Читать книгу Wie ein Regenbogen - Simon Wells - Страница 8
ОглавлениеIch mag es, direkt in die Sonne zu sehen.
Arnold Böcklin
Es passt zu einem Menschen wie Anita Pallenberg, die während ihres gesamten Lebens große Freude daran hatte, auf allen Ebenen gegen die Konventionen zu verstoßen, dass auch ihr tatsächlicher Geburtstag und Geburtsort widersprüchlich angegeben werden. Während ein wahres Heer von Biografen, Kolumnisten und sogar Privatdetektiven bislang nur eine grobe Zeitspanne angaben, die von den frühen bis zu den späten Vierzigern des 20. Jahrhunderts reicht, hat ihre Familie nach Pallenbergs Tod im Juni 2017 bestätigt, dass sie am 6. April 1942 in Rom das Licht der Welt erblickte.
Die italienische Hauptstadt wurde für Anita im Laufe der Jahre zu einer bedeutenden Location, doch ganz im Geiste ihrer Vorfahren ließ sie sich nicht von der Verbundenheit zu nur einem einzigen Land einschränken. Als sie in den Sechzigern in der Öffentlichkeit auftauchte, führte ihre Geburt in Italien allerdings zu einiger Verwirrung, was die Wurzeln ihrer Vorfahren betraf. Während einige angaben, sie sei Deutsche, behaupteten andere felsenfest, sie käme aus Schweden, und wiederum andere stellten sie als Schweizerin dar. Die Mehrdeutigkeit ihrer Herkunft, nirgendwo und überall verwurzelt zu sein, steigerte ihre enigmatische Attraktivität zusätzlich.
Es ist jedoch unbestritten, dass der Familienstammbaum der Pallenbergs einzigartig ist und manche die Fantasie anregende Verästelungen aufweist. Anitas Ahnentafel ist charakterisiert durch Koryphäen aus unterschiedlichsten Sphären und ihre Blutlinie war von einer den Elementen zugeschriebenen Qualität gekennzeichnet, die sie später als „Sonne, Feuer und Eis im selben Körper“ beschrieb.
Anitas Vorfahren lassen sich Aufzeichnungen zufolge zuerst im Schweden des 15. Jahrhunderts nachweisen, und der Nachname Pallenberg wird allgemein übersetzt als ein „überhängender Felsen an einem Berg“. Ein wirklich substanzieller Beleg für die Familie fand sich jedoch erst im 18. Jahrhundert in Deutschland, denn die meisten Ahnen der Pallenberg-Linie lebten im Großraum Köln. Den vorhandenen Belegen nach waren sie alle gut situiert und hatten einen beachtlichen Einfluss in den jeweiligen Gemeinden. Wie auch das kreative Patchwork, das Anitas Leben bestimmte, zeigte die direkte Familiengeschichte eine beeindruckende Anzahl von Personen, die sich nachhaltig in den Künsten engagierten.
Während des 19. Jahrhunderts wurde Anitas Blutlinie um das Element des fantasievollen Innendesigns bereichert. Johann Heinrich und Franz Jakob Pallenberg leiteten in Köln einen Familienbetrieb. Statt das erfolgreiche Dachdeckerunternehmen des Vaters weiterzuführen, richteten sie ihr Interesse auf den Möbelbau. Die einfallsreiche Firma, die sich schnell einen ikonenhaften Ruf erarbeitete, entwickelte sich zum Lieferanten von gesuchten Möbelstücken mit kunstvoll verzierten Furnieren. Sie zog wohlhabende Industrielle und Kunden aus den höchsten europäischen Adelskreisen an.
Neben dem blühenden Familiengeschäft pflegte Johann Pallenberg ein Interesse an der romantisch ausgerichteten Kunst und unterstützte Handwerker und Museen aus der Gegend, aber auch darüber hinaus, durch finanzielle Zuwendungen. 1871 wurde Pallenbergs Status als Mäzen mit einem Gemälde bestätigt und blieb somit der Nachwelt erhalten. Der bekannte Maler Wilhelm Leibl fertigte das Bild an, das einen korpulenten und auf einem Stuhl sitzenden Johann [Heinrich] Pallenberg darstellt. Obwohl das Gemälde den zu der Zeit typischen Studien ähnelt, gibt es hier ein Alleinstellungsmerkmal, denn Pallenberg wird mit einem Beutel in der Hand dargestellt, der höchstwahrscheinlich Geld enthält, was auf den Mäzenstatus der Familie hinweist.
Johann Pallenberg übergab das Familiengeschäft rechtzeitig seinen beiden Söhnen Jakob und Franz, die das geschäftliche Geschick ihrer Vorfahren offensichtlich nicht geerbt hatten. Franz lebte seine Talente mit Malerei und Bildhauerei aus und zog 1890 in den Großraum Rom, wo er in einer palastähnlichen und teuren Villa nordöstlich der Stadt in der Via Nomentana 315 residierte. Er war der Erste der Pallenbergs, der sich in der italienischen Hauptstadt langfristig niederließ. Aus praktischen und finanziellen Gründen hatte Franz den überwiegenden Teil seines Geldes in Deutschland zurückgelassen, doch er verlor nach dem Ersten Weltkrieg wegen einer schlechten Finanzberatung das gesamte Kapital. Als Resultat des Missgeschicks kehrte er nie wieder in sein Heimatland zurück. Aufgrund der ärmlichen Verhältnisse musste Franz seine künstlerischen Neigungen oftmals eher praktischen Beschäftigungen unterordnen.
Trotz all der Turbulenzen heiratete er Angela Böcklin – die Tochter des in der Schweiz geborenen Malers Arnold Böcklin, eines Vertreters des Symbolismus. Anders als die wenigen selbst kreierten künstlerischen Objekte bei den Pallenbergs zeichnete sich Böcklins Werk durch wunderschöne Werke aus. Als Begründer des Symbolismus des 19. Jahrhunderts machte Böcklins romantischer und partiell surrealistischer Ansatz ihn zu einem der bedeutendsten Protagonisten seiner Ära. Er beeinflusste zukünftige Künstler wie Dalí, Duchamp und Ernst. Wie viele andere, die sich durch Goethes Italienreise geradezu berauschen ließen, kehrte Böcklin seiner Heimat den Rücken zu und zog nach Rom. Dort nutzte er die reichhaltigen und lebendigen künstlerischen Texturen, die das Land bot, als kreative Muse für seine Arbeit. Böcklins Umzug in den Süden etablierte eine gesamteuropäische Tendenz, der andere in der Familienlinie folgen sollten. Auch Angela ließ sich in Rom nieder – was wie eine Art Initiationsritual anmutete –, wo sie Franz begegnete.
Aus der Ehe von Franz und Angela gingen die vier Söhne Franzino, Arnold „Arnoldo“ [bisweilen auch Arnaldo], Corrado und Roberto hervor. In Anbetracht der Familiengeschichten beider Linien wurde allgemein angenommen, dass sich eins der Kinder der Tradition nach in den kreativen Gefilden ausleben würde. Der 1903 geborene Arnoldo war einer der Pallenbergs, der den Traum eines Lebens in der Kunst verwirklichen wollte. Allerdings sah er sich gezwungen – bedenkt man das stetig schwindende Erbe –, seine Leidenschaft hintenanzustellen und sich einen finanziell nachhaltigeren Beruf zu suchen, woraufhin er eine Anstellung bei einem Reiseveranstalter annahm.
Im Alter von 21 Jahren beantragte Arnoldo, aufgrund der Elternschaft ein Deutscher, die italienische Staatsbürgerschaft. Später traf und ehelichte er Paula Wiederhold, eine Deutsche, die sich in den Zwanzigerjahren in Rom niedergelassen hatte und dort in der Botschaft ihres Heimatlandes arbeitete. Sie brachte das erste Kind Gabriella zur Welt, doch das Familienidyll wurde schon bald gestört, da man Arnoldo vor dem Hintergrund eines drohenden Krieges zum Wehrdienst einzog.
Während der Krieg wütete, wurde Paula ein zweites Mal schwanger. Laut Anita hofften ihre Eltern, mit einem Jungen gesegnet zu werden, doch entgegen aller Prognosen wurde am 6. April 1942 Anita geboren. Es war 6.44 Uhr an diesem Freitag, kurz vor Sonnenaufgang, und das Wetter versprach einen typisch italienischen Frühlingsmorgen mit ganztägigen Temperaturen von etwas über 20 Grad.
Allerdings wurde ein harmonisches Familienleben durch den ständig präsenten Krieg in Europa zunichtegemacht. Arnoldo, der jegliche Form von Gewalt verabscheute, hatte man als Koch bei den italienischen Streitkräften verpflichtet und in den Norden des Landes versetzt. Paula und ihre Töchter mussten in dem vom Krieg verwüsteten Rom eine stürmische und unsichere Zeit überstehen. Während der Bombardements der Stadt erfuhr sie von der letzten Möglichkeit, Rom auf einem Lastwagen zu entfliehen, die sie natürlich ergriff. Durch den vernichtenden Bombenhagel suchte sie Zuflucht in den ländlichen Regionen Italiens.
Anita erinnerte sich später: „Wir fuhren durch die brennenden Städte. Meine Mutter muss wahnsinnig gewesen sein, doch sie versuchte nur, uns so weit wie möglich von den Nazis wegzubringen.“
Anita spürte in so einem jungen Alter die Traumata, die Europa verfinsterten, und die Schwingungen eines Krieges mit einer solchen Wucht, dass sie später berichtete, ihre frühste Kindheit in einem permanenten Schockzustand verbracht zu haben.
Das Kriegsende 1945 erlaubte eine größere Bewegungsfreiheit, sodass die Familie problemlos in die italienische Hauptstadt zurückkehren konnte. Die Pallenbergs wohnten in der Villa von Arnoldos Vater in der Via Nomentana 315 und durften sich wieder über ein sicheres Zuhause freuen – wenn auch ein überfülltes, denn in dem opulenten Anwesen drängelten sich nun Tanten, Onkel und Cousins, die aus allen Teilen Europas geflüchtet waren.
Mit nur wenig zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln, die kaum ausreichten, um die Villa überhaupt zu beheizen, sah sich Arnoldo gezwungen – wie auch der Rest der Familie –, Tag und Nacht zu arbeiten, um die laufenden Kosten für das Gebäude bestreiten zu können. Dennoch breitete sich in der Gemeinschaft mit den zahlreichen Verwandten in der römischen „Basis“ der Pallenbergs eine warmherzige Stimmung aus, auch wenn es dort meist überfüllt war. Trotz der verschiedenen Sprachen im Haus und auf den Straßen bestanden Anitas Eltern darauf, dass ihre Tochter Deutsch lernen solle, eine Weisung, der sie sich für eine lange Zeit widersetzte, da sie sich zuallererst als Bürgerin Roms sah.
Irgendwann – in einer der ständig wechselnden Launen Heranwachsender – gab Anita bekannt, sie wolle katholische Priesterin werden: „Ich liebte diese weißen Kommunionkleider“, erzählte sie gegenüber der Daily Mail 1994. „Das Beichten und all die anderen Rituale. Das alles strahlte Verführung und das Rätselhafte aus. Ich mag das Verbotene.“
Die Musik stellte schon von Beginn an eine Konstante im Haus der Pallenbergs dar. Anita und ihre Schwester Gabriella erinnerten sich, dass ihr Vater bei jeder sich bietenden Möglichkeit Klavier spielte. Schnell entwickelte sich die Familientradition, dass Arnoldo jeden Freitag als Gastgeber Kammerkonzerte in seinem Haus veranstaltete. Wie vorhersehbar, begann die lebendige und kreative Atmosphäre Anita zu beeinflussen.
„Mein Vater war ein sehr guter Pianist“, erinnerte sich Anita im Magazin Marie Claire 2002. „Ich wuchs in Rom in einer von der klassischen Musik geprägten Atmosphäre auf und spielte auch Cello. Wir besaßen weder einen Fernseher noch ein Radio. Die von uns gespielte Musik war die einzige Zufluchtsmöglichkeit, die einzige Ablenkung.“
Mit der Musik im Hintergrund war Anitas Kindheit im Nachkriegs-Italien so idyllisch wie möglich. Während sie auf den Straßen der Stadt spielte, vermittelten ihr die Bürger Roms ein Gefühl der Freiheit, doch ihr lutherischer Vater bestand darauf, dass seine Tochter eine bilinguale Schule besuchen sollte. Daraufhin schickte man sie auf die Scuola Svizzera di Roma (die Schweizer Schule in Rom). Gegründet 1946, war das Institut bekannt für seinen einzigartigen Bildungsansatz, doch Anita war kaum daran interessiert, sich den Konformitäten des Lehrplans oder der Schulstruktur anzupassen. Sie schwänzte regelmäßig den Unterricht und durchstreifte die Ruinen der historischen Gebäude Roms oder hing mit einem Kreis von Freunden irgendwo im Wirrwarr der Straßen ab.
In ihrer Jugend sah Anita in einem Restaurant zufällig Dado Ruspoli, den „Prinzen des Hedonismus“, einen Playboy, dessen berühmt-berüchtigtes Leben ein zündender Funke für Fellinis La Dolce Vita wurde. Anitas flüchtiger Eindruck sollte auch später noch Bestand haben. „Er benahm sich sonderbar“, erinnerte sie sich an die kurze Begegnung mit dem gekünstelt gelangweilt wirkenden Ruspoli. „Später fand ich den Grund dafür heraus.“
Als ihre frühen Interessen gab Anita Archäologie und Anthropologie an. Die Museen der Stadt waren für sie weitaus attraktiver als die Klassenzimmer. Doch schon bald wurden ihre Interessen wie von einem instinktiven Verlangen in andere Bahnen gelenkt. Ihre Neigung, sich mit eher zwielichtigen Elementen zu umgeben, erfüllte ihre Eltern mit Besorgnis. Sie brachten Anita für ihre weitere schulische Ausbildung von Italien nach Deutschland, in das exklusive Internat „Landheim Schondorf“ am Ufer des Ammersees in Bayern. Zu den Schwerpunkten des Lehrplans gehörten auch landeskundliche Themen, was Anitas Eltern nur recht war, die wollten, dass die Tochter ihr deutsches Erbe zu würdigen wusste und ihre Sprachkenntnisse vertiefte.
Doch das Leben im Landheim Schondorf – dort herrschte mit 180 Jungen und nur 20 Mädchen ein starkes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern – übte kaum einen Einfluss auf Anita aus. Sie beschrieb es später als „dekadent“ und erinnerte sich daran, dass viele Mitschüler stramme Nazis als Eltern hatten.
Dennoch konnte sie einige Jahre in dem Internat glänzen und erhielt außergewöhnlich gute Noten in naturwissenschaftlichen Fächern, in Latein und Töpfern. Im Landheim Schondorf zeigte sich auch Anitas Interesse an den Arbeiten von Franz Kafka, dem deutschsprachigen Autor, dessen Themen wie das der Isolation bei ihr einen hohen Grad an Skepsis gegenüber Autoritäten anregten. Auch zeigte sie beeindruckende linguistische Fähigkeiten und beherrschte im Alter von nur 15 Jahren vier Sprachen fließend. Dieses außergewöhnliche mehrsprachige Können verblüffte ihren Vater, der sie ermutigte, die Laufbahn einer Sekretärin einzuschlagen. Allerdings war es damals schon mehr als offensichtlich, dass das Schicksal für Anita nie ein Leben hinter einem Schreibtisch bereithielt. Neben dem Segeln auf dem Ammersee und den gelegentlichen von der Schule veranstalteten Skifreizeiten gab es andere Ablenkungen vom Alltag wie Rauchen, Trinken und nicht zu vergessen die verführerische Nähe zu München. Anita entschuldigte sich regelmäßig beim Landheim Schondorf, verließ das Grundstück und fuhr die 50 Kilometer per Anhalter zur Stadt, um sich von der raueren Energie packen zu lassen.
Ihr freigeistiges Verhalten und der Hang zur „Wanderlust“ stellten die Reglementierungen des Landheims Schondorf auf eine schwere Bewährungsprobe. Da sie oftmals abwesend war und nicht sonderlich daran interessiert schien, sich dem Lehrplan unterzuordnen, riss der Internatsleitung der Geduldsfaden und Anita wurde von dem Internat verwiesen – nur sechs Monate vor ihrem Abitur.
Nach der vorzeitigen Entlassung zeigte sie weiterhin Präsenz in München. Den Unterricht habe sie abgebrochen, „um [für eine gewisse Zeit] ein wenig Geld zu verdienen“. Sie fand besonderes Gefallen in dem damals eher links orientierten Schwabing, einer Gegend reich an Bars und Clubs, in denen sich größtenteils bohemienhafte Cliquen herumtrieben. Ohne einen zur Universität qualifizierenden Schulabschluss wurde Anita an einer Kunstschule in der Stadt angenommen. Dort hatte sie ihr erstes sexuelles Erlebnis, obwohl eher unwillkommen. Es sollte eine ihr weiteres Leben bestimmende Episode bleiben. Ein anderer Student hatte einige ihrer Kunstbücher einem Freund geliehen. Nachdem Anita die Bücher bei dem ebenfalls in der Stadt lebenden Unbekannten aufgestöbert hatte, versuchte dieser, sich ihr mit Gewalt zu nähern.
Diese grenzüberschreitende Erfahrung veränderte Anitas Verhalten für eine gewisse Zeit, in der sie die intime Freundschaft zu jungen Frauen vorzog. „Ich ging mit Frauen“, erzählte sie später. „Ich war total gegen Männer, fand sie so widerlich und ignorierte sie einfach.“
Nach dem abgeschlossenen Kunstkurs folgte eine kurze Zeit, in der Anita ziellos durch Europa trampte, bis sie im Sommer 1959 nach Rom zurückkehrte. Sie strebte hoffnungsvoll eine künstlerische Laufbahn an und erhielt auch tatsächlich ein Stipendium für die angesehene Accademia di Belle Arti di Roma, wo sie Grafik und Design sowie Bildrestauration zu studieren begann.
Damit stand ihr der Weg zu einer existenzsichernden Ausbildung offen, aber sie erreichte keinen Abschluss ihrer Studiengänge. Wie früher schon, fand sie es weitaus spannender, mit einer Meute cooler Italiener abzuhängen. Die Hauptstadt schien sich im Sommer 1959 wie ein Karussell der Abenteuer und der Lebenslust zu drehen. Diese Lebensfreude und das süße Leben Italiens wurden von Frederico Fellini mit dem Dreh von La Dolce Vita eingefangen. Da die Filmaufnahmen an über 80 Plätzen in Rom stattfanden, gelang es Anita, die Bekanntschaft des Regisseurs zu machen und noch weitere Persönlichkeiten der Filmbranche wie Pier Paolo Pasolini und Luchino Visconti kennenzulernen. Ihre ständige Präsenz am Filmset führte dazu, dass die Crew sie während der Aufnahmen als eine Art Maskottchen adoptierte. Wegen ihres Geschmacks für das Seltene und Exotische beschrieb man Anita bald als eine Pariolina, eine distanzierte und eher kühle, aber dennoch moderne Bewohnerin Roms. Chic und deutlich erkennbar in den angesagten Bars und Cafés der Hauptstadt, erwarb sich die 17-Jährige mit der Bubikopffrisur einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Hauptstadt.
„Ich ging in der ‚Dolce vita‘-Stimmung der Stadt auf“, berichtete sie 2002. „Ich erinnere mich an Nico und Donyale Luna – das erste schwarze Model –, die durch die Straßen Roms schlenderten.“
Während dieser frühen Jahre in Rom stellte die unter dem Namen Christa Päffgen geborene Nico für Anita eine außergewöhnliche Reflexionsebene dar. Blond, in Deutschland geboren, mehrsprachig und mit Interessen, die sich zwischen dem Leben eines Models und dem Film bewegten, belebte sie mit ihrer beeindruckenden „andersweltigen“ Ausstrahlung eine Umgebung, in der Schönheit und Talente ohnehin schon reichlich vorhanden waren. Die einige Jahre ältere Nico warf auf gespenstische Weise einen Schatten auf Anitas Leben in den folgenden Jahren.
Dem prägenden Einfluss des Rock’n’Roll in der damaligen Zeit konnte sich auch Anita nicht entziehen. Wie viele andere Jugendliche rund um den Globus wurde sie von den wilden Sounds gepackt, die aus jedem Club, jeder Bar und jedem Transistorradio dröhnten. „Als Teenager entdeckte ich den Rock’n’Roll“, berichtete sie im Mojo 2003. Auf die Frage nach der ersten selbst gekauften Platte antwortete sie: „Das war ein Fats-Domino-Album – Blueberry Hill. Er war jemand, auf den ich abfuhr. Es ging darum, gegen die klassische Musik zu rebellieren, mit der ich zu Hause aufwuchs.“
Trotz der aufregenden Freizeitmöglichkeiten, die Rom zu bieten hatte, tauchte Anita sporadisch überall in Europa auf. Unterkunft fand sie, indem sie die Familienkontakte in Deutschland, Spanien und Frankreich nutzte. Beim Besuch einer Tante im August 1961 wurde sie Zeugin des Mauerbaus in Berlin. Im darauffolgenden Jahr – während eines Verwandtschaftsbesuchs in Hamburg – machte sie einen Streifzug durch den schmuddeligen Reeperbahn-Bezirk. Sie bummelte über die Große Freiheit, besuchte den Star-Club und hörte sich eine unbekannte Band aus Liverpool an. Trotz ihres Hangs zum Rock’n’Roll fand Anita die „grundschülerhafte“ Uniformität der Beatles wenig beeindruckend und war ganz und gar nicht begeistert von der Band.
In Rom wurde Anita stets aufs Herzlichste willkommen geheißen, und so gelang es ihr immer mühelos, sich wieder in die dortige Szene einzufügen. Die Stadt war dafür bekannt, Künstler jeglicher Couleur anzuziehen, und die aufstrebenden neuen Gruppierungen begannen immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zwar dominierte noch die traditionelle Kunst, doch es gab auch eine nennenswerte progressive Bewegung – Teil der sogenannten zweiten Welle, die man auch als „Scuola Romana“ bezeichnete –, deren Vertreter sich als Affront gegen die Accademia di Belle Arti verstanden und sich mit großer Freude entsprechend darstellten.
Die Abtrünnigen trafen sich an bestimmten Versammlungsorten wie Bars und Kaffeehäusern, besonders im Caffè Rosati und auf der Piazza del Popolo. Da Anita keinen konkreten Lebensentwurf hatte, hing sie gerne mit der künstlerischen Avantgarde der Stadt ab und ließ sich von den radikalen Ansichten beeinflussen, die inmitten von Kaffee, Wein und Tabakrauch die Runde machten. Diese eng verschworene Gemeinschaft von Schriftstellern und Künstlern war so exklusiv und mit sicherem Instinkt verbunden, dass sie sogar einen Spitznamen für ihren Clan prägte – „I Panteri di Piazza del Popolo“ – („Die Panther der Piazza del Popolo“).
„Das Caffè Rosati wurde von – ich würde es die Spitze der Avantgarde nennen – besucht“, reflektierte Anita 2017. „Dort trafen sich Dichter wie Sandrino Perinna (sic), Maler wie Turcato und Guttuso und Schriftsteller wie Moravia. In dieser Zeit sah man nur wenige Schauspieler oder Regisseure wie Fellini und Antonioni. Die Gruppe war nicht groß, vielleicht 30 oder 40 Personen, während der Rest der Welt das machte, was er heute immer noch macht. Uns zeichnete eine besondere Intensität aus, das Verlangen, alles zu durchdringen und unser Leben in die eigene Hand zu nehmen. Wir waren sehr kreativ, sehr positiv, enthusiastisch und überhaupt nicht ängstlich, wir waren die Erforscher und lebten einen abenteuerlustigen Geist aus.“
Mit seinem Ruf, Europas glamouröseste Stadt zu sein, zog Rom Magazine und Journale an, die Reflexionen des femininen Glanzes an ikonischen Locations einfangen wollten. Einige hochkarätige Modemagazine gaben kostspielige luxuriöse Foto-Shootings an bekannten Orten in Auftrag (wobei sie die Crème de la Crème der Models buchten), während andere auf den Straßen die zufällig vorbeiziehenden Schönheiten vorzogen.
Der Playboy gehörte zu den Magazinen, die ihre Leser mit Roms verführerischem Reiz in ihren Bann ziehen wollten. Bedenkt man, dass „Dolce Vita“ ein Schlagwort für sonnenverwöhnte Lebenslust geworden war, wird klar, dass ein ausführlicher Bericht auf mehreren Farbseiten als eindeutiger Kaufanreiz gesehen wurde. In der Februarausgabe 1962 erschien der Artikel „Die Mädchen von Rom (ein Lorbeerkranz für die wunderschönen Signoras der ewigen Stadt)“. Der farbenfrohe Bericht präsentierte neun – erstaunlicherweise sittsam bedeckte – weibliche Persönlichkeiten der Stadt. In dem Mix aus Models, Schauspielerinnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens war Anita Pallenberg ebenso vertreten wie einige Stars.
Anita wurde außerhalb des Caffè Rosati aufgenommen, während sie „einen Espresso in einem Straßencafé trank“, doch die Einstellung vermochte nicht ihre enorme Präsenz einzufangen. Sie trug ein Kopftuch und hielt eine Zigarette in einer Hand. Anita gab sich entrückt und unbestimmt, ein Image, das ausdrückte, dass sie mit nur 19 Jahren ihre Umgebung mühelos kontrollierte. Obwohl es noch zwei Jahre dauerte, bis ihr einzigartiges Charisma erneut mit der Fotokamera erkundet wurde, schien ihr Potenzial – egal, welche Richtung sie einschlagen sollte – grenzenlos zu sein.
In ihrem Alter und bei ihrer Energie ergaben sich zu dieser Zeit zahlreiche Beziehungen, die aber typischerweise von flüchtiger Natur waren und lediglich einen Übergang darstellten. Eine kurze Liaison mit dem bekannten Fotografen Gianni Penati sollte ihren Status erhöhen. Als seine Geliebte und Begleiterin unternahm sie mehrere Überseereisen. Im Lauf des Jahres 1963 traf sie jedoch auf eine Persönlichkeit, die den wohl nachhaltigsten Eindruck in ihrem bisherigen Leben hinterlassen sollte.
Mit 29 war Mario Schifano gute acht Jahre älter als Anita, doch das Alter spielte bei einer Gemeinschaft niemals eine Rolle, bei der Talent und Einstellung zählten. Obwohl sich Schifano unter supercoolen Leuten wiederfand, war er mehr als nur ein Gesicht in der Menge. Der Künstler, der Kollagen anfertigte, malte, Filme machte und gelegentlich auch Musik, stellte die lebende Verkörperung der Grundhaltung der europäischen Postmoderne dar.
1934 in der libyschen Stadt Al-Chums geboren, entfloh Mario den Konventionen schon in einem jungen Alter bei jeder sich bietenden Möglichkeit. Nach dem Umzug nach Rom zeigte er, ähnlich wie Anita, ein eher beiläufiges Interesse an der Schulausbildung und verbrachte mehr Zeit mit seinem Vater, dem er bei der Keramikrestauration im Etruskischen Nationalmuseum assistierte. Später studierte er Bildrestauration und begann gleichzeitig mit der Kreation eigener Werke. Wagemutig, einfallsreich und provokant präsentierte Schifano eine aufsehenerregende Reihe von gelben Monochrom-Arbeiten. Die zuerst 1959 in der Appia Antica Gallery ausgestellte Sammlung wurde weithin beachtet. Obwohl er einen großzügigen, warmherzigen Charakter hatte, war Schifano völlig auf seine Karriere fixiert, wobei er sich kaum Zeit nahm, um sich mit Kritik oder Ratschlägen auseinanderzusetzen.
Zuerst lag seine künstlerische Daseinsberechtigung vornehmlich darin, sich provozierend dem Einfluss der steifen römischen Kunstakademie entgegenzustellen, doch dann verbreitete sich der Ruf seines außergewöhnlichen Talents in ganz Europa. Mit zunehmendem Selbstvertrauen nahm Schifanos multimedialer Kunstansatz einen größeren Raum in der Öffentlichkeit ein. Er interessierte sich besonders für die urbane Werbung und die Funktionalität von Straßenschildern und etablierte später einen seltenen europäischen Pop-Art-Ansatz.
Marios gutes Aussehen und sein geschmackvoller Kleidungsstil wurden von einer eher zurückhaltenden Präsenz unterstrichen, die seine Anziehungskraft zusätzlich erhöhte. Anita hatte bereits die Bekanntschaft der meisten Kunstkenner Italiens gemacht, doch Schifano begegnete sie erst 1963. Beide hatten an der Akademie studiert, doch trafen sich erstmalig außerhalb des „freigeistigen“ Caffè Rosati.
Anita erinnerte sich 2017: „Ein faszinierender Mann. Sehr schüchtern, mit einem Hauch des Unverschämten, doch allgemein ein sanftmütiger Charakter. Er trug immer ausgesuchte Kleidung, Hemden von den Brooks Brothers und seine Jacketts ließ er von Osvaldo Testa anfertigen, einem Halb-Amerikaner. Clarks-Desert-Boots, khakifarbene Hosen und sehr schmale Krawatten gehörten auch zu seinem Modestil. Schifano sah wie ein sensibler Mensch aus, hatte ein sehr zartes Gesicht, sehr süße Augen und ein beinahe kindliches Lächeln.“
Ihre Welten verschmolzen in vielerlei Hinsicht, wodurch eine feste Beziehung entstand, die Anita veranlasste, in Schifanos Apartment einzuziehen. Fotos des Pärchens aus dieser Zeit zeigen eine warmherzige Symbiose – Anita wirkte völlig vernarrt und Mario mehr als zufrieden, solch eine attraktive Geliebte an seiner Seite zu wissen. Gemäß seiner Lebensmaxime ermutigte er Anita, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, wurde ihr Mentor und half ihr dabei, ihre „Menagerie“ aus Träumen und Ambitionen zu verwirklichen. Durch ihre Lebenseinstellung zogen die beiden gemeinsame Freunde an.
Schifanos Kontaktliste erstreckte sich weit über die Grenzen Italiens, und er stellte Anita dem Kunsthändler Robert Fraser vor, einem in der Welt herumtingelnden Geschäftsmann, dessen Mobilität in der Kunstszene die der meisten zeitgenössischen Londoner bei Weitem überstieg. Der stolze, intuitive und in sexueller Hinsicht abenteuerlustige Eton-Abgänger und ehemalige Army-Angehörige hatte die von seiner Klasse diktierte Erwartungshaltung schon weit hinter sich gelassen. Seine Ablehnung der Konventionen grenzte schon an Abscheu, woraufhin er sich genüsslich in der Welt des Bizarren und Verbotenen herumtrieb. Dieser ungewöhnliche Charakterzug wurde später als „Gourmet-Promiskuität“ beschrieben.
Die Armee konnte Frasers Lust auf das Kuriose und Exotische keineswegs befriedigen (er beschrieb diese Lebensphase als „13 Monate quälender Langeweile“), doch ein Geschenk seiner Mutter von über 10.000 Pfund ermöglichte es ihm, sich der Kunstwelt zu nähern. Er versuchte sein Glück mit einigen New Yorker Galerien und führte Beziehungen mit Ellsworth Kelly und Jim Dine. Fraser legte mehr als einen Finger auf den Puls der Zeit. Während einer seiner regelmäßigen Europareisen erfuhr er von Mario Schifanos aufgehendem Stern und erhob den Künstler in seinen Freundeskreis. Da sich Mario von Frasers Blick für das Schräge und Ungewöhnliche beeindruckt zeigte, entstand schnell eine tiefe Verbundenheit. Daher überrascht es auch nicht, dass Anita bald in Frasers Zirkel auftauchte.
„Ich lernte Robert durch Mario kennen“, erinnerte sich Pallenberg 1999 gegenüber der Autorin Harriet Vyner. „Er sprach ständig über die Künstler der Pop-Art. In Rom gab es einige Galerien, und Mario meinte scherzhaft, dass Robert der Einzige war, der dorthin ging und sich die Bilder ansah.“
1962 eröffnete Fraser eine Galerie an der Duke Street 69 in London, die seinen eigenen Namen trug. Innerhalb des verstaubten und traditionalistischen Mayfair war sie eine sprichwörtliche „Landmine“ und entwickelte sich zu einer Art Leitstern für das Schräge, Außergewöhnliche und Ungewöhnliche. Schon nach kurzer Zeit stellten dort unter anderen Richard Hamilton, Bridget Riley, Peter Blake und Eduardo Paolozzi regelmäßig aus, während ein begehrter Abschnitt der Räumlichkeiten den Ikonen aus Übersee vorbehalten blieb wie zum Beispiel Andy Warhol und Jean Dubuffet.
Von Fraser eingeladen, ihn auf heimischem Terrain zu besuchen, nahm Mario Anita mit in die Metropole, noch bevor sie sich in das „Swinging London“ verwandelte. Wie sich Anita später erinnerte, begann die Pilgerreise in Frazers Welt mit einer Mahlzeit in dem protzigen französischen Restaurant Chez Victor im Londoner Westend. Bei diesem frühen Gipfeltreffen aufeinanderprallender Kreise waren einige Persönlichkeiten anwesend, die Eingang in Anitas sich ständig füllendes Notizbuch fanden: der Designer und ihr zukünftiger Model-Agent Christopher Gibbs und der Aristokrat Mark Palmer. Frasers Modegeschmack war so wundersam wie seine Kunstauffassung. Anita erzählte, dass er bei dem Treffen einen aquamarinfarbenen Anzug trug, der den Anwesenden die Tränen in die Augen trieb.
Durch die Bekanntschaft mit Gibbs und Fraser hingen Mario und Anita mit Londons aufblühender, cooler Aristokratie ab. Sie verbrachten ihre Zeit im Haus von Lord Harlech (David Ormsby-Gore) im Stadtteil Chelsea, wo sie seinen Kindern Jane, Julian sowie Victoria Ormsby-Gore begegneten. Die Teenager tauschten während des erstes Aufkommens der Beatlemania mit den Gästen Informationen über die neuen Bands aus, die Europa eroberten.
Trotz des stetig ansteigenden Erfolgs auf dem Kontinent träumte Mario davon, auch in New York Fuß zu fassen, denn 1963 war die Stadt das Epizentrum der modernsten Kunst und meilenweit von den erstickenden Beschränkungen Roms entfernt.
Ein Jahr zuvor waren Schifanos Arbeiten Teil der „New Realists“-Ausstellung in der Sidney Janis Gallery in New York gewesen. Zwei seiner Bilder hingen neben Werken von Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg und Jim Dine. Schifanos gefühlsbetonte Präsentation schlug bei der gefeierten Zusammenkunft hohe Wellen, woraufhin ein Kritiker schrieb, dass der Italiener „die Party im Sturm genommen hat“. Da sein Name nun im Big Apple die Runde machte, war die Anziehungskraft New Yorks für ihn überaus stark.
„Er redete ständig von Rauschenberg und Jasper Johns“, beschrieb Anita den überwältigenden Einfluss, den die beiden Künstler auf Mario hatten. „Amerika war wie ein Traum, eine andere Welt. Eines Tages sagte ich zu ihm: ‚Ich habe einen Cousin, der in New York lebt, und auch einen Onkel, dem ein Reisebüro gehört.‘ Er verschaffte uns Karten, die wir nicht sofort bezahlen mussten, und wir entschieden uns, [Rom] zu verlassen. Wir hatten das Gefühl, es sei der richtige Moment.“
Die beiden reisten Anfang Dezember 1963 ab. Sie hatten die Tickets nur wenige Tage nach dem Attentat auf Präsident Kennedy reserviert. Bevor sie Rom verließen – die Nachricht ihres Neubeginns wurde in der Künstlergemeinschaft der Stadt heiß gehandelt –, wurden sie von einem lokalen Bildhauer angesprochen, der sie bat, einem seiner amerikanischen Freunde ein Päckchen zu übergeben. Der Empfänger war der New Yorker Mafiaboss Vito „Don Vitone“ Genovese.
Als sie Neapel zur Überseefahrt mit dem Transatlantikschiff Christoforo Colombo erreichten, stellten die beiden fest, dass sie dank der Beziehungen von Anitas „Reisebüro-Onkel“ in einer besseren Klasse reisten. Pallenberg erzählte, dass ihr bei der Überfahrt die Kluft zwischen den Klassen deutlich aufgefallen war, da die Ärmeren und Auswanderer in den Kabinen unter Deck hausten, wohingegen die gut betuchten Reisenden eine erheblich luxuriösere Unterbringung genossen. Während der neuntägigen Reise nach New York musste das Schiff einige schreckliche Stürme überstehen. Einmal wurde es so schlimm, dass man die Möbel am Boden festnagelte. Weder Anita noch Mario wurden seekrank, und wenn es das Wetter erlaubte, genoss das Paar die atemberaubende Aussicht. Als leidenschaftlicher Fotograf dokumentierte Schifano das Leben an Bord der Christoforo Colombo, und wie sein Portfolio der Überfahrt beweist, gestattete er auch anderen Reisenden, mit seiner Kamera Fotos von dem glücklichen Paar zu machen. Auf seinem und Anitas Gesicht war deutlich die Vorfreude zu erkennen, während sie sich New York näherten.
Wie abgesprochen, trafen die beiden am Dock von Ellis Island Vito Genovese in einem schwarzen Taxi, der die beiden – nachdem das Päckchen sicher übergeben worden war – durch die Stadt zu Anitas Cousin brachte, wo sie sich erst mal ausruhten. Unmittelbar nach Kennedys Tod schien die ganze Stadt mit einem traurig-dunklen Farbton eingefärbt zu sein.
„Ich werde niemals vergessen, wie wir New York erreichten“, erinnerte sich Anita 2017. „Auf der 42nd Street sah ich all die Anzeigetafeln und Plakate mit einem schwarzen Rahmen. Als Hinweis auf Kennedys Tod hatte man auch zahlreiche Plakate mit Schwarz übertüncht.“
Auch wenn sie in einer Stadt ankamen, die in einen Nebel des Trauerns eingehüllt war, zeigte sich deutlich das Gefühl der Befreiung aus den italienischen Gegebenheiten. Schifano schrieb einem Freund: „Ich fühle mich großartig, so weit von dem wählerischen, nutzlosen Rom entfernt zu sein.“
Nach der Ankunft bei Anitas Cousin versuchte sich das Paar so gut wie möglich einzuleben. Sie wohnten in einem der wohlhabenderen Bezirke der Stadt, denn Anitas Cousin hatte eine leitende Position bei dem einflussreichen Nachrichtenmagazin Newsweek inne. In dem Haus wohnte auch Anitas Onkel, der die eher liberalen Ansichten der Gäste überhaupt nicht teilte. Schnell stellte sich eine gegenseitige Antipathie heraus. Anita erinnerte sich 2017: „Wir machten in der weißen amerikanischen Umgebung eine schlimme Zeit durch. Mario stritt sich ständig mit meinem Onkel. Er war ein weißer Mann, der sich von der Überlegenheit seiner Rasse überzeugt zeigte und überhaupt nicht fortschrittlich dachte.“
Bei dem Versuch, seinen Traum zu verwirklichen, hatte Schifano große Probleme, sich in die Künstlerkreise der Stadt zu integrieren. Anita beschrieb einige der Charaktere als „verdammt eklige Typen, zynisch und snobistisch … [Sie] dachten, die Italiener wären auf keinem hohen Niveau, und wollten weiterhin nur mit den eigenen Künstlern Geld verdienen.“
Der Dichter und Warhol-Mitarbeiter Gerard Malanga erinnert sich. „Da war der gut aussehende junge Typ aus Italien – ein äußerst charmanter Mensch und höchst talentiert. Und er kam in die New Yorker Szene in der Erwartung, dass man ihn willkommen hieß. Doch leider verfügte er über keine hilfreichen Kontakte in der Stadt.“
Mario und Anita bauten dann aber eine enge Beziehung zu dem in New York lebenden Dichter Frank O’Hara auf. Der eher sachliche O’Hara besaß ein klar umrissenes Talent und verbrachte seine Zeit teils als Autor und teils als assistierender Kurator am Museum of Modern Art. Ungeachtet seiner starken Verbindungen zu den in der Stadt schöpferisch tätigen Künstlern beeindruckte ihn Schifanos Status als Außenseiter, was ihn eine starke Seelenverwandtschaft spüren ließ, und so lud der Dichter Mario und Anita in seinen Zirkel ein.
O’Hara wusste über die missliche Wohnsituation der beiden bei Anitas Verwandten und verhalf ihnen zu einer Loftwohnung in einem im Herzen von Greenwich Village gelegenen Wohnblock, der ihm gehörte. Die Räume in der Broadway Avenue 791 waren ausladend und so angenehm, dass alle Bedürfnisse der beiden erfüllt wurden – und das für eine eher symbolische Miete. Im Parterre befand sich ein Orthopädiegeschäft, das Prothesen verkaufte, doch in den darüber liegenden vier Stockwerken beherbergten die Wohnungen schillernde Künstlergestalten, wobei O’Hara „der Dichter unter den Malern“ war und die Rolle des netten Vermieters spielte. Während New Yorks kreative Lichtgestalten im Gebäude aus und ein gingen, richteten sich Mario und Anita in den Räumlichkeiten mit den hohen Decken ein. Fotos des Paars in ihrem Zuhause zeigen sie vor einem Müllhaufen aus den Resten von Marios Kollagen-Arbeiten posierend und belegen eine beinahe schon „erwachsene Glückseligkeit“.
Mario gab sich alle Mühe, in der produktiven New Yorker Kunstszene Fuß zu fassen, wogegen sich Anita in einer eher praktischen Rolle wiederfand – vordergründig versuchte sie ihr Interesse an der Kunst weiterzuverfolgen, während sie als Schifanos Muse agierte. Darüber hinaus assistierte sie zum Beispiel dem multimedial ausgerichteten abstrakten Expressionisten Jasper Johns. „Ich machte nur seine Pinsel sauber“, verriet sie Anthony Haden-Guest 1990. Doch schon damals hatte sie Größeres im Sinn. „Ich wollte nicht die ganzen Botengänge erledigen. Ich wollte entdeckt werden.“
Auf der Suche nach Aufmerksamkeit musste Anita unweigerlich den Weg in die Welt der Mode einschlagen. Während man sie 1962 für den Playboy noch in Rom auf der Straße abgelichtet hatte, posierte sie vor Marios Linse lebendiger und offensiver. In der Nähe lebende Fotografen wollten Anitas Dienste auch in Anspruch nehmen. In der aggressiven und erbarmungslosen New Yorker Modewelt – Models kamen gelegentlich zu spät oder waren nicht verfügbar – wurde Anita oft gebeten, einzuspringen und vor die Kamera zu treten. Diese spontanen Einsätze legten den Samen für weitaus größere Projekte in der Zukunft. Anita engagierte Ende 1963 einen Agenten, woraufhin ihr Arbeitspensum zunahm und ihre neue berufliche Ausrichtung abgesichert war. Jerry Schatzberg gehörte zu den zahlreichen Celebrity-Knipsern, die ihre Kameralinsen während dieser prägenden Jahre auf Anita ausrichteten. Er engagierte sie für Aufnahmen in seinem Studio an der Park Avenue South.
„Sie gab sich sehr professionell“, erinnert sich Schatzberg heute. „Sie wusste, was sie tat – in jeder Hinsicht. Wenn sie zur Arbeit erschien, arbeitete sie auch. Sie war noch sehr jung, aber zugleich auch unabhängig. [Anita] wusste, was sie wollte und wie man das verwirklichte. Da gab es niemals irgendeinen Zweifel.“
Während Anita still und nahezu unbemerkt in die Modewelt eintauchte, gab ihr Partner sich immer noch alle Mühe, einen bleibenden Eindruck in der Szene zu hinterlassen, zu der er so dringend gehören wollte. Seine wichtigste Gönnerin in der Stadt war die bodenständige Galerieinhaberin Ileana Sonnabend, die sich schon bei der Ausstellung „New Realists“ 1962 für Marios Arbeiten eingesetzt hatte und auch bei einigen hochkarätigen Shows in Paris und Rom. Die dominante, äußerst fokussierte Frau scheuchte Mario und Anita durch einige der angesagten Locations von New York, um Schifanos Bekanntheitsgrad zu erhöhen.
Sonnabend fungierte auch als Puffer, indem sie ihrem Schützling einige snobistische Zudringlichkeiten vom Hals hielt. Privat hatten die beiden Neuankömmlinge nur ein kleines soziales Netzwerk; sie fanden aufrichtigere Freundschaften in der progressiv ausgerichteten Literatur-Community der Stadt.
Die auf Straßen und in Gassen zu findenden Beatniks passten eher zu Marios und Anitas gefühlsbetonten Persönlichkeiten. Durch Freunde wie Frank O’Hara und Gerard Malanga erlebte Anita die rauere Seite der Stadt. Die unsichere und unvorhersehbare Umgebung New Yorks stellte kein Hindernis für Anitas aufblühende Weltsicht dar. Das Five Spot Café wurde ihr und Marios am häufigsten besuchter Zufluchtsort. Erst kürzlich war das angesagte Lokal zum 2 St Mark’s Place im East Village umgezogen. Bei ihren Besuchen im Club sah Anita Auftritte der Jazz-Legenden Charles Mingus und Thelonious Monk vor kleinem Publikum, während sie sich unter die kreativen Dichter Gregory Corso, Peter Orlovsky und Lawrence Ferlinghetti mischte. Weitere geistige Nahrung kam vom Schriftsteller Terry Southern – ein Zeitgenosse, der später viel dafür tat, Anitas vielfältige Talente bekannt zu machen.
Bei irgendeinem Anlass begegnete Anita dem Romanautor William Burroughs, woraus sich eine Beziehung entwickelte, die bis zu seinem Tod hielt. Bei einer anderen Gelegenheit traf sie Allen Ginsberg, den Hohepriester der progressiven Dichtkunst in Amerika. Seine Präsenz ließ üblicherweise bei allen Treffen die Gespräche verstummen, doch an diesem Abend unterhielt der Dichter die Anwesenden mit seiner „selbst geernteten“ Sammlung von Schamhaaren, die er in einer Streichholzschachtel aufbewahrte.
Anita hatte ihre Teenager-Jahre zwar kaum hinter sich gelassen, doch ihre auf Empfang gestellte Antenne registrierte, dass sie Zeuge einer außergewöhnlichen Zeit wurde.
„Wir trafen all diese Menschen, die Stars wurden und nun die Kultur des 20. Jahrhunderts repräsentieren“, berichtete sie 2017. „Ich spürte, dass ich mich an einem Ort befand, wo es wirklich abging. Es war wie ein Geschenk. Dadurch wurden wir zu einem Teil des Bildes, des Films, dieses besonderen Moments, der zur wichtigsten Erfahrung meines Lebens werden sollte.“
Ein anderer Charakter, der einen transformativen Effekt auf nahezu jeden ausübte, dem er begegnete, war der außergewöhnliche Künstler Andy Warhol. Ende 1963, Warhol war damals 35 Jahre alt, befand sich sein Bildersturm gegen Amerikas Konsumgesellschaft auf dem Höhepunkt. Der aus seinem Apartment in Manhattan – genannt The Factory – heraus agierende Künstler setzte sich für die Kunst-Exzentriker und Bohemiens der Stadt ein und nannte sie seine „Superstars“. Es war ein Überfluss an künstlerischem Können, das in einem Schmelztiegel brodelte. Warhol förderte diese kreativen Abweichler und setzte sie bei Happenings ein. Da sich Anita in ähnlichen Gefilden bewegte, war es geradezu unvermeidlich, dem Künstler zu irgendeinem Zeitpunkt über den Weg zu laufen.
„Die Begegnung war lustig, denn ich traf ihn in einer Telefonzelle“, erinnerte sich Anita. „Ich war da gerade reingegangen, und er wartete draußen darauf, dass ich das Telefonhäuschen verließ. Ich schaute ihn mir gründlich an. Sein Gesicht wirkte pink, graue Haare und ein pinkes Gesicht. Er war ganz in Schwarz gekleidet und sagte kein Wort. Als wir uns dann unterhielten, meinte er nur: ‚Fantastisch, fabelhaft‘“.
Gerard Malanga, eine Persönlichkeit, die später von der New York Times als „Warhols wichtigster Mitarbeiter“ beschrieben wurde, erinnert sich an seine erste Begegnung mit Anita und Mario bei einer Cocktail-Party. „Da standen diese beiden jungen Menschen, chic angezogen. Ich habe vergessen, wer uns einander vorstellte, doch wir führten schnell ein sehr nettes Gespräch. Das Paar beeindruckte mich sehr. Anita hatte ein klassisch schönes Aussehen und einen höchst ambitionierten Geist.“
Nach der eher schrägen, flüchtigen Begegnung war Anita des Öfteren bei den Aufführungen von Warhols Underground-Filmen dabei, die von der gleichermaßen progressiv ausgerichteten New American Cinema Group präsentiert wurden. Die meist nicht lizenzierten Veranstaltungen im Five Spot Café waren lebendig schillernde Leuchtfeuer für die, die New Yorks alternative Kunstszene durchstreiften. Bei Titeln wie Blow Job, Eat und Haircut, die natürlich den Rahmen des von der Zensur Erlaubten bei Weitem überschritten, erschien die Polizei oftmals ohne Vorankündigung, um die Vorführungen abzubrechen. Anita, die nicht nur geistig sehr beweglich war, zog sich vor diesen Veranstaltungen sicherheitshalber Tennisschuhe an für den Fall, dass sie eine schnelle Flucht antreten musste.
Eine bedeutende Künstlergemeinschaft in dieser Welt der tausend Träume und Ideen stellte das Living Theatre dar. Als auf Provokation ausgelegte Schauspieltruppe war das Agitprop-Kollektiv dem Trend um Lichtjahre voraus, was das Verschieben der Grenzen und die Überwindung der Beschränkungen des konzeptuellen Theaters anbelangte. The Living Theatre war 1947 von der Schauspielerin Judith Malina und dem Maler/Dichter Julian Beck in England gegründet worden. Sie hatten ihre wahre Freude daran, experimentelle und selten gesehene Stücke aufzuführen, und ließen sich von den esoterischen Gefilden beeinflussen wie auch von aufstrebenden Dichtern und Schriftstellern, die ihre Arbeiten visualisieren wollten.
Nach den zahlreichen Zusammenstößen mit den städtischen Behörden, durch die seine Arbeit auch einen Affront für die traditionelle Theatergemeinschaft New Yorks darstellte, half das Living Theatre dabei, die sogenannte Off-Off-Broadway-Bewegung zu popularisieren, da seine radikalen Produktionen in Opposition zur überbordenden Kommerzialität des Mainstream-Theaters standen. Die der Gruppe zugrunde liegende Ethik basierte auf einer Sammlung von Essays des französischen Dramatikers Antonin Artaud, die er 1938 publizierte. Das Credo des mit Das Theater und sein Double betitelten Buchs forderte den Theaterbesucher in seiner passiven Selbstgefälligkeit heraus und verlangte eine dringliche Kommunikation zwischen Darstellern und Publikum. Der lange und einflussreiche Schatten Artauds ebnete Anita später auch den Weg für ihre Beteiligung an dem 1968 gedrehten Film Performance.
Andere ambitionierte Frauen, die ihren Stereotypen entfliehen wollten, wurden auch von der Unmittelbarkeit des Living Theatre angezogen. Zwei von ihnen waren Anita schon in Rom aufgefallen: Die deutsche Schauspielerin Nico und das Model Donyale Luna. Anita und Nico, die beide nicht dazu neigten, ein Blatt vor den Mund zu nehmen, stritten sich häufig darüber, wer denn nun zuerst in New York angekommen sei, was auf ein Konkurrenzdenken hinwies, das sich auf alle Lebensbereiche erstrecken sollte. In den folgenden Jahren kreuzten sich ihre Wege häufig, doch die Antipathie zwischen den beiden blieb bestehen.
Das Living Theatre hatte eine wahre Freude daran, jedes Element der Konventionen und der Zensur anzugreifen. Die wohl spektakulärste und provokanteste Präsentation war die Marathon-Aufführung Paradise Now, ein teils auf Improvisationen beruhendes Stück, das die Barrieren zwischen Zuschauer und Performer niederreißen sollte. Die interaktive Ausrichtung ließ die Darbietung eher wie ein Happening aussehen. Regelmäßig gab es erboste Aufschreie im Publikum, da die „Schauspieler“ die Bühne verließen, um die Gäste zu traktieren, anzufeinden oder auszuschimpfen. In zahlreichen Büchern und Artikeln findet sich die Behauptung, dass Anita an dem Paradise Now-Event teilgenommen habe, doch das Living Theatre hatte schon längst die Stadt verlassen, bevor Anita überhaupt ankam. Der Druck der Behörden zermürbte die Truppe, woraufhin sie dem kreativen Zeitgeist nach Rom folgte, zumal die Regularien in Europa nicht so streng waren. Sie hatte sich schon zuvor in der Stadt aufgehalten, besonders während der harten Winter an der Ostküste der USA. Dennoch – die Energien, die sie mit ihren Aktivitäten in New York freigesetzt hatte, wirkten nach, und die Vitalität und der anarchistische Freigeist beeinflussten auch Anita. Rufus Thomas, der Anführer der Schauspielerschar und später der berühmte Regisseur von Hair und Jesus Christ Superstar, freundete sich schließlich mit Anita, Mitgliedern der Stones und besonders Robert Fraser an.
Im Lauf der Sechzigerjahre kam es zu weiteren zwar nicht so bissigen, doch ähnlich explosiven kreativen Ausbrüchen. Die Ankunft der Beatles im Februar 1964 in New York alarmierte die Staaten, dass sich eine neue Jugendbewegung in Großbritannien Bahn brach, angetrieben von einem Haufen aktueller Bands. Jung, rau, gefühlvoll und zu dem Zeitpunkt partiell schon vermögend, sandten sie ein neues Lebensgefühl rund um den Globus aus, das junge Menschen ansprach und darüber hinaus leicht zugänglich war. Für Mario stellte die neue Welle überwiegend englischer Bands eine Art von Offenbarung dar. Er beobachtete die tumultähnliche Resonanz, die diese Gruppen hervorriefen, und wurde von dem gottähnlichen Status verzaubert, den sie innehatten. Als die Welt von diesen kreativen Senkrechtstartern wie von einem Erdbeben erschüttert wurde, begann er über seine Kollagen hinauszublicken und versuchte sich dieser neuen Bewegung anzuschließen.
Auch Anita konnte sich der explosionsartig verbreitenden Jugendbewegung nicht entziehen, die jeden Winkel der Welt eroberte. Der kreative Brennpunkt bewegte sich weg von New York. Sogar ein untrainiertes Auge erkannte, dass die weitaus größere „Action“ in Europa stattfand. Anita hatte sich zwar einen Agenten in New York gesichert, doch plötzlich kamen Arbeitsangebote aus den verschiedensten Richtungen. Anfang März hatte sie bereits den dringenden Wunsch geäußert, die USA zu verlassen.
Doch allen Berichten nach waren es nicht nur professionelle Gründe, die Anita zur Abreise bewegten. Während Mario regelmäßig ein hohes Arbeitspensum bewältigte, hatte Anita den Zauber der Unabhängigkeit gespürt und war darauf versessen, sich eine eigene Karriere aufzubauen. Sie wollte nicht mehr länger nur den Sternenstaub reflektieren.
Darüber hinaus zeichneten sich Anitas und Marios Charaktere nicht nur durch das Streben nach Unabhängigkeit aus, sondern auch durch ein überschäumendes Temperament, möglicherweise verstärkt durch Drogenkonsum. Beide schützten ihre eigenen Freiräume, woraufhin die Atmosphäre ihres alltäglichen Lebens und der beiderseitigen Arrangements zu einer Herausforderung wurde. Für Anita war eine Grenze überschritten, als Schifano während eines heftigen Streits ein Lieblingskleid von ihr zerriss, eine Kreation von Rudi Gernreich.
Die Trennung fand dennoch in Freundschaft statt. Marios Freunde hatten bis dahin den Eindruck gehabt, dass Anita seine Ambitionen auf irgendeine Art erstickte. Schifano schrieb im April 1964 in einem Brief an einen Freund: „Nun, da Anita gegangen ist, folge ich dem Rhythmus eines normalen Lebens.“
Da die Aufträge für europäische Modemagazine nun regelmäßiger kamen, kehrte Pallenberg kurzfristig nach Rom zurück, was jedoch nicht von allen so positiv aufgenommen wurde, wie sie vielleicht erwartet hatte. Die gelegentliche Abwesenheit oder das Zurückkommen zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten wurde von ihrer Familie mit Missbilligung quittiert. Später behauptete sie, dass ihre Mutter lediglich neidisch auf die Mobilität der Tochter gewesen sei, doch ihr Vater hatte ein deutlich negativeres Bild von ihrem Globetrotter-Leben. „Ich war immer unterwegs“, erzählte sie dem Musikjournalisten Stephen Davis 2001, „und mein armer Vater glaubte wohl, ich sei eine Prostituierte.“
Rom stand immer noch im Bann der kreativen Energie und Anita begegnete weiterhin verschiedenen Künstlerseelen, die von ihrer goldenen Aura und dem Regenbogen an Emotionen hingerissen waren.
„Sie wirkte wie eine unvergleichliche, einzigartige Sirene“, erinnert sich Tony Foutz, ein Filmemacher, der sich Mitte der Sechzigerjahre in Rom aufhielt. „Sie tanzte zu ihrer eigenen Musik und machte alles auf ihre Art. Sie verstand alle Witze, verfügte über ein Gespür für Ironie und Humor. Sie strahlte eine spontane Intensität aus, die sie zu einer Wegbereiterin machte. Die Begegnung mit ihr verschlug vielen Menschen den Atem.“
Durch ihre Arbeit kam sie in Europa viel herum und 1964 reiste sie für einen Auftrag nach Hamburg, der sich mit einem Familientreffen verbinden ließ. Sie hatte die Beatles schon 1962 bei einem Auftritt gesehen und war sich bewusst – wie die meisten Jugendlichen auf der ganzen Welt –, dass die Pilzköpfe zu einem globalen Phänomen geworden waren. In der Stadt erfuhr sie nun von einer Freundin, dass eine andere Band hohe Wellen schlug. „Während ich in Hamburg als Model arbeitete, hörte ich von den Stones“, erzählte sie dem Mojo 2006. „Dann gab es einen Trendwechsel, so in der Art: ‚Die Beatles muss man nicht mehr gesehen haben, jetzt sind es die Stones‘.“
Nach einer Verpflichtung auf Sizilien (und einem kurzen New-York-Abstecher wegen der Arbeit) zog es Anita aufgrund einer ganzen Reihe von Model-Jobs nach Frankreich. In Paris traf sie auf eine Szene, die ihre Sinne entfachte und sie für einen Großteil des Jahres an die Stadt fesselte. Trotz der verhältnismäßigen Nähe zu London war die Pariser Modewelt ein schillerndes und packendes Kuriosum, das alles in Großbritanniens Hauptstadt übertraf. Die Medien waren zwar in Scharen in London eingefallen, um die Objektive auf die neuen, sogenannten „Dolly Birds“ auszurichten, doch die Frauen, die man in Londons Straßen und Clubs sah, waren im Vergleich zu denen in Paris eher unscheinbar. In Frankreich stolzierten die jungen Mädchen geradezu über die Boulevards und großen Plätze. „Englische Rosen“ wie Twiggy, Jean Shrimpton, Pattie Boyd und Jane Asher waren zwar höchst fotogen und auch oft auf Bildern zu sehen, standen jedoch oftmals im Schatten ihrer prominenten Partner.
Anitas Entscheidung für einen Umzug nach Paris war teilweise durch die außergewöhnliche Anziehungskraft der Agentin Catherine Harlé motiviert gewesen. Ihre gleichnamige Agentur rangierte bereits weit höher als die anderen Pariser Vertretungen der Modebranche und stand für einen Talentkult, der eine starke und selbstbewusste feministische Basis hatte. In einer Stadt, in der nahezu alle künstlerischen Grenzen verschoben wurden, katapultierte Harlés Agentur das Modeln auf eine neue Stufe.
Ihr aufmerksames Auge war in den Welten der Fotografie und der Werbung geschult worden. Als alleinerziehende Mutter im Alter von 37 Jahren hatte sie im Sommer 1959 den Sprung ins kalte Wasser gewagt und von ihrem Wohnzimmer aus eine Agentur gegründet. Der bescheidene Anfang stellte für den schnellen Aufstieg kein Hindernis dar. Nur wenige Jahre darauf bezog sie das im Jugendstil eingerichtete, dreistöckige Gebäude 38-42 Passage Choiseul im zweiten Arrondissement der Stadt.
„Meine Mutter war ein toller Talentscout“, berichtet Harlés Sohn Nicolas der New York Times 2013. „Sie sah ein Mädchen und sagte direkt: ‚Die ist perfekt für die Fotos‘.“
Vor Anitas Engagement Ende 1964 verfügte Catherine Harlé bereits über eine ansehnliche Kartei. Dennoch zeigte sie sich von Anitas Präsenz so sehr beeindruckt, dass sie ihr den Flug von New York nach Paris bezahlte. Supermodels wie Veruschka, Zouzou und Anna Karina hatte sie bereits unter Vertrag, und mit ihrem ausgeprägten Talent und vor allem ihrer Einstellung erarbeitete sie sich einen exzellenten Ruf. Kurz darauf engagierte Harlé Nico, Amanda Lear, Talitha Getty und die Sängerin Marianne Faithfull, womit sie zur wohl eigenwilligsten Agentur weltweit wurde. Anita zählte eindeutig zu den führenden Damen in der Kartei. Angesichts der umfangreichen Kundenliste ihrer Chefin gab es zahlreiche Möglichkeiten, Kontakte zu den höheren Schichten der Pariser Gesellschaft zu knüpfen.
„Anita und ich waren eng befreundet, zumal wir uns auch äußerlich ähnelten“, berichtet ihre Kollegin, Popsängerin und Model Amanda Lear. „Damals sah ich sie häufig. Wir gingen jeden Abend aus. Da waren Zouzou, Anita und ich und noch einige andere Mädels. Natürlich kifften wir – das war eine wirklich wilde Zeit – und hatten eine Menge Spaß zusammen. Damals – und das traf besonders auf London zu – waren die meisten Mädchen so wischiwaschi, einfach uneindeutig, und wir stellten das exakte Gegenteil dar. Heute verlieben sich die Mädels in Fußballspieler, damals verliebten wir uns in Musiker. Wir repräsentierten ein befreites Frauenbild, verdienten unser eigenes Geld, waren total frei, weigerten uns, von Männern finanziell abhängig zu sein – wir standen für eine neue Generation von Frauen.“
Harlés mütterliches und enges Verhältnis zu den Models überschritt die reine Arbeitsbeziehung, in der sie die jungen Frauen an Fotografen vermittelte. Sie nahm einige von ihnen unter ihre Fittiche, und da die zahlreichen Zimmer in der Passage Choiseul auch Übernachtungsmöglichkeiten boten, erlaubte sie den Models, da zu schlafen. Ohne einen festen Wohnsitz nahm Anita bei Harlé ein Zimmer und richtete sich auf unbestimmte Zeit dort ein.
Wie die anderen Models tummelte auch sie sich im Pariser Nachtleben und war häufig auf der Tanzfläche von Clubs wie dem Maxim’s, Chez Regine und Chez Castel zu sehen. Den letztgenannten Club besuchte sie so häufig, dass man ihr dort kostenlosen Zugang gewährte.
Genau wie schon in Rom zu Beginn der Sechziger wurde sie nun in Paris von der dortigen Clique der Filmemacher angezogen. Während dieser Zeit traf man die Protagonisten der Nouvelle Vague überall in der Stadt an und Anita erinnerte sich später an gemeinsame Abende mit Luis Buñuel und François Truffaut.
Anita und ihre Kolleginnen schmiedeten bei der Agentur von Catherine Harlé einen engen Bund. Ihre enorme Präsenz in Paris reichte an die der Männer heran oder übertraf sie sogar. Die Popularität von Harlés Agentur war so groß, dass sie von dem Sänger Jacques Dutronc in einem Song verewigt wurde. Der Text zu dem die Charts stürmenden Stück „Les Play Boys“ enthielt eine Zeile, in der die „Models von Catherine Harlé“ erwähnt wurden, inmitten einer Liste glamouröser männlicher Akteure.
„Aus Catherine Harlés entwickelte sich eine wahre Rock’n’Roll-Agentur“, schreibt Farbrice Gaignault, Autor von Les Égéries Sixties. „In Paris gab es eine Menge starker Frauen, beinahe Outlaws. Die verhielten sich wie Männer und waren für die damalige Kultur sehr wichtig. Sie verängstigten den Pariser Mann ein bisschen, denn Pariser Männer entstammten oft der Bourgeoisie und diese Frauen entsprachen nicht dem gewohnten Bild. Sie waren frei, brachten Kultur und Stil mit sich und den Lebenswandel von Künstlern. Anita war wunderschön, doch auch eine sehr gefährliche Gesellschaft. Hielt man sich in ihrer Nähe auf, wusste man nie, was passieren würde. Sie war so schön und liebte es, mit den Männern abzuhängen, sie stand einfach auf männliche Gesellschaft. Alle Männer waren verrückt nach ihr, doch hatten Angst vor dem, was sie anrichten konnte.“
Die Auftraggeber wollten zwar oftmals ein durch Airbrush verändertes Bild auf der gedruckten Seite haben, aber ansonsten war die Technik, die eingesetzt wurde, um den richtigen Look zu gewährleisten, eher banal. „Als ich als Model arbeitete“, erinnerte Anita sich 2013, „haben sie dich tatsächlich mit Pfannkuchen aufgepolstert. Und dann kam Helena Rubinstein mit dieser ekligen, dicken Creme … Es war ein Albtraum.“
Schon zu Beginn war Anita eine absolute Gegnerin des damals populären „Dolly Bird“-Look, der sich in den Medien durchsetzte. Trotz des möglichen Ruhmes, der durch die Zusammenarbeit mit bestimmten Fotografen entstehen konnte, hatte sie nicht die geringste Lust, sich den Anforderungen zu beugen, mit denen man sie in eine bestimmte Richtung drängen wollte. Wie später in Antonionis Film Blow-Up dokumentiert wurde, war der Kult um den aus dem Gefühl heraus, spontan arbeitenden Fotografen Mitte der Sechziger auf seinem Höhepunkt. Dadurch schlich sich bei Aufnahmesessions oft eine chauvinistische Arroganz ein, die alles dominierte. Trotz des Celebrity-Status von Jeanloup Sieff, Guy Bourdin und anderen berühmten Fotokünstlern, für die Anita posierte, beeindruckte sie dieses prahlerische Gehabe nicht die Bohne.
Anita 2013: „Sie [die Fotografen] fragten mich: ‚Wo sind die Wimpern? Wo hast du deine Mascara?‘ Und ich rieb mir mit dem Finger über das Augenlid, verschmierte alles, worauf die Fotografen ausrasteten. Ich kam mit keinem von denen klar.“
In ihrem Beruf waren Models zwar durch diese besondere, mächtige Weiblichkeit miteinander verbunden, doch angesichts der Vielzahl derer, die damals durch die pulsierende Pariser Modewelt zogen, stellte sich zwischen den meisten von ihnen höchstens eine flüchtige, oberflächliche Beziehung ein. Dennoch gelang es Anita, einige feste und länger andauernde Freundschaften mit eher angenehmen Kolleginnen zu schließen.
Wie auch Anita hatte das amerikanische Model Deborah Dixon eine „andersweltige“ Aura, die sie über einen Großteil der Frauen auf dem Catwalk oder bei den Sessions erhob. Ihre Kultiviertheit wurde durch ihre zarte, anziehende Optik noch unterstrichen, dem blassen Gesicht und den herunterfallenden rotbraunen Haaren. Die sehr gefragte Dixon wurde als „Schneekönigin von Texas“ bezeichnet und dominierte während der Sechziger die Seiten der allerbesten Modezeitschriften. Auch sie hatte die „Dolce Vita“-Ära in Rom miterlebt und war während dieser Zeit bei einer Reihe erinnerungswürdiger Shootings für die wichtigsten Magazine zu sehen gewesen.
1965 wohnte Deborah Dixon jedoch in Paris. Da die Models der zahlreichen Agenturen in verschiedenen Locations rund um die Uhr feierten, dauerte es nicht lange, bis Deborah auf Anita stieß.
„Sie war spektakulär“, erzählte Deborah. „Es umgab sie eine faszinierende Aura, eine große Verführungskraft, und darüber hinaus war sie auch noch witzig. Anita war belesen und weit gereist, doch immer voller Neugier und einem Gespür für das Abenteuerliche. Sie hatte diese katzenähnliche Würde und ein wunderbares Lachen. Sie bewegte sich auch wie eine Katze. Und sie spielte wie eine Katze mit den Menschen – nicht aus Boshaftigkeit heraus, sondern weil sie es konnte. Ich glaube, dass sich viele Leute von Anita vor den Kopf gestoßen fühlten, denn sie entsprach nicht dem Durchschnitt.“
Anita hatte bei Catherine Harlé anerkanntermaßen eine sehr produktive Zeit als Model, doch scheint sie ihren Beruf mit einer dilettantischen Einstellung ausgeübt zu haben – eine Tatsache, die ihren Freunden und Bekannten nicht verborgen blieb.
„Ehrlich gesagt strebte Anita keine ernsthafte Model-Karriere an“, urteilte Deborah. „Sie arbeitete hier und dort, aber ich glaube nicht, dass sie das Modeln sonderlich interessierte – es war ein netter Weg, um ein gutes Leben zu führen und herumzureisen. Ich glaube nicht, dass sie sich allzu viel Mühe gab [eine Karriere aufbauen].“
„Ich arbeitete schon bei der Agentur von Catherine Harlé, als ich ihr begegnete“, erinnert sich die Kollegin Zouzou heute. „Ich traf sie im Castel’s zusammen mit ihrem Freund Dennis Deegan [Schauspieler und Warhol-Mitarbeiter]. Niemand kannte sie näher. Anita arbeitete nicht viel. Im Grunde genommen arbeitete sie kaum. Vielleicht machte sie ein oder zwei Fotosessions, war wirklich nicht geschäftstüchtig. Wenn ich sie sah, dann meistens in den Nachtclubs.“
„Anita war einfach anders“, berichtet die französische Sängerin und Dalí-Muse Amanda Lear. „Sie stand für einen aggressiven Look, einen Look, der ausdrückte, dass sie nicht nur ein Püppchen war. Schon damals hatte sie eine dominante Einstellung. Statt in die Fußstapfen ihrer Freunde zu treten, formte [Anita] sie.“
„Ich mochte das Reisen, hasste aber das Modeln“, erzählte Anita 1994 in einem Gespräch mit dem Sunday Mirror. „Ich kam in der Hitze fast um, eingekleistert mit Make-up, und musste dann noch diese lächerlichen, großen Kunstwimpern tragen. Die anderen Models gingen meist schon um neun Uhr ins Bett und setzten sich Augenmasken auf. Ich ging jeden Abend raus und machte einen drauf.“
So gern, wie sie sich mit Menschen umgab, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie auch Deborah Dixons damaligen Partner Donald Cammell kennenlernte. Das Trio führte eine enge Freundschaft und erlebte zahlreiche Abenteuer miteinander.
„Ich begegnete ihm in den frühen Sechzigern“, erklärte Anita 1998 gegenüber der BBC. „Ich kam gerade aus New York und flog direkt nach Paris. Damals hatte ich einen Model-Agenten in New York und arbeitete in Paris. Ich glaube, seine Freundin Deborah traf ich zuerst – bei einem Job in einem Club, vielleicht auch in einem Club, den wir zum Tanzen besuchten … Wir verbrachten dann auch die Ferien gemeinsam.“
Ähnlich wie Deborah Dixon stellte sich der in Edinburgh geborene Donald Cammell als eine Konstante in Anitas Sechziger-Chronik heraus. Er war ein Mensch, der an Geschick für kaum spürbare Manipulation, kombiniert mit einem einnehmenden Charme, alle machiavellischen Persönlichkeiten übertraf, die sich in den angesagten Kreisen der High Society tummelten.
Gesegnet mit einem angeborenen Talent für die Kunst, hatte Cammell schon mit 16 Jahren ein Stipendium an der prestigeträchtigen Royal Academy erhalten. Seine Fähigkeiten wurden dort geschult und verfeinert, woraufhin er sich auf Gesellschaftsporträts spezialisierte, für die er ein besonderes Talent hatte. Schon bald hatte er sich hinsichtlich dieser überragenden Geschicklichkeit einen Ruf erworben. In Florenz studierte er unter der Anleitung von Pietro Annigoni, bevor er sich in London niederließ. Verwurzelt in der schillernden Chelsea-Boheme der späten Fünfziger und mit einem Studio in einer Seitenstraße von Londons kultureller Hauptschlagader King’s Road, fügte er sich mühelos in die progressive und eher bizarre Gemeinschaft ein.
Sein Talent, seine Jugend und sein Intellekt öffneten Donald zahlreiche Türen und stellten sich bei den Frauen als unwiderstehlich heraus. Damals tummelten sich in Chelsea ungebildete, politisch linksgerichtete Schönheiten, was er voll und ganz auskostete. Wie Colin MacCabe in seinem Buch über den Film Performance (1968) enthüllte, hatte Donald in seiner Wohnung in Chelsea ein Schlüsselerlebnis, als er seine damalige Freundin zusammen mit ihrer Schwester in seinem Bett vorfand. Da einer seiner wichtigsten Charakterzüge die Spontaneität war, schlug Donald vor, die unterschiedlichen Energien doch einfach zu vereinen – ein Szenario, das für ihn zu einer Konstante wurde.
Cammells zügellos ausgelebte Libido stand der Aussicht auf längere Beziehungen sehr im Weg. Er ertrug eine Ehe – aus der ein Kind hervorging –, bevor er aus Chelsea nach New York floh. Dort lernte er Deborah Dixon kennen und tauchte in eine Szene ein, die sich auf seine Sinne geradezu elektrisierend auswirkte. Dank ihrer beider schillernden Karrieren und Cammells Status als ein „dem Königreich“ Entflohener schlugen die beiden wie eine Bombe in die gesellschaftlichen Kreise des Big Apple ein.
Kurz vor Beginn der Ära des „Swinging London“ war Paris kurzfristig en vogue, und so zogen Cammell und Dixon in die französische Hauptstadt, um ihre kreativen und persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Mit einem „Basislager“ in der Rue Delambre im Stadtbezirk Montparnasse und einer Welt, in der sich Kunst, Film und Mode vereinten, kamen sie in Kontakt mit unzähligen Persönlichkeiten, darunter auch Anita.
Sie erinnert sich: „Das war wirklich spaßig. Nach einem Zug durch die Clubs am Samstag fuhren wir einfach nach St. Tropez oder machten ähnlich Verrücktes! Jeder schien irgendwie abgedreht zu sein, doch wir hatten unseren eigenen Stil, eher international … wie die kleinen [aber energiereichen] Schritte von James Brown.“
Während Anita in Donald Cammells zwielichtige Welt abtauchte, begann sie eine neue, sexuelle Lebenslust zu entdecken, bei der Erlebnisse außerhalb der monogamen Beziehungen zur Norm wurden.
„Es war absolut extrem“, erinnerte sie sich 1998. „Er wollte alles oder nichts. Was den Sex anbelangte, brachte er dich in riskante Situationen. Auf dieser Ebene war er gefährlich. Er hatte viel Fantasie, eine blühende Vorstellungskraft.“
Auf dem wilden Pariser Tummelplatz von flüchtigen Freundschaften und kurzen Liaisons erwies sich Anitas Beziehung mit Donald Cammell und Deborah Dixon als stabil. Auf dem Höhepunkt der Jugendexplosion der Sechziger hatte Anita alles: Jugend, Freiheit und Mobilität. Plakativ ausgedrückt: Niemals gab es für das Leben auf dieser Welt eine bessere Zeit.
„Für einige wenige Jahre flogen wir einfach“, erzählte Anita 1990 in einem Interview für die Publikation Blinds & Shutters. „Wir hatten alles – Geld, Macht, Beziehungen und unser Äußeres – einfach alles.“