Читать книгу Zwischen Wüste und Meer - Simone Wiechern - Страница 4

Eine Entscheidung muss her

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»Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung.«

-Heraklit-

Bei den Nachbarn fuhren immer mehr Autos auf den Hof. Es war erst neun Uhr morgens und sehr unüblich, dass dort so viele Menschen kamen und nach einer Weile wieder wegfuhren. Ich malte gerade an einem Werbeschild für das Hotel neben mir und bekam das Kommen und Gehen unweigerlich mit.

Eine ehemalige Nachbarin, die mich sah, kam auf mich zu und wir begrüßten uns mit den üblichen Floskeln, bei denen man sich gleich mehrfach erkundigt, wie es allen in der Familie geht. Ich fragte sie, was denn bei den Nachbarn los wäre.

»Mousa, der Sohn von Rabia ist gestern gestorben.«

»Nein, wie ist das denn passiert, er war doch noch so jung«, entgegnete ich tief berührt.

»Diese teuflischen Drogen waren das. Die Familie sagt nichts Genaues, aber zwischen den Worten versteht man es recht deutlich. Wenn nicht bald etwas gegen dieses Teufelszeug unternommen wird, werden noch mehr sterben. In Sharm El Sheikh sind letzte Woche auch zwei junge Männer daran verstorben.«

»Mittlerweile schießen die Beduinen dort ja schon aufeinander«, warf ich ein. »Ich hoffe, dass keine Stammeskriege stattfinden wegen diesem Zeugs und auch, dass Samir im Gefängnis davon Abstand gewinnt.«

Ich biss mir auf die Lippen, um meinen Schmerz zu regulieren, der bei den ausgesprochenen Worten sofort körperlich als auch seelisch in mir zu spüren war.

»Inschah Allah!«, entgegnete Salma. »Aber im Gefängnis soll es auch möglich sein, an Drogen heranzukommen, hat neulich der Neffe meiner Schwester erzählt.«

»Ja, das habe ich auch schon gehört. Du glaubst nicht, wie sehr ich dieses Teufelszeug verabscheue.«

»Ich muss wieder los«, sagte sie und lud mich ein: «Komm doch mal wieder auf einen Tee vorbei.«

»Ja, ich komme gern die Tage mal hoch zu Euch. Masalama, gehe in Frieden!«

»Salamt Allah, der Frieden ist mit Gott!«, entgegnete Salma und ging zurück zu den Nachbarn.

Sehr tief bewegt setzte ich mich an den Strand und schaute auf die Wellen, die sich sacht an mich ranschlichen und wieder verschwanden, um neuen Wellen Platz zu machen.

Erst jetzt, als ich dort allein für mich das eben Gesagte Revue passieren ließ, kam mir die ganze Tragweite der Worte in mein Bewusstsein. Mousa war ein guter Freund meines Mannes gewesen. Ich mochte ihn früher, aber im Laufe der Zeit war er einer dieser vielen ungebetenen Gäste geworden, die zu jeder Tages- und Nachtzeit an unsere Tür geklopft hatten. Ich wusste, dass auch er heroinabhängig war und dies hatte in mir einen Groll auf ihn entfacht. Jetzt tat es mir sehr leid um ihn. Ich fragte mich, ob Samir vielleicht auch schon tot wäre, wenn er nicht schon so lange im Gefängnis sitzen würde. Die letzte Zeit hörte man immer wieder, dass junge Männer an Heroin gestorben waren oder ins Gefängnis kamen.

Tränen begannen meine Wangen herabzulaufen, denn ich dachte an meinen Mann und diese ganze Situation löste eine unsagbare Traurigkeit in mir aus.

Als Nachbarin musste und wollte ich nach nebenan gehen und den Hinterbliebenen meine Hilfe anbieten, und ihnen mein Mitgefühl entgegenbringen. Ich trocknete mein Gesicht, damit meine Jungs meine Tränen nicht sahen, und sagte ihnen, ich würde sie für eine Stunde zu Farruja bringen. Sie freuten sich auf die Frauen und Kinder dort und gemeinsam gingen wir die paar Minuten durchs Dorf. Es gab auf der Strecke einen kleinen Schleichweg zwischen zwei Häusern, der gerade breit genug war, hindurchzugehen. Ich liebte diese kleine Gasse, denn die Beduinen, die dort lebten, hatten neben ihrem Haus einen herrlichen Garten mit Palmen, in denen zur Freude meiner Kinder immer ein paar Hühner herumliefen, die sie gern anschauten und fütterten. Meine Jungs nahmen daher die Tüte mit altem Brot mit. Wir machten erst die Hühner und dann noch zwei Kamele auf dem Weg dorthin glücklich. Es war fantastisch, dass ich nie Essen wegwerfen musste. Irgendwo gab es immer Tiere, die sich herzhaft über unsere Essensreste freuten. Nichts wurde hier weggeworfen oder verschwendet.

Farruja saß mit ihrem Mann am Feuer und ich gesellte mich dazu. Meine Kinder hatten ihren neuen Fußball mitgenommen und sofort war Mohammed, Farrujas taubstummer Sohn, hellauf begeistert, mit ihnen spielen zu können. Auch Farrujas Familie hatte schon von dem Tod des jungen Mannes erfahren und wir sprachen eine Weile darüber. Meine Freundin war genauso verzweifelt wie ich. Zwei ihrer Brüder nahmen Heroin und sie hatte, genau wie ich, schon lange keine Idee mehr, was man dagegen unternehmen könnte. Ich bat sie, kurz auf meine Kinder zu schauen, was sie wie immer ganz selbstverständlich tat, und ging allein zurück in das Haus unserer Nachbarn.

Etwa dreißig Männer und Frauen waren in dem Haus versammelt, und ich ging zu Mousas Frau, um ihr ein paar tröstende Worte zu sagen. Sie bemühte sich kläglich, nicht zu weinen, doch immer wieder tropften Tränen aus ihren Augen, die sie schnell mit ihrem Kopftuch wegwischte, damit sie nicht auf den Boden fielen.

Die Beduinen sagen, dass jede Träne, die um einen Toten geweint wird und auf den Boden tropft, diesen auf dem Weg ins Jenseits wie heißes Wasser treffen würde. Daher bemühten sich die meisten Menschen hier, entweder weniger zu weinen oder die Tränen sofort wegzuwischen. Da die Beduinen stark an ein Leben nach dem Tod glauben, soll man von ihrem Glauben her, die Verlorenen in Frieden gehen lassen und sich darüber freuen, dass sie nun ins Paradies gehen dürfen.

Aber auch Mousas Mutter schluchzte bitterlich und rieb sich ununterbrochen ihr Gesicht trocken. Ich setzte mich neben sie und sprach ein paar hoffentlich passende Sätze.

Sie schaute mich mit glasigen Augen an und bedankte sich, während sie meine Hände in ihre nahm. »Gut, dass dein Mann im Gefängnis sitzt, dann hört er vielleicht auf mit diesem Heroin«, sagte mir die betagte Frau und drückte dabei fest meine Hände. Mir standen bei diesen Worten wieder Tränen in den Augen und ich wollte nur noch weg aus diesem Haus, weg aus dieser Trauer und weg von meinen Gedanken.

Ich blieb anstandshalber jedoch noch eine Weile und half den Frauen ein wenig in der Küche. Alles war besser als nachzudenken.

Als ich später wieder in meinem Haus war, setzte ich mich ans Feuer und ließ alle Gedanken auf mich zukommen.

›Willst du, dass auch du irgendwann so dasitzt und alle um deinen Mann weinen?‹, fragte mich die Vernunft.

›Aber vielleicht hört er ja diesmal auf‹, entgegnete die Hoffnung.

›Das glaubst du doch selber nicht‹, kam sofort der resolute Einwand der Vernunft. ›Wir wissen alle, wie einfach man im Gefängnis an Drogen kommt, das haben dir genug Leute bestätigt. Samir hat weiß Gott schon genug misslungene Versuche, von der Sucht loszukommen, hinter sich. Wenn du immer hinter ihm stehst und dich nicht von ihm trennst, hat er auch keinen Grund sich zu ändern. Du machst das doch alles brav mit.‹

›Ich bin noch vollkommen geschockt von dem soeben Gesehenen‹, warf das Mitgefühl zwischendrin ein.

›Und ich erst recht!‹, meldete sich auch die Angst.

Ich biss auf meinem Daumennagel herum und spürte tief in mir, dass ich all das nicht mehr wollte.

Ich wollte keine Angst mehr haben.

Ich wollte nicht mehr von Sorgen und Sehnsucht erfüllt sein.

Ich wollte nicht mehr die Quittungen für die Drogensucht meines Mannes bezahlen.

Ich wollte wieder glücklich sein und voller Zuversicht in meine Zukunft blicken.

Ich wollte einen Partner, einen Gefährten neben mir.

Ich wollte, dass meine Kinder gute Vorbilder hatten.

Musste ich meinen Kindern nicht irgendwie zeigen, dass ich so ein Verhalten nicht länger toleriere und als Co-Ahängige weiterhin unterstütze?

Je länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde in mir der Wunsch, diese Ehe zu beenden.

Der Schock über Mousas Tod und die Bilder der weinenden Frauen hatten mich sehr tief getroffen und bis ins Mark erschüttert.

Die Hoffnung, die sich in den vergangenen Monaten noch hin und wieder in mir ausgebreitet hatte, wurde von Bergen voller Zweifel so hoch überschüttet, dass kaum noch etwas an die Oberfläche kam.

Ich holte meine Kinder bei Farruja ab und machte ihnen Essen. Danach ging ich direkt zu meiner Freundin und besprach mich mit ihr. Als Psychologin war sie bewandert auf dem Gebiet der Sucht. Auch sie konnte mir keine Hoffnung meinen Mann betreffend mehr machen. Sie kannte Samir und hatte all die letzten Jahre seinen Verfall mitangesehen.

Als ich später meine Kinder in den Schlaf gelesen hatte, setzte ich mich wieder an mein Feuer und starrte in die Flammen.

Feuerzungen stiegen mal hoch und mal breit aus dem schwelenden Haufen empor. Wie die Flammen am Holz hatte Samirs Sucht an meinem einst so stolzen und wunderschönen Wüstenprinzen genagt. Am Schluss war von dem Mann, den ich damals geheiratet hatte fast nichts mehr übrig. So wenig, dass es für ein Dasein als Vater oder Partner nicht mehr ausreichte. Unsere Ehe lag in Schutt und Asche. Der Mann, der so oft mit mir gestritten hatte, weil ich unseren Ruf bewahren und mich mehr als sittsam verhalten soll, weil er stolz auf mich und seine Kinder sein wollte, hatte uns all unseres Stolzes auf ihn beraubt. Fast jeder im Dorf wusste mittlerweile von seiner Abhängigkeit und oftmals wurde mir Mitleid entgegengebracht. Ein Gefühl, dass mich nicht stärker machte, sondern Scham in mir auslöste.

In den nächsten Tagen und Wochen wurde der Gedanke, mich scheiden zu lassen, immer klarer. Doch Samir hatte mir nicht nur einmal gesagt, dass er mir, im Falle einer Scheidung meinerseits, die Kinder wegnehmen würde. Das durfte nicht geschehen. Das hätte vielleicht mein Körper, aber sicher meine Seele nicht überlebt. Ich zerbrach mir viele Stunden den Kopf über dieses Dilemma und suchte nach einem Ausweg.

Ich sprach mit Samirs Mutter darüber, die gerade für eine Weile in Dahab war und mich besuchte. Sie konnte verstehen, dass ich mich trennen wollte. Sie hoffte jedoch noch, dass Samir wieder drogenfrei werden würde. Allerdings war auch ihr anzumerken, dass die Hoffnung in ihren Sohn längst nicht mehr die Dimension hatte, die sie sich für sich selbst gewünscht hätte. Es waren auch für sie schon zu viele Versuche gewesen und zu oft war uns die Macht dieser Sucht nach dem Heroin vor Augen geführt worden. Sie versprach mir, sie würde Samir nicht darin unterstützen, mir die Kinder wegzunehmen. Für die Männer der Familie konnte sie mir jedoch keine Gewährleistung für deren Zurückhaltung geben. Es war wieder einmal ein sehr trauriges Gespräch. Immer öfter und stetig zunehmend wandelte sich die Trauer in eine stärker werdende Wut auf meinen Mann. Seit Jahren war ich ständig traurig und zornig auf Samir. Ich weinte um meinen geplatzten Traum einer heilen Familie, um seine verlorene Freiheit, um die Entbehrungen und die Schmach, die meine Kinder zu erleiden hatten. Allgemein schaffte ich es immer weniger, die positiven Dinge und Umstände um mich herum zu sehen und zu spüren. Ich fühlte mich wie eine Halbtote. Und wenn ich schöne Dinge oder Gelegenheiten doch sah oder manchmal sogar spürte, verbot ich mir manchmal regelrecht mich diesem schönen Gefühl hinzugeben.

›Wie kannst du bloß so fröhlich sein, während dein Mann im Gefängnis sitzt‹, sprach zum Beispiel das Gewissen. Der Anstand setzte dann meist mit einem: ›Dein Mann hat jetzt sicher nichts zu lachen‹, noch einen obendrauf.

Ich musste mich dringend befreien aus diesen Gedankenmustern und solch einer Lebensweise. Es war mein Mann, dem unsere gemeinsamen Kinder und unsere Ehe nicht wichtig genug gewesen waren, um von dem Stoff loszukommen. Meine Kinder und ich mussten aufhören zu leiden. Wir hatten das Recht, glücklich zu sein.

Samir tat mir mittlerweile nur noch leid, denn ich ahnte, dass diese Sucht so stark war, dass man es kaum schaffen konnte, davon loszukommen. Nichtsdestotrotz nahm die Wut auf ihn mehr und mehr zu und vergrub langsam die noch vorhandene Liebe.

Ich konnte immer weniger verstehen, wie man überhaupt auf die Idee kommt, solch eine Droge zu nehmen, wenn man Kinder zu versorgen hat. Samir war in höchstem Grad verantwortungslos gewesen und das war es, was ich an meinem Mann am meisten kritisierte und das mir jetzt diese tiefe Enttäuschung bescherte. Vielleicht sogar Verachtung. Ich war, obwohl ich hier schon acht Jahre lebte, immer noch in vielen Punkten eine Fremde. Ich hatte keinen eigenen Familienverband hier und ausreisen konnte ich mit meinen Kindern nicht, da Samir mir nie eine notarielle Erlaubnis dafür ausgestellt hatte, die hier am Flughafen verlangt wurde. Dieser Mann hatte mich all meiner Freiheit beraubt. Das erste Mal in meinem Leben stand mir nicht mehr die ganze Welt offen. Wenn ich meine Kinder nicht verlieren wollte, musste ich die nächsten Jahre im Sinai bleiben. Für mich selber war das wunderschön, aber ich musste dadurch mein Kind den harten Stockschlägen in der Schule aussetzen oder endlich einen anderen Weg des Unterrichtens finden. Meine Gedanken nachts, wenn nichts mehr ablenkte, musste ich allein tragen. Da war keine Schulter mehr, an die ich mich hätte lehnen können. Da war niemand, der mir vor dem Einschlafen sagte, alles würde wieder gut werden. Ich war vollkommen auf mich allein gestellt und immer die Einzige, die den Kindern sagen und vermitteln wollte und musste, dass ich bald eine Lösung finden werde.

Würde ich das?

›Du machst dir etwas vor, wenn du immer noch hoffst, mit Samir eine glückliche Ehe zu führen‹, sprach die Vernunft immer und immer wieder die nächsten Wochen. ›Er wird nicht aufhören können, das hat er dir oft genug gezeigt.‹

Ich hatte fürchterliche Nächte nach dieser Trauerfeier, in denen ich oft bis zum Morgengrauen wachlag.

Nach einer dieser durchwachten Nächte, stand ich morgens völlig gerädert auf. Ich ging in die Küche und machte mir einen Kaffee, mit dem ich mich an den Strand setzte, um dem wunderschönen Sonnenaufgang beiwohnen. Den Wellen lauschend meditierte ich über das Loslassen. Ich musste mich trennen und diese langsam auch mich krankmachende Verbindung endlich kappen, um wieder ein vollständiger und vor allem lebendiger Mensch werden zu können.

Während ich Frühstück machte, wurden Ghanem und Salama gerade wach und fingen direkt an, sich um ein einfaches Legohaus zu streiten. Unverhältnismäßig laut schrie ich die beiden an, sofort aufzuhören mit der ständigen Streiterei. Kurzerhand entriss ich ihnen das Spielzeug, um es in einem hohen Bogen über unsere Mauer nach draußen zu werfen. Augenblicklich wurde ich mir meines unmöglichen Verhaltens bewusst, das absolut übertrieben und falsch gewesen war.

Ich war vollkommen übernächtigt und fertig mit den Nerven. Auch bei der Meditation hatte ich keine Gelassenheit und inneren Frieden finden können. Ich setzte mich zu meinen Kindern und sprach in Ruhe mit ihnen. Wir einigten uns, gemeinsam das Frühstück zu machen und dann an den Strand zu gehen. Es war Freitag und Ghanem hatte keine Schule. Vorerst sammelte ich das in viele Teile zerbrochene Legohaus wieder ein und wünschte mir, dass man mich auch so leicht und einfach wieder zusammensetzen könnte.

Die Vernunft rügte mich mit einem: ›Na da kannst du ja mal froh sein, dass das Spielzeug niemanden am Kopf getroffen hat.‹

›Ich denke auch, du solltest dir langsam mal darüber klar werden, wie es weitergehen soll. Du kennst dich lange genug, um zu wissen, dass keine Entscheidung zu treffen oftmals viel schlimmer ist, als die Falsche‹, bestätigte die Erkenntnis den fordernden Verstand.

›Gute Idee, denn ich würde nur allzu gern mal wieder an die Oberfläche kommen‹, sprach auch die Zufriedenheit.

Ich blieb einen Moment vor der Haustür stehen und schaute auf die Berge von Saudi Arabien. Eine Dunstwolke lag über den Hügeln und man konnte kaum etwas erkennen. So sah es auch in mir aus. Ich wusste um die hohen Berge hinter den Wolken. Wusste, wie wunderschön sie in der Morgensonne erstrahlen können. Das einzig Unklare war der Nebelschleier davor. Ich brauchte Klarheit in meinen Gedanken und meinem Handeln, um meinen weiteren Weg wieder deutlich vor mir sehen zu können.

Als ich wieder ins Haus ging, hatte ich endgültig entschieden, mich von meinem Mann scheiden zu lassen. Ich konnte nicht mehr einfach so weitermachen. Alles was ich jetzt noch herausfinden musste war, wie ich es schaffen könnte, dadurch meine Kinder nicht zu verlieren.

Eine riesige Erleichterung gepaart mit großer Trauer überkam mich. Mit neuer Zuversicht sprang ich die nächsten Tage in wechselnde Gemütsebenen.

Doch meine Gefühle waren wieder rein und kein unverdaubarer Cocktail mehr, der mir ständig sauer aufstieß. Wenn ich traurig war, war ich nur traurig und nicht mehr zusätzlich verzweifelt und zerrissen. Wenn ich erleichtert war, legte sich entschlossener Tatendrang auf meine Unternehmungen. Ich hatte endlich neue Ziele, die ich schon bald umsetzen wollte.

Als Allererstes musste ich mir ein neues Domizil suchen. Ich hatte weder Lust noch die ausreichende Kraft, mich mit Samirs Brüdern auseinanderzusetzen und für dieses Stück Land zu kämpfen. Ein Sieg war meines Erachtens unwahrscheinlich. Mein Mann hatte mich bei einem Besuch im Gefängnis damals gebeten, vor allem auf unser Land und das Haus achtzugeben. Ich hatte ihm gesagt, ich würde es versuchen. Aber wie oft hatte er mir versprochen, er würde versuchen, von den Drogen loszukommen. Ich war zu müde um zu kämpfen und zermürbt von all den Sorgen um meinen Mann und den Folgen seiner Sucht für die Kinder und mich. Alles, was ich jetzt noch wollte, war das Drama meines Mannes auf allen Ebenen hinter mir zu lassen und es nicht mehr als unser aller Schicksal anzusehen.

Ich war mir durchaus bewusst, dass diese Entscheidung das Leben von mindestens fünf Menschen immens beeinflussen würde, war aber endlich überzeugt, das Richtige zu tun. Ich wollte Samir nicht als Vorbild für meine Söhne. Ich wollte, dass meine Söhne sahen, dass solch ein Verhalten inakzeptabel ist und ich es nicht mit einem “Trotz-allem-zu-ihm-stehen“ unterstützte.

Tagelang schlich ich durch das Dorf und suchte nach einer geeigneten Bleibe für mich und meine Kinder, bis ich eine Bekannte traf, Gudruns Freundin, die mir damals den Strom in meinem Haus verlegt hatte. Sie erzählte mir, dass sie neu gebaut hatte und so erfuhr ich, dass der vordere, abgetrennte Teil ihres Hauses nun leer stand. Sie bot mir an, dort einzuziehen. Wir einigten uns auf einen fairen Mietpreis und ich traf die ersten Vorbereitungen für unseren Umzug. Die Kinder waren alles andere als begeistert, aus dem schönen Haus am Meer wegzuziehen, aber ich wollte einen endgültigen Schlussstrich. Diesen konnte ich nur vollziehen, wenn ich mich auch von unserem gemeinsamen Haus verabschiedete. Mir tat dieser Schritt mindestens genauso weh wie meinen Jungs und noch heute vermisse ich es, morgens aufzustehen und mich an den Strand direkt vor der Haustür setzen zu können. Ich hatte hunderte wunderschöne Sonnenaufgänge dort bestaunen dürfen. Aber dies war nicht mehr mein Zuhause. Nicht mehr der Ort, den ich schon mein ganzes Leben lang suchte.

Würde ich diesen Ort jemals finden, oder war ich ein Mensch, der nie wirklich ankommen sollte? War ich eine ewig Suchende, die nie finden würde, wonach ihr Herz sich sehnte?

Der Trennungsprozess war mit sehr vielen Tränen und tiefem Leid verbunden, aber trotz alledem bekam ich täglich mehr Zuversicht, den richtigen Schritt gegangen zu sein.

Meine Schwiegereltern waren zu Besuch bei Samirs Bruder und Hadia, meine Schwiegermutter, kam am Nachmittag zu mir an den Strand. Sie hatte von meiner Schwägerin erfahren, dass ich ausziehen wollte und so kamen wir recht schnell auf dieses Thema zu sprechen. Hadia versuchte noch, mich umzustimmen, aber merkte schnell, wie entschlossen ich war. Ich fragte sie, ob sie mir garantieren könne, dass ihre anderen Söhne das Haus und das Land nicht selber nutzen wollten. Das konnte sie wie erwartet natürlich nicht. Auch sie hatte von den Plänen der Brüder gehört. Traurig nahm sie meine Entscheidung hin, versicherte mir aber, dass sich an unserem Verhältnis nichts ändern und sie mich nach wie vor wie ihre eigene Tochter ansehen würde. Ich war sehr erleichtert über ihr Verständnis und nahm sie unendlich dankbar in meine Arme. Sie versprach mir, mit ihrem Mann zu sprechen, den ich am nächsten Tag besuchen wollte.

Als ich bei Sabeiha, meiner Schwägerin eintraf, saßen dort mein Schwiegervater und drei seiner Söhne am Feuer. Ich ging vorerst ins Haus und begrüßte Sabeiha und ihre Mädchen. Mona erzählte mir von den Vorkommnissen in der Schule und ihre ältere Schwester berichtete mir stolz, dass sie vorhabe, in Kairo zu studieren. Sie wollte unbedingt Lehrerin werden. Ich sagte meiner Schwägerin, wie klasse ich es finden würde, dass sie den Mädels das Lernen so ans Herz gelegt hatte. Ich spähte durch das Küchenfenster nach draußen. Noch immer waren die Männer in Gespräche vertieft. Ich trank mit den Mädchen ein Glas Tee und sie erzählten farbenfroh von den Plänen ihrer Zukunft. Meine Nichten machten mir Hoffnung für die Frauen dieses Landes. Sie wussten, was sie wollten und auf meine Frage hin, was sie machen würden, wenn ihr Mann dagegen wäre, dass sie später arbeiten, antworteten beide fast gleichzeitig dasselbe: »So einen heiraten wir erst gar nicht«.

Endlich hörte ich, wie zwei von Samirs Brüdern sich verabschiedeten. Jetzt war nur noch Aude, der jüngste Bruder dort. Er war noch ein Jugendlicher und so konnte ich ihn bitten, mich mit seinem Vater alleinzulassen. Ehrfürchtig begrüßte ich den betagten Mann, indem ich ihm meine rechte Hand gab. Mit der anderen Hand drückte ich ihn sachte an der Schulter nach unten, um ihm zu suggerieren, dass er ruhig sitzen bleiben sollte. Normalerweise erheben sich die Beduinen, wenn sie jemanden begrüßen. Doch Samirs Vater hatte schmerzende Gelenke und war sichtlich froh, dass ich ihm suggerierte ruhig sitzen zu bleiben. Ich setzte mich neben ihn auf die am Feuer ausgelegten bunten Teppiche und erzählte ihm von meinem Vorhaben. In einem langen und traurigen Gespräch gab er mir schlussendlich und notgedrungen seinen Segen für meine Entscheidung, auch wenn ihn dies sichtliche Überwindung kostete. Die herbe Enttäuschung über seinen Sohn und die damit verbundenen Umstände machten ihm genauso schwer zu schaffen, wie uns allen. Das konnte man deutlich in seinem verzweifelten Gesichtsausdruck lesen.

Ich war nach diesen zwei Tagen, in denen ich viel Zeit mit der Familie verbracht hatte, unsagbar zornig auf meinen Mann. Denn wieder einmal wurde mir von allen Seiten gespiegelt, wie viel Leid Samir über seine und unsere Familie gebracht hatte. Alle waren verzweifelt und hoffnungslos. Über allen Gesprächen hing eine große dunkle Wolke der Traurigkeit und des Unverständnisses.

Wieder einmal saß ich am Strand und schaute meinen Kindern beim Spielen mit der neuen Schaukel, die ich aufgehängt hatte, zu. Sie lachten herzhaft und ich fragte mich, wann ich endlich wieder so ausgelassen mitlachen würde. Mir war klar, dass ich, solange ich in Samirs Drama gefangen war, mir dies nur selten erlauben würde. Mein Unterbewusstsein schickte mir immer mehr Situationen, die mir sehr deutlich machten, mit der angestrebten Scheidung den richtigen Weg zu gehen.

Samir hatte gerade Halbzeit im Gefängnis, als ich den ersten Pick-up belud, um in meine neue Zukunft umzusiedeln. Noch eineinhalb Jahre hatte ich jetzt Zeit, mir zu überlegen, wie ich es schaffen konnte, dass Samir mir nicht, wie er angekündigt hatte, die Kinder wegnahm. Ich hatte lange nicht mehr meditiert und setzte mich am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang in den groben Kies, schaute auf die Berge von Saudi Arabien und versank mit den Wellenbewegungen des Meeres in eine Vision einer glücklichen Zukunft für uns alle.

Gedanken kamen auf: ›Es findet sich sicher ein Weg‹, versuchte die Zuversicht, mich zu trösten.

›Ganz sicher gibt es eine Lösung‹, untermauerte die Hoffnung und der Glaube sprach ein ruhiges und liebevolles: ›Vertraue!‹

Am Nachmittag kamen zwei meiner europäischen Freundinnen mit ihren Töchtern. Auch sie gaben mir die nötige Unterstützung in meiner Entscheidung.

Als ich gerade die Spielsachen der Kinder unter unserer Arischa zusammenräumte, hielt ich für einen Moment überrascht die Luft an. Ich spürte, dass mich jemand beobachtete.

»Hey!«, ertönte hinter mir eine mir wohlbekannte Stimme.

Ich drehte mich um und sah Sahi auf mich zukommen.

Sahi war der erste Beduine, den ich näher kennengelernt hatte. In meinen Urlauben auf dem Sinai hatte ich immer viel Zeit mit ihm verbracht und er hatte mir beim Kauf meines ersten Kamels geholfen. Ich hatte ihn damals immer meinen kleinen Bruder genannt und großes Vertrauen zu ihm entwickelt. Er war mein bester Freund gewesen bis ich Samir geheiratet hatte.

Meinem Mann war Sahi immer ein Dorn im Auge gewesen. Da es jedes Mal fürchterlichen Streit mit Samir gegeben hatte, wenn Sahi irgendwo aufgetaucht war, hatten wir irgendwann unseren Kontakt gänzlich abgebrochen. Seine Freundschaft hatte mir die letzten Jahre sehr gefehlt.

Ich war unendlich froh, ihn zu sehen. Freudig überrascht sprang ich auf und umarmte ihn stürmisch. Auch ihm war seine Freude, mich zu treffen, deutlich anzusehen.

Ich ging ins Haus und machte uns Kaffee. Schon früher war Sahi einer der wenigen Beduinen gewesen, der auf die Frage: »Tee oder Kaffee«?, immer unüblicherweise »Kaffee« geantwortet hatte. Sahi folgte mir und sofort unterhielten wir uns sehr vertraut über alles, was bei uns die letzten Jahre passiert war.

Irgendwann erzählte ich Sahi auch, dass ich mich von Samir scheiden lassen würde. Seine Freude darüber war ganz deutlich und dies brachte er auch verbal zum Ausdruck. Er vergaß natürlich nicht, zu erwähnen, dass er mich schon damals vor Samir gewarnt hatte. Aber er war andererseits sehr mitfühlend und konnte meine Sorge um meine Kinder durchaus verstehen. Er versprach, sich für mich umzuhören, was ich machen könnte.

Von diesem Tag an schaute Sahi immer mal bei mir rein und ich war froh, endlich wieder eine männliche Person bei den Beduinen zu haben, der ich voll und ganz vertrauen konnte. Sahi war zwar der unzuverlässigste Mensch, den ich je in meinem Leben traf, aber dafür der, zu dem ich bis heute das größte Vertrauen hege, denn wir sind nach wie vor allerbeste Freunde und ich bin mir sicher, dass nichts und niemand das jemals ändern kann.

Noch ein letztes Mal meditierte ich morgens an meinem geliebten Strand und packte nachmittags die letzten Habseligkeiten auf den Wagen. Ich fragte mich erneut, ob ich auch wirklich das Richtige tue. Es tat unbeschreiblich weh, dieses Haus zu verlassen. Solch einen wunderschönen Platz würde ich vielleicht nie wieder besitzen.

Meine Kinder riefen mich und drängten zum Aufbruch. Sie durften hinten auf der Ladefläche mitfahren. Welches Kind liebt das nicht? Sie nahmen es leicht, das war gut. Ich setzte mich mit Soliman neben den Fahrer nach vorn und biss mir auf die Lippen. Erst abends, als die Kinder schliefen, weinte ich bitterlich über den Verlust meines Hauses.

Zwischen Wüste und Meer

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