Читать книгу Oma mordet und andere Kuriositäten - Simone Paulini - Страница 4
ОглавлениеOma mordet
Sie sieht aus wie die Unschuld vom Lande. Mit den Jahren ist sie ein wenig rundlich geworden, doch blicken den Betrachter noch die gleichen warmen blauen Augen an wie in ihrer Jugend und auch ihre Haare sind noch ebenso lockig und dicht wie früher, nur eben nicht mehr braun sondern schneeweiß. Von alten Frauen, die ihr Haare färben, hält sie nichts. „Warum stehen sie nicht zu dem natürlichen Lauf der Dinge?“, fragt sie dann und fügt kokettierend hinzu „Sehe ich etwa nicht weise aus mit meinen weißen Haaren?“ Wer sie sieht, ist geneigt, ihr seine Kinder ohne Wenn und Aber anzuvertrauen, ihr, der lieben Märchenoma. Mit den Kleinen zu spielen und ihnen bei selbstgebackenem Kuchen Geschichten zu erzählen ist ihre Welt, so die verbreitete Meinung über sie. Niemand würde es für möglich halten, dass diese sympathische alte Frau ein Hobby hat, das ganz und gar nicht in das Liebe - Oma - Klischee passt: Morde. Nun könnte man annehmen, dass sie gerne einen guten oder auch weniger guten Kriminalroman liest oder es sich sonntags beim Tatort vor dem Fernseher gemütlich macht und fleißig bei der Tätersuche miträt. Aber nein, Rosa mordet selber. Genauer gesagt, ist sie eine der meist gesuchten Mörderinnen Deutschlands, mit der sich seit vielen Jahren die SOKO Ballett beschäftigt. Zehn Opfer hat sie bereits auf dem Gewissen, heute soll die Krönung folgen, der finale Mord, auf den sie sich seit dem Morgengrauen vorbereitet. Schiefgehen darf nichts, denn nur noch ein einziger Abend trennt sie von ihrem neuen Leben.
18 Uhr.Rosa steht vor dem Spiegel und macht sich zurecht. Heute kommt es ihr sehr zugute, dass sie in ihrem Beruf auch professionelles Schminken gelernt hat, so dass sie ihre Wangen an diesem Abend besonders faltig und runzlig erscheinen lassen kann. Jetzt noch schnell die große Brille aufgesetzt, mit der sie halb blind wirkt und bei ihren Mitmenschen diese teilnahmsvollen Blicke auslöst, die meistens nicht nur „Diese arme alte Frau“ besagen, sondern auch „Wie gut, dass nicht ich die Betroffene bin“. Perfekt. „Ich bin eine liebe alte, aber leider auch kränkliche Oma, die einen schönen Theaterabend erleben will“, trällert sie fröhlich vor sich hin. Sie weiß, dass die Menschen genau das in ihr sehen werden, was sie beabsichtigt. Alles Illusion.
Schnell nimmt Rosa in ihrem Rollstuhl Platz. Rüstig wie sie ist, könnte sie den nicht allzu weiten Weg problemlos zu Fuß zurücklegen, doch ist sie heute auf Hilfe angewiesen. Ihr jüngster Enkelsohn, ein Arzt, wird sie begleiten. Ihm hat sie erzählt, sie würde sich in letzter Zeit nicht sehr wohl fühlen und ob er sie nicht mit dem Rollstuhl – den sie einem Einbruch in einen Theaterrequisitenraum zu verdanken hat - ins Theater bringen könnte.
Es klingelt. Der Enkel ist da. „Hallo Oma“, sagt er, „dann wollen wir beide uns mal einen schönen Abend machen. Was fehlt dir eigentlich? Soll ich dich nicht einmal in meiner Praxis untersuchen?“, fragt er mit besorgter Stimme und betrachtet unauffällig die vielen Falten im Gesicht der alten Dame. Alt ist sie geworden in den letzten Wochen, denkt er mitleidig. Die Oma aber macht nur eine wegwerfende Handbewegung und murmelt etwas von „doch langsam das Alter spüren“. „Schaffst du denn die eine Treppe nach unten, Oma?“, möchte der Enkel wissen. „Oder soll ich dich besser im Rollstuhl nach unten tragen?“ „Unsinn“, antwortet die alte Frau unwirsch. „Die paar Stufen werde ich ja wohl schaffen. Schlimm genug, dass ich mich in diesem Ding durch das Theater fahren lassen muss. Weißt du, Junge, ich war einmal eine sehr gute Tänzerin. Da lernt man, sich nicht gehenzulassen. Und außerdem, so alt und gebrechlich bin ich nun auch noch nicht. Der Johannes Heesters ist alt, aber ich, ich könnte doch glatt seine Tochter sein!“
„Du kannst mich dann gleich in die erste Reihe schieben, ich sitze dort ganz rechts am Rand“, weist Rosa ihren Enkel an. „Du sitzt leider etwas weiter hinten, weil hier vorne schon alles ausgebucht war.“ Natürlich waren bei dem Kartenkauf noch vereinzelt Sitze in der ersten Reihe frei, doch kann Rosa den Enkel bei dem Mord zunächst nicht gebrauchen. Sein Einsatz, von dem er allerdings nichts ahnt, kommt erst später. Nach dem tödlichen Schuss auf die Tänzerin wird Rosa sich ans Herz fassen und kurz Hans...Hilfe röcheln, bevor sie im Rollstuhl zusammenbricht. Sicherlich wird einer der Anwesenden geistesgegenwärtig genug sein, sofort nach einem anwesenden Arzt zu fragen. Rosa bedauert, den Ablauf keiner Generalprobe unterziehen zu können, weiß sie doch von den Ecken und Kanten ihres Plans, doch liebt sie den Nervenkitzel und fühlt sich gelangweilt von dem immer gleichen Mordmuster. Da ihre Recherchen ergeben haben, dass Atemnot zu den möglichen Symptomen eines Herzanfalls gehört, wird sie dem Enkel mit schwacher Stimme mitteilen, dass sie sofort aus dem Gebäude heraus muss, weil sie nur schwer Luft bekommt. Davon einen Krankenwagen zu rufen, wird sie Hans schon abhalten und sich draußen erstaunlich schnell erholen. Es war wohl nur der Schock wegen des Schusses, wird sie ihm sagen und sich nach Hause bringen lassen.
In dem ganzen Tumult, der nach dem Schuss im Theater ausbrechen wird, wird niemand daran denken, die Personalien der alten kranken Frau und deren Enkel aufzunehmen, um sie wegen des Mordes zu befragen. Und falls doch, wird sie der Polizei erzählen, dass sie sich wegen des Schocks an nichts erinnern kann. Oder ich denke mir wertvolle Hinweise aus, die ich der Kripo mitteilen kann, überlegt sie aufgekratzt. Ein paar falsche Spuren wären auch nicht schlecht. Aber nein, lieber nicht zu sehr auffallen, auch wenn „Oma als Kopf der SOKO“ eine schöne Schlagzeile liefern würde.
Bisher läuft alles nach Plan. Freundlich grüßt Rosa den älteren Herrn auf dem Platz neben ihr, fragt, ob er denn häufiger ins Ballett geht. Wie sich herausstellt, ist er heute nur anwesend, weil die Enkel unbedingt etwas für seine Bildung tun wollen. „Als ob das bei einem alten Opa noch etwas bringen würde“, brummt er, zwinkert Rosa dabei aber vergnügt zu. „In so charmanter Gesellschaft ein Ballett anzuschauen ist vielleicht doch schöner als alleine vor dem Fernseher zu sitzen“, lässt er seine Sitznachbarin noch wissen. „Sollte ich aber einschlafen, wecken Sie mich bitte nicht, es sei denn, ich schnarche.“
Leise erklingen die ersten Töne der Schwanensee – Ouvertüre. Die Musik schwillt an, wird immer lauter. Schließlich öffnet sich der schwere rote Vorhang und schon betritt der Star des Abends die Bühne, die russische Primaballerina Ludmila Antipina, die heute in der deutschen Großstadt eine Sondervorstellung mit dem Moskauer Staatsballett gibt. Es wird ihr letzter Auftritt sein, danach wird sie sich zur Ruhe setzen. Sie wird noch einmal alles geben in der schwierigen Doppelrolle des weißen und schwarzen Schwans. Anschließend darf sie noch den „Sterbenden Schwan“ tanzen, mit dem vor hundert Jahren ihre Landsfrau Anna Pavlova unsterblich geworden ist.
30 Minuten Pause. Während der Enkel sich zum Sektempfang begibt, kommen die beiden alten Herrschaften ins Gespräch. Nach einigem Geplänkel erzählt der alte Mann, dass er vor kurzem etwas über die rätselhaften Ballettmorde gelesen hat, die ihn sehr interessieren. „Wie kann es sein, dasss jemand zehn Jahre lang deutschlandweit Tänzer umbringt ohne jemals gefasst zu werden? Wissen Sie, das kommt dem perfekten Mord schon sehr nahe“, sagt er. „Was wäre denn in Ihren Augen ein ganz und gar perfekter Mord“?, möchte Rosa wissen. „Nun, ein Mord, der nie als solcher bewiesen werden kann obwohl jeder weiß, dass es sich um Mord handelt.“ „Was interessiert Sie so an den Ballettmorden?“, hakt Rosa neugierig nach und schließt an „Natürlich habe auch ich davon gehört, doch weiß ich nicht mehr, als dass der Täter immer nach dem gleichen Muster mordet. So habe ich gelesen, dass seine Opfer immer vergiftet in dessen Hotelzimmer aufgefunden wurden und er am Tatort eine Ausgabe von „Die Morde des Herrn ABC“ hinterlassen hat, weil entweder die Stadt oder der Name des Ermordeten in alphabetischer Reihenfolge stehen.“ „Ganz richtig“, bestätigt ihr Sitznachbar. „Und man hat nie auch nur die kleinste Spur von dem Täter gefunden. Oder auch nur einen Bezug zum Ballett. Die gefundene DNA ist nutzlos, weil sie nirgendwo registriert ist. Polizeilich gesehen ist der Mörder ein unbeschriebenes Blatt. Wissen Sie, gnädige Frau, ich wünsche mir sehr, dass ich die Ergreifung des Täters noch erleben werde, denn das möchte ich schon wissen, wer für all das verantwortlich ist und vor allem, warum. Aber wissen Sie, ich bin nun schon 85 und da wird es von Tag zu Tag unwahrscheinlicher, dass ich noch eine Antwort auf diese Frage bekommen werde. Immerhin tappt die Polizei schon seit einem Jahrzehnt im Dunkeln. Der Täter ist einfach zu gerissen.“ „Unsinn“, erwidert Rosa bestimmt, „Sie wirken doch sehr fit und rüstig, da können Sie noch gut 20 Jahre die Ermittlungen verfolgen „Das würde mir gefallen“, antwortet er. „Habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, dass ich selber einmal bei der Kriminalpolizei gearbeitet habe? Wenn ich doch noch einmal etwas jünger wäre...“ Rosa grübelt einen Augenblick und sagt: „Was Sherlock Holmes kann, können wir auch. Passen Sie auf, jeder von uns gibt vor den Mörder überführt zu haben und erzählt eine Geschichte über den Täter und dessen Motiv. Dann können wir uns anschließend entspannt zurücklehnen und den Fall als abgeschlossen betrachten.“ Ausgezeichnete Idee, meine kleinen grauen Zellen werden sich über die Arbeit freuen. Nun bereiten Sie mir aber bitte die Freude zunächst Ihren Bericht hören zu dürfen, gnädige Frau.“ Nach einem kurzen Zögern beginnt Rosa zu erzählen: „Die Geschichte ist mir einfach in den Sinn gekommen, als von dem letzten, oder dem bisher letzten, wie man wohl leider sagen muss, Ballettmord geschrieben wurde. Aber bitte lachen Sie nicht, ich habe manchmal eine blühende Phantasie. Sehen Sie“, sagt sie und macht eine kleine Pause, „normalerweise würde man sich den Täter eher als Mann vorstellen, der vielleicht Rache an einer ehemaligen Geliebten, einer Tänzerin, nehmen möchte, und für die nun weitere Tänzerinnen sterben müssen, weil er einfach nicht mehr aufhören kann zu morden. Stellen wir uns aber einmal etwas ganz anderes vor. Nehmen wir an, und denken Sie daran, meine Geschichte ist mehr als unglaubwürdig, aber dafür interessant, der Täter ist eine Frau, sogar eine alte Frau. Diese alte Frau ist in ihrer Jugend eine gefeierte Tänzerin, kommt aber mit dem Ruhm und dem Erwartungsdruck, sowie den ständigen Sticheleien der Kolleginnen nicht zurecht, so dass sie eines Tages ihre Ballettschuhe an den Nagel hängt und ihr Leben an Drogen, Alkohol und Nikotin zu zerbrechen droht. Sie begeht einen Selbstmordversuch. Und nun kommt der Retter ins Spiel, der Held, den ich mir immer wie Brad Pitt vorstelle. Und lachen Sie bloß nicht, weil ich in meinem Alter für solch einen Jungspund schwärme“, sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln. „Der Held ist ein junger, gutaussehender Arzt, der ihr nicht nur das Leben rettet, sondern sie auch auf den „rechten Pfad der Tugend“ zurückbringt und den sie schließlich heiratet, was sie bedauert als sie der Realität eines für sie tristen Lebens als Hausfrau, Mutter und Arztgattin, begegnet. Ihr Traum von einer großen Tanzkarriere ist geplatzt und lässt sie nun zwischen Kochtöpfen und Wäschebergen zurück. Eines Tages fängt sie an ihren Mann zu hassen, der ihr das in ihren Augen alles angetan hat. Sie vergiftet ihn nach und nach mit Arsen und beschließt nun auch die anderen Menschen, die Mitschuld am Ende ihrer Karriere hatten, büßen zu lassen. Da sie die Kolleginnen von damals nicht mehr ausfindig machen kann, müssen deren Nachfolgerinnen sterben. Unter einem Vorwand besucht sie Tanzschulen, erzählt, dass sie gerne mit den Tänzerinnen über das heutige Ballettleben sprechen möchte. Eine der Tänzerinnen lädt sie dann auf dem Heimweg, den diese alleine antritt, in ihr Hotelzimmer ein um noch ein wenig weiter zu reden. Verspricht ihr leckeren Kuchen und Andenken aus ihrer eigenen Tanzzeit. Niemand erfährt davon. Die Tänzerin bekommt vergifteten Kuchen serviert. „Den Kuchen habe ich gestern vor der Reise noch selber gebacken“, erzählt unsere Täterin „und nun darf ich selber leider nichts davon essen, weil ich mir gestern abend eine leichte Magenverstimmung zugezogen habe. Nichts Ernstes, aber ich sollte heute doch lieber noch bei Zwieback und Tee bleiben“. Ist das Opfer tot, versteckt die alte Dame es in ihrem Hotelzimmer und reist früh am nächsten Morgen ab, bevor der Zimmerservice mit den Reinigungsarbeiten beginnt. Der Plan funktioniert immer. Niemand erfährt vorher von ihren Reiseplänen, sie fährt stets mit einem anderen gefälschten Pass, und erscheint in jeder Stadt mit einem völlig anderen Aussehen. Sie hinterlässt keinerlei Spuren bis auf eine Ausgabe von Agatha Christies „Die Morde des Herrn ABC“, die sie neben der Leiche plaziert. Vielleicht ist sie heute abend sogar unter uns“, sagt Rosa mit einem leichten Schaudern in der Stimme. „Interessante Theorie“, sagt ihr Sitznachbar bewundernd. „Aber völlig absurd“, erwidert Rosa, „oder können Sie sich etwa eine 88-jährige Dame als Mehrfachmörderin vorstellen? Nun lassen Sie mich aber doch bitte auch Ihre Version hören.“
Da gongt es. „Erlauben Sie mir, Ihnen meine Theorie nach der Aufführung darzulegen. Nur stellen Sie sich noch kurz vor, der Großvater eines der Mordopfer hätte auf Umwegen alles herausgefunden und die alte Dame ausfindig gemacht. Und gehen wir noch einen Schritt weiter. Wie wäre es, wenn er auch anwesend ist weil er weiß, dass die Täterin hier und heute in den Schwanensee geht und er die alte Frau mitten im Theatersaal umbringen möchte? Und nun werden wir einmal ganz utopisch.“ Lachend sagt er: „Es könnte doch sein, dass Sie die Mörderin sind und ich der alte Großvater und Sie nachher sterben werden.“ Noch einmal lacht er herzhaft, wie nach einem besonders gelungenen Scherz. Und Rosa lacht mit.
Die Zugabe. Der sterbende Schwan. Der Schwan kämpft um sein Leben, flattert aufgeregt mit den Flügeln, kann dem Tod aber nicht entkommen. Schließlich werden die Flügelschläge langsamer, er sinkt zu Boden, bleibt regungslos liegen.
Niemand achtet auf die alte Frau im Rollstuhl, die nur wenige Meter von der Bühne entfernt sitzt und deren behandschuhte Hand unauffällig einen Gegenstand aus der kleinen eleganten Handtasche fingert und diesen dann in den langen weiten Ärmeln ihres Blazers verschwinden lässt. Niemand sieht die kleine Pistolenmündung, die etwas aus dem Ärmel herausschaut und die sie genau auf die Primaballerina richtet. Der alte Herr neben ihr scheint schon seit geraumer Zeit zu schlafen. Blumen fliegen auf die Bühne, die Solistin wird von den Kolleginnen umarmt.
Den tödlichen Stich in die Halsschlagader spürt Rosa nicht mehr. Sie sackt zur Seite, hängt leblos in ihrem Rollstuhl.
Zufrieden schaut der alte Herr zur Bühne und stimmt in den Jubel des Publikums mit ein.