Читать книгу Oma mordet und andere Kuriositäten - Simone Paulini - Страница 3
ОглавлениеUromas Geist
Die Abrissfahrzeuge stehen schon bereit. Noch stehen die Arbeiter rauchend beisammen, doch in wenigen Minuten werden auch die letzten Zigaretten verglimmen und das Haus Stück für Stück dem Erdboden gleichgemacht werden. Auch ein Teil meiner Vergangenheit wird damit platt sein, platt wie eine Flunder. Weg. Verschwunden. Nicht mehr zurückholbar.Ich stehe wartend in der Novemberkälte, höre wie die Arbeiter sich die letzten Anweisungen geben. Da halte ich es nicht mehr aus und trete auf einer der Männer zu. „Entschuldigen Sie bitte, aber dieses Haus birgt eine Menge Erinnerungen für mich. Ob ich es wohl noch einmal betreten darf, um mich zu verabschieden?“ Ich weiß selber, dass meine Worte in den Ohren des Arbeiters wie aus dem Munde einer Verrückten klingen müssen, aber der junge Mann zeigt Verständnis. Selbstverständlich dürfte ich noch einmal in das Haus hinein, müsste aber in genau fünfzehn Minuten wieder draußen sein. Verzögerungen würde der Chef nicht gestatten, Zeit sei schließlich Geld. Was für eine abgedroschene Phrase. Als ließe sich das Vergangene in einer festgelegten Zeit begraben. Es wird ein gehetzter Abschied werden, aber daran bin ich auch selber Schuld. Ich hätte früher herkommen können, als das Haus noch Gegenwart und nicht Vergangenheit war, aber damals war mir mein Ausstieg aus dem öden Leben in Deutschland wichtiger und ich wollte mich lieber drei Jahre mal hier und mal dort herumtreiben als hier am Rande des Ruhrgebiets zu sein, in dem meine Großeltern in den Jahren meiner Abwesenheit zu Grabe getragen wurden. Die Nachricht von dem Tod meines 99jährigen Opas erreichte mich mitten in der Sankt Petersburger Eremitage. Natürlich war mein Handy auf lautlos gestellt, weshalb ich nur das Vibrieren in meiner Jackentasche spürte und die SMS von meiner Mutter „Ruf uns bitte mal an, es geht um Opa“ zwischen zwei Gemälden lesen konnte. Die Mailbox hörte ich draußen ab und wusste auf einmal, dass es Zeit für meine Rückkehr war. Ich wusste es genauso plötzlich wie ich vor drei Jahren sicher war, dass ich schnell wie der Blitz mein altes Leben verlassen musste. „Die Spontanität wird dir eines Tages noch das Genick brechen“, pflegt meine Mutter stets zu sagen, wenn ich wieder einmal wie aus dem Nichts neue Ideen entwickele, die ich auf der Stelle durchführen muss. Vor meiner langen Europatour war es zuletzt meine Eingebung, Tierärztin werden zu wollen, was ich prompt in die Tat umsetzte, obwohl ich mit Tieren überhaupt nichts anfangen kann und sogar panische Angst vor Hunden habe! Völlig verrückt diese Ideen...Ich weiß auch, wo sie immer herkommen. Leider war ich nicht schnell genug wieder zurück in Deutschland, um bei Opas Beerdigung dabei sein zu können, aber ich bin jetzt hier und weiß, dass ich dieses Haus noch einmal betreten muss, um persönlich Abschied von meinen Großeltern nehmen zu können, die ich in ihren letzten Lebensjahren nicht mehr gesehen habe. Aber das ist nicht der einzige Grund. Außerdem möchte ich mich von Uromas Geist verabschieden, der seit meiner Kindheit in dem Haus meiner Großeltern herumschwebt, auch wenn das außer mir niemand weiß. Mit dem Schlüssel, den ich nach all den Jahren immer noch bei mir trage, schließe ich ein letztes Mal einmal die schwere Haustür mit der Milchglastür auf und betrete den vertrauten Wohnungsflur. Es riecht wie immer, aber gleichzeitig so wie nie zuvor. Ich kenne diesen Geruch, nein ich kenne ihn nicht. Es ist als wären meine Großeltern noch hier und es ist zugleich als hätte das Haus schon seit Jahren niemand mehr betreten, was definitiv nicht der Fall ist, wurden doch die letzten brauchbaren Habseligkeiten meines Großvaters vor nicht mehr als zwei Wochen von verschiedenen sozialen Einrichtungen abgeholt, um damit für wenig Geld anderen Menschen noch eine Freude machen zu können, wie es Opas letzter Wunsch war.Der große Spiegel an der Flurwand hängt noch da, ihn wollte keiner haben, zersprungen wie er mittlerweile ist. Ich stelle mich davor, sehe das Kind, das ich einmal war. Wie oft habe ich vor diesem Spiegel gestanden und herumgealbert, mich verkleidet und junge Dame gespielt. Wahlweise das arme Kind aus dem Waisenhaus, das betteln gehen musste. Ein Spiel, dass meine Cousine und mich immer faszinierte, nach dem wir beide Kinderbücher gelesen hatten, in denen arme Kinder vorkamen, wie in dem todtraurigen Märchen „Klingt meine Linde“ von Astrid Lindgren, das uns jedes Mal zu Tränen rührte. Ich bin versucht, den Spiegel, der so viel kleiner scheint als in meiner Kindheit, von der weiß getünchten Wand zu reißen, möchte ihn mitnehmen. Aber die Zeit läuft mir davon. Was soll ich außerdem mit einem irreparablen Gegenstand anfangen. Wenn ich das ganze Haus sehen möchte, muss ich mich beeilen, denn eine Viertelstunde ist so gut wie nichts. Noch immer im Flur stehend brauche ich mich nur einmal nach links zu drehen, ein zwei kleine Schritte zu machen und befinde mich auch schon in dem Raum, der einst das Schlafzimmer meiner Großeltern war. Es ist ganz und gar leer. Bis auf diesen Geruch, den ich wahrscheinlich nie wieder loswerde. Es ist der Geruch meiner Großeltern, unverwechselbar. „Oma, Opa, seid ihr hier?“, möchte ich rufen, weiß aber natürlich, dass ich keine Antwort mehr bekommen werde. Woher denn auch, denn an Stimmen aus dem Jenseits glaube ich nicht, was sich nicht mit meinem Wissen ob meiner anwesenden Uroma beißt, auch wenn ich nicht erklären kann, wieso das so ist. Vielleicht kann ich nur Geister zulassen, die bereits in meiner Kindheit entstanden sind. Außerdem ist meine Uroma da, sie kann ich zumindest in den Räumen, in denen sie lebte, spüren, während ich genauso deutlich die unwiderrufliche Abwesenheit meiner Großeltern im ganzen Inneren spüre.Hier stand früher das große Ehebett, gegenüber an der Wand der gewaltige dunkelbraune Kleiderschrank, in dem ich mir so gerne Opas Hosen angesehen habe, weil die so schön geräumig waren. Und hier neben der Schlafzimmertür, ich weiß genau, dass es die richtige Stelle ist, stand ein Tisch mit einer alten schwarzen Singer-Nähmaschine und einem kleinen Nähkästchen darauf. Unmengen von Knöpfen aller Farben und Größen waren darin aufbewahrt, mit denen sich so herrlich spielen ließ. Mal waren die Knöpfe Schulkinder, die unterrichtet werden mussten, ein anderes Mal waren es Patienten in einem Krankenhaus, dann wieder anmutige Kunstturner, die gewagte Dreifachsalti vom Reck vorführten.Rechts vom Flur die Küche. Ein neuer Geruch. Was ich hier wahrnehme, ist der Duft nach Kartoffeln. Wie spannend es doch war, Oma beim Kartoffelschälen zuzuschauen und selber die sauberen Kartoffeln in das kalte Wasser im Kochtopf werden zu dürfen. Platsch. Patsch. Gleich wird meine Oma aus der Küche kommen, den Kochlöffel schwingen und mich in die Töpfe schauen lassen, in denen das leckerste Mittagessen, ausreichend als Wochenvorrat für eine ganze Fußballmannschaft, vor sich hin brodelt. Und in einem dieser Töpfe sind die Salzkartoffeln, immer und jederzeit. In einem anderen sicherlich Erben oder Rotkohl mit Apfelstückchen und Zimt, in der Pfanne das Fleisch und in dem kleinsten Topf eine leckere Sauce, die später in die Sauciere mit dem weiß-blauen Zwiebelmuster umgefüllt wird. Im Kühlschrank steht sicherlich schon der Pudding für hinterher. Vanille meistens, zum Glück nicht in der gekochten Form, die ich nicht mag, weil sich darin immer diese ekligen Klümpchen bilden. Wie auf Kommando fängt mein Magen an zu knurren, den ich aber auf später vertrösten muss, denn die Kücheneinrichtung gibt es genauso wenig wie den Pudding und die Kartoffeln. Alles ist weg. Nur ein weiterer leerer Raum. Und der Geruch ist natürlich auch nichts als Einbildung. Als ich die Küche schon wieder verlassen will, macht mein Erinnerungsvermögen noch einen Abstecher zu Omas Butterkuchen, dem besten, den ich je gegessen habe und der zu einem Besuch bei meinem Großeltern gehörte, wie die Erdbeeren in den Erdbeerkuchen. Diese Mandelschicht obendrauf...mmmmhhhh. Warum nur habe ich es versäumt, Oma zu ihren Lebzeiten nach dem Rezept zu fragen, das seit Generationen in ihrer Familie war und das gehütet wurde wie der heilige Gral. Nun ist es zu spät, denn die anderen haben auch nicht gefragt und die selbstgestalteten Backbücher auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Wieder eine Sache, aus der ich für mein weiteres Leben lerne. Ich muss fragen, fragen, fragen, so lange die Menschen, die mir die Antworten geben können, noch unter uns sind.Am Ende des Flures befindet sich das Wohnzimmer. Mir wird flau im Magen. Gleich werde ich sie sehen, die Großeltern. Alles wird wie immer sein. Oma auf der braunen cordartigen Couch, Opa im Sessel mit der hochfahrbaren Fußstütze, auf der er so gerne seine Beine ausstreckte und nebenbei fernsah oder in seinen dicken Orchideenbüchern blätterte.. „Hallo Katilein“, wird meine Oma erfreut ausrufen. Ich werde zu ihr gehen, sie wird die dicke Wolldecke, in die sie wegen dauernd kalter Füße meistens eingewickelt ist, zur Seite schlagen, sich aufrichten, mich umarmen und mir einen Kuss auf die Wange geben. Bei Opa wird es ein etwas förmlicherer Handschlag sein. Wir verstehen uns nicht so gut wie Oma und ich. Opa und ich haben eine schwierige Beziehung. Ich habe das Gefühl nie gut genug zu sein, seine hohen Erwartungen im Gegensatz zu meinen Vorzeigecousinen – brav, angepasst, immer das erwartete machend - nie ganz erfüllen zu können. Vielleicht können wir uns gleich aber endlich einmal schön unterhalten, wenn ich das Wohnzimmer betrete. Noch wenige Schritte...Im Wohnzimmer herrschen Leere und eine beinahe unerträgliche Stille. Hier an der Wand hing die große Uhr, Tick-Tick-Tick in jeder Sekunde und Gong-Gong-Gong zur vollen Stunde. Wie hat mich dieses Geräusch genervt als Kind, wie hat es mich deprimiert. Jetzt aber wünsche ich mir das Ticken zurück, ist die Stille kaum auszuhalten. Die Bücherregale sind weg, das von meinem Opa selbst gebaute Holz-Solitärspiel, der Fernseher, in dem wir so oft zusammen die Vierschanzentournee der Skispringer gesehen haben, Omas Lupe, die vielen Straßenkarten, die Oma stundenlang studieren konnte. Sie kannte jeden Ort, jede Reiseroute, war ein wandelnder Atlas. Oma kannte sie alle. Hintertupfingen, Kleinwaldhinterdorf, Kleinstkleinkleckerdorf, AmRandeVonNirgendwoDorf...Außerdem löste sie ständig neue Kreuzworträtsel, was sie zu einem perfekten Telefonjoker bei Wer wird Millionär“ gemacht hätte, wenn sie nicht viel zu ängstlich für einen verbalen Fernsehauftritt aus dem Off gewesen wäre.Auf der breiten Fensterbank war der ganze Stolz meines Opa beheimatet, seine Orchideen. Alle sind sie weg, genau wie die Pflanzen im Wintergarten. Meine Tante hat sie mitgenommen und die ersten wahrscheinlich schon zu Tode gepflegt, denn den legendären grünen Daumen meines Opas besitzt niemand sonst in der Verwandtschaft. Er aber hatte ihn, konnte jede Blume zum Blühen bringen, selbst die ganz schwierigen Exemplare. War meine Oma ein wandelnder Atlas, so war mein Opa ihr Gegenstück im Bereich der Pflanzenkunde. Kaum ein thematisch passendes Buch, das er nicht gelesen hätte, obwohl Lesen ansonsten eine Beschäftigung war, die ihn überhaupt nicht interessierte. Oder doch, denn einen Roman hat er tatsächlich in seinen fast 100 Jahren auf Erden gelesen, Thomas Manns Buddenbrooks, das in der Familie meiner Mutter beinahe den Status einer Familienbibel hatte, da es das einzige Buch war, das alle gelesen und alle gefesselt hatte. Eine Begeisterung, die ich bis heute nicht teilen kann, auch wenn ich alle zwei Jahre den Versuch unternehme, doch noch das Geheimnis zu ergründen, warum ausgerechnet dieser Untergang einer Lübecker Familie als das literarische A und O in diesem Teil meiner Verwandtschaft gilt. Bisher sind meine Versuche bereits nach 20 Seiten kläglich gescheitert.Ich gehe nach draußen in den großen Garten, der mir als Kind vorkam wie das unendliche Paradies. Überall blühende Blumen in den buntesten Farben, Himbeersträucher, Johannisbeersträucher, der Teich mit den lustigen und gar nicht langweiligen Fischen und Seerosen, das Treibhaus mit der stickigen Luft, die Treppenstufen zum Haus, auf denen mir einmal ein Kuchenteller aus der Hand gefallen und eine lebenslange kleine Narbe an der linken Hand hinterlassen hat. Wenn einmal alle Erinnerungen verblassen, wird diese doch immer bei mir bleiben. Der Garten sieht heute verwahrlost aus, nichts ist mehr da von der liebevollen Pflege, die mein Opa ihm hat zukommen lassen. Ein trauriger Anblick. Nun aber schnell zurück ins Haus, die Zeit drängt.Mein Weg führt mich vom Wohnzimmer zurück in den Wohnungsflur, von dem aus eine Treppe in die obere Etage führt. Ich spüre, dass das, was mich oben erwartet, der eigentliche Grund für mein Herkommen ist. Als ich ein kleines Kind war, war das Obergeschoss von meiner Uroma bewohnt. Nach ihrem Tod –damals war ich gerade einmal zwei Jahre alt und sie wurde an meinem Geburtstag beerdigt - wurde sie kaum noch benutzt und diente eher als Lagerraum für aussortierte Möbel, Spiele, Bücher und viele andere Gegenstände. Man konnte dort aber auch wohnen, denn es gab ein Bad und ein Schlafzimmer. Und dieses Schlafzimmer war mein Problem. Hier starb meine Uroma in einer milden Dezembernacht. In dem selben Bett, in dem ich als Kind schlief, wenn ich einmal bei meinen Großeltern übernachtete. Ich lag da, wo auch schon die Leiche gelegen hatte. Gruselig. Unheimlich. Ich spürte meine Uroma überall in dieser oberen Etage, vermutete sie in jeder Ecke. Waren wir bei meinen Großeltern zu Besuch und ich wurde gebeten, ein Spiel von oben zu holen, erledigte ich den Auftrag in einem wahrem Rekordtempo. Blitzschnell die Treppe hoch, ratzfatz das gewünschte Spiel aus dem Regal gezogen und wieder nach unten gerannt als wäre ein Löwe hinter mir her. Ich hatte immer Angst dort oben. Ich wusste, gleich würde meine Uroma vor mir stehen und mich ansprechen. Und ich würde vor lauter Schrecken tot umfallen oder zumindest ohnmächtig werden. Natürlich ist nie etwas passiert und natürlich habe ich nie jemandem etwas von meinen Ängsten erzählt, schließlich wollte ich nicht beruhigt werden –„Die Uroma kann gar nicht da oben sein, du weißt doch, dass sie tot ist“- , denn schließlich wusste ich, dass sie immer da war, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. „Die Phantasie eines Kindes“, würden die meisten Menschen sicherlich dazu sagen oder „Das Kind hat eben zu viele Gruselgeschichten gehört.“ Aber genau das ist es ja, ich wollte nie unheimliche Geschichten hören und wusste auch nicht, dass viele Menschen daran glauben, dass der Geist der Toten weiterlebt. Ich wusste nur, dass es dort oben nicht mit rechten Dingen zugeht und meine Uroma sich jederzeit wieder aus dem Totenbett erheben konnte.Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube steige ich die Treppe hoch und bin schließlich am Ort meiner frühesten Kindheitsängste angekommen. Alles ist wie früher. Alles ist noch da. Kein einziges Möbelstück ist aus diesem Teil des Hauses entfernt worden, warum auch immer. Und auch ich habe mich in Hinsicht auf Uromas Geist nicht verändert, habe die gleichen Gefühle wie als Kind, auch wenn ich diese Zimmer zuletzt vor mehr als drei Jahren betreten habe. Wenn die Einrichtung noch da ist, kann auch die Uroma nicht weit sein. Ein Schauder läuft mir den Rücken hinunter, der schier übermächtige Fluchtreflex ist wieder da, war nie weg. Ich hole tief Luft und betrete den Ort meiner schlimmsten Schrecken, das Schlafzimmer, in dem meine Uroma vor fast drei Jahrzehnten ihren letzten Atemzug getan hat. Kati, du weißt, dass sie nicht in diesem Bett liegt und auch nicht in einer Ecke lauert und dass sie selbstverständlich auch nicht in dem wuchtigen Kleiderschrank versteckt ist, der nicht jeden Moment knarzend aufspringen und die Uroma herausfallen lassen wird, führe ich ein inneres Selbstgespräch zur Beruhigung. Kati, du alter Angsthase! Wir sind hier schließlich nicht in einem miesen Horrorfilm oder einem Krimi, in dem einem alle naselang eine neue Leiche aus den unmöglichsten Ecken entgegengepurzelt kommt. Ich fasse es nicht, dass ich wie damals als Fünfjährige in diesem Raum stehe, mich ängstlich umblicke und auf einen Geist warte. Wenn ich noch einen Moment länger hier verweile, werde ich garantiert noch einen Blick unter das große Bett werfen, nur um ganz sicherzugehen. Wahrscheinlich sollte ich endlich erwachsen werden und mein Leben in den Griff bekommen, anstatt den Geistern meiner Kindheit hinterherzujagen.Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich mich sowieso langsam sputen sollte. Und was sollte mich hier auch noch halten, ich habe alles gesehen, bis auf das Bad im Erdgeschoss. Aber auf einen Toilettenabschied werde ich dann wohl doch verzichten können. Ich werfe einen letzten Blick auf das Bett ohne Leiche und will endgültig aus diesem Raum verschwinden, als ich es hinter mir rascheln höre. Mit einem Satz fahre ich herum obwohl ich mich schreckgelähmt fühle, schreie laut auf und spüre die Hand auf meiner Schulter. Die Hand. Ich wusste es immer, ich wusste es und nun ist es Realität. Uroma Marie ist hier in diesem Raum, in dem ich sie schon die letzten 28 Jahre vermutet habe. Sie steht da direkt vor mir, den Blick zunächst wie hypnothisiert auf ihr Totenbett geheftet und lächelt mich schließlich aus ihren alten braunen Augen in dem faltigen Gesicht an, das so bekannt unbekannt ist. Viele Fotos habe ich gesehen von der stolzen Frau mit dem weißen strengen Haardutt, die solche Angst vor Gewittern hatte, dass sie jedem Anwesenden stets verbot, bei Gewitter ein Brot zu schmieren, da der Blitz schließlich in das Messer einschlagen könnte. Jedes Gewitter verbrachte sie versteckt unter einer Wolldecke. Außerdem war es ihrer Meinung nach selbst bei hochsommerlichsten Temperaturen viel zu kalt, um ein Eis zu essen. Noch schlimmer war nur das Vergehen Eis zu essen und hinterher ein zimmerwarmes Getränk zu sich zu nehmen, was auf jeden Fall schlimmste Magenkrämpfe hervorrufen würde, was natürlich nie passiert ist. Sie war schon sehr eigen, wenn ich den Erzählungen Glauben schenken darf. Eigen und sehr liebenswert. Leider habe ich sie kaum bis gar nicht gekannt, denn wie soll man jemanden wirklich kennenlernen, der stirbt, wenn man selber noch fast Quark im Schaufenster ist? Eine Erinnerung habe ich aber an die alte Frau, die vor mir steht und als hätte sie meine Gedanken erraten, auf einmal geisterhaft durch das Zimmer schwebt, den Flur entlang, die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer, in dem wundersamerweise wieder der alte Korbsessel steht, in dem sie immer gesessen hat. Sie setzt sich hinein und sieht mich fragend an. Ich nicke. Ja, genau das ist die Szene, an die ich mich erinnere. Die einzige, um genau zu sein. Wie sie immer in diesem Stuhl gesessen und den Gesprächen der anderen gelauscht hat. Selber hat sie nie viel dazu beigetragen in ihren letzten Lebensjahren, war mit den Jahren immer stiller geworden. Meine Cousine Julia und ich haben diese Alte-Frau-Im-Sessel-Am-Fenster-Szene stets fasziniert beobachtet, miteinander geflüstert und gefragt, wer sich traute, hinzugehen zur Uroma, die uns ab und zu gerne eine Geschichte vorgelesen hat. Jetzt sitzt sie wieder da, so wie früher, so wie immer. Warum habe ich sie nie gesehen in den vielen Jahren, in denen ich so oft in diesem Haus zu Besuch war? Warum erscheint sie erst jetzt? Die Antwort schwebt mir durch den Kopf...wahrscheinlich ist sie auch noch einmal hier, um Abschied zu nehmen. Sie spricht nicht, sitzt einfach still da, scheint mit sich und der Welt im Einklang zu sein. Wo wird sie hingehen, wenn dieses Haus abgerissen ist? Werde ich ihre Anwesenheit noch einmal irgendwo spüren? Wahrscheinlich nicht, denn gespürt habe ich sie immer nur hier in diesem Haus, nirgendwo sonst. Ich will sie fragen, ob sie tatsächlich in all den Jahren im Obergeschoss herumgespukt ist und wenn ja, warum ich sie nie gesehen habe. Mein Mund ist schon geöffnet, die Worte wollen heraus, aber als die ersten Silben sich auf den Weg nach draußen machen, ist sie verschwunden. Auch der Sessel ist nicht mehr da. Ich blicke mich um, in unrealistischer Erwartung, sie würde jeden Moment wieder auftauchen. Aber nichts geschieht. Ich stehe in dem leeren ehemaligen Wohnzimmer meiner Großeltern, wissend, dass ich keine Zeit mehr habe, dass die Arbeiter mit dem Abriss beginnen wollen. Eine Sache bleibt aber noch zu erledigen. Ich muss es wissen. Noch einmal betrete ich die obere Etage. Gleich wird es sich wieder einstellen, das fast drei Jahrzehnte alte Gefühl ihrer Anwesenheit. Ich sehe mich in der alten Wohnstube um, nichts. Ich gehe in das Schlafzimmer mit dem Bett und weiß, dass es gleich passieren wird. Ich halte die Luft an. Gleich werde ich es spüren, gleich werde ich wieder flüchten wollen. Doch nichts passiert. Rein gar nichts. Sie ist weg. Nach so vielen Jahren, so vielen durchlebten Kindheitsängsten ist Uromas Geist verschwunden. Ich weiß nicht, warum, werde es nie wissen.Da höre ich schwere Schritte auf der Treppe und eine Männerstimme, die nach mir ruft. Ich zucke zusammen, fühle mich wie aus einer Trance erwacht. Es ist einer der Arbeiter, der den Raum betritt. „Entschuldigen Sie vielmals, wir wollen Ihren Abschied von diesem Haus nur ungern unterbrechen, aber leider müssen wir uns an einen strikten Zeitplan halten und Sie deshalb bitten, das Haus nun zu verlassen.“ Er zögert einen Moment und fügt dann lächelnd hinzu: „Na gut, sagen wir in fünf Minuten.“ Schnell verschwindet er. Ich bleibe allein zurück und diesmal anscheinend wirklich alleine. Zum ersten Mal hier oben ohne Uromas Geist, ein seltsames Gefühl. Ich fühle mich leer.Langsam mache ich mich auf den Rückweg, bleibe im Hausflur noch einmal kurz stehen. Es ist soweit, gleich werde ich das Haus für immer verlassen und nie mehr zurückkehren können. Auch Uroma Marie hat dieses Haus soeben verlassen, auch sie wird es nie mehr betreten. Ich werde nie wissen, warum ich als einzige immer ihre Anwesenheit wahrgenommen habe. Alle Menschen, denen ich in den letzten Jahren von Uromas Geist erzählt habe, haben mich für verrückt erklärt und wollten mir stets einreden, dass ich nun wirklich keine Geister spüren könnte. Doch ich wusste immer, dass ich recht hatte. Vielleicht hat Uroma Marie mich aus diesem Grund heute besucht. Vielleicht wollte sie mir zeigen, dass sie weiß, dass ich immer an ihre Anwesenheit geglaubt habe und wollte mir sagen, dass sie tatsächlich da war. Wissen werde ich es nie, glauben werde ich es immer.Ich trete aus der Haustür, blicke mich noch einmal kurz um und winke in einer spontanen Geste einmal zum Schlafzimmerfenster im Obergeschoss hinauf. Tschüss, Uroma Marie. Ich wünsche dir ein langes schönes Geisterleben.