand der Schemen aus dem Wasserfall.

Harald klatschte in die Hände. „Glückwunsch, Meister Fayn. Die Gilde ist nun ganz offiziell. Ihr habt heute wirklich Geschichte geschrieben. Sorgt nur dafür, dass die Geschichte auch gut ausgeht für euch und für Elysstain.

Übrigens, wisst ihr schon, wo ihr eure Quartiere aufschlagen werdet?“

Fayn schüttelte den Kopf. „Leider nein. Das wird wohl unsere nächste Herausforderung.“

„Nicht unbedingt“, der schnurrbärtige Mann klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern, als sie gemeinsam an den Wasserfällen vorbei den Raum verliessen.

„Ich glaube, ich habe bereits eine Lösung. Kürzlich war eine alte Wirtin vor dem Rat, die ihr Gasthaus schliessen wollte. Sie ist arbeitsmüde und kann keine Nachfolger finden. Vielleicht könnt ihr das Haus übernehmen.“

„Das wäre wunderbar.“, meinte Fayn dankbar.

„Mal sehen, was sich da machen lässt. Gehen wir doch gleich zu ihr.“

Als die Gruppe den Palast verliess, zog Corvu Fayn von dem Ratsvorsitzenden weg.

„Was soll das?“, knurrte er. „Warum bist plötzlich du der Gildenmeister?“

„Ich dachte mir, dass dir das nicht gefällt. Es musste so sein. Meinst du ich hätte denen erzählen können, dass es der Traum von Gesindel ist, eine Gilde zu gründen. Ich hab ihnen gesagt, dass es eine Art Strafe für euch ist, und ich der Aufpasser bin. Es ist also Teil des Spieles. Ausserdem“, fügte er hinzu, „muss der Gildenmeister bei jedem Arenakampf mit den anderen Meister sitzen und zusehen. Du könntest also nie kämpfen. Und das willst du doch auch nicht, nicht wahr? Sei also lieber froh, dass du dich nicht selbst zum Anführer gekürt hast. Und du wirst natürlich immer noch mitreden können. Du bist halt offiziell einfach mein Berater oder so.“

„Pah.“, stiess Corvu voller Abscheu aus. „Die Bürokratie und ihre Spielchen. Ihr Edelleute habt wohl einfach keine anderen Probleme.“, murrte er.

Der Ratsvorsitzende, der ein paar Schritte vorausging, hatte trotzdem alles mitgehört. Er lächelte. So was hatte er sich schon gedacht. Er mochte die Jungen jetzt schon.

In einer Kneipe in Elysstains Nachbarstadt Krygstain wurde eine Tür aufgeschlagen. Ein kahlrasierter Mann mit Vollbart stampfte wutentbrannt in den Raum. „Hört mal her, Leute. Ich muss euch mal einen Scherz erzählen.“

Dutzende Gesichter wandten sich zu dem muskulösen Mann hin. „Elysstain hat eine Gilde!“

Allgemeines Gelächter schwabbte ihm entgegen. Der Mann erlaubte sich auch ein kurzes Grinsen. Doch dann hob er die Hände und das Lachen verebbte. „Nein, jetzt im Ernst. Die Elysstainer haben eine Gilde gegründet! Ist das zu glauben? Black Rose nennt sie sich! Die denken wohl, die könnten es mit uns aufnehmen. Doch das lassen wir uns nicht gefallen. Iago! Komm her, Kleiner. Du wirst nach Elysstain reisen. Du wirst zu dieser Gilde gehen und du wirst ihnen sagen: Wir erwarten sie hier. Wir fordern einen Trikampf. Die Bedingungen: sollten wir verlieren, werden sie mit Ehre und Gold belohnt. Sollten wir gewinnen, können sie ihre Sachen packen und brauchen nie mehr an eine Gilde zu denken. Verlieren sie, stirbt die Gilde von Elysstain!“

Die Leute, die erst verdutzt aus der Wäsche guckten, als sie merkten, dass ihr Anführer es ernst meinte, jubelten ihm jetzt zu. Denn sie alle wussten: Das Schicksal dieser Black Rose war besiegelt.

Black Rose

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